RTL
Die neueste Maßnahme der ungarischen Medienbehörde gegen RTL lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Form der Berichterstattung in den Medien, die keineswegs eine Besonderheit von RTL ist, und eigentlich bisher noch nie Gegenstand von Kritik war. Leider.
Das letzte Anschauungsbeispiel dafür war der Anschlag gegen koptische Christen in Alexandria, aber die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Das Schema ist immer gleich: Reporter eilen zur Unglücksstätte, filmen zerfetzte Körper, abgerissene Gliedmaßen und erschütterte Angehörige. Ein oder zwei von den Überlebenden werden vor die Kamera gesetzt und dürfen dann schluchzend berichten, wie schrecklich das alles ist.
Über die Gründe und Hintergründe solcher Gemetzel erfährt man sehr wenig, und auch das ist meistens falsch oder tendenziös aufgearbeitet.
Ähnlich geht es zu bei Gewalt im privaten Kreis: Blutflecken, verstümmelte Opfer, und irgendwelche aufgeregten Reporter, die Polizei-Kurzmeldungen ins Mikrofon stammeln.
Diese unappetitlichen Schauer-Bilder dienen dazu, bereits vorhandene und an anderer Stelle in Wort und Schrift verbreitete Urteile abzurufen, und zu bestärken.
Im Falle der Opfer von Alexandria, genauso wie bei Anschlägen im Irak oder Afghanistan, dienen sie der anti-islamischen Feindbildpflege: Muslims bringen Christen um! Sie schrecken vor nichts zurück!
Die Empörung in der muslimischen Welt über dergleichen Anschläge wird zwar nicht ganz verschwiegen, läuft aber unter ferner liefen. In den großen Massenmedien erhält sie keinen Platz. Al-Kaeda oder andere fundamentalistische, gewalttätige Strömungen werden mit „dem Islam“ gleichgesetzt, und damit die Angst geschürt, daß man nirgends auf der Welt vor dergleichen Wahnsinnigen sicher ist, und dem türkischen Greißler ums Eck mit Mißtrauen begegnen muß – vielleicht auch er??
Im Falle von Gewalt im familiären Bereich, oder Gewaltverbrechen aus sexuellen oder Eifersuchts-Motiven werden andere Gefühle geweckt und bestärkt: Sogar der eigene Vater! oder der ehemalige Geliebte! Schlimm geht es zu auf der Welt! Mörder sind überall! Wir müssen uns eigentlich in einem fort fürchten! Der eigene Nachbar kann der Feind sein! Man kann als Frau nicht mehr allein auf der Straße gehen! Alle Männer sind potentielle Gewalttäter! usw. usf.
Damit wird ein zur Konkurrenzgesellschaft passendes Bild vermittelt, demzufolge man sich vor jedem fürchten muß, und mündet stets in Aufforderungen an die Obrigkeit, doch dergleichen Einhalt zu gebieten. Mehr Polizei! Strengere Gesetze! Mehr Vollmachten für Sozialarbeiter, sich in die privaten Belange der Menschen einzumischen! Höhere Strafen! Mehr Verwahrungsanstalten für gefährliche Jugendliche! Alkoholverbot! Strengere Drogengesetze!
Die Bürger werden mit dergleichen Schauer-Fotos gegeneinander aufgehetzt, und auf die Staatsgewalt als ihren Beschützer verpflichtet.
Natürlich fehlt es nicht an Artikeln und Sendungen, die dergleichen mit entsprechenden Verurteilungen aktiv befördern. Das Bequeme an den Blut- und Graus-Bildern ist jedoch, daß dergleichen Urteile ohne alle Kommentare einfach bei den Zusehern abgerufen und bestärkt werden können, ohne irgendwelche Mühen des Kommentators.
