GEDANKENAUSTAUSCH MIT EINEM PENSIONIERTEN STUDIENRAT
Ich führe seit einigen Tagen einen Briefwechsel mit jemandem, der offenbar aus dem Gegenstandpunkt-Umfeld stammt und mich darüber zu belehren versucht, wie man eigentlich wissenschaftlich vorgehen und publizieren solle.
Ich veröffentliche das jetzt in Auszügen, weil die ganze Vorgangsweise des Briefschreibers recht typisch ist für eine Haltung, mit der man sich und anderen das Leben schwer macht, ohne daß irgendwer etwas davon hat.
Mein Kontrahent bezeichnet seinen Vornamen mit einem Buchstaben + Punkt, sodaß ich nicht weiß, ob es sich um einen Er oder eine Sie handelt.
Nennen wir in in Hinkunft Anonymus, damit ist allen gedient.
Anonymus macht sich wirklich Mühe, seinen Standpunkt zu vertreten – eine Anstrengung, die einer besseren Sache würdig wäre. Man merkt auch, daß Anonymus Angst hat, 14 Euro zu verschleudern für ein Buch, das ihm womöglich nicht zusagt.
Und das ist sicher nicht, weil Anonymus Hartz IV-Bezieher wäre. Ich bin sicher, für Objekte des Konsums, – Wohnkomfort, Mobilität, Nahrungsmittel, Sportgeräte und Urlaubsreisen – hat Anonymus genug Kohle. Aber ein Buch, ein Produkt des menschlichen Geistes – oh, da muß man schon vorsichtig sein und jeden Cent umdrehen, weil sonst kommt womöglich Gift ins Haus!
So beschwert sich Anonymus z.B. über den Klappentext meines Buches:
„Anlass für die Nachfrage zu dem Buch war, dass man aus dem Bewerbungs-/ Werbetext dazu keinerlei Auskünfte zur der Stoßrichtung desselben erhielt.
Dort stand im Wesentlichen, dass es als Zusammenfassung von Blogbeiträgen über ein „anonymes Autorenkollektiv” zustande gekommen sei.“
Allerdings. Und wenn jemand sich dazu näher informieren möchte, so braucht er ja nur auf den Blog gehen und nachlesen, was dort so steht.
Das ist aber die Sache von Anonymus nicht, obwohl das nicht einmal etwas kosten würde. Zumindest kein Geld. Wenn Anonymus mit seiner Zeit auch so knausrig ist, so wäre er besser beraten, doch dort einmal nachzuschauen, anstatt sich in Mutmaßungen darüber zu ergehen, was denn in dem Buch drin stehen könnte; und was drin stehen sollte, aber wahrscheinlich nicht drin steht.
Er fordert jedenfalls eine
„gediegene politökonomische Kennzeichnung der modernen Geld- und Schuldenwirtschaft“.
Dazu habe ich zu sagen, daß „gediegen“ gar nicht in meinem aktiven Sprachschatz vorkommt. Bei dem Wort denke ich an Eichenschreibtische oder andere Elemente der Wohnkultur. Wie soll denn eine Erklärung oder Kommentierung von ökonomischen Ereignissen „gediegen“ sein?
Man merkt, wir beide spielen in verschiedenen Ligen. Mir geht es in erster Linie darum, die Dinge so darzustellen, daß sie für jedermann verständlich sind.
Anonymus hat es nicht so mit den Fakten, Hauptsache, die „Stoßrichtung“ stimmt:
„Am Beispiel des … Stichworts „Schuldenschnitt in Griechenland”:
Es gab … keinen Schuldenschnitt, sondern auf unabsehbar die Verpflichtung des Landes zur Bedienung längst uneinbringlicher Schulden – die Abschreibung von Schuldtiteln wurde von den EU-Oberen explizit untersagt.“
So kann man sich natürlich mit der geschwellten Brust des Besserwissers an die Produktion von Fake-News machen. Der griechische Schuldenschnitt von 2012 hat nämlich die griechischen und zypriotischen Banken versenkt und war also durchaus folgenreich. Aber das paßt nicht ins Bild von Anonymus, der mich dann naseweis darüber belehrt, warum es gar keinen solchen Schuldenschnitt hat geben können.
