Überlegungen zum Coronavirus – 8.: Fazit

LEHREN AUS UND BEOBACHTUNGEN ZU EINEINHALB MONATEN CORONA-PANDEMIE
Nach der Untersuchung aller Ursachen, warum Italien durch das Coronavirus besonders betroffen war – andere hingegen weniger –, ist es angebracht, Bilanz zu ziehen, was man dabei über Italien im besonderen, die EU im allgemeinen und unser Gesellschaftssystem überhaupt lernen kann. Dazu kommen noch andere Erfahrungen, die in den letzten Wochen und Monaten weltweit gemacht wurden.
1. Mobilität
Gefordert ist inzwischen eine uneingeschränkte Mobilität, die alle Gesellschaftsklassen umfasst, von Erntehelfern, die notfalls auch eingeflogen werden, über medizinisches Personal und Pflegekräfte, die täglich oder wöchentlich bedeutende Wegstrecken auf sich nehmen, bis hin zum gehobenen Management, das dauernd rund um den Globus von Betriebsbesichtigungen zu Konferenzen jettet, um in der Konkurrenz bestehen zu können.
Zur beruflichen Mobilität kommt die Freizeit-Mobilität. Ständig mit Verlusten kämpfende Fluggesellschaften unterbieten sich gegenseitig, um ja möglichst viele Urlauber auf sich zu ziehen, die ans Meer, auf Inseln, möglichst weit weg von zu Hause, an besonders exotische Flecken oder in gerade aktuell gehypte Ferienparadiese fliegen wollen. Irgendwo an den nächsten Schotterteich oder eine geruhsame Sommerfrische im nächstgelegenen Erholungsgebiet – das war einmal, ist etwas für notorische Loser oder Mindestrentner.
Diese ganze Mobilität hat hohe gesellschaftliche Kosten, was Energie, Lärm und Umweltverschmutzung angeht. Aber sie stellt inzwischen wichtige Sektoren der Wirtschaft: Flughäfen, Häfen, Kreuzfahrschiffe, Fluglinien, Transportunternehmen, Reisebüros, und die Industrie, die diese Flugzeuge, Schiffe und Nutzfahrzeuge herstellt.
Es wird sich herausstellen, wie weit und wie lange sich dieses Herumschieben von Arbeitskräften in CV- und Nach-CV-Zeiten fortsetzen läßt. Erntehelfer einzufliegen kommt auf die Dauer teuer, und läßt vielleicht wieder manche Lebensmittel vom Speiszettel der Normalsterblichen verschwinden. Die Lockdowns haben gezeigt, wieviel Reisetätigkeit sich durch Videokonferenzen und Chats vermeiden und die Betriebsführung dadurch verbilligen läßt. Und der Urlaub und die Zweitwohnsitze am Meer – die Zeit wird weisen, wer sich dergleichen Luxusbedürfnisse überhaupt noch leisten kann.
Alle Sektoren der Mobilitäts-Industrie sehen einer Schrumpfung entgegen, vor allem der Flugverkehr. Damit geht Zahlungsfähigkeit verloren, und die wird sich wiederum in geringerem Berufs- und Urlaubsverkehr niederschlagen, usw. usf.
2. Auslagerung von Produktion
Die Chinesen von Prato, die verlorengegangene Produktion in abgewandelter Form nach Italien zurückbrachten, stellen die Ausnahme dar. Auch italienische Firmen haben, wie viele andere auch, Produktion in ehemals sozialistische EU-Staaten und nach Fernost, vor allem China verlagert.
Sie taten das, genauso wie die Betriebe in anderen Staaten der EU, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Da machen die niedrigeren Lohnkosten und geringeren Umweltauflagen die höheren Transportwege wett, und man hat dann eben, wenn eine Pandemie ausbricht, keine Schutzausrüstung, weil die Masken, Anzüge, Handschuhe usw. bereits seit einiger Zeit von der anderen Seite der Erdhalbkugel geliefert werden. (Oder, im konkreten Fall, nicht geliefert werden, weil dort auch alles stillsteht.)
