ÖSTERREICHS BANKSEKTOR SCHRUMPFT
„Überraschend kommt, dass die Veränderungen im Kreditapparat von der Nummer eins der Branche ausgehen und zur Demontage selbiger führen dürften: Von der Bank Austria bleibt – wenn die vom Standard enthüllten Pläne umgesetzt werden – wenig übrig.“ (Standard, 20.10.)
Wenn die der Bilanzsumme nach größte Bank Österreichs mehr oder weniger ihre Auflösung bekannt gibt, so ist das erstens eine Auskunft über den Zustand des Finanzkapitals überhaupt und zweitens über den Zustand der österreichischen Wirtschaft.
1. Kredit und Bankgeschäft 2015
„Der Rückzug ist seit Langem sichtbar: Ein Drittel der Bank-Austria-Filialen sperrte in den vergangenen Jahren zu. … Doch dass die Bank Austria so weit gehen würde, ihr gesamtes Privatkundengeschäft an die Bawag zu verkaufen, wie Der Standard berichtet, war dann doch ein Schock für die rund 7000 Beschäftigten der Bank in Österreich und deren Kunden“ (– vermutlich nicht nur für die). (Kurier, 20.10.)
Als Grund führt der Schreiber des Artikels das Mißverhältnis zwischen niedrigen Zinsen und hohen Kosten an. Mit einem Wort: die Bank macht aus dem Privatkunden, also den Normalverbrauchern, kein Geschäft mehr, hat aber zu viele und teure Mitarbeiter.
Nun ja. Es werden nicht nur die niedrigen Zinsen sein, die das Geschäft nach unten ziehen. Schließlich zahlen die Banken ja praktisch keine Zinsen mehr auf Einlagen, erhalten also Betriebskapital zum Nulltarif. Daß dieser Nulltarif gegenüber den Kunden auch in Anschlag gebracht würde, kann man jedoch nirgends bemerken. Die Banken könnten also doch jede Menge Kredit zu höheren Zinsen vergeben, meint man. Das scheint aber sowohl an den Banken als auch an den Kunden zu scheitern, die sich nicht mehr in Massen Hals über Kopf verschulden wollen. Ebenso werfen die Banken auch nicht mehr jedem armen Schlucker, der über seine Verhältnisse leben will, das Geld nach. Das gesamte Kreditvolumen der Banken ist im Privatkundenbereich (und vermutlich nicht nur dort) gewaltig geschrumpft, und damit auch ihr Umsatz. Zu einer verringerten Profitrate gesellt sich also auch eine geringere Profitmasse.
Also will die Bank Austria dieses Geschäft aufgeben und noch einen guten Preis für diesen Sektor erzielen.
Wer soll diesen Kundenstock kaufen, den die größte italienische Bank nicht gewinnträchtig machen kann?
So „… soll es schon konkrete Sondierungsgespräche zwischen der UniCredit und dem US-Fonds Cerberus, dem die Bawag gehört, geben.“ Angeblich wollen „die Italiener 800 Mio. Euro für das Retailgeschäft der Bank Austria haben … Den Amerikanern sei der Kaufpreis aber noch zu hoch. Das Retailgeschäft der Bank Austria würde die Bawag deutlich aufwerten und damit den von Cerberus beabsichtigten Wiederverkauf der früheren Gewerkschaftsbank erleichtern. Die Bawag allein soll nicht attraktiv genug sein, um den Kaufpreis, den sich die Amerikaner vorstellen, zu erzielen.“ (Presse, 20.10.)
Auch das will verdaut sein. Cerberus hat die Bawag seinerzeit gekauft, um sie umzustrukturieren und weiterzuverkaufen. Dann kam die Finanzkrise und keiner wollte eine Bank, schon gar nicht um das Geld, das Cerberus gerne erhalten hätte.
Jetzt will die Bawag den Kleinvieh-Sektor quasi verdoppeln. Sie kauft die Kunden ohne ihre Betreuer. Die Idee ist offenbar, die gleiche Menge an Kunden durch weniger Betreuer zu verwalten und dadurch an der Rendite-Schraube zu drehen.
