Pressespiegel El País, 1.8.: Ungarn tanzt weiter aus der Reihe

„UNGARN VERURSACHT UNRUHE IN DER EU, WEIL ES ARBEITSVISA FÜR AUSLÄNDER AUF RUSSEN UND WEIßRUSSEN ERWEITERT

Ungarn vertieft seine Beziehungen zum Kreml. Die jüngste Entscheidung der Regierung … Orbán, ihre Arbeitsvisum-Bestimmungen flexibler zu gestalten, um sie auf Bürger Russlands und Weißrusslands auszudehnen, … bereitet Brüssel Sorgen.

Die Europäische Kommission prüft, ob das ungarische Programm in den Anwendungsbereich der EU-Regelungen fällt fällt. Budapest betont, dass die Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen in die nationale Zuständigkeit fallen und hat jegliche Bedenken der EU zurückgewiesen.“

Das ist auch richtig. Da kann die EU prüfen, was immer sie will.
Das Ausstellen von Visa – und auch von Staatsbürgerschaften! – fällt in das nationale Recht. Diesbezüglich gab es schon öfter Stirnrunzeln in Brüssel, als baltische Staaten, Zypern oder auch Österreich Visa oder Staatsbürgerschaften gegen Investitionen an Nicht-EU-Bürger vergaben. Auch derzeit gibt es entsprechende Programme in Griechenland, Portugal und Spanien.
Bedenken und medialer Lärm kommen allerdings erst dann auf, wenn Ungarn das macht.

„Mit der Lockerung des sogenannten »Nationalen Karte«, einer neuen Einrichtung, die bisher nur Bürgern Serbiens und der Ukraine zur Verfügung stand, wird Budapest Russen und Weißrussen ermöglichen, für zwei verlängerbare Jahre in Ungarn zu arbeiten, ohne dass eine Sicherheitsgenehmigung erforderlich ist.“

Was darunter wohl zu verstehen ist?
Für keinerlei Visa ist eine solche Genehmigung explizit erforderlich, auch in anderen Staaten nicht.
Visaanträge werden geprüft und nach Ermessen der jeweiligen Behörde genehmigt oder abgelehnt.
Hier wird der Anschein erweckt, als ob in Ungarn diese Prüfung entfallen würde und sozusagen ein Automatismus einträte.
Das ist aber unrichtig und kann getrost als Fake News eingestuft werden.

„Sie können ihre Familien mitbringen und nach drei Jahren eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis beantragen.
Die ungarischen Behörden haben erklärt, dass die Öffnung“

– es handelt sich nicht um eine „Öffnung“ – weder war die Einreise für die jetzt einbezogenen Nationalitäten bisher „geschlossen“, noch steht sie jetzt unbegrenzt offen. Es geht um eine Visaerleichterung, aber die dargebotene Sichtweise der Autorin ist, daß jetzt dem Eindringen dieser falschen Fuffziger in die EU Tür und Tor geöffnet würde.

„für Russen und Weißrussen – sie bezieht auch Bosnien, Moldawien und Nordmazedonien ein – es Mitarbeitern aus diesen Ländern ermöglichen wird, beispielsweise am Ausbau des Kernkraftwerks“ (in Paks) „des russischen Konzerns Rosatom zu arbeiten; einem sehr kontroversen Projekt.“

In Ungarn ist dieses Projekt nicht besonders kontrovers.
Aber in der EU, wo zunehmend die Atomenergie ungeachtet ihrer bekannten schädlichen Auswirkungen und Risiken als „saubere“ Energie betrachtet wird, ist es natürlich überhaupt nicht gerne gesehen, sich für so etwas mit den Russen zusammenzutun.

„Bei der »Nationalen Karte« haben die ungarischen Behörden keine Quoten oder sonstigen Begrenzungen eingeführt. Laut ungarischen Quellen nutzen derzeit einige Dutzend Menschen aus der Ukraine und Serbien diese Art von Visum.“

Der ungarische Arbeitsmarkt ist aufgrund der dort gezahlten niedrigen Gehälter mäßig attraktiv.
Aber es ärgert offenbar die Brüsseler Behörden und die EU-Politiker der alten EU, daß das als Hinterhof und Arbeitskräftereservoir vorgesehende Ungarn sich jetzt eigene Gastarbeiter- und Einwanderungsregeln verpaßt.

„Der ungarische Außenminister Peter Szijjartó versicherte an diesem Mittwoch, dass diese Art von Genehmigungen kontrolliert werden.“

Diese Versicherung ist nur deshalb notwenig, weil entgegen den Tatsachen überall verbreitet wird, daß Ungarn keine Kontrollen ausüben werde.
Bei anderen Staaten (Polen hat seit Jahren Gastarbeiter-Regelungen für Ukrainer, von den Visa-Bestimmungen Deutschlands oder Österreichs ganz zu schweigen) wird das als selbstverständlich vorausgesetzt.