Anonymus liest anscheinend keine Zeitungen und ist vom Tagesgeschehen relativ unberührt. Er möchte es offenbar durch eine Brille, eine Art Filter betrachten und hat bei meinem Buch – begründeter Weise! – den Verdacht, daß es dieses Bedürfnis nicht befriedigen wird:
„explizierend ergibt sich diese Notwendigkeit daraus, dass e i n e r Verlaufsform kreditfinanzierter Akkumulation die Klärung dessen vorangehen müßte, was das Bestimmende am Kredit ist, das die Konsequenz seiner Überakkumulation in sich trägt.“
Man beachte hier den wissenschaftlichen Widerspruch, oder die eigenartige Definition von Wissenschaft: Der „Verlaufsform“, also dem, was geschieht, müsse seine „Klärung“ vorausgehen: Der Filter muß vorher da sein, um die Ereignisse richtig einreihen zu können. Die geistige Tätigkeit besteht also im Erstellen des richtigen Begriffsapparates, wo dann oben Fakten hneingelehrt werden und unten Wissen herauskommt. Oder aber, wie in seligen DDR-Zeiten, des richtigen Fernrohrs:
Weil ansonsten, so Anonymus, droht Furchtbares, man verfällt dem bürgerlichen Moralismus und ist unrettbar verloren:
„Der bürgerliche Standpunkt ist einem zuwider: ob Athen Schuldenerlass oder überhaupt »unseren« Euro verdienen würde.“
Anonymus spart nicht mit wohlgemeinten Ermahnungen, wie man dieser Gefahr entkommen könnte:
„die Thematisierung der F o r m e n von Geld und Kredit mögen zwar für sich irgendwelche Relevanz haben, sie ersetzen nicht das an Geld und Kredit an und für sich Eigentümliche, welches erst wiederum die verschiedenen Sorten von Geld und Kredit er- bzw. begründen würden.“
Geht es nur mir so, oder halten andere Leute dieses Satz auch für blanken Nonsens?
„Thematisierung der F o r m e n“ – ??
„Relevanz“ – auf Deutsch: Bedeutung, Wichtgkeit für etwas anderes, – wie kann etwas „für sich“ relevant sein?!
„an und für sich Eigentümliche“ – was soll denn das sein? Wie soll eine „Form“ etwas „Eigentümliches“ ersetzen? Weil sonst müßte man das ja nicht dementieren.
„verschiedene Sorten von Geld und Kredit“ die durch das Eigentümliche „begründet“ werden? Sorten? Ist Geld und Kredit so etwas wie ein Sortimen in einem Warenhaus?
Hier werden inhaltsleere Begriffe und falsch verwendete Fremdwörter aneinandergereiht, was vielleicht unter Bildungsbürgern gut ausschaut bzw. klingt. Wer dieses Bedürfnis jedoch nicht hat, greift sich an den Kopf.
Irgendetwas, man weiß nicht so genau was, hat Anonymus gegen Geschichte:
„insbesondere die Betonung auf Geschichtliches bei Wirtschaft und Geld hegt den Verdacht, dass das Begriffliche an den verschiedenen Wirtschaftsweisen zumindest überlagert wird durch eine Schilderung von Abfolgen in der Zeit, welche eigentlich Ausgangspunkt für die Klärung der politökonomischen Eigenart der jeweiligen Epoche wären.“
Ich habe – anfangs noch gutwillig – gemeint, daß ich keinen Widerspruch zwischen geschichtlicher Abfolge und Begriff sehe, und mich nur gegen Geschichtsteleologie und ein falsches Verständnis von Entwicklung verwahrt.
Darauf kam von Anonymus:
„”Man kommt also nicht umhin, sich mit dem Vergangenen zu beschäftigen, wenn man über einen Gegenstand etwas herauskriegen will.” Dies stimmt m.E. so nicht: Der Klassiker hat sich das Studium des Kapitalismus am Material der damals fortgeschrittenen bürgerlichen Produktionsweise in England vorgenommen.“
Ich wußte nicht, soll ich lachen oder weinen? Meinereins, der kleine Erdenwurm, darf sich das, was Marx gemacht hat, keineswegs erlauben!
