Serie Daten und Statistiken, Teil 4

DIE INFLATION

Über das, was die Inflation ist – oder auch nicht ist –, wurde schon einiges geschrieben.

Hier soll es darum gehen, wie sie berechnet wird.

Immerhin werden wir regelmäßig mit Meldungen über steigende – oder zu niedrige – Inflationsraten gefüttert, und die bereiten Ökonomen und Politikern Kopfzerbrechen.

„Was bedeutet Inflation? Laut Definition handelt es sich dabei um eine anhaltende, allgemeine Erhöhung von Preisen für Güter, die dafür verantwortlich ist, dass die Kaufkraft von Geld schwindet. Eine Teuerung von Waren und Dienstleistung (= inflationärer Anstieg) führt dazu, dass für denselben Preis weniger Dinge erworben werden können. Im Zuge der Frage, was Inflation ist, wird meist auch die Inflationsrate erwähnt. … Die Definition der Inflationsrate ist schnell gegeben: Es handelt sich um eine Angabe darüber, wie sehr sich ein Preis für ein und dasselbe Gut in einem bestimmten Zeitraum verändert hat.“ (Ofina, Ratgeber)

Wenn wir uns an diese Definition halten – die, wohlgemerkt, keine Erklärung ist – so fragt sich, wie diese ganzen sich verändernden Preise festgestellt werden?

Der Warenkorb

Zu diesem Zweck werden verschiedene Ausgabeposten, die man dem durchschnittlichen Bürger zurechnet, auf ihre Preissteigerungen untersucht.

Der Warenkorb für Österreich setzt sich 2021 zusammen wie folgt:

„Zusammensetzung des durchschnittlichen Warenkorbs privater Haushalte in Österreich im Jahr 2021“

„Der Warenkorb dient der Berechnung der Verbraucherpreisindizes und der daraus abgeleiteten Inflationsrate in Österreich. Er enthält eine wirklichkeitsnahe Auswahl der von den privaten Haushalten konsumierten Waren und Dienstleistungen und ist in zwölf Ausgabenbereiche (Hauptgruppen) unterteilt. Jede Hauptgruppe ist entsprechend ihrem Anteil an den Haushaltsausgaben gewichtet.“ (Statista)

Bei der Auswahl der 12 Ausgaben-Gruppen (die in der ganzen EU üblich sind, das Verfahren wurde vereinheitlicht) fällt als erstes auf, daß manche von minderbemittelten Mitbürgern kaum in Anspruch genommen werden, wie Hotels. Auch unter „verschiedene Waren und Dienstleistungen“ wird viel Unterschiedliches einen Topf geworfen.

Es ist also schon einmal eine Entscheidung der Statistiker, was sie alles in den Warenkorb aufnehmen. Irgendwie soll der gesamte Konsum der Gesellschaft abgedeckt sein, auch wenn die Mitglieder in verschiedener Art daran teilnehmen.

Zweitens wird auch von den Warenkorb-Erstellern entschieden, welcher Stellenwert einem bestimmten Ausgabeposten zukommt.

Der Grund für die zwei unterschiedlichen Farben lassen sich der Website nicht entnehmen, also nicht, ob sich die eine auf den Vormonat oder das Vorjahr bezieht. Das ist aber zum Begreifen dessen, was mit dieser Gewichtung geschieht, unwesentlich.

Wohnung, Wasser & Energie sowie Haushalt überhaupt machen in der Graphik insgesamt ein Viertel der Ausgaben eines Haushaltes aus, obwohl inzwischen diejenigen, die über ein geringes Einkommen verfügen, zwischen einem Drittel und der Hälfte für die Wohnung aufwenden. D.h., Steigerungen auf diesem Gebiet gehen nicht in dem Maße in den gesamtgesellschaftlichen Kaufkraftverlust ein, wie es den Geldbörsen der Mehrheit entspräche.

Ebenso wie bei „Verkehr“ der Kauf des SUV genauso erfaßt ist wie die Monatskarte für den öffentlichen Verkehr, fällt unter „Nachrichtenübermittlung“ alles mögliche an Elektronik vom neuesten Smartphone bis zum überalterten Computer, der mit updates noch am Laufen gehalten wird, und der Briefmarke auf einer Urlaubspostkarte.

