AM KREDIT SCHEITERND?
Während es selbstverständlich ist, daß sich Staaten verschulden – trotz des propagandistischen Geschreis vom alles berappenden Steuerzahler – schauen alle leicht geniert weg, wenn das Kartenhaus einmal zusammenkracht, wie in Argentinien und Griechenland, und versuchen alle möglichen außerökonomischen Gründe dafür dingfest zu machen, warum es hier schiefgegangen ist. So auf die Art: das konnte ja nicht gutgehen! Nie werden dafür Geld und Kredit ins Feld geführt, sondern immer angebliche personelle Fehlbesetzungen und Fehlentscheidungen. Einmal waren Politiker „unfähig“, dann wieder wurde irgendwer „getäuscht“ und ließ sich über den Tisch ziehen, schließlich waren Merkel & Co. umbarmherzig und bestehen auf einer „verfehlten“ Austeritätspolitik, die, wie man sieht, „nix bringt“. (Als ob die nicht schon weitreichende – verheerende – Folgen gehabt hätte, nur eben nicht im Sinne der Kreditgläubigen!)
Teil 2: Die Staatsschulden in relativen Zahlen
A. Die Maastricht-Kriterien: bei richtigem Verhältnis Erfolg garantiert?
Das Verhältnis von Schulden zu Staatsschuld beruht auf einem ökonomischen Dogma, das es mit den Maastricht-Kriterien auch zu einer praktischen Anwendung gebracht hat. Dieser theoretische Unfug besagt, daß Schulden „solide“ sind, wenn sie in einem „richtigen“ Verhältnis zum Bruttosozialprodukt stehen.
Dieses BIP selber ist wiederum ein sehr künstliches Produkt, in dem alle Geschäfte, die in einem Land gemacht werden, zusammengezählt werden – also auch jede Menge windige Geschäfte im Wertpapiersektor oder bei Immobilien, denen gar keine wie immer geartete Produktion entspricht. Man sollte sich sich diesen Umstand vor Augen halten, da vor 2008 große „Wachstums“-Zahlen verkündet wurden, denen gar keine tatsächliche Wertschöpfung gegenüberstand, sondern nur Spekulationsgewinne – deren Crash dann auf einmal als „Platzen“ einer „Blase“ besprochen wurde.
Es ist also zu beachten, daß dieses BIP selber gar keine reale Größe ist, sondern auf einer Konvention der Messung von Gewinnen innerhalb einer Volkswirtschaft beruht.
In einem Verhältnis zu diesen solchermaßen gemessenen Gewinnen sollte ab damals – Dezember 1991 – die Schuldenaufnahme stehen. 60 % der gesamten Staatsschuld im Verhältnis zum BIP, und 3% jährlich Neuverschuldung – das galt als tragbar bis super. Niemand dachte damals, daß diese öffentliche Schuld problematisch werden könnte – die einzige Sorge galt damals der Inflation, die niedrig gehalten werden sollte.
Solchen Festlegungen offenbaren eine gründliche Gleichgültigkeit gegenüber der Qualität des solchermaßen Gemessenen und ins Verhältnis Gesetzten. Was Wachstum und Gewinn zugrundeliegt – das Verhältnis von gewinnbringender Produktion, Verkauf und Zahlungsfähigkeit – und worauf die Schulden eines Staates beruhen; ob ein Land Standort oder Markt für Importware ist, und in was für einem Geld dort gezahlt und Schulden gemacht werden – all das ist gelöscht in dem bloßen Verhältnis von Quantitäten. Daraus ergibt sich auch die Dummheit und Sattheit, mit der angenommen wird, durch die Festlegung eines solchen Verhältnisses monetäres Gleichgewicht und wirtschaftlichen Erfolg hervorrufen zu können.
Dementsprechend die Ratlosigkeit, als dieses ganze Zahlenspiel zerbröselte.
B. Die Staaten und ihre Schulden
Das Land, das die höchste Verschuldung im Verhältnis zum BIP aufweist, ist bekanntermaßen Griechenland. Die Schulden betragen offiziell 179,2 % des BIP.