Der Bundesnachrichtendienst hat die deutsche Regierung gerügt, wie sie das denn hätte zulassen können, so wichtige Dinge im Ausland herstellen zu lassen?
Solche Gesichtspunkte waren aber der deutschen wie der restlichen europäischen Politik in den letzten Jahrzehnten völlig fremd. Das ist auch interessant angesichts der Tatsache, daß wegen CV ein Riesen-NATO-Manöver an der Ostfront der EU abgeblasen wurde. Säbelrasseln gegen Rußland – ja immer! Aber für den Kriegsfall medizinische Ausrüstung zu lagern – nein, an so etwas wurde nirgends gedacht, in keinem NATO-Staat.
(Man merkt daran, wie wenig die NATO-Staaten und ihre Medien an die von ihnen selbst verbreitete Propaganda über die Aggressivität Rußlands glauben – sie sind offensichtlich ganz sicher, daß die Russen tatsächlich nie in die EU einmarschieren werden.)
Wenn immer mehr und mehr Produktion nach Fernost verlagert wird, wie kommt dann eigentlich das vielbeschworene Wachstum zustande? Woher die Sicherheit, daß die Produktion dort erfolgt, der Profit dazu aber hier anfällt?
In Zeiten wie jetzt, wo nicht nur der Personentransport, sondern auch der Warentransport stockt, stellt sich diese Frage mit besonderer Deutlichkeit. Wenn der Salto mortale der Ware, ihr Verkauf, ganz woanders stattfindet als dort, wo sie hergestellt wird, so hat das unter anderem das Risiko, daß mit dem Transport etwas nicht hinhaut. Das zweite Risiko ist, daß die Zahlungsfähigkeit auf dem anvisierten Markt flöten geht. Das ist etwas, was sich in der ganzen EU, und besonders in Italien abzeichnet. Die Coronavirus-Krise in Europa könnte gut zu einer Absatzkrise in China führen. Und erst recht zu einer Pleitewelle derjenigen europäischen Betriebe, die bisher ihr Geschäft mit Ware Made in China gemacht haben.
In manchen Staaten werden Überlegungen laut, bestimmte Produktionen wieder zurück ins eigene Hoheitsgebiet zu holen. Da ist wieder die Frage: Wie? – immerhin handelt es sich ja um die Freiheit des Eigentums und die Akkumulationsfähigkeit des heimischen Kapitals, die die Verlagerung nach China veranlaßt haben.
3. Spektakel, Unterhaltungsindustrie
Die Unterhaltungsindustrie bewegt ziemliche Kapitalien, und sie bewegt sich immer mehr in Richtung Spektakel: Großveranstaltungen aus Sport, Kultur, Musik und sonstige Events aller Art bescheren den Veranstaltern hohe Einnahmen, die allerdings durch immer höhere Sicherheits-, Logistik- und Werbeausgaben, Gagen, Versicherungskosten und weiteres geschmälert werden. Deswegen bemühen sich die Akteure dieser Spektakel, noch mehr Menschen anzuziehen, denen sie das Live-Erlebnis verschaffen, und zusätzlich durch Fernseh- und Internet weitere Einnahmen zu lukrieren: Größer, lauter, bunter, mehr, höher – in diesen Superlativen versuchen sich Unternehmen aus Kulturindustrie und Sport über Wasser zu halten.
Interessant ist auch die andere Seite: Warum lassen sich so viele Leute in diesen Strudel hineinziehen, oder: Was macht die Attraktivität dieser Großveranstaltungen aus?