Nicht, daß sich hier zuwenig Mühe gemacht würde. Die Warengruppen werden alle 5 Jahre neu gewichtet und modifiziert. Die Waren selber werden monatlich neu erfaßt, um am Puls der Zeit zu bleiben. In Deutschland werden monatlich die Preise von rund 300.000 Waren durchforstet. In Österreich gibt es zusätzlich einen Mikrowarenkorb, der die täglichen Einkäufe abbilden soll, Tausende von Artikeln erfaßt und ebenfalls monatlich upgedated wird.

Dennoch gibt, wegen des Durchschnitts durch alle privaten Haushalte, der Warenkorb und die Inflationsrate nicht viel her, was das Ausmaß der Teuerung für die Einzelnen betrifft – sowohl bei den Armen als auch bei den Reichen.

Die viele Mühe und die Berechnung überhaupt werden deshalb gemacht, weil die Inflationszahlen sowohl für politische und ökonomische Entscheidungen wichtig sind, als auch der geistigen Betreuung des p.t. Publikums dienen.

Die Besprechung der ermittelten Inflationsrate

Das genaue Nachschauen auf Tausenden von Preiszetteln und deren Aufrechnen in die Inflationsrate wird als eine Art Dienst am Kunden dargestellt. Regelmäßig wird die Menschheit mit den betreffenden Zahlen beglückt – was teurer geworden ist, was viiiiel teurer geworden ist und was sich – oh Glück, oh Wunder – verbilligt hat.

Die Preise und ihre Bewegung werden dem Hörer bzw. Leser der Medien als eine Art Natur vorgestellt, so wie Jahreszeiten oder das Wettergeschehen. Die Berichte über die Inflation haben also etwas vom Wetterbericht an sich.

Das ist die erste ideologische Leistung dieser Art von Datenerhebung und -vermittlung: Waren und Preise sind etwas Natürliches und Selbstverständliches.

Dann kommen als nächstes die braven Leute ins Spiel, die diese Preise erheben, die Statistiken errechnen und die dann mitteilen und sogar analysieren.

Das ist die nächste ideologische Leistung: Die Behörden werden als Freund und Helfer vorgestellt, die dieses Ungetüm „Inflation“ beobachten, zügeln und handhabbar machen und der Menschheit mitteilen,wie es darum steht, sodaß diese sich drauf einstellen kann.

Es kann sich zwar niemand drauf einstellen, aber das macht nichts.

Die praktische Bedeutung der Inflationsrate

Die Inflationsrate ist nämlich über diese beiden Momente hinaus ein fester Bestandteil des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit.

Die Inflationsrate ist nämlich ein Moment für Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden.

Ist die Inflationsrate hoch, so wird daraus geschlossen, daß höhere Lohnforderungen anstehen.

Sofort werden warnende Stimmen laut, daß man die Löhne nicht zu sehr erhöhen dürfe, weil sonst eine „Inflationsspirale“ losgetreten würde. Man darf also keineswegs der arbeitenden Menschheit ihren durch die Inflationsrate errechneten Kaufkraftverlust durch höhere Löhne ausgleichen, weil das würde wieder höhere Preise bedingen, und damit höhere Löhne, usw.

Ist die Inflationsrate niedrig, so sind Gehaltsforderungen sowieso vom Tisch. Warum auch, es geht doch ohnehin allen so gut wie nie zuvor.

Man erkennt hier auch ein Interesse der Inflationsraten-Berechner, selbige niedrig zu halten, und sei es durch gelegentliche Warenkorb-Kosmetik: Manche Artikel werden höher, andere niedriger gewichtet. Also das Verhältnis, in dem diese Ausgaben zueinander gestellt werden, kann große Preissteigerungen einzelner Güter für die Inflationsratenberechnung verringern.

Die Umsatzsteuer

Während so getan wird, als spiegle die Inflationsrate mehr oder weniger die Marktverhältnisse und die Preise, die auf dem Markt erzielt werden, gibt es dennoch einen äußeren Faktor, der dieselbe beeinflußt. Und der ist die Umsatzsteuer. Ob Mehrwertsteuer, Mineralölsteuer, Genußmittelsteuer usw. – diese Steuern erhöhen die Preise, ohne daß Angebot, Nachfrage, Produktionskosten, Rohstoffkosten oder irgendetwas anderes teurer geworden wäre. Diese Art von Preiserhöhung setzt sich sozusagen von außen auf den ganzen Markt oder die Ökonomie drauf und entspringt nicht den Handlungen der Produzenten oder Konsumenten.