Dem liegt ein Rückgang des BIP von 2008-2016 von 356 auf 196 Mrd. US-Dollar zu Grunde. (Es ist bemerkenswert, daß eine offizielle Statistik-Website der EU das BIP in US-$ mißt.) Das ist ein Rückgang fast auf die Hälfte. Gleichzeitig wuchsen die Schulden in absoluten Zahlen von 2005 bis 2011 von 195 Mrd. € auf 355 Mrd. € an, dann kam der Schuldenschnitt und seither dümpeln sie zwischen 310 und 315 Mrd. Euro herum.
Es ist nicht ganz klar, wie sich die 179 % der Überschuldung errechnen, weil das errechnete BIP für 2015 sind 196 Mrd. $ = (beim derzeitigen Kurs von 1,06 $ pro Euro) 185 Mrd. €. Die angegebenen Schulden von 314 Mrd. € würden beim derzeitigen Wechselkurs sogar etwas weniger, nämlich 170% des BIP ausmachen.
Das Land mit der 2-thöchsten Verschuldung zum BIP ist Italien mit 135,5%.
Italiens BIP ging seit 2008 unregelmäßig zurück, von 2,402 Mrd. auf 1.852,5 Mrd. US-$. Die Verschuldung stieg gleichzeitig von 1,671,2 auf 2,214,2 Mrd. €. Wenn man jetzt wieder die Dollar in Euro umrechnet, so stehen einem BIP von 1.747,6 Mrd. € Schulden von 2.214,2 Mrd. gegenüber, was nur 127% Überschuldung ausmacht.
Der Anstieg des Dollar läßt die Schuldner etwas besser ausschauen, aufgrund der BIP-$-Abrechnung der Statistik-Seite.
Ähnlich verhält es sich beim dritthöchst verschuldeten Staat der EU, bei Portugal. Hier steht einer behaupteten Verschuldung von 131,7% eine errechnete von 121% gegenüber.
Und so weiter. Wenn man sich auf die offiziellen Zahlen bezieht, die auf der deutschen Statistik-Seite angeführt sind, so läßt sich feststellen, daß gegenüber den in Maastricht festgelegten Konvergenzkriterien von 60 % Überschuldung auch die geringeren Defizite von anderen Staaten längst aus dem Ruder gelaufen sind. Von den 27 Mitgliedsstaaten der EU erfüllen nur 10 diese Kriterien, von denen der Eurozone gar nur 5: Luxemburg, die Slowakei und die 3 Staaten des Baltikums.
Gleichzeitig, und das grenzt schon an Kabarett, beschweren sich die EZB und verschiedene Wirtschaftsweise und sonstige Experten darüber, daß die EU trotz aller Geldschwemme keine ordentliche Inflation hinkriegt!
Fazit
Abgesehen davon, daß sich an der Debatte um die Schulden die Bodenlosigkeit und Begriffslosigkeit der heute gelehrten und geglaubten Wirtschaftswissenschaft offenbart – was läßt sich aus diesen Zahlen herauslesen?
Erstens, daß viel mehr Ansprüche auf Gewinn innerhalb der EU erwachsen sind, als sich aus dem laufenden Geschäft auch nur annähernd befriedigen lassen.
Zweitens, daß dieser Umstand dem Finanzkapital nur begrenzt Kopfzerbrechen bereitet – es setzt weiter auf die Kreditierung von Souveränen, wenngleich wesentlich selektiver als vor der Finanzkrise von 2008. In einem bemerkenswerten Einvernehmen zwischen Politikern, Notenbankchefs und dem privaten Finanzsektor scheint Einigkeit darüber zu bestehen, daß Kredit durch neuen Kredit beglaubigt wird und beglaubigt werden muß.