„Die Bilder sprechen für sich!“
RTL in Ungarn, und der Brudermord von Nagymanyok im Oktober 2010
Im Dorf Nagymanyok im Komitat Tolna hat ein Bruder den anderen mit der Axt erschlagen, zerteilt, die Teile mit Paprika eingeschmiert, und dann im Keller versteckt. Vorher hat er das Ganze noch gefilmt. Durch die Anzeige eines Besuchers, der die Blutflecken wahrnahm, kam das Ganze auf.
In der Tat, sehr unappetitlich.
Mit solchen wenigen Zeilen könnte man den Hergang der Tat beschreiben. Das nächste wäre, nachzufragen, was da eigentlich los war. Es gab ja auch Recherchen: Der Ältere, das Opfer, hat den Jüngeren jahrelang gequält und gedemütigt. Geld, um diese unerfreuliche Beziehung durch Auszug zu beenden, war offenbar keines da. Arbeit hatte keiner von beiden. Beide waren schon einmal im Gefängnis, und lebten von dem Geld, das die Mutter aus Deutschland heimschickte. Die verdiente es mit dubiosen Beschäftigungen, der Vater hat nie etwas gezahlt, usw. Und beide, Täter wie Opfer, konsumierten regelmäßig Drogen. Das heißt angesichts der Zahlungsfähigkeit der beiden: Irgendein chemisches Zeug, Klebstoff vielleicht, Tabletten, und Fusel, vermutlich Spiritus.
Man könnte hier ganz interessante Reportagen schreiben:
1. über die ganz normale kapitalistische Armut in der ungarischen Provinz, wo jede Menge Leute ohne Perspektive auf Beschäftigung vor sich hin vegetiert, und sich irgendwie zutörnt, bzw. ins Ausland geht, um sich dort mehr schlecht als recht weiterzubringen,
2. über die Zwangsgemeinschaft Familie, wo Leute einfach über ihre biologische Zusammengehörigkeit miteinander eingesperrt sind und einander aus materiellen Gründen nicht entkommen können, und
3. über die Armutsverwaltung in Ungarn – und nicht nur dort! –, die hauptsächlich aus Sozialhilfe – zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben – und Gefängnis besteht.
Das interessiert natürlich die freie Presse nicht. Es steht ihrem Auftrag entgegen – die Propagierung der Marktwirtschaft –, und bringt auch kein Geld.
Also hat RTL – genauso wie andere Sender – sich auf die inzwischen übliche und reißerische Berichterstattung verlegt, einen Kameramann hingeschickt, das Szenario gefilmt und ausgestrahlt. RTL war sicher nicht der einzige Sender, der vor Ort war, darauf berufen sich die Verteidiger. In der Tat, diese miese Art von Reportage ist europaweit üblich.
Die ungarische Zensurbehörde hat jetzt gesagt: So nicht! Dergleichen wird in Zukunft bestraft!
Daß sie sich ausgerechnet RTL ausgesucht haben, ist natürlich kein Zufall. Lokale Sender sind ähnlich vorgegangen. Aber Sender wie RTL haben dergleichen als Form der Berichterstattung eingeführt, es ist schon begreiflich, daß sie jetzt zur Verantwortung gezogen werden.
Die ungarische Regierung hat sich hier weit aus dem Fenster gelehnt, weil sie das Gesetz rückwirkend angewandt hat, und noch dazu gegen einen ausländischen Sender. Für eine Strafe für RTL wird es vermutlich nicht ausreichen, aber die Rute ist ins Fenster gestellt für andere Sender, von dergleichen Berichterstattung in Zukunft Abstand zu nehmen.
Und das ist gut.
Kategorie: Die Marktwirtschaft und ihre Unkosten
Über die Pressefreiheit
UNGARNS UMSTRITTENE ZENSURBEHÖRDE
In Ungarn wurde ein Mediengesetz verabschiedet und eine Behörde eingerichtet, die alle Medien ihrer Zuständigkeit unterstellt und mit Geldstrafen gegen diejenigen vorgehen kann, die anstößige Inhalte verbreiten. Sie kann sogar Vorschriften machen, welche Inhalte über die Medien verbreitet werden sollen.