Das Ganze wird immer absurder:
„Um etwas über den heutigen Kapitalismus, sei es in D. oder Österreich, herauszukriegen, muss man sich nicht das ganze empirische Material zum englischen Kapitalismus des 19. Jh. erneut vornehmen.“
???
Anonymus bemüht sich, mich darüber aufzuklären, welche Fehler ich in meiner Unvollkommenheit machen könnte, um dann fest dagegen anzukämpfen, – wobei seine Ausführungen oftmals dunkel bleiben.
Das ist eine recht verbreitete Taktik der heutigen verkommenen Diskussionskultur: Man denkt sich eine verkehrte Position aus, unterstellt die dem Kontrahenten und zieht dann dagegen los. Es ist ein Sich-Drehen um die eigene Achse, eine Spiegelfechterei, wo der andere Mensch zu einer Art Steckplatz gemacht wird, in den man mißliebige Anschauungen hineinsteckt, um ihn dann abzuwatschen und sich dabei als Kämpfer für die Wissenschaft selbst zu genießen.
Ich habe das alles hiermit einmal thematisiert, um alle diejenigen aufzumuntern, denen auch Anonymusse über den Weg laufen, die mit erhobenem Zeigefinger und schwülstigen Phrasen darauf hinweisen, daß du ein ziemlicher Depp bist und noch viel lernen mußt.
Gebt diesen arroganten Bildungsbürgern ordentlich Saures!
Zweitens fällt natürlich an dieser Haltung auch die völlige Sturzzufriedenheit mit dem Status Quo auf. Anonymus und Co haben ihren Filter, ihren Begriffs-Apparat, sie wissen um die Notwendigkeiten und frönen dem Vergnügen, mit Gleichgesinnten liebgewordene Begriffe und Phrasen hin und her zu werfen. Damit bestätigt, anerkennt man einander als Gscheiterl und hat für die anderen da draußen, die im Dunkeln tappen und bürgerlichen Moralismus treiben, nur Verachtung übrig.
Es mutet wie ein Hohn an, wenn Anonymus sich dann auch noch darüber ergeht, was „die Aufgabe praktischer Agitation“ wäre – die er nicht vorhat, aber er wüßte genau, wie sie auszusehen hätte.
Kategorie: Geld & Kredit
Bewegungen für eine „gute Marktwirtschaft“
WOHIN WOLLEN DIE KRITIKER DER EU?
Ich schreibe jetzt einmal alle meine Bedenken gegen die Bewegungen der letzten Jahrzehnte zusammen, mit Bezug auf die Gelbwesten.
Alle die Bewegungen der letzten Jahrzehnte sind untergegangen, und mit gutem Recht. Sie hatten nämlich gar keine Vorstellung, die über Privateigentum, Staat, Kapitalismus, Geld usw. hinausweisen würde.
Diese Bewegeungen tragen die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – vor sich her. Dazu kommt noch das Ideal der Gerechtigkeit, das sehr inhaltsleer ist, aber mit um so größerem TamTam vor sich hergetragen wird. Mit ihm verschwägert ist das Ideal der „Umverteilung“, wo völlig unklar ist, wer das Subjekt davon wäre und wer deshalb von wem nach wem umverteilen sollte.
Diese demokratischen Ideale – und dabei auch die Demokratie als Staatsform – wurden und werden dabei als eine Art Banner – in der orangenen Revolution, im arabischen Frühling, von den „Empörten“, und in anderen Demos, die es nicht bis zur einer „Bewegung“ geschafft haben –, vor sich hergetragen.
Alle diese Ideale und Forderungen sind Momente der Unterordnung unter den bürgerlichen Staat, also denjenigen Staat, der dem Kapitalverhältnis dient. Sie sind also in erster Linie untertänige Aufrufe an die nationale Staatsgewalt, sich doch ihren Bedürfnissen zu widmen. Der Staat ist ihr Adressat, der soll sich doch ihrer Forderungen annehmen, doch ihre Interessen als Besitzlose würdigen und ihnen entgegenkommen.