Der gleiche Grund, warum gegenüber manchen Staaten Mißtrauen angesagt ist, wird gegenüber den angeblich „soliden“ Schuldnern in Anschlag gebracht: das Finanzkapital beruht heute zu einem guten Teil auf der öffentlichen Schuld, ihre Aufkündigung wäre das Ende des Geldsystems, und des Weltmarktes. Die Dialektik von Vertrauen gegenüber den USA und Deutschland und Mißtrauen gegenüber Griechenland und Argentinien ist die Verlaufsform, in der das Festhalten an der Kreditierung von Staaten bekräftigt wird.
Literaturtipp: Das Finanzkapital
siehe auch:
DER BANKENRETTER (29.10. 2016)
NEGATIVZINSEN (5.8. 2016)
GELDVERMEHRUNG ALS WACHSTUMSHEBEL? (21.11. 2015)
GELDFETISCH (31.7. 2015)
Ich muß gestehen, ich hab mich verrechnet, weil ich mich beim Wechselkurs vertan habe. Inzwischen wurde alles berichtigt.
Kategorie: Die Marktwirtschaft und ihre Unkosten
Der Schuldenstand in der EU
AUF KREDIT GEGRÜNDET
Über allen möglichen Großereignissen und Stürmen im Wasserglas ist der Schuldenberg, den die EU vor sich herschiebt, etwas in den Hintergrund gerückt. Dabei wächst er nach wie vor und entfernt sich immer weiter von den Gewinnen, die in Europa im Umsatz von Waren und Dienstleistungen (noch) gemacht werden.
Nur am Rande klingt das Thema noch an:
Italien erhält einen zusätzlichen Verschuldungsrahmen von 20 Milliarden Euro, um seinen Banksektor vor dem Kollaps zu retten.
Die EZB verlängert ihr Anleihen-Aufkaufprogramm (für Staats- wie für Betriebsanleihen, angeblich sogar für Aktien).
Schäuble warnt vor dem Zerbrechen des Euro.
Griechenland erfüllt seine Hilfspaket-Vorgaben nicht und wird unter Druck gesetzt, weitere Kürzungen von Pensionen und Sozialleistungen vorzunehmen. Griechische Obdachlose und Flüchtlinge erfrieren, und die Medien machen die griechische Regierung dafür verantwortlich.
In Spanien muß wieder einmal eine Bank gerettet werden, und die spanischen Banken müssen nach Höchstgerichtsurteilen unrechtmäßig kassierte Zinsen zurückerstatten.
usw.
Teil 1: Die Staatsschulden in absoluten Zahlen
Die höchste Staatsverschuldung der gesamten EU weist heute Italien auf. Sie beträgt 2250,4 Milliarden, oder 2 Billionen 250,4 Milliarden Euro. (Dagegen nehmen sich die jetzt für die Bankenrettung bewilligten 20 Mrd. sehr winzig aus.) Wenn man einen Zins von nur 1% jährlich annimmt – was sicher zu niedrig ist, da ja Italien immer höhere Zinsen als z.B. Deutschland oder Holland anbieten mußte, um seine Anleihen loszuwerden – so kommt man auf einen Schuldendienst von 22,5 Mrd. Euro pro Jahr. Bei doppeltem Zins von 2% müßte Italien also 45 Mrd. Euro pro Jahr nur für Zinszahlungen aufwenden. Das wiederum heißt, daß es auf jeden Fall diese Summe als Neuschuld aufnehmen müßte. Dazu kommen noch Tilgungen der Altschuld, die ebenfalls durch Neuschulden beglichen werden müssen. Es ist also klar, daß Italiens Schuld nur wachsen kann, es fragt sich nur, bis wann? Es handelt sich immerhin um die 4-tgrößte Volkswirtschaft der EU und die 3-tgrößte der Eurozone.
Mit geringem Abstand hinter Italien folgen Frankreich und Deutschland mit 2170,8 und 2168,2 Milliarden Euro Schuld. Mit Modifikationen nach unten gilt natürlich auch für diese Staaten die Belastung durch Zinszahlungen und Tilgungen, wobei Deutschland eindeutig in der besseren Position ist, da die Bundesanleihe inzwischen als Referenzpapier am Wertpapiermarkt gilt, als eine Art sicherer Hafen, und Deutschland sich daher heute zum Nullzins, manchmal sogar zu Negativzinsen neu verschulden kann.