„Die Episode verschärft die Krise zwischen Budapest und der EU durch Orbáns Nähe zu Russland, die Blockierung von Militärhilfegeldern für die Ukraine und vor allem durch seine Besuche bei Putin in Moskau, beim chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Peking und Donald Trump … in Florida.“

Dergleichen Reise-Tätigkeit ist offenbar westeuropäischen Politikern vorbehalten …

„Die Treffen zur Diskussion der Ukraine im Rahmen einer angeblichen »Friedensmission«, die mit dem Beginn der halbjährlichen EU-Ratspräsidentschaft Ungarns zusammenfielen, haben die Gemeinschaftsinstitutionen und die meisten Hauptstädte verärgert.“

Unter „die meisten Hauptstädte“ muß man sich Berlin, Paris, die Benelux-Staaten und das Baltikum vorstellen, vielleicht noch Madrid und Warschau. In den restlichen Mitgliedsstaaten hielt sich die Entrüstung in Grenzen …

„Die Union und das Europäische Parlament haben zu Vergeltungsmaßnahmen gegen Budapest aufgerufen und boykottieren bereits hochrangige Treffen der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft.“

Was nicht wirklich tragisch ist.
Das El País bläst diese Maßnahme, die von Borrell verkündet wurde, über die Maßen auf, um zu zeigen: Die EU tut was!

„Nach der Kontroverse, aufgrund derer Budapest wegen dieser Treffen Rechenschaft ablegen musste, habe Ungarn diese »Friedensmission« abgeschlossen, heißt es in einer Mitteilung des ungarischen Ministers für Europaangelegenheiten, Janos Boka, an die Mitgliedstaaten, wie aus mehreren diplomatischen Quellen hervorgeht.“

Nachdem die Rest-EU weiter auf Krieg drängt, geht natürlich in dieser Sache nichts mehr weiter, die Rückmeldung aus Budapest ist daher angemessen.

„Die Hauptstädte bezweifeln, dass es wahr ist und glauben, dass Orbán, ein großer Provokateur, dieses Manöver »reaktivieren« kann, wenn er will.“

Das ist auch begreiflich, weil falls aus den USA ein anderer Wind blasen sollte, wird sich Orbán gerne als Vermittler betätigen.

Risse in der Einheit der EU

Diese neue Öffnung mit ungarischen Visa für Russland und Weißrussland … hat nicht nur Sicherheitsbedenken in der EU geweckt, wo der Schengen-Raum Freizügigkeit ohne Passkontrolle ermöglicht, sondern darüber hinaus vor allem durch die Tatsache, dass es die Kluft innerhalb der EU vergrößert, in dem Orbán zunehmend als Kreml-U-Boot wahrgenommen wird.“

Wenn von einer „Kluft“ die Rede ist, so ist offenbar Orbán nicht der Einzige, der mit der EU-Politik unzufrieden ist.

„»Es ist ein weiteres Zeichen der Harmonie mit Moskau, das der Kreml erfreut zur Kenntnis nimmt«, betont eine hochrangige EU-Quelle.
Russlands Spionagedienste erlitten nach der groß angelegten Invasion der Ukraine einen schweren Schlag, als die Mitgliedsstaaten Hunderte von Agenten auswiesen, die sich unter diplomatischem Deckmantel in der EU aufhielten.

Seitdem baut der Kreml sein Spionagenetzwerk wieder auf und hat seine Taktik geändert. Europäische Geheimdienstquellen weisen darauf hin, dass die Möglichkeit des Zugangs zum Gemeinschaftsgebiet mit weniger Einschränkungen, die das neue ungarische Visum mit sich bringt, möglicherweise neue Möglichkeiten bietet, aber vor allem Moskau für seinen spaltenden Diskurs Treibstoff liefert.

Ungarns Visaregelungen, etwa das sogenannte Goldene Visum, das den Zugang zu einer Aufenthaltserlaubnis gegen den Kauf von Immobilien ermöglicht, haben bereits Kontroversen im Zusammenhang mit Russland ausgelöst. Der Sohn von Sergei Naryschkin, dem Chef eines Geheimdienstes des Kremls,“

– es handelt sich um den russischen Auslandsgeheimdienst –,

hatte durch ein Goldenes Visum eine Aufenthaltserlaubnis in Ungarn (und damit Bewegungsfreiheit in der EU).“

Die Vorstellung, durch Visabeschränkungen und Ausweisungen Spionage verhindern zu können, ist etwas blauäugig.

