DIE BLAMAGE DER „INTERNATIONALEN STAATENGEMEINSCHAFT“
Der rasante Vormarsch der Taliban hat alle überrascht. Man merkt daran, wie wenig Ahnung die zivilen und militärischen Vertreter des Freien Westens von dem Land hatten, das sie 20 Jahre lang besetzt gehalten haben. Die Arroganz der Kolonialherren paarte sich hier mit den ständig blamierten Weltmachtsphantasien derjenigen Staaten, die sich immer noch für den Nabel der Weltgeschichte halten.
Die Taliban sind sehr geschickt vorgegangen. Erst besetzten sie alle Grenzübergänge und dann verhandelten sie mit den diversen Provinzgrößen. Ihr sitzt in der Falle, sagten sie: Entweder für uns oder gegen uns! – möglicherweise mit einer eindeutigen Handbewegung des Fingers am Hals.
Und alle waren einsichtig.
Ganz üblen Burschen, wie Raschid Dostum, wurde freies Geleit zugesichert und man ließ sie abhauen. Wie es aussieht, ist Usbekistan inzwischen das bevorzugte Ziel der US-Kollaborateure. Die Taliban sind dabei, um Fidel Castro zu zitieren (anläßlich des Mariel-Exodus), das Klo in Richtung Usbekistan hinunterzulassen.
So ist es zu erklären, daß sie das ganze Land nicht nur in kürzester Zeit erobert wurde, sondern auch ziemlich unblutig. Und die Medien haben jetzt die schwierige Aufgabe, diesen Sieg der Taliban und die schlechte Figur, die EU und USA machen, zu erklären.
Erklärung 1. Die Taliban sind Schlächter, deswegen haben alle aus Angst nachgegeben.
Diese Erklärung ist einerseits sehr bequem. Sie stellt die – unter ganz anderen Bedingungen zustande gekommene – Herrschaft der Taliban vor mehr als 20 Jahren in den schrecklichsten Farben da und prophezeit eine Neuauflage.
In dieser Erklärung werden die westlichen Besatzungstruppen als eine Art Entwicklungshilfe dargestellt, die Afghanistan modernisierten, aus dem finstersten Mittelalter befreit hätten und reine Beschützer der Witwen und Waisen waren.
Das Schreckgespenst der Taliban wurde schon seit dem Abzugsbeschluß in den Medien ausgemalt: Afghanistan geht unter, wenn die Taliban an die Macht kommen! Sie werden uns, den Besatzern, nachweinen!
Irgendwie wirkt es aber nicht ganz glaubwürdig, daß alle diese bärtigen Burschen das ganze Land in Angst und Schrecken versetzt hätten. Die Fluchtbewegungen, von denen berichtet wird, fallen im Vergleich zu dem, was Afghanistan bisher erlebt hat, relativ harmlos aus. Außerdem kann niemand überprüfen, wie die Zahl, die genannt wird – die Rede ist von einer halben Million von Flüchtlingen – überhaupt erhoben wurde.
Erklärung 2: Biden, der Idiot, hat das alles ungeschickt gemacht.
Die Schuldsuche ist immer gerne zur Hand, wenn was schiefgeht, hat aber auch etwas Unbefriedigendes an sich.
Erstens war der Abzug aus Afghanistan bereits unter seinem Vorgänger ausgehandelt worden, der auch schon zu der Einschätzung gelangt war, daß sich an der Situation in Afghanistan nichts ändern würde und der Krieg und die Alimentierung des Marionettenregimes nur Geld kosten und nichts bringen.
Zweitens hat der US-Präsident es wohl alles mit dem Militär abgesprochen. Noch vor einer Woche dröhnte aus allen Rohren, Kabul würde in einigen Monaten fallen. Diese Einschätzung kam nicht vom Präsidenten, sondern von Geheimdienst und Militär. Der Präsident kann sich auch nur an dem orientieren, was ihm seine Dienste und die Offiziere vor Ort an Daten und Einschätzungen liefern.
Wie man es dreht und wendet, alle Beteiligten machten sich über Afghanistan, seine Bevölkerung, ihre Verbündeten und Sympathisanten in dem Land was vor, und nicht erst seit gestern. Jetzt Biden dafür an den Pranger zu stellen, ist ein recht plumper Versuch, den Rest der Mannschaft und die ganze Politik der USA reinzuwaschen.