An 4. Stelle kommt Großbritannien mit 2044,5 Milliarden Euro. Vor einem Jahr lag GB in absoluten Zahlen noch an erster Stelle der gesamten EU. Das Brexit-Referendum und der Fall des Pfundes gegenüber dem Euro haben GBs Schuld verringert. Daran sieht man, was für ein Vorteil es für ein Land ist, sich in seiner eigenen Währung zu verschulden.
Der Schuldendienst ist natürlich auch hier gewaltig. Bisher war es für GB kein Problem, sich Kredit zu günstigen Bedingungen verschaffen. Es bleibt abzuwarten, ob das auch in Zukunft so bleibt – ob vielleicht sogar das Pfund als Fluchtwährung gegenüber dem Euro punkten kann, und dadurch der Brexit vom Finanzkapital honoriert wird. Eine umgekehrte Entscheidung ist genauso denkbar – nämlich daß der Verfall der Eurozone das Pfund mit sich reißen wird.
Es folgt Spanien mit 1106,7 Milliarden, also fast der Hälfte Großbritanniens. Hier muß bemerkt werden, daß Spanien lange relativ hohe Zinsen bezahlen mußte, da es als Wackelkandidat galt, bis das Aufkaufprogramm der EZB den Zinsfuß drückte und die Kreditaufnahme sicherte. Man muß daher für Spanien einen höheren Zinsendienst annehmen als für D, Fr oder GB.
Hinzu kommt, daß Spanien bei statistischen Daten gerne jongliert mit dem, was es als „öffentliche Schuld“ einbekennt. Daher sind die Schulden der autonomen Provinzen und der Gemeinden kaum bis gar nicht erfaßt. Das gilt übrigens für die ganze EU, wenngleich in geringerem Ausmaß: Die öffentliche Schuld ist überall geschönt bzw. unvollständig aufgelistet, objektiv erfaßt ist nur die in Anleihen und Schatzscheinen vorliegende eigentliche Staatsschuld.
Als nächstes folgen beinahe Kopf an Kopf Belgien mit 455,3 Mrd. und Holland mit 436,6 Schulden. Hier ist nur festzuhalten, daß die Schuld Hollands als „solide“, die Belgiens als problematisch gilt.
Die nächsten in der Reihe sind Griechenland mit 315,3 Mrd. und Österreich mit 298,8 Mrd. Euro Schulden. Hier liegen ein Problemstaat und ein Staat mit AAA-Rating beinahe Kopf an Kopf, wo aufgrund der unterschiedlichen Bevölkerungsanzahl die Pro-Kopf-Verschuldung Griechenlands mit 28.576,7 € deutlich unter der von Österreich mit 34.345,9 € pro Einwohner liegt.
Bei den folgenden Staaten Portugal mit 239,8 Mrd. und Polen mit 220,4 Mrd. ist festzuhalten, daß sich hier ein Eurozonen-Land und ein Land mit eigener und gleichzeitig abhängiger Währung miteinander vergleichen. Abgesehen von der Pro-Kopf-Verschuldung – bei Portugal 23.188 €, bei Polen 5.715 € pro Einwohner, also weniger als ein Viertel der von Portugal – handelt es sich bei der Schuld Polens um eine Schuld in zweierlei Währungen. Ein Teil der Schuld liegt in Euro vor, ein Teil in Zloty.
Um den Wechselkurs zum Euro stabil und ihre Währung konvertibel zu halten, müssen Staaten wie Polen regelmäßig auf Euro lautende Anleihen auf Börsen der Eurozone begeben. Ein Teil ihrer Staatsschuld ergibt sich daher bloß aus der Währungspflege. Mit anderen Worten: sie müssen sich verschulden, um überhaupt am Weltmarkt teilnehmen zu können.