Die einhellige Meinung inner- und außerhalb Ungarns ist, daß dieses Gesetz gegen die Pressefreiheit verstößt. Und das ist zweifelsohne auch so.
Aber ist diese Pressefreiheit etwas so ungefragt Gutes, daß jeder sich für sie stark machen sollte?
Die Pressefreiheit
gilt als große und unumstrittene Errungenschaft der Demokratie: Ihr Inhalt ist kein anderer als der, daß ausschließlich die finanziellen Mittel eines Zeitungsherausgebers, eines Fernseh-Kanal-Betreibers usw. darüber entscheiden, welche Inhalte verbreitet werden können. Die Pressefreiheit unterstellt also die Aufsicht über intellektuelle und künstlerische Inhalte dem Diktat des Marktes, und setzt an die Stelle der seinerzeitigen staatlichen Zensur die Selbstzensur der verantwortlichen Redakteure, Sendungsleiter, usw.
Der staatliche Souverän, die Regierung gibt damit tatsächlich ein Stück ihrer Kontrolle über die geistige Betreuung des Staatsvolkes an die Privatwirtschaft und das nationale Verantwortungsbewußtsein diverser Meinungsmacher und „Medienzaren“ ab. Deswegen, wegen dieses Verzichtes gilt die freie Presse auch – zu Recht – als „4. Gewalt“, und als „Königsmacher“ bei Wahlen.
In letzter Zeit wurde die Pressefreiheit und ihre Wichtigkeit vor allem im Zusammenhang mit den „Enthüllungen“ von Wikileaks strapaziert. Aber die Wortführer der solcherart freien Information übersehen gern das Alltagsgeschäft der freien Presse: „Bild“ und „Sun“, überhaupt die Medienimperien von Springer und Murdoch, die österreichische Krone und dergleichen Medien machen einen weitaus größeren Teil der verbreiteten und konsumierten „Nachrichten“ aus als die Inhalte der sogenannten „seriösen“ Blätter. Ihren Freibrief zur Volksverdummung nützen sie reichlich aus und können auch befriedigt verbuchen, daß die Kasse dabei klingelt. Und, was das Wichtigste ist: Die Regierungen der USA, Großbritanniens, Deutschlands, Österreichs usw. können sicher sein, daß die Meinungsbildung dieser Blätter stets im Einklang mit dem nationalen Interesse und dem der herrschenden Klasse ist.
Auch die sogenannten „seriösen Blätter“ wie das Handelsblatt, die Neue Zürcher, die Süddeutsche, die Presse usw. fühlen sich regelmäßig bemüßigt, wenn sie schon einmal kritisch sein wollen, höchstens die Herrschenden darauf hinzuweisen, daß die eine oder andere Maßnahme dem nationalen Interesse zuwiderlaufen, Probleme verursachen oder unnötig Wähler „verdrießen“ könnte. Damit hat es sich dann auch schon, was das „kritische Potential“ betrifft. Und wie die Griechenland-Hetze im Frühjahr 2010 jedem, der es wahrnehmen wollte, schlagend vor Augen geführt hat: Wenns ums Eingemachte, „unsere Interessen“, sprich: Geld, geht, so unterscheiden sich die großen Massenblätter und die Intellektuellenblattln nur mehr in Nuancen der Ausdrucksweise.
Die freie Presse in Ungarn
Nach 1989 wurde in Ungarn, wie in allen postsozialistischen Staaten, eine freie Presse eingerichtet. Das ging keineswegs so, daß auf einmal ein Startschuß gegeben wurde und man 1000 Blumen blühen lassen wollte. „Freiheit“ hieß, wie im Allgemeinen, die Freiheit des Eigentums – sie wurde in Kraft gesetzt, und die Presse dazu ausersehen, diese zu propagieren. Ausländisches Medienkapital strömte ins Land, übernahm Zeitungen und gründete Fernsehsender. Diese Boten der freien Marktwirtschaft wurden von den ungarischen Regierungen mit offenen Händen aufgenommen und erhielten sehr günstige Bedingungen zum Verbreiten ihrer Botschaften: Springer, Bertelsmann, die WAZ-Gruppe, die Schweizer Ringier-Gruppe, und viele andere waren oder sind auf dem ungarischen Medienmarkt präsent. Manche haben sich seit den stürmischen Gründerzeiten wieder zurückgezogen, weil die Umsätze auf dem doch eher kleinen Markt nicht so toll waren.