Es muß etwas Ähnliches sein, was in sozialistischen Staaten früher die Massen für Paraden und andere Demonstrationen der Einheit zwischen Staat und Volk auf die Straße gebracht hat: Das Gefühl, wo dazuzugehören, mit vielen Gleichgesinnten an etwas teilzuhaben, der Isolation zu entkommen. In der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft ist dieses Gefühl der Einheit um so wichtiger, weil es in Kontrast zu den täglichen Erfahrungen steht, wo man ständig untergebuttert und an seine Macht- und Bedeutungslosigkeit erinnert wird.
Außerdem übertönt dieses Laute und Grelle der Spektakel die Töne, die sich im Inneren der Menschen immer wieder melden: Kann ich meine Miete weiter zahlen? Liebt mich mein Partner noch? Verläßt er/sie mich womöglich bald? (Das hat durchaus auch was mit der Miete zu tun, weil allein ist die dann gar nicht mehr zu stemmen.) Habe ich meinen Job nächstes Jahr/ nächsten Monat noch? usw.
Existenzielle Ängste, was ist das?! Heute jubeln wir, feiern wir, saufen uns zu, erfreuen uns am Sieg unserer Mannschaft oder dem Konzert unseres Lieblings-Schlagersängers.
All diese Veranstaltungen sind auf der einen Seite im System von „Brot und Spiele“ wichtig für das Funktionieren der Klassengesellschaft, aber sie stellen auf der anderen Seite eine Art Zusatzveranstaltung dar, bedienen wie Alkohol und Drogen das Luxusbedürfnis des Sich Zu- oder Wegtörnens und müssen aus irgendeiner Art von Surplus-Produktion finanziert werden.
Heute sind diese Veranstaltungen alle gestoppt wegen Ansteckung, aber sie werden in Zukunft überhaupt sehr heruntergefahren werden, weil auch hier der lange Stillstand auf den Umstand hingewiesen hat, wie überflüssig sie eigentlich sind, und daß die Veranstalter nie mehr mit den Besucherzahlen wie bisher rechnen können.
4. Die gesellschaftliche Reproduktion
Jede Gesellschaft, ob Stämme im Urwald, mittelalterliche Fürstentümer, kapitalistische oder sozialistische Wirtschaft läßt sich im ökonomischen auf die 3 Haupt-Gebiete reduzieren: Produktion-Distribution – Konsum.
Unsere heutige Gesellschaft, der moderne Kapitalismus, die globalisierte Marktwirtschaft, zeichnet sich unter anderem dadurch aus, daß an einem Ende der Welt produziert wird, was am anderen konsumiert wird. Die Distribution, vermittelt über Transport, Logistik, Lagerung, nicht zu vergessen Wechselkurse und Zahlungsverkehr, macht einen im Vergleich zu anderen Gesellschaften unverhältnismäßig großen Teil der gesellschaftlichen Tätigkeit aus. Das gilt nur für den Fall, wenn man die ganze menschliche Gesellschaft betrachtet.
Nimmt man aber kleinere Einheiten, also einzelne Staaten, so stellt sich ihre Lage so dar, daß die Bewohner von vielen von ihnen fast nichts mehr produzieren, was sie oder andere brauchen. Ihre Mitglieder können ihren Lebensunterhalt nur bestreiten und ihren Konsum nur vollziehen, indem sie sich entweder als Transitland oder auf andere Art Dienstleister für die Distribution nützlich machen, oder bei der weltweiten Freizeitindustrie mitmachen.
Letztere – also Tourismus aller Art – stellt wirklich eine Besonderheit unserer Gesellschaft dar, und sie gehört damit in die Sphäre der Luxusbedürfnisse – also derjenigen Bedürfnisse, die entbehrlich sind, wenn Not herrscht und man jeden Groschen umdrehen, oder jeden Grashalm verwerten muß.
Nach monatelangen Shutdowns mit allen Nebenerscheinungen stellt sich heraus, daß diejenigen Staaten, die produzieren, weitaus besser aufgestellt sind als andere, denen ein guter Teil ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsgrundlage abhanden kommen könnte.