SOLANGE ES EINE STAATSGEWALT GIBT, GIBT ES EINE EIGENTUMSORDNUNG
Mit all diesen Forderungen sind mehrere Urteile ausgesprochen:
1. Der bürgerliche Staat wird gar nicht als Parteigänger der Kapitalistenklasse wahrgenommen, obwohl er das Privateigentum und damit das Kapitalverhältnis einrichtet, garantiert und für sich nutzt. Im Gegenteil, dieser Staat wird als vermeintlicher Garant des Sozialstaats dazu aufgerufen, sich doch der Armen und Ausgesteuerten anzunehmen. Die Geier sollen Vergißmeinnicht fressen, der Einrichter des Kapitalverhältnisses soll sich zum Verteidiger des Proletariats machen.
2. Die Kapitalistenklasse wird zu einer Art von etwas ungezogenen, aber sonst braven Verwirklicherern guter Ideen verharmlost, denen die Staatsgewalt zu viel Gutes tut.
Im Grunde beruhen alle diese Bewegungen mit ihrer Unzufriedenheit auf der Anerkennung der sogenannten „trinitarischen Formel“. Die Produktion beruht dieser Formel zufolge auf 3 Produktionsfaktoren: Dem Boden, dem Kapital und der Arbeit. Alle drei tragen zur Produktion bei.
In dieser Formel werden die besitzenden Klassen den Besitzlosen gleichgesetzt – alle haben etwas. Die Besitzlosen, das Proletariat müssen ihre Arbeitskraft einbringen in den kapitaistischen Produktionsprozeß, weil sie sonst nichts haben.
Die besitzenden Klassen hingegen müssen keine Arbeitskraft einbringen, da sie ja Boden und Kapital ihr Eigen nennen können. Sie müssen also nicht arbeiten, sondern sie können fremde Arbeit zu ihrer eigenen Bereicherung einsetzen. Die Aneignung fremder Arbeit wird in der trinitarischen Formel als eine Art Arbeitsteilung Gleicher besprochen. Die Eigentumsordnung wird also damit als Selbstverständlichkeit festgeschrieben.
SOLANGE ES EIGENTUM GIBT, GIBT ES AUSSCHLUSS UND ELEND!
Wenn jetzt Empörte sagen: Wir wollen vom Kapital benützt werden! – wie es 2011-12 in Spanien geschah, – oder jetzt Gelbwesten sagen: Wir wollen von unseren Gehältern leben können! – so erkennen alle diese Protestierer sowohl den Staat als auch das Kapital an!!
Sie können höchstens eine Regierung stürzen – aber was kommt nachher?
oder eine neue Partei gründen, wie die trostlosen Podemos in Spanien, aber für mehr taugen alle diese Proteste nichts,
weil was wollen sie denn eigentlich?! und was kommt, wenn die derzeitige Regierung geht?!
SIE ERKENNEN ALLE DEN KAPITALISMUS AN!!
Sie haben keine Kririk am Markt, am Geld, an der ganzen Art und Weise, wie bei uns produziert und getauscht wird.
Deswegen haben alle diese Bewegungen und neuen Parteien etwas Konservatives an sich. Sie verteidigen den Status Quo oder sogar den Status Quo Ante, also entweder das Heute oder das Gestern. Sie haben allesamt keine Kritik am heutigen System, die über das Kapitalverhältnis hinausweist, sondern verteidigen eigentlich die heutige Ausbeutung, – das, was Marx als G–G’ bezeichnet. Es ist demzufolge also ok, daß die Besitzenden sich die Arbeit der Besitzlosen aneignen und daraus ihren Gewinn machen.
Die Ausbeutung der arbeitenden Menschen und das Profitemachen der Unternehmen sollten nach allen diesen sogenannten linken Parteien, wie „Die Linke“ oder „Podemos“ oder „Cinque Stelle“ nur durch eine soziale Abfederung von Sozialhilfe oder Mindestsicherung oder dergleichen ergänzt werden.