Leute entlassen und die verbliebenen mit neuen Produktionsmethoden mehr produzieren lassen – dieses Prinzip kennt man aus dem Kapitalismus. Unüblich ist, daß es hier auf den Bank- und Kreditsektor angewandt wird. Die Privatkunden, die ein Girokonto und vielleicht einen Kredit bei der BA und bald bei der Bawag besitzen, werden als eine Art Waren-Ausstoß betrachtet, der mit weniger Betreuern-Produzenten sein Auslangen finden muß. Diese eigenartige Übertragung von Rationalisierung kann unter anderem daran scheitern, daß viele dieser solcherart übersiedelten Kunden mit ihrer neuen Bank nicht zufrieden sind und ihr den Rücken kehren.
Man muß dazu vielleicht hinzufügen, daß die Bawag seinerzeit – vor der Pleite – für ihren großen Privatkunden-Sektor bekannt war und ihn als Geheimnis ihres Erfolges anpries, und daß Cerberus nach der Übernahme einiges tat, um ihn abzuschlanken und nur die profitableren Kunden zu halten.
Jetzt gehts also wieder in die andere Richtung, was darauf hinweist, daß auch bei der Bawag die anderen Geschäftszweige nicht so gut laufen. Jetzt soll also ein großer Privatkunden-Sektor die Bawag attraktiv machen, auf einem EU-Markt, wo alle Banken in den Miesen sind und viele von ihnen versuchen, einander den Schwarzen Peter zuzuspielen?
Es ist allerdings möglich, daß Cerberus in Wirklichkeit ganz anders kalkuliert und sich eine beherrschende Stellung im österreichischen Kleinkundengeschäft sichern will, um dann den österreichischen Staat ins Gebet zu nehmen.
2. Der Bankensektor Österreichs
Zunächst wird so getan, als seien die 7000 Beschäftigten, deren Arbeitsplätze bei der BA in Gefahr sind, das wirkliche Problem. Und natürlich wäre eine solche Menge von Entlassungen ein herber Schlag für die Einkommensstruktur und Kaufkraft Österreichs. Noch dazu handelt es sich nicht – wie bei den rund 5000 Beschäftigten der Alpine 2013 – um Leute, die man dann am Bau einsetzen kann.
Den wirklichen Hammer aber stellt die Entwicklung im Banksektor überhaupt dar. Die – u.a. mit Hilfe von Landeshaftungen – nach 1990 rapide gewachsenen österreichischen Banken haben durch das Platzen diverser Immobilienblasen in Osteuropa, vor allem in Ungarn und ihr Engagement in der Ukraine und andere negative Entwicklungen in Sachen Schulden und Kredite herbe Verluste einstecken müssen. Mit dem Konkurs und der Verstaatlichung der Hypo Alpe Adria ist immerhin die damals sechstgrößte Bank Österreichs weggebrochen und belastet seither das Budget und den Ruf des Bankplatzes Österreich. Man erinnere sich noch an Kommunalkredit und Volksbanken … Und jetzt sperrt Österreichs größte Bank zu – weil auch für die anderen Sparten der BA schaut es schlecht aus: Die UniCredit scheint sich aus Österreich zurückziehen zu wollen.
Das hat Folgen für die Verschuldungsfähigkeit des österreichischen Staates, der dabei vor allem auf seinen Banksektor angewiesen ist. Er findet jetzt weniger Käufer für seine Anleihen im Inland.
Die Bawag ist noch dazu die Bank der Republik, über die aller Zahlungsverkehr des österreichischen Staats abläuft. Wenn sie jetzt noch den Großteil des Zahlungsverkehrs der Privaten auf sich zieht, so ist Cerberus in einer Position, den Staat zu erpressen: entweder du zahlst mir so und so viel für die Bank und übernimmst sie, oder ich sperre auch zu, wie die BA.
Man wird auch sehen, wie das Beispiel der UniCredit in der EU Schule machen wird: Ob andere Großbanken ihre unprofitablen Filialen schließen werden und so ein Teil der Bankenexpansion der letzten 2 Jahrzehnte rückabgewickelt wird. Das wäre ein Abbau des abstrakten Reichtums und eine Flurbereinigung des Finanzkapitals.
Einmal sehen, was herauskommt. Für die österreichische Volkswirtschaft, dann für das ganze Gefüge der EU im Verhältnis von Finanzkapital zur politischen Gewalt, für die Staatsschuldenkrise und schließlich für die Medien und „Experten“, die seit Jahrzehnten nicht müde werden, Privatisierungen als die einzige Möglichkeit für Wachstum und Prosperität anzupreisen.