5. Messegelände

In der Coronakrise wurden überall hektisch Messehallen zu Notfallkrankenhäusern umgebaut. Es stellt sich heraus, daß fast jede größere Stadt über so etwas verfügt.
Man muß sich das bewußt machen: In Zeiten steigender Obdachlosigkeit, wo immer mehr Menschen unter Brücken, in Tunnels und in Notquartieren hausen, stehen große Objekte herum, die den größten Teil des Jahres leerstehen. Nur wenige Städte schaffen es, einen halbwegs durchgehenden Messebetrieb auf die Beine zu stellen. Bei den anderen bleibt der Wunsch der Vater des Gedankens. Diese Hallen, Zufahrten, Parkplätze und Parkhäuser wurden erstens gebaut und müssen zweitens gewartet werden – mit welchem Geld, so fragt man sich? – während gleichzeitig für Kindergärten, Pensionen oder Sozialhilfe immer zu wenig da ist.
Sie sind Denkmäler dessen, daß in unserer Gesellschaft absurde Ausgaben getätigt werden, während die wirklichen und breite Bevölkerungsschichten betreffenden Bedürfnisse nur sehr bedingt zählen und bedient werden.

6. Medizin im Kapitalismus

Zur Medizin und dem Gesundheitswesen haben wir viel gelernt: Erstens, und das ist wirklich bemerkenswert, daß Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel und Handschuhe offenbar in ganz Europa als höchst überflüssige Anschaffung betrachtet wurden, bevor das Coronavirus auftauchte. Einfache Hygiene-Artikel waren nirgends lagernd, werden in Europa kaum mehr hergestellt und es galt als höchst wirtschaftlich und schlau, sie vom anderen Ende des Globus zu beziehen.
Generell wurde in den letzten Jahres vieles, was Kranke brauchen, um gesund zu werden, als hinausgeschmissenes Geld betrachtet. Krankenhausbetten, die für den Fall zur Verfügung stehen, daß Menschen krank werden und deswegen dort hineingelegt werden müssen, wurden von Rechnungshöfen und sonstigen, teilweise privaten Evaluierern als eine Art Hotelbetten betrachtet, die so und so viel Tage im Jahr ausgelastet sein müssen.
Durch das Internet und auch die offiziellen Medien geistern Expertenmeinungen, die feststellen, man soll doch ruhig ein paar Leute sterben lassen, das sei normal, man könne nicht alle retten, und die Gesunden kommen schon durch. Diese Leute treten auch mit onkelhafter Gestik, als Fachleute zur Vermeidung von Panik auf, sie sind gütige Beruhiger, macht euch doch keine Sorgen, euch erwischt es eh nicht, sondern die anderen!
Besonders befeuert werden sie von schwedischen Gesundheitspolitikern, die stolz auf ihre Bevölkerung verweisen, die das Coronavirus besser überstanden hat als diejenige anderer Länder. Eine gesunde Nation, sapperlot!
Man fragt sich angesichts dieser Meldungen, warum wir eigentlich überhaupt Krankenhäuser und Ärzte haben? Im Grunde wird durch diese Sichtweise das gesamte medizinische Wissen entwertet, und die Heilkunst zu einer Art gesellschaftlicher Überempfindlichkeit stilisiert, wenn sie Kranke gesund machen oder vor dem Sterben bewahren will.
Diese Auffassung existierte sicher bereits vor dem Auftreten des Coronavirus, aber sie ist zweifelsohne populärer geworden bei Teilen der Bevölkerung, die nicht erkrankt sind und deren Einkommen durch die seuchenpolitischen Maßnahmen gefährdet ist.
Eine Art von Unterscheidung tritt auf, ein bekennendes Fordern nach Selektion, das nicht mehr (nur) zwischen Inländern und Ausländern, sondern zwischen Gesunden und Kranken eine Grenze zieht. Das „Wir“ der Braven und Fleißigen, die nicht rauchen, keinen Ballermann machen und sich um ihre Gesundheit kümmern, bläst ins Jagdhorn gegen die Alten, Schwachen, Drogensüchtigen usw. usf., die eigentlich als unnötiger Ballast bei jeder sich bietenden Gelegenheit abgeschüttelt werden sollten.
7. Umwelt
Daß die Umwelt in einem schlechten Zustand ist und der Klimawandel zu einem guten Teil hausgemacht ist, war vor der Coronakrise das Thema Nr. 1, es gab FFF-Demos und viele Verantwortliche runzelten die Stirn, wie man denn den CO2-Ausstoß verringern und den Planeten retten könnte. Man dachte an die Natur, die Landwirtschaft, die Naturkatastrophen, Dürre und Waldbrände, die Grundlagen der Ernährung, also sehr allumfassende und auf die Natur bezogene Besorgnisse und Maßnahmen.
Aber inzwischen hat sich herausgestellt, daß die Bedingungen, unter denen viele Menschen leben, die Brutstätte von Krankheiten sind, und nicht nur in Hinterindien, wo es kein sauberes Wasser gibt, sondern in den Metropolen industrialisierter Staaten, in der Lombardei und in New York. Der Smog, beengte Wohnverhältnisse, veraltete Infrastruktur und eine moderne Armutsmedizin, die die Menschen mit Antibiotika, Tranquilizern und Schmerzmitteln ruhigstellt, haben sich als die wirklichen Krankmacher herausgestellt, die das Virus nur für alle sichtbar gemacht hat.
Die ganze Umwelt-Debatte ist ein wenig aus der Atmosphäre, den Ozeanen, Urwäldern und Wüsten, dem Geschrei um gefährdete Tierarten, Pflanzen und Inseln in den Alltag des Hier und Jetzt zurückgekehrt: Worum geht es eigentlich beim Thema „Umwelt“? – um die Menschheit, die Zukunft, das Klima? – oder vielleicht zunächst einmal darum, wie in den Metropolen des Kapitals gelebt und gestorben wird?