Damit unterscheiden sie sich von Staaten wie Schweden oder Großbritannien, deren Währung als Hartwährung anerkannt ist und die sie nicht durch Stützungskäufe kontrollieren müssen.
Sackt nämlich der Wechselkurs von Zloty, Forint usw. gegenüber dem Euro ab, ab, so verteuern sich nicht nur die Importe, sondern die Staatsschuld wächst im Verhältnis zur eigenen Ökonomie.
Als nächstes folgen Irland und Schweden mit 200,1 Mrd. und 196,4 Mrd.
Irland weist hier die größte Pro-Kopf-Verschuldung der Eurozone auf, mit 42.034 €. Die Schuld Irlands rührt hauptsächlich aus der Bankenrettung her, die nach dem Verfall der Immobilienpreise und der Hypothekarkredite den irischen – und in Folge auch deutschen – Banksektor bedrohte. Man kann sagen, Irland mußte sich verschulden, um die Spekulationsgewinne kontinentaler Banken zu retten. Die Staatsschuld Irlands stieg von 47,2 Mrd. € im Jahr 2007 auf 215, 3 Mrd. im Jahr 2013, also um mehr als das Vierfache. Seither stabilisierte sie sich um die 203 Mrd., aber auch nur deshalb, weil Irland die Rückzahlung der Schuld aus dem Rettungsschirm bis 2038 gestundet wurde. (FAZ, 7.2. 2013) Dadurch erspart sich Irland den Schuldendienst gegenüber den Rettungsfonds. Ansonsten würde seine Staatsschuld weiter anwachsen.
Der Grund für diesen ungewöhnlichen Schritt war, daß die EU und EZB nach heftiger Kritik von innen und außen (IWF) an den Rettungspaketen und Austeritätsprogrammen einen Erfolg und Beweis präsentieren wollte, daß die Maßnahmen „greifen“ und der richtige Weg sind, um ein Land und seinen Bankensektor wieder zu sanieren.
(Als der Effekt verpufft war und die restlichen Staaten weiter konkursgefährdet waren, wurde Anfang 2015 das EZB-Programm zum Ankauf von Anleihen begonnen, das bis heute läuft.)
Bei Schweden läßt sich keine annähernd so krisenhafte Entwicklung der Staatsschuld feststellen. Dabei war Schwedens Banksektor von 2008 bis 2014 aufgrund der im Baltikum vergebenen Fremdwährungskredite ausgesprochen gefährdet. Der schwedische Staat mußte aber seinen Kredit nicht strapazieren, um einen Crash zu verhindern: Der IWF-Kredit zur Stützung Lettlands im Jahr 2008 und der spätere Euro-Beitritt dieses Landes 2014 halfen Schweden aus der Bredouille – aber auch Schweden ist ein Land, wo die Staatsverschuldung seit Jahren kontinuierlich wächst.
Soweit zu den Top 14 der EU-Staatsverschuldung.
(Quelle für die Schuldensummen: de.statista.com, für die Bevölkerungszahlen: Wikipedia)
Fortsetzung: die relative Staatsverschuldung
siehe dazu auch:
WIE GEHT ES EIGENTLICH PORTUGAL? (19.9. 2016)
SPANIENS ÖFFENTLICHE SCHULD WÄCHST UND ERREICHT IHREN HÖCHSTEN STAND SEIT MEHR ALS EINEM JAHRHUNDERT (18.8. 2016)
DIE LANGE GRIECHISCHE AGONIE (7.6. 2016)
GRIECHENLAND UND DER EURO (6.6. 2015)
FALSCHE VERSPRECHUNGEN UND VON WUNSCHDENKEN BESTIMMTE PROGNOSEN (1.2. 2014)
EIN MUSTERBEISPIEL FÜR BUDGETSANIERUNG UND VOLKSARMUT (12.1. 2014)
WARUM ITALIEN? (4.1. 2013)
AUFGESCHOBEN IST NICHT AUFGEHOBEN (9.12. 2012)
Das syrische Schlachtfeld und der Westen, Teil 2
DER ABSTIEG EUROPAS
4. Die EU
Unter den erklärten Gegnern Assads ist die EU schließlich diejenige Macht, die die allerschlechteste Figur abgibt.