Frühere Artikel zum Thema Banken und Finanzkrise:
Die Ostexpansion der österreichischen Banken (2010)
Fremdwährungskredite (2011)
Kredit und Konsum (2011)
Warum verabschiedet die EU einen Fiskalpakt und verordnet Sparpakete? (2012)
Die Eurokrise ist vorbei! (2013)
Die endlose Geschichte einer kaputten Bank (2013)
Die Zinspolitik der EZB (2014)
Die Ukraine und der europäische Banksektor (2014)
Kategorie: Die Marktwirtschaft und ihre Unkosten
Digitales Archiv zur MG
MSZ 1974-80
So Leute, die MSZ 1974-80 ist inzwischen mehr oder weniger vollständig am Netz. 2 oder 3 hab ich unterschlagen, weil sie mir zu unbegreiflich erschienen sind, und bei der Nr. 7 fehlen 2 Artikel, die mir gern einmal wer schicken kann. Ich konnte die nirgends aufstellen.
http://www.msz1974-80.net/
Ergänzung:
Linkliste zur Geschichte und Kritik der „Marxistischen Gruppe“ (MG)
Beiträge zur Geschichte und Kritik der „Marxistischen Gruppe“ (MG), ihrer Vorläufer und ihres Umfeldes (work in progress)
Flüchtlinge überrennen Europa
VON DER MACHT DER MASSEN
Linke träumten oft von der Macht der Arbeiterklasse – die würde einmal das ganze kapitalistische System stürzen und den Kommunismus einrichten.
Nichts dergleichen ist geschehen. Sogar die russische Oktoberrevolution, die immer als Beispiel herhalten muß, war keine Verwirklichung dieses Traums. Dort lieferten sich verschiedene Fraktionen einen Kampf bis aufs Messer, bis sich eine davon durchsetzte. Rußland bedurfte eines Bürgerkrieges, damit eine politische Fraktion dem Rest der Bevölkerung ihre Art von Sozialismus aufnötigen konnte.
Heute ist das anders. Massen von Flüchtlingen brechen über Europa herein und stellen das ganze System von Demokratie und Marktwirtschaft in Frage. Sie haben keine Theorie, sie folgen keinen politischen Ideen, und sie bringen einfach durch ihr massenhaftes Vorhandensein die EU ins Wanken.
1. Das Asylrecht
Das Asylrecht der europäischen Staaten ist in Westeuropa, also den EU-Mitgliedern vor 2005, ein Nachschößling des Kalten Krieges. Damals wurde es als Waffe gegen die sozialistischen Unrechtsregimes eingerichtet und eingesetzt: wer einem solchen „Regime“ entkommen wollte, konnte im Freien Westen auf freundliche Aufnahme hoffen. Im NATO-Frontstaat Deutschland wurde das Asylrecht sogar ins Grundgesetz hineingeschrieben. In Österreich wurde 1955 das Flüchtlingslager Traiskirchen für Flüchtlinge aus Osteuropa eingerichtet. Dort wurden den Flüchtlingen Englischkurse verpaßt und sie wurden dazu angehalten, möglichst rasch weiterzuwandern.
Nach dem Fall des eisernen Vorhangs wurde das Asylrecht nicht weggeworfen. Es hatte sich als Druckmittel und Einmischungs-Instrument in die Belange mißliebiger Staaten bewährt. Man konnte denen qualifizierte Bürger abspenstig machen und Personal für künftige Regierungswechsel heranzüchten.
Es wurde aber modifiziert. Im Rahmen der sich neu konstituierenden EU wurde der Begriff des „sicheren Drittlandes“ eingeführt, der die Asylwürdigkeit des Flüchtlings an seiner Fluchtroute bemaß. So wurde das Florianiprinzip („Heiliger St. Florian, verschon mein Haus, zünd dem Nachbarn seins an!“) Teil der EU-Gesetzgebung. Jeder EU-Staat sollte sich bemühen, nicht der erste zu sein. Das führte auch dazu, daß das geeinte Europa ohne Grenzen, das sich mit dem Fall der Mauer und demonstrativem Stacheldraht-Durchschneiden seinerzeit beweihräuchert hatte, an den Aufbau von Stacheldrahtzäunen an den Außengrenzen der „Festung Europa“ machte. Mit NATO-Draht und scharfen Klingen wurden die spanischen Enklaven in Marokko und die griechisch-türkische sowie bulgarisch-türkische Grenze „gesichert“, und dort wird auch von Frontex patrouilliert, um die EU vor den Habenichtsen dieser Welt zu schützen. Sehr effektiv, weil dort kommt derzeit niemand durch.