Erklärung 3: Die ganze afghanische Gesellschaft ist eben rückständig und hat unsere selbstlose Entwicklungshilfe nicht goutiert.
Diese Erklärung schlägt in ihrer Selbstgefälligkeit dem Faß den Boden aus. Einmarsch und Besatzung eines fremden Landes werden zu einem Volksbeglückungsprogramm umfabuliert, wo Bomben und Drohnenangriffe wegretuschiert werden und der trostlose Zustand der Wirtschaft keiner Erwähnung wert ist. Die Kosten der Besatzung werden zu Hilfsleistungen umgelogen. Der Umstand, daß Afghanistan unter der US-Besatzung zum größten Opiumproduzenten der Welt wurde, scheint von den Medien vergessen worden zu sein.
(Nachträgliche Ergänzung: Afghanistan ist nicht erst unter der US-Besatzung zum größten Opiumproduzenten der Welt geworden, die Produktion stieg schon in den 1980er Jahren stetig, während sie in Burma sank, und Afghanistan löste Burma bereits 1991 als grösster Produzent ab. Das blieb auch unter den Taliban so, obwohl sie 2000 eine Kampagne gegen den Opiumanbau lancierten, um der UNO zu gefallen und ein paar Hilfsgelder ins Land zu holen. Die zu erhöhten Preisen verkauften Vorräte dürfte jedoch die Ernteausfälle weitgehend kompensiert haben oder vielleicht sogar mehr.
Es bleibt dennoch bemerkenswert, daß Afghanistan seine führende Rolle als Opiumproduzent während der ganzen US-Besatzung behielt.)
Zu dem Kriegsmaterial, das die sowjetische Besatzung und der jahrelange Bürgerkrieg hinterlassen haben, wurden noch weitere militärische Müllhalden angehäuft. Außerdem war die ländliche Zivilbevölkerung prinzipiell verdächtig, mit den Taliban zu kooperieren – vermutlich zu Recht – und wurde entsprechend drangsalisiert.
Und jetzt wird die Abneigung, die große Teile der afghanischen Bevölkerung aus diesem Grund gegen die Besatzung haben, zu Primitivität und Barbarei umfabuliert. Nicht nur die Taliban sind rückständig und primitiv, sondern der Rest der Bevölkerung auch!
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Afghanistan hat sich den Titel „Friedhof der Imperien“ nicht ausgesucht. Es wurde deswegen dazu, weil verschiedene Mächte dort einmarschiert sind und die Afghanen sich dagegen gewehrt haben. Der britische Kolonialismus ging mit der für ihn charakteristischen Mischung von Brutalität und Rassismus gegen dieses Hindernis seiner Expansion auf dem indischen Subkontinent vor. Nach drei Kriegen kam es zum Frieden von Rawalpindi, in dem Afghanistan Quetta, Peschawar und große, von Paschtunen bewohnte Gebiete im Süden verlor und die Durand-Linie als Staatsgrenze anerkennen mußte.
Die Regierungen und die Bevölkerung Afghanistans waren lange rußlandfreundlich, weil das Zarenreich sie gegen das britische Empire unterstützt hatte. Es war einer der ersten Staaten, die die Sowjetunion anerkannten, kurz nach ihrer Gründung 1922. Es war daher ein Schock und eine bittere Enttäuschung für die Afghanen, als die Rote Armee einmarschierte und die SU damit klarstellte, daß auch sie sich unter die Besatzer eingereiht hatte. Die sowjetische Besatzung brachte das Gleichgewicht der Nationalitäten durcheinander und mündete im Bürgerkrieg der von den USA gepäppelten Mudjaheddin: Usbeken, Tadschiken, Hazara und Paschtunen wetteiferten mit schwerem Gerät um die richtige Auslegung des Koran und legten dabei einiges im Land in Schutt und Asche.
Die westliche Welt hat von Anfang an den Einmarsch in Afghanistan 2001 und die Besatzung als eine zivilisatorische Errungenschaft schöngefärbt, wo einem rückständigen Volk die Segnungen der modernen Zivilisation verpaßt werden.
Jetzt hingegen zittern alle, daß die Taliban womöglich gar nicht so rückständig sind und mit Rußland, ihren Nachbarstaaten, dem Iran und China in freundschaftliche Beziehungen treten können und im Great Game des XXI. Jahrhunderts eine bedeutende Kräfteverschiebung in Richtung feindlicher Block stattfindet.