8. Energie

Sehr betroffen von der Corona-Krise ist die Energiewirtschaft: Die eingeschränkte Mobilität und das Ruhen vieler wirtschaftlicher Tätigkeit läßt den Ölpreis abstürzen, wird aber auch viele Anbieter erneuerbare Energie in Schwierigkeiten bringen, weil auch sie mit der sinkenden Nachfrage und höheren Herstellungskosten zu kämpfen haben.
Wie die Fracking-Industrie und die darauf aufbauende Weltpapierspekulation aus diesem Wellental herauskommen und der Streit um North Stream und Ukraine-Gastransit weitergehen wird, ist unklar.
Das
9. Wachstum
wird jedenfalls in nächster Zeit nicht mehr so richtig flutschen.
Vielleicht kommt jetzt nach Null- und Negativzinsen das Null- und Negativ-Wachstum und die Prognosen werden sich darin überbieten, geringeren oder höheren BIP-Rückgang zu prophezeien.
Was das für die aufgehäuften Schuldenberge bedeutet, muß sich auch erst herausstellen.

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise II

WOHER KOMMT DAS GELD FÜR DIE UNTERSTÜTZUNG DER ÖKONOMIE, AN WEN GEHT ES, WAS SOLL ES BEWIRKEN?
Während auf der einen Seite mit einer Mischung aus Beschwichtigung, Kontrolle, Verordnungen und Panik an der medizinischen Bewältigung des Coronavirus gearbeitet wird, machen sich die Politiker auch Gedanken um den Fortgang von Geschäft und Gewinn. Wenn nämlich Betriebe zusperren, Leute nach Hause geschickt werden, die Arbeitslosigkeit steigt und die Umsätze stagnieren, so ist mit der Produktion des abstrakten Reichtums gleichzeitig der gesamte gesellschaftliche Zusammenhang in Frage gestellt.
Die Keynesianer sehen eine „Chance“, die Wirtschaft mit Schulden aller Art wieder anzukurbeln.