Die Staaten Osteuropas besaßen bis 1990 kein Asylrecht. Die Aufnahme von Flüchtlingen, namentlich verfolgten Kommunisten, war nicht rechtsförmlich geregelt, sondern wurde von Fall zu Fall entschieden. Der Andrang war endenwollend – die Aufnahme von fremden Zuzüglern war so, daß damit niemand ermutigt wurde.
Das demokratische Asylrecht, das sich an einer UNO-Regelung von 1967 orientiert und von einer eigenen UNO-Behörde, der UNHCR, auch praktiziert wird, wurde den postsozialistischen Staaten im Rahmen ihres EU-Beitritts aufs Aug gedrückt. Sie selber hatten diesen Einmischungstitel nie benützt und sahen von sich auch keinen Grund, dergleichen in ihre nationalen Verfassungen aufzunehmen. Das Asylrecht befindet sich deshalb in diesen Staaten in einer rechtlichen Grauzone: sie müssen gewissen Vorgaben genügen, nach dem Dublin-Abkommen Flüchtlinge registrieren und zurücknehmen, wenn sie von ihnen aus weitergereist sind. Sie selbst haben gar kein Interesse daran, das Asylrecht ihrerseits zu benützen und Flüchtlinge bei sich zu integrieren. Sie haben daher auch keine Vorkehrungen für die Verwaltung von Flüchtlingen getroffen. Es gibt dort keine solche Institution wie das Lager Traiskirchen in Österreich, wo bisher – als das mengenmäßig noch zu bewältigen war – alle Flüchtlinge einmal versorgt und registriert werden.
Das zu wissen ist wichtig, um die konfuse und gehässige Vorgangsweise der ungarischen Regierung zu begreifen.
2. Die Ursprungsländer
Die Staaten, aus denen die Flüchtlinge kommen, machen ihren Bürgern das Überleben unmöglich: entweder, weil dort Krieg herrscht, man seines Lebens nicht sicher ist und die Existenzgrundlagen systematisch zerstört werden, oder weil sich ein paar Clans die Reichtumsquellen des betreffenden Landes, inklusive des Ackerbodens, unter den Nagel reißen und die anderen mit Gewalt davon ausschließen.
a) Afghanistan
In Afghanistan herrscht seit dem Jahr 1979, als die Rote Armee einmarschierte, Krieg. Der Krieg gegen die SU und ihre afghanischen Verbündeten mündete nach dem Abzug der sowjetischen Truppen in einem Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Warlords, der seinerzeit durch den Eroberungskrieg der von Pakistan und Saudi-Arabien gesponserten Taliban abgelöst wurde, an den sich schließlich 2001 nahtlos der Einmarsch der US-Armee anschloß. In 35 Jahren Krieg sind zwei Generationen herangewachsen unter dem Pfeifen der Granaten, Bombeneinschlägen, der Willkür diverser bewaffneter Banden, die Massaker anrichten, wenn es ihnen gerade in ihre Kriegsführung paßt, und dem systematischen Terror der Besatzer. In den meisten Teilen Afghanistans freuen sich viele Menschen beim Aufwachen darüber, daß sie diesen Tag auch noch erleben dürfen, und gehen schlafen mit dem Bewußtsein, daß es der letzte gewesen sein könnte.
Abgesehen von diesem psychischen Dauerstreß hat das auf die Wirtschaft Afghanistans sehr nachteilige Folgen gehabt. Ein guter Teil Afghanistans ist Wüste, und die kultivierbare Erde muß bewässert werden. Das Wasser wurde seit Jahrhunderten in unterirdischen Kanälen aus Ton – um die Verdunstung gering zu halten – aus Gebirgsbächen in die Siedlungen geleitet. In 35 Jahren Krieg sind diese Kanäle zerstört worden oder zerfallen, und die Leute, die deren Herstellung und Wartung verstanden, sind gestorben oder emigriert. Das kultivierbare Land ist also deutlich zurückgegangen. Auf dem, was noch zur Verfügung steht, werden oftmals Drogen als Cash Crops, die auf dem Weltmarkt nachgefragt werden, angebaut – für die Bedürfnisse der Bevölkerung bleibt also noch weniger übrig.