Zu dem ausländischen Kapital gesellten sich sehr willige ungarische Mitarbeiter. Gerade die Zeitung der ehemaligen Staatspartei, die „Népszabadság“, machte sich zu einem Wortführer des freien Unternehmertums und auch des Verteidigers der in dessen Interesse ständig anwachsenden ungarischen Staatsverschuldung. Dazu gesellten sich noch ein Haufen Intelligenzblattln, die mit humanistischen Obertönen, Bildungselementen und philosophischem Tiefgang die Marktwirtschaft als Befreiung des Individuums von diktatorischer Gängelung priesen. In die Redaktionsstuben der Zeitungen gelangten oft Leute, die vor 1989 als Zensoren tätig gewesen waren und jetzt diese Tätigkeit frei und verantwortlich nach anderen Inhalten ausübten und ihre Mitarbeiter dabei in der Kunst der Selbstzensur unterwiesen.
Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang auch noch ausländische Stiftungen und NGOs, die in den 90er Jahren reichlich Stipendien für junge ausländische Journalisten verteilten, und Konferenzen und Seminare organisierten, um der aufstrebenden Generation die richtige Leseart der Pressefreiheit beizubringen.
Diese ganzen freiwilligen und eifrigen Sprachrohre des Kapitalismus und der Demokratie sahen sich natürlich nicht als Agenten fremder Mächte, sondern als verantwortungsvolle Patrioten, die ihr durch sozialistische Mißwirtschaft und Propaganda zurückgebliebenes Land und Volk auf Vordermann bringen wollten. Zu dem passiven Imperialismus – bitte, kommt doch und zeigt uns, wie Ausbeutung effektiv geht! – gesellte sich also auch noch einer auf dem Gebiet der Kultur und Wissenschaft, wo selbsternannte Prediger „europäischer“ Kultur dauernd ihren Landsleuten um die Ohren hauten, daß sie eigentlich praktisch noch im Wald lebten.
Als sich die segensreichen Wirkungen der Marktwirtschaft nicht so recht einstellen wollten, wuchs in Ungarn die Unzufriedenheit auch mit dieser Art von Aufgeblasenheit und Schönrednerei. Leider führte das nicht zu einer Kritik der Marktwirtschaft und ihrer Ideologien. Die Unzufriedenen waren nämlich schon längst demokratiereif und gingen deshalb nicht auf die Suche nach Gründen, sondern nach Schuldigen.
Und eine andere Art von freier Presse wurde von der neuen einheimischen Unternehmerklasse ins Leben gerufen und finanziert, die auf die Suche nach „Kosmopoliten“, „Juden“, „Schmarotzern“ ging, die das Land ausverkauften, sich dabei die Taschen füllten und sich – jawohl!, auch das noch! – lauter Zeitungsschmierer hielten, die den biederen Ungarn Sand in die Augen streuen, um die Machinationen der „Verräter“ zu decken.
Jetzt ist diejenige Partei an die Macht gelangt, die sich der letzteren Sichtweise anschließt, und solche satte Mehrheiten im Parlament und in den Gemeinden hat, daß sie auch die Monarchie einführen oder Ungarn in einen Kirchenstaat verwandeln könnte. Man muß ja froh sein, daß sie sich vorerst mit einer Zensurbehörde begnügt.
Fortsetzung folgt: Die ersten „Opfer“ der Zensur – Tilos Rádió und RTL.
Die Eurozone wächst!