„Abgesehen von den Sanktionen gegen Hunderte von Personen … können russische Staatsbürger mit einem Visum für einen EU-Mitgliedsstaat innerhalb der EU frei reisen. Allerdings ist es für sie aufgrund bürokratischer Schwierigkeiten schwieriger geworden, ein Visum zu erhalten und auch in das Gebiet der EU zu reisen, da es russischen Fluggesellschaften verboten ist, über den EU-Luftraum zu fliegen, und Fluggesellschaften der EU ihre Flüge nach Russland eingestellt haben.

Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, hat den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, gebeten, das Thema beim nächsten Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs im Oktober zur Sprache zu bringen. Weber versichert, dass die neue ungarische Formel russischen Spionen die Tür zum Gemeinschaftsgebiet öffnet und ist der Ansicht, dass die übrigen Mitgliedsstaaten Maßnahmen ergreifen sollten.“

Herr Weber macht sich Illusionen über die Fähigkeit der EU, ausländische Spionage zu beschränken.
Allerdings auch auf der Grundlage, daß die eigene geheimdienstliche Tätigkeit in der EU nach Quantität und Qualität schwach ist.

„»[Das Öffnen Ihrer Hand könnte] möglicherweise einer großen Zahl von Russen die Einreise nach Ungarn mit minimaler Aufsicht ermöglichen, was ein ernstes Risiko für die nationale Sicherheit darstellt«, sagt Weber in seinem Brief an Michel, der von der Financial Times vorgelegt wurde.

Die EU-Kommission bekräftigte an diesem Mittwoch, dass der Kreml ein Risiko für die Union darstelle und dass er Budapest um Aufklärung gebeten habe. »Russland stellt eine Bedrohung für die Sicherheit der EU dar und daher müssen alle Instrumente auf der Ebene der Union und der Mitgliedstaaten die Sicherheit der Union gewährleisten und auch die Sicherheit von Schengen berücksichtigen«, betont eine Sprecherin der Europäischen Kommission.“

Man merkt hier an dem inflationären Gebrauch des Wortes „Sicherheit“, daß eine gewisse Verwirrung darüber herrscht, was das eigentlich ist.
Außerdem wird leicht hysterisch nach einem Rechtstitel gesucht, um sich in nationale Belange Ungarns einmischen zu können.

Der Sprecher der ungarischen Regierung, Zoltan Kovács, hat gegenüber Weber erklärt, er führe einen »heuchlerischen Angriff« gegen die ungarische Regierung und beschuldigt den deutschen konservativen Politiker und die EU (die er als die »liberale Kriegstreiber-Elite« bezeichnet), »Millionen illegaler Migranten nach Europa zu schicken«. »Das ungarische Einwanderungsregime ist das strengste in der EU«, sagte Kovács in den sozialen Medien.“

Die EU schickt diese illegalen Migranten zwar nicht und hat mit ihnen auch keine Freude, aber die Replik Ungarns ist dennoch pikant, weil sie auf die Schwächen der EU-Abschottungspolitik hinweist.

Ungarn und die Bankensteuer

WER DARF WEN BESTEUERN?

Ungarn will eine Bankensteuer einführen. Und sofort erhebt sich ein Sturm der Entrüstung: Dürfen die das überhaupt? Ein allgemein anerkanntes und auch in der EU im Prinzip nicht bestrittenes Hoheitsrecht wird auf einmal als Verstoß gegen die allgemein anerkannten guten Sitten gewertet und von allen Seiten gerügt.

1. Steuer
Steuern sind neben der Verschuldung die wichtigste Einnahmequelle des Staates. Die braucht er unbedingt, um sich seine vielen Ausgaben – Panzer, Polizisten, Professoren, und was es da sonst noch gibt (Ärzte, Lehrer usw.) leisten zu können.

Da haben sich Staaten in den letzten Jahren einiges überlegt. In Österreich (und den meisten EU-Ländern) wurde z.B. die Vermögenssteuer abgeschafft, um zu verhindern, daß die betuchten Mitglieder unserer Gesellschaft ihre Spargroschen in irgendwelchen Steuerparadiesen parken, anstatt es im Inland zu lassen und dort anzulegen.

Weiters gibt es die sogenannte Körperschaftssteuer, eine Steuer für Unternehmen, deren Handhabung sich, soweit sich das mir als unbeteiligtem Beobachter erschließt, immer lockerer gestaltet, je größer und gewinnträchtiger ein Unternehmen ist. Vor allem die großen internationalen Wuchtbrummen haben aller möglichen Rechtstitel, um sich dieser Steuer zu entziehen, durch Geltendmachen ausländischer Verluste im Inland, usw. Außerdem wird diese Steuer selten exekutiert oder durch Inkasso eingefordert, man kann sich also jahrelang Zeit lassen, um sie zu begleichen – solange das Unternehmen groß genug ist und gute Anwälte hat. Viele Unternehmen haben deshalb große Steuerrückstände.