Überlegungen zum Coronavirus – 6.: Italiens Gesundheitswesen

WARUM ITALIEN? – TEIL 6
Hier wird die Serie der Erklärungen fortgesetzt:
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander
1. Gesundheit
Was als „Gesundheit“ angesehen wird, hängt von der Gesellschaft ab, in der man lebt.
Die alten Griechen trieben Sport, um fit für den Krieg zu sein. Gesund war, wer seine Feinde aufgrund seiner körperlichen Verfassung bezwingen konnte, und diesem Ziel war zumindest die körperliche Betätigung untergeordnet.
In den indigenen Gesellschaften gab es Medizinmänner, die mit Wissen über Pflanzen und Rauschzustände dafür sorgten, daß der Stamm halbwegs fit für Jagd, gegebenenfalls Ackerbau, und Reproduktion blieb.
In der heutigen Marktwirtschaft ist das Wichtigste, daß jemand arbeitsfähig ist. Sowohl nach körperlicher als auch nach geistiger Verfassung wird das Individuum dazu erzogen, sich an seinem Arbeitsplatz zu bewähren. Das heißt, daß sich bereits Kinder oder Jugendliche darauf vorbereiten sollen, andere gegebenenfalls auszustechen – im Sport, bei schulischen Leistungen, im Ergattern eines Partners. Gesund sein im weitesten Sinne heißt: bestmöglich gerüstet für die Konkurrenz.
Die Volksgesundheit, die modernen Staaten ein Anliegen ist, soll den ganzen Volkskörper möglichst für dieses Ziel befähigen. D.h., möglichst viele Individuen sollen nach dem Ideal der Gesundheitspolitiker möglichst sportlich, ehrgeizig und fleißig sein, um die möglicherweise nicht so gut vorbereiteten Untertanen fremder Herrschaften auf allen Gebieten – Kultur, Produktivität, Sport, usw. – auszustechen. Dieses Ziel geht auch in Form rassistischer Witze über andere Nationen in das Denken der jeweiligen Staatsbürger ein.
Der Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Art von Gesundheit dienen die Bildungseinrichtungen eines Landes und das Gesundheitssystem. Wenn letzteres untersucht wird, sollte man sich jedenfalls vor Augen halten, wie die Gesundheit definiert wird: Nicht als allgemeines Wohlbefinden, Abwesenheit von Krankheiten und Schmerzen und allumfassende Fertigkeiten, Geschicklichkeit und Frohsinn, sondern um die Funktionalität für die kapitalistische Klassengesellschaft.

2. Das Gesundheitssystem
a) Gesundheit im Sozialismus

Als der junge Medizinstudent Ernesto Guevara in den Ferien mit dem Motorrad durch Lateinamerika fuhr, fielen ihm bei den Leuten, die er kennenlernte, Bergarbeitern in der Atacama-Wüste oder Leprakranken in Ecuador, zwei Dinge auf: Erstens, daß unser Gesellschaftssystem Leute krank macht, vernutzt und Schäden und Gefahren aussetzt, weil es hier wie dort legal ist, daß die Reichen die Armen ausnützen, für sich arbeiten lassen und so noch reicher werden.
Zweitens, daß diesen solcherart Beschädigten dann auch noch wegen ihrer Armut die ärztliche Hilfe verweigert wird und im 20. Jahrhundert Menschen an Krankheiten leiden und sterben, die längst heilbar sind.
Er zog daraus den Schluß, daß er an dieser Gesellschaftsstruktur etwas ändern will, und sich nicht damit abfinden will, als Arzt diejenigen zu betreuen, die sich das eben leisten können.
Er wollte eine Gesellschaft errichten, in der Leute erstens nicht mutwillig krank gemacht, und zweitens ihre Krankheiten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geheilt werden.