Von Seiten des Gesetzgebers bzw. des Finanzministers sind die Umsatzsteuern die nächstliegende Art der Einnahmensteigerung. Gegenüber Schuldenmachen haben sie den Vorteil, daß sie mit keinen Verbindlichkeiten einhergehen. Gegenüber anderen, direkten Steuern haben sie den Vorteil, daß sie keine gesellschaftlichen Schichten gegen sich aufbringen, die ihre Einkünfte gefährdet sehen. Die Umsatzsteuern betreffen doch „alle“, nicht wahr?

In Zeiten der zunehmenden Verarmung der Gesellschaft können allerdings auch solche durch Umsatzsteuern verursachten Preissteigerungen zu Aufruhr führen, wie in jüngerer Vergangenheit der Aufstand der „Gelbwesten“ gezeigt hat. Ein weiter zurückliegendes Beispiel dafür war das „Caracazo“, wo die politische Karriere von Hugo Chavez ihren Anfang nahm.

Für größtmögliche Freiheit der Finanzminister und -ämter ist es jedoch wichtig, daß die Inflationsrate niedrig ist. Fortlaufende Entwertung der nationalen Währung würden nämlich die erhöhten Einnahmen aus der Umsatzsteuer zunichte machen.

Bei der Einführung der Maastricht-Kriterien 1991 wurden deshalb 3% Inflation jährlich als anzustrebende Höchstmarke angegeben.

Diese Kriterien gelten erstens praktisch nicht mehr.

Aber die ganze Inflationsrate ist inzwischen mehr denn je geschönt, weil eine zu hohe Inflationsrate gar nicht ins Bild der krisengeschüttelten EU mit ihren Null- und Negativzinsen passen würde.

Allgemeine Neuigkeiten zum Coronavirus im Sommer 2021

DIE REKREATIONSINDUSTRIE AUF DEM PRÜFSTAND

Die Tourismusindustrie hat in den letzten Jahrzehnten, auch beflügelt durch den Euro, einen enormen Aufschwung genommen.
Gleichzeitig wurde sie in verschiedenen Staaten, wie Griechenland, Kroatien oder Spanien, zum einzigen wirtschaftlichen Rettungsanker, nachdem angestammte Industrie und Landwirtschaft großflächig den Bach hinunter gegangen sind.

Dem hat die Corona-Pandemie jetzt einen kräftigen Dämpfer, wenn nicht gar den Todesstoß versetzt.
Die Reisebeschränkungen, der Rückgang des Flugverkehrs und die durch die Maßnahmen erfolgte Verarmung der Bevölkerung lassen Strände, Hotels, Gaststätten und RB&Bs leerstehen. Nachdem nach einem zugesperrten Winter alle auf den Sommer hoffen, zeigt sich, daß diese Hoffnung für viele enttäuscht werden wird.
Viele Staaten benützen nämlich die sich per Pandemie genehmigten Rechte, die Reisetätigkeit ihrer Bürger einzuschränken. Gesundheitspolitische Bedenken möge da auch zugegen sein, sind aber nachrangig. Diejenigen Staaten, die sonst Urlauber über ganz Europa ausleeren, entdecken nämlich in den Reisewilligen Kaufkraft, die ins Ausland abfließt. Also werden durch Einschränkungen, Tests, Quarantänebestimmungen usw. Maßnahmen gesetzt, die die Sommerfrische ins Inland ablenken sollen.

Die Netto-Empfängerländer von Touristen hingegen bemühen sich verzweifelt, sich als sichere Urlaubsdestinationen zu präsentieren. Alle Maßnahmen und Meldungen über steigende oder sinkende Infektionszahlen oder den Fortgang des Impfgeschehens im Inland sind unter diesem Gesichtspunkt zu lesen, daß hier Werbung für ausländische Touristen gemacht werden soll.