In Afghanistan ist die Unterernährung daher flächendeckend, viele Menschen dort haben zum Leben zuwenig, zum Sterben zu viel und können sich nie satt essen. Schon die Kinder leiden unter Mangelkrankheiten, die im 20. Jahrhundert eigentlich für ausgerottet galten. Die nicht so recht vorankommen wollende afghanische Armee und Polizei finden nur deswegen überhaupt Zulauf, weil viele junge Männer hoffen, sich dort wenigstens ausreichend ernähren zu können, auch wenn sie dadurch als Verräter ins Visier der Taliban geraten.
b) Irak
Auch im Irak herrscht seit ähnlich langer Zeit Krieg oder Ausnahmezustand. Während dort in den 70-er Jahren durch Öl-Einnahmen und Kooperation mit der Sowjetunion ein gewisser Wohlstand und ein hohes Bildungsniveau erreicht worden waren, begann der Abstieg mit dem 1980 seitens der irakischen Führung vom Zaun gebrochenen Krieg gegen den Iran. Der heute schon fast vergessene 1. Golfkrieg war einer der längsten des 20. Jahrhunderts und kostete mehrere Hunderttausend Iraker das Leben. Sozusagen im Anschluß und Windschatten dieses Krieges wurde gegen die kurdische Bevölkerung des Irak vorgegangen, was auch so um die 100.000 Tote zum Ergebnis hatte. Nach einer kurzen Verschnaufpause begann 1990 der Einmarsch der irakischen Truppen nach Kuwait, was die US-geführte Intervention 1991 zur Folge hatte. Die Anzahl der Toten in diesem 2. Golfkrieg ist unbekannt, Schätzungen reichen von 15.000-200.000. Vor allem weiß man nicht, wieviele Aufständische im Südirak getötet wurden, nachdem die US-geführte Koalition ihr Desinteresse an deren Unterstützung bekundet hatte und sie den Repressionen der irakischen Armee überlassen worden waren.
In den drauf folgenden 12 Jahren der Sanktionen soll allein eine Million irakischer Kinder durch Unterernährung und Medikamentenmangel gestorben sein. Weitere Opfer waren diejenigen, die an den Folgen des dort erstmals eingesetzten abgereicherten Urans gestorben sind, oder mißgebildete Kinder in die Welt gesetzt haben. Der nach 1992 eingetretene Waffenstillstand wurde hin und wieder durch Bombardements der US- und britischen Luftstreitkräfte unterbrochen.
Nach dem US-Einmarsch 2003 sollen bis zu einer Million Iraker bei Anschlägen, Checkpoints, Menschenjagden, Kampfhandlungen und durch Folgeschäden gestorben sein. Dem Abzug der Besatzungsarmee 2009-2012 folgte 2014 der Feldzug des IS, der neben einer unbekannten Anzahl von Toten und Verletzten mehrere Millionen interne Flüchtlinge im Irak hervorgebracht hat. Laut FAO führt diese Massenflucht, der sich auch viele Bauern angeschlossen haben, zu einem drastischen Rückgang der Lebensmittelproduktion. Die UNO, die seit Mitte der 90-er Jahre Lebensmittelhilfe in den Irak leistet, mußte ihre Hilfsprogramme wegen Geldmangel erheblich kürzen. Neben Nahrung fehlt auch sauberes Trinkwasser, und ansteckende Krankheiten wie Kinderlähmung treten verstärkt wieder auf.
c) Syrien
„Die Vereinten Nationen geben an, dass von März 2011 bis März 2015 220.000 Menschen getötet wurden. Rund 11,6 Millionen Syrer sind auf der Flucht: Mindestens vier Millionen Syrer flohen aus ihrem Land und 7,6 Millionen sind innerhalb Syriens auf der Flucht. Die UNO bezeichnete die Flüchtlingskrise im Februar 2014 als die schlimmste seit dem Völkermord in Ruanda in den 1990er-Jahren.“ (Wikipedia, syrischer Bürgerkrieg)
Auch diese Zahlen sind im Sommer 2015 schon wieder überholt. Von den Kämpfern des IS demonstrativ ins Internet gestellte Hinrichtungsvideos zerstreuen jeden Zweifel darüber, daß es dort einen Kampf auf Leben und Tod gibt, vor dem niemand in der Bevölkerung sicher ist. Frauen werden als Sex-Sklavinnen mißbraucht, Halbwüchsige als Henker eingesetzt. Keine der Kriegsparteien kann den Endsieg erringen und von außen wird der Konflikt tatkräftig geschürt.