Die Hetze gegen Assad und die militärischen Einsätze in Syrien haben nämlich erstens die EU außenpolitisch sehr alt aussehen lassen und dazu geführt, daß keine der Parteien in diesem Konflikt sie mehr ernst nimmt. Außenpolitisch-militärisch war also das gesamte Engagement der EU eine einzige Blamage.
Nach ihrer ebenfalls eher bescheidenen Performance in der Ukraine, wo die EU ein Mauerblümchen neben den beiden größeren Mächten abgab und jetzt eine durch und durch korrupte Elite an der Macht erhält, war ihre Positionierung im Syrien-Konflikt ein weiterer Schuß ins Knie, der die EU nach außen wie nach innen unglaubwürdig gemacht hat.
Zweitens hat dieses Engagement gegen die Regierung Assads der EU im Inneren jede Menge Schaden und Probleme beschert, an denen sie mehr denn je laboriert und die ihre Zersetzung beschleunigen.
Da sind zunächst die Anschläge islamischer Extremisten in Europa, die sich erstens gegen die Anti-IS-Interventionen verschiedener EU-Staaten im Nahen Osten und Nordafrika und zweitens sehr generell gegen eine gewisse kompensatorische Party- und Konsumkultur richten, mit der viele Bürger der EU ihr stimmungsmäßiges Auskommen finden, während sie materiell schon stark am Zahnfleisch gehen.
Zur Vorgeschichte dieser Anschläge gehört, daß sich in der EU selbst ein radikaler Islam entwickeln konnte, mit teilweiser Begünstigung von Behörden und Geheimdiensten, die hofften, damit junge Leute von Drogen wegzukriegen und sich künftige Einflußnahme in der islamischen Welt zu sichern. Diese Politik der freundlichen Nasenlöcher gegenüber dem Islam, Moscheen und Imamen begann ebenfalls mit den Jugoslawienkriegen. Damals wurde z.B. Alija Izetbegovic, der eigentlich die Scharia in Bosnien einführen wollte, der Weltöffentlichkeit als „Gemäßigter“ verkauft, der ja nur die Freiheit der Religionsausübung verteidigte.
Nachdem die religiösen Geister einmal gerufen worden waren, erwies es sich als Illusion, sie EU-konform zu gestalten und Radikalisierung zu Selbstmordattentätern zu verhindern.
Dann wären da als zusätzliches Problem der EU die Flüchtlinge, die sowohl die Abschottungs- als auch die Asyl- und Aufnahmepolitik der EU heillos überforderten. Da man im Meer keine Zäune und Mauern bauen kann und auch nicht alle Leute bereit waren, unterwegs zu ertrinken – und auch Staaten und Private nicht willens waren, dabei zuzuschauen – gefährdete der Flüchtlingsstrom die offenen Grenzen der EU und den internen Freihandel. Weiters scheiterte das Florianiprinzip, immer den Nachbarstaaten die überschüssigen Flüchtlinge zurückzuschieben. Drittens scheiterte die Abschiebung ins EU-Ausland am Widerstand anderer Staaten. Und schließlich kamen die Flüchtlinge in eine EU, die immer mehr eigene Bürger nicht mehr benötigt, für überflüssig erklärt und in eine nach unten offene Armutsverwaltung abschiebt.
Mit den syrischen Flüchtlingen steht weiters die EU und vor allem Deutschland vor dem Problem, wie weiter mit ihnen zu verfahren sei. Sie nach Syrien abschieben geht allein schon deshalb nicht, weil man dazu ja ein Schubabkommen mit Assad schließen und ihn dadurch als rechtmäßigen Regierungschef anerkennen müßte.