Gleichzeitig spielt das Coronavirus nicht mit. Portugal verzeichnet seit 2 Wochen einen Anstieg der Infektionszahlen und versucht mit drastischen Maßnahmen noch die Sommersaison zu retten.
In Rußland steigen die Infektionszahlen besonders heftig an – sofort werden strenge Einreise- und Quarantänebeschränkungen für aus dem Ausland zurückkehrende Russen erlassen, um sie zum Urlaub im Inland zu bewegen.
Spanien hat es geschafft, irgendwie die Balearen als besonders sicher erscheinen zu lassen – prompt kommt es zu einem Anstieg von Infektionszahlen durch von den Balearen heimkehrende (spanische) Maturaschüler.
Großbritannien hat für Portugal und Spanien eine Reisewarnung herausgegeben, jeder dorthin reisende Brite muß nach Heimkehr in Quarantäne. Wer weiß, wie viele Bewohner Großbritanniens jetzt auf einmal diverse inländische Seen, Strände usw. „entdecken“ werden.

Zusätzlich hat sich inzwischen herumgesprochen, daß die Impfung keineswegs vor Ansteckung und Verbreitung schützt. Also verlangen viele Aus- und Einreiseländer sowie Fluglinien PCR-Tests. Um diese herum ist bereits eine eigene Industrie von Testzentren und Labors entstanden, die Arbeitsplätze schafft und das Reisen verteuert.
Wir sehen einem aufregendem Sommer mit Enttäuschungen und gedämpftem Urlaubsvergnügen entgegen.
Es wird sich noch zeigen, was für Auswirkungen die Reisebeschränkungen auf die Arbeitsmigration und auf die ins EU-Ausland teilübersiedelte Pensionisten und Aussteiger haben werden.

Marokko und die Westsahara, Teil 2

DAS MAGHREBINISCHE KÖNIGREICH

1. Die Dynastie der Alawiden

Die im 17. Jahrhundert an die Macht gekommenen Alawiden sind die älteste Dynastie im arabischen Raum. Ihre Gründer kamen aus dem Hedschas, auch der heutige Herrscher Mohammed VI. führt sich auf die Familie Mohammeds zurück.
Als Zugereiste waren sie nie besonders populär. Sie nutzten aber mit Geschick die Rivalität der verschiedenen Stämme und Städte aus, um nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“ an die Macht zu gelangen und dort zu bleiben.
Als machtpolitisch genialer Schachzug erwies sich die Unterstützung der USA in deren Unabhängigkeitskrieg im Jahr 1777. Bis heute genießt das marokkanische Herrscherhaus die Rückendeckung der USA. Auch während der Besetzung des Gebietes durch Frankreich und Spanien blieben die Alawiden an der Macht. Sie bedienten sich also mit Erfolg der Unterstützung durch auswärtige Mächte, um das Ruder gegenüber der einheimischen Bevölkerung in der Hand zu behalten, Aufstände niederzuschlagen und Bauern zu enteignen. Sie verwendeten im Verlauf ihrer Herrschaftsgeschichte verschiedene islamische Führer-Titel. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1956 erklärte sich der bisherige Sultan zum König, und diesen Titel führten seither alle Landesväter.

Sozialistische Experimente gab es in Marokko nie. Geschweige denn liberal-demokratische Strömungen. All das betrachtet die marokkanische Königsfamilie als Gefahr für ihre Herrschaft.

Als der Sozialismus in der arabischen Welt gewisses Ansehen genoß, Allianzen mit der SU, Jugoslawien oder Kuba geschlossen wurden – verknüpft mit den Namen Nasser, Kassem, Ghaddafi u.a. – verbündete sich Marokko mit Saudi-Arabien, um dergleichen auf eigenem Territorium zu unterbinden. Das ist die zweite wichtige außenpolitische Allianz, die auch einen Pol der arabischen Liga ausmacht, und bringt Marokko Investitionen und dem alawidischen Königshaus finanzielle Zuwendungen aus dem ölreichen Königreich der Wüste. Man kann sagen, die Achse oder besser die Zange des Guten umspannt mit diesen 2 besonders reaktionären Monarchien den Maghreb und den Maschrik. Die Position der beiden ist auch global-strategisch von Bedeutung, sie dienen nämlich als mögliche Brückenköpfe möglicher militärischer Interventionen.