ESTLAND FÜHRT DEN EURO EIN
Das erste, was an der Sache auffällt, ist die Zurückhaltung der Medien. Die Meldung kommt unter „ferner liefen“. Es gibt keine Erfolgsmeldungen der Art: „Hurra, die Euro-Zone wird erweitert!“ oder „Der Euro lebt!“ usw. Die Sache geht sozusagen still über die Bühne, beinahe möchte man meinen, es handle sich um eine peinliche Angelegenheit, um die nur ja kein Aufhebens gemacht werden soll.
In Zeiten, in denen der Euro als Gemeinschaftswährung, ja sogar als Währung überhaupt in Frage gestellt ist, wird die Euro-Zone um ein – in der Tat, sehr kleines – Land erweitert.
Die EZB war darüber, wie man vernehmen kann, gar nicht erfreut:
„Wäre es nach der EZB alleine gegangen, würde Estland zum 1. Jänner kein Mitglied der Währungsunion. Die Notenbank hatte im Frühjahr Vorbehalte gegen einen Beitritt geäußert. Es sei fraglich, ob das baltische Land seine Inflation gut genug im Griff habe, hieß es damals. Die EU-Kommission hatte Mitte Mai die EZB überstimmt und grünes Licht für die Aufnahme der Esten in die Euro-Zone gegeben.“ (Standard, 28.12. 2010)
Estland erfüllte also die Kriterien, die EZB wollte es aber trotzdem nicht, mit Blick auf die Zukunft. Sie sieht voraus, daß der Haupteffekt der Euro-Einführung Preissteigerungen sein werden, da sie Estland als Markt, aber nicht als Standort attraktiver werden läßt.
Die EU und Estland
Die EU hat sich seinerzeit in Maastricht das Ziel gesetzt, zu wachsen. Und sie hat Beitrittskriterien festgesetzt. Sowohl für den Beitritt zur EU, als auch für den Beitritt zur Eurozone. Die Idee damals, 1992, war die, daß die EU, „Europa“, sich durch ständige Vereinigung zu einem Wirtschaftsraum entwickeln sollte, der den USA Paroli bieten kann. Die EU war ein Konkurrenzprojekt zur USA, eine ökonomisch angelegte Machtfrage, und die Erweiterung eine Methode der Stärkung gegenüber der Weltmacht Nr. 1.
Seither ist einiges geschehen.
Es hat sich erwiesen – übrigens nicht erst durch die Finanzkrise der letzten Jahre, – daß diese Vorstellung, sich durch ökonomische und freiwillige Erweiterung zu stärken, nicht so einfach zu haben ist.
Der „Big Bang“ des Jahres 2004 und die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens 2007 waren politische Entscheidungen gegen ökonomische Fakten. Viele der Beitrittsländer hatten Wirtschaftsdaten, die sie im Lichte der kapitalistischen Konkurrenz als unsichere Kantonisten und Problemfälle erscheinen ließen. Die Devise lautete dennoch: vorwärts! Im gemeinsamen Wirtschaftsraum werden wir sie schon voranbringen, bzw. ihre Schwäche in ebendiesem Rahmen gut ausnützen.
Und sie wurden auch gut benützt: Als Markt, als Abstellplatz für Schmutz-Industrien, als Billiglohnländer. Nur: das hat die gemeinsame Währung nicht im Sinne ihrer Erfinder weitergebracht.
2009 mußten Ungarn, Lettland und Rumänien unter Einbeziehung des IWF gestützt werden, 2010 waren dann „alte“ Länder wie Griechenland und Irland dran, und weitere Stützungsaktionen stehen bevor.
Der Euro selbst als Währung steht auf dem Spiel. Portugal hat schon den Austritt erwogen, und diese Option wird zwar derzeit von anderen Regierungen nicht geplant, aber von diversen Marktanalysten als Option gehandelt: Die Verlierer der EU-internen Konkurrenz sollten austreten und sich dadurch „sanieren“. Das wäre allerdings ein Eingeständnis des Scheiterns des EU-Projektes, mit nicht absehbaren Folgen für selbiges, und für den Euro als internationale Währung.