Es ist übrigens nicht auszuschließen, daß – als weiteren Schritt der Desintegration der EU und Brüskierung des deutschen Führungsanspruchs – einzelne EU-Staaten solche bilateralen Abkommen schließen könnten, wenn Syrien endgültig befriedet ist und seine Bürger vielleicht zurückhaben möchte. Ungarn, Tschechien, Polen, Italien oder Griechenland bieten sich hier als Kandidaten an …
Diese Berg von ungelösten und letztlich auch im Sinne der Verfaßtheit der EU und nach dem Willen ihrer Politiker gar nicht lösbaren Problemen versuchte die deutsche Kanzlerin durch das Abkommen mit der Türkei zu in den Griff zu bekommen.
Womit wir zum letzten bedeutenden Akteur des syrischen Dramas kommen.
III. Die Türkei
Die Politiker der AKP sind schon seit einiger Zeit der Ansicht, daß ihnen ihr Staat, ihre Nation sowohl nach internationalem Einfluß zu schwach als nach territorialer Ausdehnung zu klein ist. Wie alle Politiker, die ihr Hoheitsgebiet gerne erweitern würden, gehen sie auf die Suche nach historischen Vorbildern und werden bei ihrem Vorgängerstaat fündig. Dieser Neo-Osmanismus wurde durch den „arabischen Frühling“ zusätzlich beflügelt. Die AKP sah sich berufen, sich als künftige Führungsnation gemäßigter islamischer Regierungen in Spiel zu bringen.
Damit geriet sie in Gegensatz zu Saudi-Arabien und Katar, die sich diese Rolle für radikal moralwachtelige Regierungen auserkoren hatten. Dieses Duo infernal sah sich also erstens in ihren Führungsambitionen in der muslimischen Welt bedroht, und zweitens kam ihnen die Türkei auch bei ihren Vorstellungen, wer in diversen Staaten zukünftig regieren dürfte, in die Quere.
Die Türkei war aber auch zusehends in ihrer ihr von der NATO zugedachten subalternen Rolle als NATO-Frontstaat genervt. Hin und wieder für die USA und die EU die Kartoffeln aus dem Feuer holen zu dürfen, und im Gegenzug dafür etwas Schulterklopfen zu kriegen – das schmeckte Erdogan, Davutoglu usw. nicht. Um so mehr, als ihre gelegentlichen Grenzeinsätze gegen kurdische Separatisten zwar genehmigt, aber weder durch gebietsmäßigen Erweiterungen noch eine richtige, NATO-unterstützte Einmarscherlaubnis belohnt wurden.
In dieser Situation ging der Bürgerkrieg in Syrien los. Nach anfänglichem Zögern beschloß die türkische Führung, sich zunächst zum Vorposten des Westens zu machen und die Aufständischen und eingesickerten Kämpfer nach besten Kräften zu unterstützen. Die Türkei brachte sich als Kriegspartei so richtig ein, öffnete den islamischen Halsabschneidern ihre Grenzen, versorgte sie in Spitälern, belieferte sie mit Waffen und kaufte ihnen das Erdöl ab, mit dem sie sich finanzierten. Die Politiker der Türkei hofften, sich als Lohn für diese Dienste an der Neuordnung Syriens beteiligen und Teile Syriens einverleiben zu können. Gerne stellte sie auch ihren Flughafen für diverse NATO-Einsätze zur Verfügung, in der Hoffnung, einmal die NATO-Staaten für ihre eigenen Ambitionen einsetzen zu können.
Dabei gerieten sie aber zusehends in Gegensatz zu den USA und der EU, die nach ihrem Schwenk zur Bekämpfung des IS die Kurden als Gegengewicht sowohl zum IS als auch zur syrischen Regierung entdeckten und nach besten Kräften unterstützten. Das hintertrieb die Annexionsbestrebungen der Türkei, bescherte ihr eine unruhige Südgrenze und verstärkte separatistische Bewegungen im Südosten. Als dann die USA sich auch noch einen eigenen Stützpunkt im syrischen Kurdengebiet einrichtete, um sich von der Türkei unabhängig zu machen, schlug das in den Augen von Erdogan & Co. dem Faß den Boden aus.