2. Der westliche Türsteher Europas

zum Aufhalten der Flüchtlinge ist Marokko.

Bereits 1992, als das Flüchtlingsproblem noch gar nicht groß Thema war, schloß Spanien mit Marokko ein Schubabkommen für Flüchtlinge, die über das Territorium Marokkos nach Spanien gelangen.
Dieses Abkommen wurde im Windschatten des Dubliner-Übereinkommens der EU von 1990 abgeschlossen, das die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für die Asylverfahren von Flüchtlingen regelt. In einer gewissen Wechselwirkung beeinflußte es dann die Weiterentwicklung des Florianiprinzips in der EU, wonach innerhalb der EU die Flüchtlinge in dasjenige Land zurückgeschoben werden können, wo sie erstmals EU-Boden betreten haben. Das spanisch-marokkanische Abkommen diente auch als Modell für das zwischen der Türkei und der EU 2016 geschlossene Abkommen zur Unterbindung des Flüchtlingsstroms aus der Türkei.
Die „warmen Rückgaben“ (von lebenden Flüchtlingen, offensichtlich im Unterschied zu „kalten“, also Toten im Sarg), d.h. von Personen, die über die meterhohen, mit Stacheldraht und Messerklingen gespickten Zäune oder schwimmend durch das Meer nach Ceuta und Melilla gelangt sind, haben zweifelsohne eine abschreckende Wirkung und nötigen diejenigen Flüchtlinge, die es auf der afrikanischen Westroute versuchen, zu dem noch gefährlicheren Seeweg auf die kanarischen Inseln. Auch von dort können sie nach Marokko abgeschoben werden, aber das ist aufgrund der größeren Distanz komplizierter, und den Flüchtlingen bietet sich die Möglichkeit, auf den Inseln unterzutauchen oder per Boot auf das spanische Festland zu gelangen. Eine ebenfalls komplizierte und gefährliche, inzwischen von der spanischen und marokkanischen Küstenwache unterbundene Route führte auf die unbewohnte Alborán-Insel im Mittelmeer.
Nach Berechnungen der UNHCR sind seit 1988 mehr als 20.000 Menschen bei dem Versuch ertrunken, nach Spanien zu gelangen. Die Schätzungen sind schwierig, weil drei Viertel der solcherart Verunfallten nie gefunden werden.
Die „warmen Rückgaben“ verstoßen gegen EU-Recht, weil sie den solchermaßen relativ schnell Abgeschobenen ein Asylverfahren verunmöglichen. Spanien läßt sich diese Gefälligkeit Marokkos sicher einiges kosten, und wird von der EU dafür gelobt, wie gut es sein Flüchtlingsproblem handhabt, ohne die EU-Institutionen damit zu nerven.</p>

3. Die große marokkanische Mauer

Um das eroberte Gebiet der Westsahara gegen Guerilla-Überfälle der Polisario zu schützen, begann Marokko 1981 den Bau eines Systems von militärisch überwachten Mauern, die sich zur Behinderung der Bewegungsfreiheit der Polisario-Kämpfer als sehr effektiv erwiesen. Sie sind offenbar weder mit Geländefahrzeugen noch mit Kamelen zu überwinden. Dieses Mauersystem ist angeblich in Summe die längste Mauer der Welt mit 2500 Kilometern Länge.
So kontrolliert Marokko heute praktisch alle größeren Siedlungen, die Küste, die Phosphatminen von Bukra und ungefähr drei Viertel des Territoriums. Mit dem Rest, der sogenannten „Freien Zone“, kann auch die Polisario nicht viel anfangen, vor allem deshalb, weil der größte Teil an Mauretanien angrenzt, wo sie keine Unterstützung genießt.

Das Bemerkenswerte ist, wie viel Marokko in dieses Gebiet investiert hat, das es vorher als herrenloses Land qualifiziert hatte. Die Erlöse aus dem Phosphatabbau decken diese militärischen und administrativen Kosten nicht ab, die Westsahara ist ein gewaltiger Zuschußposten des marokkanischen Budgets. Man kann vermuten, daß ein guter Teil des Geldes, das es von Spanien für Flüchtlingsrücknahme und Fischereirechte erhält, in die Absicherung des Gebietes der Westsahara fließt, in einer Art Nord-Süd-Kanalisation.