Auf diesen beiden Prinzipien beruht das heutige kubanische Gesundheitssystem, das in diesen schweren Zeiten als besonders vorbildlich hervorsticht und Ärzte-Brigaden in die Zentren des Kapitalismus schickt, weil deren Gesundheitssysteme mit dem Coronavirus nicht mehr fertig werden.
b) Gesundheit im Kapitalismus
Der fundamentale Unterschied unseres Gesundheitssystems zum kubanischen besteht darin, daß Punkt 1 nie angedacht wurde. Das sehr gerühmte sozialstaatliche Gesundheitssystem Mitteleuropas beruht auf der Überzeugung, daß die Leute die Arbeit, die Umweltverschmutzung, den Streß und die Konkurrenz aushalten müssen, zumindest mehrheitlich.
Die Denkmäler dieser Auffassung sind Berufskrankheiten und Grenzwerte.
Bei ersteren ist anerkannt, daß gewisse Berufe krank machen. Diese Art von Beruf wird aber nicht eliminiert, oder so umgestaltet, daß er der Gesundheit nicht schadet. Die bereits Erkrankten werden, wenn sie Glück haben und ihre Beschädigung anerkannt wird, mit einer Invalidenrente ausgestattet.
Bei Grenzwerten wird festgestellt, daß verschiedene Stoffe nachteilige Folgen auf die Gesundheit der Bevölkerung haben. Sie werden aber nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern lediglich mengenmäßig beschränkt.
Eine Kritik an unserem Gesundheitswesen lautet, daß sie Symptome behandle, nicht Ursachen. Das ist zwar nicht immer richtig, hat aber natürlich in der Ausgangslage des ganzen Gesundheitswesens ihre Grundlage. Eigentlich könnten viele Ärzte angesichts der Lage ähnlich Schlüsse ziehen wie Che Guevara, aber irgendwie scheint sich diese Denkweise nicht so richtig durchzusetzen.
Ein schönes Beispiel für den Zustand unseres Gesundheitswesens ist die Krebsforschung. Es sind alle möglichen Stoffe bekannt, die krebsfördernd wirken. Die werden eben dann beschränkt und mit Grenzwerten versehen.
In andere Richtungen – wie sehr der Streß, die Existenzangst, das Mobbing, andere Formen der Konkurrenz und die zeit- und geldbedingte Mangelernährung breiter Volksmassen zur Folge haben, daß einige Zellen im Körper einfach kippen und zu Killern werden – wird gar nicht geforscht. Stattdessen suchen gutdotierte Institutionen nach Mitteln, diese Killerzellen wiederum zu killen. Auch alle Folgekosten, wie Chemotherapie, Rehab und Frühpensionierungen und Invalidenrenten, werden vom Gesundheitssystem in Kauf genommen. So sieht eben die Reparaturarbeit in unserer Gesellschaft aus.
Dem Gesundheitswesen entstehen außerdem beachtliche Kosten nicht aus der großartigen Entlohnung der dort Angestellten – viele Berufe im Gesundheitswesen streifen bereits die Prekariatsgrenze –, sondern daraus, daß die pharmazeutische und sonstige Medizinindustrie auch ihre Kosten kommen soll. Gerade solche Staaten leisten sich ein flächendeckendes Krankenhausnetz und behandeln ihre Bevölkerung großzügiger als andere Staaten, die damit auch ihrer Medizinindustrie eine zahlungsfähige Nachfrage und daneben ein Experimentierfeld für neue Behandlungsmethoden und Medikamente sichern.
Man kann das Gesundheitssystem unter diesem Gesichtspunkt durchaus auch als eine Art Standort- und Wirtschaftsförderung betrachten.
Wenn also die Neoliberalismus-Kritiker rufen: „Gesundheit darf kein Geschäft sein!“ und eine höhere Dotierung dieses Sektors fordern, so übersehen sie sehr geflissentlich, welchen Geschäften das ganze Gesundheitssystem von Anfang an dient: Sowohl den gesundheitsschädlichen nämlich als auch den heilenden.