Noch mehr machte ihr zunächst das Eingreifen Rußlands zu schaffen. Während schon die Unterstützung des Iran für Assad ärgerlich genug war, aber der Türkei, so ihre Erwartung, noch mehr Unterstützung durch die NATO bringen würde, so war Rußland doch ein dickerer Brummer. Als die türkische Luftwaffe ein russisches Flugzeug abschoß, hofften die türkischen Politiker vermutlich auf einen Gegenangriff und die Ausrufung des Bündnisfalles. Die türkische Führung war derartig wütend über das Durchkreuzen ihrer Pläne, daß sie auch den III. Weltkrieg riskiert hätte, um ihre Machtphantasien Wirklichkeit werden zu lassen.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Der islamische und kurdische Terror in der Türkei ebenso wie der mißglückte Putsch hatten eine radikale Abwendung von USA und NATO zur Folge. Auch der Auftritt von der EU-Mutti in der Türkei, bei dem sie Erdogan den Bauch pinselte und mit dem Scheckbuch wedelte, damit die Türkei die EU vor dem Massenansturm von Habenichtsen bewahren möge, zeigten dem Neo-Sultan deutlich die Armseligkeit und Zerstrittenheit der EU. Es machte nicht nur ihm, sondern auch der breiten Öffentlichkeit deutlich, daß die Türkei von der EU nichts zu erwarten habe. Die verhaltenen Reaktionen nach der Niederschlagung des Putsches taten ein Übriges, um eine sehr grundlegende Abwendung der türkischen Regierung von der EU hervorzubringen.
Die russische Diplomatie und Spionagetätigkeit vollendeten schließlich die Kehrtwende. Heute sucht die Türkei ihr Heil im Anschluß an Rußland. Vermutlich wird sie auch da eine herbe Enttäuschung erleben.
Es kann natürlich auch sein, daß ein Lernprozeß eintritt und Erdogan seine außenpolitischen Ambitionen zurücksteckt, um sich an der Macht und die Türkei zusammenzuhalten.
Fazit
Das syrische Schlachtfeld nimmt Konturen an. Fast alles, was in der Weltpolitik Rang und Namen hat, hat sich dort herumgetrieben. Jetzt ist Aufräumen angesagt. Syriens Regierung und ihre Verbündeten haben sich vorgenommen, den ursprünglichen Zustand Syriens wiederherzustellen.
Das heißt:
Liquidierung des IS und aller anderen religiösen Aufständischen.
Angebot der Begnadigung, sofern sie die Waffen niederlegen.
Reintegration der autonomen Kurdengebiete in die syrische Staatsverwaltung. Künftige teilweise Selbstverwaltung und deren Ausgestaltung sind Verhandlungssache.
Vertreibung aller feindlichen ausländischen Armeeangehörigen aus dem Staatsgebiet Syriens.
Schließung der Stützpunkte aller Staaten, die nicht der Pro-Assad-Koalition angehören.
Dauernde und verstärkte militärische Präsenz Rußlands in Syrien.
Wiederaufbau und exquisite Handelsbeziehungen Syriens im Rahmen der Eurasischen Union.
Es bleibt abzuwarten, wie die neue US-Regierung, die EU und die Staaten des Nahen Ostens darauf reagieren werden.
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siehe auch:
MENSCHEN ALS ANGEBLICHE NATURKATASTROPHE 2.3. 2016
„DAS PROBLEM MIT DEN FLÜCHTLINGEN HÄNGT MIT DER NAHOSTPOLITIK DER EU ZUSAMMEN“ 24.9. 2015
VON DER MACHT DER MASSEN 3.9. 2015
TOTALER KRIEG 30.3. 2015
PIPELINES 4.12. 2014
DIE TÜRKEI – EIN KRISENGEWINNER? 14.5.2013
TUNESISCHE FLÜCHTLINGE STRÖMEN NACH LAMPEDUSA 11.2. 2011