Zu den Investitionen gehört auch der Versuch, marokkanische Siedler in das Gebiet zu locken, die sich dann im Falle eines doch abzuhaltenden Referendums mit lauter Stimme zu Marokko bekennen sollen. Das Projekt kommt aber nicht so recht voran. Die Gegend ist doch recht unwirtlich, die beruflichen Perspektiven trostlos und der Andrang endenwollend.

Aber die Frage der Westsahara ist in Marokko Chefsache, darüber gibt es keine Diskussion.

4. Ein außergewöhnlich reaktionärer Staat, inzwischen ziemlich verelendet

Man wird von der europäischen gleichgeschalteten Presse regelmäßig mit Berichten über böse Diktatoren in der muslimischen Welt gefüttert. Saudi-Arabien erhält aber dieses Etikett nicht, obwohl es dort mehr als angebracht wäre.

Ähnlich verhält es sich in Marokko. Um dem Schein Genüge zu tun, es handle sich dort um so etwas wie eine Demokratie, wurde in den 1990-er Jahren ein Parlament eingerichtet, das nichts zu sagen hat. In dieses Potemkinsche Parlament – mit 2 Kammern! – können dann bei regelmäßig stattfindenden Wahlen handverlesene Parteien ihre Vertreter schicken, die dann für Schein-Tätigkeiten ein sicheres Einkommen als demokratisches Aushängeschild genießen.
Die Regierung wird jedenfalls vom König ernannt. Die wichtigsten Organe dieser Regierung sind die Polizei und der Geheimdienst. Der ist sehr aktiv in allen Ländern, wo es nennenswerte marokkanische Exilgemeinden gibt, vor allem Spanien, Frankreich, Holland und Deutschland. Dort sind seine Augen und Ohren überall, in Gestalt zahlreicher Spitzel. Marokko sorgt dafür – in guter Zusammenarbeit mit den betreffenden Staaten – daß sich dort keine Auslandsopposition bilden kann.

Das wichtigste Einsatzgebiet ist jedoch das Inland, wo alle Opposition unter dem Deckmantel „Bekämpfung des Terrorismus“, Sicherung der „nationalen Einheit“ und ähnlichem verfolgt wird. Das trifft kritische Journalisten, Vertreterinnen von Frauenrechten, Demonstranten gegen Polizeiwillkür, Mitglieder der islamischen Bewegung „Gerechtigkeit und Nächstenliebe“, die das alawidische Königshaus nicht als religiöses Oberhaupt anerkennt, und andere mehr. Wie viele politische Gefangene mit geschobenen Verfahren verurteilt wurden oder gar ohne irgendein Verfahren in marokkanischen Gefängnissen schmachten, gefoltert werden und verschwinden, fragt keine nennenswerte internationale Organisation nach. Mohammed VI., ebenso wie sein Vater Hassan II., ist unser Hurensohn und damit basta.

Neben den politischen Verhältnissen befindet sich auch die marokkanische Wirtschaft in einem beklagenswerten Zustand. Und das in einem Land, das über gute landwirtschaftliche Voraussetzungen und auch Traditionen und Techniken verfügen würde, den Boden produktiv zu machen und die Produkte weiterzuverarbeiten. Die Landwirtschaft kann teilweise nicht einmal ihre eigenen Produzenten ordentlich ernähren. Zudem werden auf den besseren Böden oft Cash Crops für den Devisenexport angebaut.
Der internationale Handel und die Häfen haben keine nennenswerte Bedeutung mehr. Hauptsächlich findet Schmuggel von Haschisch über die Meerenge von Gibraltar statt.
Die verarbeitende Industrie drängt nicht nach Marokko. Einzig der Tourismus und in Verbindung damit das Kunsthandwerk haben sich in den letzten Jahrzehnten zur Haupt-Einnahmequelle vieler Marokkaner entwickelt.
Dem hat die Covid-Pandemie ein Ende gesetzt.
Ebenso war ein wichtiger Geschäftszweig Nord-Marokkos der Handel und Schmuggel mit den spanischen Enklaven, das wurde durch Grenzsperren wegen Covid-19 unterbunden.
Diese Kombination von politischer Repression und wirtschaftlicher Trostlosigkeit hat die Flüchtlingsströme verändert. Immer mehr Marokkaner sagen: Nichts wie weg hier!
So kam es vor einigen Wochen zu einem Ansturm von ca. 6.000 Marokkanern nach Ceuta, mit Schwimmreifen und Schlauchbooten legten sie die Strecke zwischen Marokko und den Stränden Ceutas zurück. Die ansonsten in der Ausgangszone in Marokko patrouillierende Polizei hatte sich zurückgezogen, sodaß die Bahn Richtung Ceuta frei war.
Der Grund: Spanien hatte akzeptiert, daß der in Algerien lebende und an Covid-19 erkrankte Generalsekretär der Polisario, Brahim Ghali, zur Behandlung nach Spanien überstellt worden war.