Dann gibt es diverse Verbrauchssteuern – Getränke-, Umsatz-, Mineralölsteuer, usw. Die muß jeder zahlen, der etwas kauft. Von diversen Idealisten des Sozialstaats und einer imaginären Verteilungsgerechtigkeit werden sie gern als „unsozial“ bezeichnet, weil sie eben jeder ungeachtet seines Einkommens bei jedem Akt des Konsums blechen muß. Diese Steuern und deren Erhöhung sind dennoch immer bei den jeweils an der Macht befindlichen Politikern sehr beliebt, weil sie keine bestimmte Bevölkerungsgruppe gegen einen aufbringen und „sehr gerecht“ alle treffen, also keine Wählerstimmen kosten.

In Österreich wird derzeit die Erhöhung der Grundsteuer diskutiert. Mit der Grundsteuer wird einfach die Verfügung über irgendeine Immobilie mit einer Steuer belegt. Das trifft Fabriksbesitzer, deren Fabrik natürlich auch irgendwo steht, und Hausbesitzer, die aus Vermietung Einnahmen erzielen, sowie Grundbesitzer, die aus Pacht Einkommen haben genauso wie einfache Wohnungsbesitzer und Landwirte. Der Staat sagt: Wer sich Grundeigentum leisten kann, soll gefälligst dafür an uns was zahlen! Derzeit spießt sich die Idee bei uns an den Bauern, deren Einnahmen sich im Durchschnitt ständig verringern, bei gestiegenen Treibstoff- und Pachtzahlungen, und wo bei Erhöhung der Grundsteuer Existenzen auf dem Spiel stehen.

Und schließlich gibt es diejenige Steuer, die die meisten Leute im Auge haben, sobald die Rede vom „Steuerzahler“ ist: Die Einkommenssteuer. Bei Lohnabhängigen wird sie gleich an der Quelle abgezogen. Andere haben so gute Verdienste, daß sie sie vor der Steuer verstecken und in irgendwelche Steueroasen verschieben.


2. Ungarn, die Schulden und die Steuern

Ungarn war zur Zeit der Wende das sozialistische Land mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung. Die erste gewählte Regierung wurde gleich von Anfang vom IWF und diversen „Beratern“ mehr oder weniger gelenkt: Keine Subventionen, keine „unkontrollierte“ (also nicht vom IWF genehmigte) Geldausgabe, und möglichst alles und jedes besteuern, um solide Einnahmen zu haben! Auf diese Art und Weise wurde die ungarische Landwirtschaft und Industrie systematisch ruiniert, um Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen. Gleichzeitig jedoch verlangten die begehrten Investoren, die die ungarischen Regierungen ja unbedingt ins Land holen wollten, nicht nur billige und willige Arbeitskräfte und die Zerschlagung der Gewerkschaften, sondern auch Steuerfreiheit, zumindest für die ersten 5 Jahre, um sich überhaupt erst zur Ausbeutung von Land und Leuten zu bequemen. (Nach diesen 5 Jahren brechen die Multis meistens ihre Zelte ab, gehen in ein anderes Land und machen es dort genauso.)
Und so blieb die Steuerlast bei den Normalverbrauchern und ungarischen Kleinunternehmern hängen. Angesichts der niedrigen Löhne, des Kapitalmangels der einheimischen Unternehmen und der hohen Arbeitslosigkeit stellen die Steuern zwar für die von ihnen Betroffenen einen gewaltigen Abzug dar und lassen viele Unternehmen gar nicht erst zustandekommen, sie verschaffen aber der Staatskasse eher dürftige Einnahmen.

Ungarn war 2008 fast pleite und ist es im Grunde immer noch. Und da sagt die jetzige ungarische Regierung: Holen wir uns doch das Geld von denen, die es haben! – und es erhebt sich weltweit ein Geschrei. Besonders in Österreich, weil österreichische Banken besonders eifrig an der Aussaugung Ungarns beteiligt sind.

Auch hier ist für Spannung gesorgt: Ungarn besteht auf der Steuer, als einem Souveränitätsrecht. Die EU will prüfen, ob das nicht gegen EU-Recht verstößt. Es ist durchaus möglich, daß eine andere ähnlich bedrängte Regierung auch eine Bankensteuer ins Auge faßt.

Auf jeden Fall geht das Kräftemessen zwischen Regierungen und „Märkten“ um den Wert der Währungen und der Schulden damit in eine neue Runde.