Und in diesem Moment klopft Estland an: He, wir wollen in die Euro-Zone!
Estland ablehnen geht auch nicht gut. Würden Brüssel und die EZB sagen: sorry, aber im Augenblick können wir euch überhaupt nicht brauchen! – so wäre das sofort ein negatives Datum für die „Märkte“, die Rating-Agenturen und andere wichtige Subjekte, wie die USA und China: Aha, so würden sie denken, die EU gibt ihr Projekt der Eurozone auf! Sie glauben selbst nicht mehr an die Einheitswährung! Sie geben alle Erweiterungspläne auf. Die Eurozone ist gestorben! Bald löst sie sich auf! Euro-Anleihen sind nicht mehr sicher … usw. usf. …
Also muß die EU ungern, aber doch, Estland aufnehmen, um Schlimmeres zu vermeiden.
Estland und die EU
Estlands gesamte Politik ist eine einzige Kraftanstrengung gegen Russland. Außenpolitisch, militärisch und auch ökonomisch: Die estnische Regierung will den Euro um jeden Preis einführen, weil sie sich dadurch eine Stärkung ihrer Position gegenüber Rußland erwartet, genauso wie durch den seinerzeitigen Beitritt zu NATO und EU. Gegenüber diesem Vorteil erscheinen alle Nachteile vernachlässigenswert.
Estlands Immobilienmarkt ist seit 2008 zusammengebrochen, damit sind jede Menge Baufirmen baden gegangen, damit auch viele Arbeitsplätze verschwunden. Der Kreditsektor ist ins Strudeln geraten, da viele Kredite „notleidend“ geworden sind, wie es heute schönfärberisch heißt, wenn sie nicht mehr bedient werden können. Estland hat eine hohe Arbeitslosigkeit – über 15% – und die Wirtschaft war 2009 stark rückläufig und hat sich auch 2010 nicht wirklich erfangen. Die Einführung des Euro setzt Estland noch stärker als bisher der EU-Konkurrenz aus und beschränkt durch die vorgeschriebene „Haushaltsdisziplin“ die Möglichkeiten der estnischen Regierung, negativen Folgen durch Subventionen oder Sozialhilfe zu begegnen, was Wirtschaftsexperten natürlich gut finden:
„Solange die Arbeitslosigkeit in Estland nicht deren öffentlichen Haushalt aus dem Ruder laufen lässt, ist der Rest der Union davon nicht betroffen.“ (Manfred Neumann, Tagesspiegel 8.6. 2010)
Mehr als ein Viertel der Bewohner Estlands sind ethnische Russen, die die estnische Regierung gerne loswerden würde, aber nicht vertreiben kann. Ein Teil von ihnen besitzt keine Staatsbürgerschaft, weil die betroffenen Personen die dafür erforderliche Sprachprüfung in Estnisch nicht abgelegt haben. Diese Leute kriegen natürlich noch schwerer einen Job und können als Staatenlose auch nicht im Ausland auf Arbeitssuche gehen.
Die wirtschaftlichen Vorzüge, die mit der Einführung des Euro verbunden werden, sind eher unsicher: Der Wechselkurs war auch bisher fix, und es ist fraglich, inwiefern die Übernahme der Gemeinschaftswährung Estland als Standort attraktiver macht, umso mehr, als es die Freiheit der estnischen Regierung, den ausländischen Unternehmen Sonderkonditionen zu gewähren, stark einschränkt.
So sieht er aus, der hoffnungsvolle Zuwachs der EU: Ein Mini-Tiger, dem die Luft ausgegangen ist, mit sozialem Sprengstoff angefüllt, und in einer Randlage, die inzwischen von allen Beteiligten – EU, Estland und den privaten Unternehmern – als Bürde angesehen wird.
Na dann!
Anti-Euro-Plakat in Tallinn