Die Bevölkerung Syriens, die sich bis 2010 relativer Ruhe und Sicherheit erfreuen konnte, ist heute sogar perspektivloser als diejenige Afghanistans und des Irak, weil gegen den IS und seine Ziele und Methoden schauen sogar die Taliban noch friedlich aus.
d) Pakistan
Dieses Land ist zwar in den letzten Jahren wenig präsent in den Medien, das liegt aber an letzteren. Immerhin wurde dort eine ehemalige Präsidentin umgebracht und eine Schülerin angeschossen. Der politische Mord, oft aus konfessionell-religiösen Gründen, gehört inzwischen zur Folklore Pakistans. Einer der Gründe dafür ist die islamische Missionierungswelle, die von Saudi-Arabien seit Jahrzehnten dort betrieben wird, durch religiöse Stiftungen und ein engmaschiges Netz von Medressen. Dadurch hat der Wahhabismus zugenommen und andere Strömungen des Islam zurückgedrängt, wovon sowohl Al Kaida als auch die Taliban profitiert haben – letztere sind in diesen Koranschulen in Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Geheimdienst herangezüchtet worden, um sich zukünftig Einfluß auf Afghanistan zu sichern.
Als nächstes wird Pakistan seit Jahren von Naturkatastrophen heimgesucht, wie Überschwemmungen, Murenabgängen und Erdbeben, die nicht nur Tausende Tote forderten, sondern auch Millionen Menschen ihre Häuser und landwirtschaftlichen Existenzgrundlagen raubten. Der Kampf um die knappen Ressourcen bringt Wucherkapital und Banden auf den Plan, die das Leben in der pakistanischen Provinz zusehends gefährlich machen.
Im Norden führen die USA seit 11 Jahren einen Drohnenkrieg gegen Al Kaida-Mitglieder oder -Sympathisanten, dem nicht nur Hunderte Menschen zum Opfer gefallen sind, sondern auch alle Bewohner der Region in der ständigen Angst leben läßt, morgen auch durch einen Drohnenangriff in Stücke gerissen zu werden.
Vielen Landbewohnern bleibt daher nur die Wahl, vor Drohnen und Mafias in die Städte zu flüchten und dort ein Dasein als Habenichts zu fristen, was ihnen eine geringe Lebenserwartung verspricht, oder es doch bis nach Europa zu schaffen, in der Hoffnung auf ein Drohnen- und Killer-freies Leben.
Die Mehrheit dieser Flüchtlinge blieb übrigens bis vor kurzem in sichereren Regionen des eigenen Landes oder in den Nachbarstaaten. Die fortschreitende Verschlechterung der Situation in der Region bewegt jedoch immer mehr Menschen, ihr Glück in der Ferne zu versuchen – dort, wo der Krieg noch nicht begonnen hat.
e) Eritrea
Die eritreische Volksbefreiungsfront wurde in dem jahrzehntelange Unabhängigkeitskrieg gegen Äthiopien von westlichen Mächten mit Geld und Waffen unterstützt, solange es gegen das mißliebige, mit der Sowjetunion verbündete Regime Mengistus ging. Nach dem Sturz desselben und der Erlangung der Unabhängigkeit interessierte das Land niemand mehr.
Um sein Land, das nicht mit besonderen Reichtümern gesegnet ist und so etwas wie eine nationale Identität nicht besitzt, zusammenzuhalten, setzt der Regierungschef auf die unmittelbare Gewalt. Im Land herrscht praktisch Kriegsrecht und Ausnahmezustand, der Staatsapparat und das Militär sind identisch, und notwendige Infrastruktur-Arbeiten werden mittels Zwangsarbeit erledigt. Jeder männliche Bewohner Eritreas kann jederzeit von der Straße weg eingefangen und auf unbestimmte Zeit versklavt werden. Auf Flucht steht die Todesstrafe.