3. Das Gesundheitswesen Italiens

„Zu Beginn der 1970er Jahre gab es in Italien noch rund 100 Krankenkassen. Dieses System wurde 1978 mit Einführung des nationalen Gesundheitsdienstes abgeschafft. Mit einem einheitlichen Leistungsangebot wollte die Regierung dem starken Gefälle zwischen reichem Norden und armen Süden entgegenwirken. In der Praxis hat dies nicht so ganz funktioniert, sodass es mittlerweile bereits vier größere Reformen gab.“ (Krankenkassenvergleich)
Ein Ergebnis dieser Reform von 1978 ist, „dass die medizinische Grundversorgung für alle Bürger kostenlos ist.“ (ebd.)
Was als Grundversorgung definiert, und was darüber hinaus geleistet ist, hängt von der Dotierung der Spitäler ab, und das wiederum hat mit dem Steueraufkommen derjenigen Region zu tun, in der sich die medizinische Einrichtung befindet.
Was im Mezzogiorno in medizinischen Einrichtungen als Grundversorgung angeboten wird, unterscheidet sich daher aufgrund der finanziellen Mittel sehr von Regionen wie Rom oder den reicheren Provinzen des Nordens. Die wirtschaftliche Entwicklung Italiens spiegelt sich also in der Ausstattung seiner Krankenhäuser, und auch in der Anzahl derselben: „Auf lokaler Ebene gibt es die Unita Sanitarie Lokale (USL). Pro USL werden zwischen 50.000 und 200.000 Einwohner betreut.“ (ebd.)
Man kann sich also vorstellen, was in solchen USL (= Krankenhaus, Notfallambulanz oder auch nur Ordination) los ist, wenn auf einmal massenhaft Leute krank werden.
„37,5 Prozent der Kosten werden mit Steuergeldern finanziert. Weitere 40,8 Prozent stammen aus den Versicherungsbeiträgen, die komplett vom Arbeitgeber übernommen werden.“ (ebd.) Der Rest kommt aus Selbständigen-Beiträgen und Selbstbehalten – für Medikamente oder Behandlungen, die über die Grundsicherung hinausgehen.
Dieses italienische Gesundheitswesen funktionierte zu Zeiten der Scala Mobile bis 1992, als die Gehälter hoch waren, halbwegs gut. Erstens war die allgemeine Gesundheit besser, zweitens war der Altesdurchschnitt niedriger, und auch die Steuern und Abgaben deckten die Anforderungen des Gesundheitswesens besser ab.
Sogar 8 Jahre später, nach sehr großen Veränderungen in Sachen Arbeitsmarkt, individuelle Einkommen und Abgaben erhielt Italien ein großes Lob der WHO: „Trotz der regionalen Unterschiede stand das Gesundheitssystem Italiens im Jahr 2000 an zweiter Stelle der Weltrangliste der Weltgesundheitsorganisation … Italien gibt knapp 10 Prozent seines BIP für das Gesundheitswesen aus und liegt damit im OECD-Durchschnitt.“ (Wikipedia, Servizio Sanitario Nazionale)
Als die Finanz- und Eurokrise die Eurozone erschütterte, trat die Regierung Berlusconi zurück, nachdem sie bereits das erste von EU-Beamten in Brüssel verordnete Sparpaket unterzeichnet hatte. Ihm folgte der Wirtschaftswissenschaftler Mario Monti als Übergangspräsident. Obwohl er gar nicht gewählt, also nach der italienischen Verfassung gar nicht zu solchen einschneidenden Maßnahmen berechtigt war, setzte er weitere Sparmaßnahmen durch. Die betrafen auch das Gesundheitswesen: „Unter anderem sollen 50 der insgesamt 100 Provinzverwaltungen verschwinden; im Gesundheitswesen sollen mittelfristig 18 000 Krankenhausbetten wegfallen.“ (Tagesspiegel, 7.7. 2012)
„Wegfallen“ – das klingt ganz so, als seien diese Betten bisher überflüssig gewesen, ein reines Dekor sozusagen.
Weitere Einsparungen nahm sich 3 Jahre später die Regierung Renzi vor: „Italiens Gesundheitswesen wird milliardenschweren Sparmaßnahmen unterzogen. Einsparungen in Höhe von zehn Milliarden Euro stehen dem Gesundheitssektor in den kommenden fünf Jahren bevor. … Schon im kommenden Jahr will die Regierung 2,3 Milliarden Euro an Gesundheitsausgaben kürzen. Die Einsparungen werden jedoch nicht die Dienstleistungen für die Bürger belasten, versicherte Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin. … Maßnahmen seien auf lokaler Ebene mit Hilfe der Regionen geplant. Kleinere Krankenhäuser sollen geschlossen werden. … Der Präsident des Veneto, Luca Zaia, meinte, in seiner Region seien nach den beträchtlichen Einsparungen der vergangenen Jahre keine weiteren Ausgabenkürzungen mehr möglich.“ (Salzburger Nachrichten, 29.7. 2015)
Das solchermaßen verkleinerte Gesundheitswesen Italiens mit überlastetem Personal, das aufgrund der Kürzungen seit 2012 eigentlich schon seit Jahren an der Grenze seiner Kapazitäten operiert, setzte ähnlich wie die Ärzte und Spitäler in den USA auf Entlastung: Statt aufwendiger stationärer oder auch ambulanter Behandlungen verschrieben die Ärzte vor allem älteren Patienten und solchen mit chronischen Krankheiten lieber Medikamente und schickten sie nach Hause.
Damit schufen sie eine zusätzliche Verschärfung der Situation, weil diese Patienten waren wenig widerstandsfähig, als das Coronavirus bei ihnen anklopfte.
Fortsetzung (Bonus Track): Der Smog