5. Die Sahrauis: Dauerflüchtlinge, Staatenlose und politisch Verfolgte

In der Westsahara leben nach Schätzungen von UNO-Organisationen ungefähr 600.000 Menschen. Wieviele davon nach 1975 eingewanderte Marokkaner und wieviele aus dem Gebiet stammende Sahrauis sind, läßt sich nicht feststellen, da dort weder Volkszählungen veranstaltet werden noch von irgendeiner Seite ein Interesse daran besteht.
Es ist der marokkanischen Führung recht, wenn der Mantel des Unwissens und des Schweigens über diese Gegend gebreitet wird.
Die meisten Bewohner der Westsahara haben keinen Paß und können daher auch nirgendwohin ausreisen. Erstens kostet so ein Dokument einiges und viele können das Geld dafür nicht aufbringen. Außerdem würde das Ansuchen um einen Paß die Anerkennung der Hoheit Marokkos bedeuten, und diesen Schritt wollen viele nicht gehen, die in der Westsahara leben. Die Sahrauis in der Westsahara sind also Staatenlose.

Ähnlich verhält es sich mit den ca. 150.000 Sahrauis, die in 5 Flüchtlingslagern rund um die algerische Stadt Tinduf leben. (Marokkanische Quellen sprechen von unter 100.000.) Jedes dieser Lager ist nach einer Ansiedlung der Westsahara benannt: El Aiun, Smara, Boujdour, Awsard, Dachla. Damit wird der Anspruch angemeldet, einmal in diese Gebiete zurückkehren zu können. Diese Lager werden schlecht und recht über die UNHCR, das Rote Kreuz, den Roten Halbmond und andere internationale Organisationen versorgt.
Algerien legt keinen Wert darauf, den Sahrauis die algerische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Ihr Flüchtlingsstatus soll aufrechterhalten bleiben, als Garant des Rechtsanspruchs auf die Westsahara. Die in Algerien lebenden Sahrauis sind also ebenfalls staatenlos. Sie brauchen auch eine besondere Erlaubnis, sowohl von der Polisario als auch von Algier, um die Zone um Tinduf überhaupt verlassen zu dürfen.

Die Lebensumstände der Sahrauis haben sich seit dem Anschluß der Westsahara an Marokko drastisch verändert. Sie mußten ihre nomadische Lebensweise aufgeben und seßhaft werden. Dadurch wurden sie zu abhängigen Hilfeempfängern. Die Versorgung von Siedlungen in der Wüste ist jedoch sehr aufwendig: Für sehr schlechte Lebensqualität muß viel Geld gezahlt werden. Die Lager werden von der Polisario selbstverwaltet, aber die Versorgung wird größtenteils aus dem Ausland finanziert und geliefert.

Während die Bevölkerung der Lager in Algerien in vor allem mit Naturkatastrophen (manchmal regnet es gewaltig, dann schwimmt alles davon) zu kämpfen haben, kommt es im marokkanisch besetzten Teil regelmäßig zu Demonstrationen, Verhaftungen und dem Einsatz polizeilicher Gewalt. Es gibt keine gemeinsame Ebene, keinen Dialog zwischen den Behörden und den Bewohnern. Mindestens 150 Sahrauis sind in Marokko verschollen.

Die Polisario hält an der Fiktion eines eigenen Staates fest, gibt Geld heraus und betrachtet sich als Regierung der DARS – einer Fiktion, die sich nach Leseart der Führer der Polisario irgendwann manifestieren und zu Wirklichkeit werden muß.