Es ist bezeichnend für die Haltung der internationalen Organisationen und der europäischen Politiker und Medien, daß diese Zustände erst thematisiert werden, nachdem das kleine Eritrea (6 Millionen Einwohner) seinen Teil zu dem derzeitigen Flüchtlingsstrom beigetragen hat.
f) Sahelzone: Mali, Niger, Tschad, Sudan, Mauretanien
Ein guter Teil der restlichen schwarzafrikanischen Flüchtlinge kommt aus den Staaten der Sahelzone.
Erinnern wir uns noch? Vor Jahrzehnten wurde der Zustand dieser Region problematisiert, als Dürreproblem: Die Verwendung fruchtbarer Böden für Cash Crops trieb die einheimische Bevölkerung immer mehr in die Wüste, und diese breitete sich durch Überweidung immer mehr nach Süden aus.
Damals wurde das als individuelles Problem der erwerbslosen Ackerbauern und hungernden Nomaden besprochen. Tragisch, „der Mensch“ kann eben mit der Natur nicht umgehen. Mit Kapitalismus, Weltmarkt, Lomé-Abkommen hat das alles gaaar nichts zu tun …
Heute ist der Kampf auch dort erbarmungslos geworden. Die islamischen Ideologien und die ausländischen Interventionen sind nur die Folge davon, daß aufgrund der immer trostloseren Überlebensperspektiven das labile Gleichgewicht der dortigen Staaten gekippt ist, und Vertreibungen, Guerilla-Truppen, Entführungen, Bürgerkriege und Militärdiktaturen an der Tagesordnung sind, und auch von dort die Menschen massenhaft durch die Sahara und über das Meer treiben, um der alltäglichen Hölle zu entkommen.
Die Menschen, die heute unter Entbehrungen und Lebensgefahr nach Europa kommen, haben also allen Grund, in die EU gelangen zu wollen. Sie lassen sich auch von Zäunen und Gefahren nicht abhalten. Und sie sind viele.
3. Die EU im Zwielicht
Das imperialistische Staatenbündnis, das gerade einen Teil seiner Bevölkerung für überflüssig erklärt und zuletzt Griechenland mehr oder weniger angeraten hat, seine Bevölkerung zu verbilligen und zu reduzieren, liefert angesichts der einströmenden Flüchtlinge ein absurdes Schauspiel. Die einen stammeln etwas von Grenzsicherung, die anderen bauen einen Zaun, man redet von Quoten die irgendwie ausverhandelt werden müßten – im 2. Konjunktiv – und „bis Jahresende muß eine Regelung gefunden werden!“ Derweil strömen die Flüchtlinge weiter nach Europa, verschmutzen Ferienstrände und öffentliche Plätze, kampieren in Parks und auf der Straße, und liefern sich von Mazedonien bis Calais Zusammenstöße mit der Polizei.
Man hat den Eindruck, am liebsten würden sie die Politiker der EU in Vernichtungslager schicken, um dann irgendwie mit einem „So, erledigt“ zur Tagesordnung übergehen und mit humanitärem Gedusel verbrämte Handelsabkommen und Kreditstützungen beschließen zu können.
So einfach geht das zum Glück nicht.
4. Viktor Orbán, Europas Buhmann
Die von allen Medien beschimpfte ungarische Regierung, deren Land zum Haupt-Einfallstor nach Mitteleuropa geworden ist, setzt keinen ihrer Schritte ohne Absprache mit Deutschland. Vermutlich hofft sie derzeit auf eine abschreckende Wirkung ihrer brutalen Methoden. Das ist unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, wo diese Leute herkommen. Vielleicht erhält sie von EU-Staaten Geld für die Einrichtung von Flüchtlingslagern. Es ist aber unwahrscheinlich, daß sich diese erstens so schnell errichten lassen und zweitens die Flüchtlinge sich in diesen Lagern festhalten lassen werden. Man müßte richtige KZs bauen, so wie Auschwitz, mit meterhohen Zäunen und Wachtürmen, um die Menschen dort zu internieren. Es ist möglich, daß manche EU-Politiker diese Möglichkeit andenken, es ist allerdings fraglich, ob sich Ungarn dafür hergeben wird.
Die ungarische Regierung will den Grenzübertritt kriminalisieren und die Leute verurteilen und einsperren, die illegal über die Grenze kommen. Auch das ist keine sehr vielversprechende Vorgangsweise. Die ungarischen Gefängnisse sind heute schon überfüllt. Außerdem handelt es sich vor allem bei den Syrern um jede Menge Familien mit kleinen Kindern – die Erwachsenen einsperren, die Kinder in Heime? Oder einen schwunghaften Kinderhandel mit Adoptionsfirmen und Päderasten einrichten, als Zukunftsmarkt?
Ungarn muß theoretisch als EU-Land jeden Flüchtling zurücknehmen, der die EU über Ungarn betreten hat. Und dann ist Endstation, Ungarn kann sie nicht mehr weiterschicken. Nach Serbien können sie nicht abgeschoben werden, weil Serbien als Nicht-EU-Staat dazu nicht verpflichtet werden kann.
Sie nach Griechenland abschieben geht auch nicht, weil sie dort oft gar nicht registriert wurden, und Griechenland sowieso pleite ist. Selbst wenn sie – mit beträchtlichen Unkosten – nach Griechenland geschickt würden, so kämen sie eine Woche später wieder über den Zaun.
5. Europa, Europa!
Die anvisierten Zielländer machen auch keine gute Figur. Die Flüchtlinge lassen sich nicht abhalten, sie sitzen auch hier überall herum und müssen irgendwie versorgt werden, wenn man nicht Ruhr und Cholera wieder nach Europa holen will. Also müssen doch wieder Lager errichtet und Unterkünfte bereitgestellt werden. Vor allem in Deutschland kommt die offizielle Politik jedoch immer mehr in Gegensatz zur rechten Opposition: da werden Asylantenunterkünfte abgefackelt und rechtsradikale Demos abgehalten, um die Kanaken wenigstens aus dem eigenen Ort fernzuhalten. Auch der demokratische Kampf um die Macht mittels Wahlen droht durch das Flüchtlings-Chaos aus dem Gleichgewicht zu geraten, wenn xenophobe Parteien dort punkten können, um nachher, einmal an der Macht, mit dem gleichen Problem konfrontiert zu sein.
Die Entscheidung der deutschen Regierung, Syrer aufzunehmen, hat die Problematik nur verschärft. Die ungarischen und österreichischen Behörden sollten jetzt zwischen Syrern und anderen unterscheiden. Die guten ins Töpfchen – gleich in den Zug nach Deutschland – die schlechten ins Kröpfchen, also die hätte man dann erst recht am Hals.
Gleichzeitig solidarisieren sich NGOs, Kirchen und spontane Vereinigungen mit den Flüchtlingen, spenden Geld und versorgen sie.
„Kampf dem Schlepperwesen!“ war die Parole in Österreich, nachdem 71 Tote in einem Kühlwagen gefunden worden waren. Die Kontrollen wurden verschärft.
Das einzige Ergebnis waren Mega-Staus an der Grenze, der Zustrom von Flüchtlingen geht weiter … Läßt man sie nicht in den Zug, so kommen sie eben auf andere Weise, vielleicht wieder in einem Kühlwagen. Der immer wieder unternommene Versuch, die Menschhändler zu den Verursachern des Flüchtlingselends erklären zu wollen, blamiert sich vollkommen an den Ereignissen und Massen.
Eine andere Art von Parteienkonkurrenz ist in Spanien losgegangen. Während sich die konservative Regierung die Hände reibt, daß sie ihre Flüchtlingsproblematik durch Drahtzäune und Verträge mit Marokko beendet hat und das Florianiprinzip jetzt zu ihren Gunsten ausgegangen ist, haben verschiedene Stadtverwaltungen erklärt, Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Den Anfang machten die parteilosen linken Bürgermeisterinnen von Madrid und Barcelona. Es folgten die ebenfalls aus sozialen Bewegungen hervorgegangenen Bürgermeister und Stadtverwaltungen von Zaragoza, Valencia und Pamplona. Die Protestwähler gegen die etablierten Parteien haben die wichtigsten Städte Spaniens deren Einflußbereich entzogen, und diese Leute stellen sich jetzt gegen die EU-Flüchtlingspolitik.
Spannend.