Alle diese Parteien wollen einen nationalen Kapitalismus, sie wollen Gewinnkalkulationen, sie wollen eine gelungene Ausbeutungsrate, sie hätten es gerne, wenn bei ihnen ordentliche Geschäfte gemacht würden.
Da das aber nicht geschieht, wollen sie mehr soziale Ausschüttungen – offenbar als Überbrückungen bis zum Tag X, wo es dann wieder gute Geschäfte gibt.
DEN TAG X GIBTS NICHT!
Denken wir doch einmal nach über das, wohin wir wollen, und nicht darüber, wie man die Ideale über die Marktwirtschaft aufrechterhalten könnte!
Serie „Lateinamerika heute“. Teil 7: Puerto Rico
VERWÜSTUNG
„Alles ist eine Wüste
Das Volk ist gestorben
an Not“ (Rafael Hernandez „El Jibarito“ – Puertorikanische Klage, 1929)
Zuletzt war Puerto Rico in den Medien, als der Hurrikan Maria im September des Vorjahres die Insel ohne Strom und Trinkwasser hinterließ und fast 3000 Tote forderte.
Heute, mehr als ein Jahr später, ist nur ein Teil des Schadens repariert. In erster Linie wurde diejenige Infrastruktur in Gang gesetzt, die mit dem Tourismus zusammenhängt, der dringend benötigte Einnahmen bringt.
Puerto Rico war, ungeachtet seines Namens („Reicher Hafen“), nämlich schon vorher ziemlich in Schwierigkeiten.
Teil der USA ohne Rechte
Puerto Rico gehörte seit den Anfängen desselben, also seit 1493 zum spanischen Kolonialreich und verblieb dort auch, nachdem sich das Festland von Mexiko bis Patagonien aus diesem gelöst hatte. Die Reste der spanischen Besitzungen in der Karibik wurden rund um die kubanischen Unabhängigkeitskriege von den USA annektiert, so auch Puerto Rico im Jahr 1898.
Die USA hatten lange kein Interesse daran, sich in die Karibik auszudehnen. Sie begnügten sich damit, das Festland Lateinamerikas zu ihrer Einflußzone zu machen, in Konkurrenz mit dem British Empire.
Das Interesse an der Karibik als Vorhof der USA erwachte gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die USA sich eine Kriegsflotte zulegten und begannen, über einen Kanal durch Mittelamerika nachzudenken. Sie wollten sich die Karibik für Stützpunkte sichern, mischten sich deshalb in den kubanischen Unabhängigkeitskrieg ein und vertrieben die Spanier.
Damals besetzten die US-Streitkräfte Puerto Rico. Diese de facto-Inbesitznahme wurde durch den Pariser Vertrag von 1899 besiegelt. Seither gehört Puerto Rico den USA, als ihr Territorium.
Zunächst war Puerto Rico militärisch besetztes Territorium. Es war eine Art Kolonie, aber dieser Status wurde nie offiziell als solcher benannt.
Mit dem Foraker Act von 1900 wurde eine zivile Verwaltung mit sehr beschränkten Befugnissen eingesetzt. Die Regierung wurde von den USA ernannt, die Selbstverwaltung beschränkte sich – ähnlich wie in der spanischen Kolonialverwaltung – auf die Gemeindeebene. Wahlen für eine Art Parlament waren eine Farce. Das Rechtssystem wurde nach US-Recht konstruiert, aber mit einer Menge Ausnahmen, unter anderem, was die Steuerhoheit betraf.
Puerto Rico ist ein historisch einzigartiger Fall von beschränkter Souveränität, der bis heute als solcher besteht. Es ist ein Staat, der keiner ist, aber als solcher international anerkannt ist. Ein Fall von Souveränität, die jeden Staatsakt, sei es im Inneren, sei es nach außen, immer mit der übergeordneten Macht der USA koordinieren muß. Jede Freiheit, die sich die Regierung dieses Staates erlaubt, muß vorher mit den USA abgesprochen werden. Was jedoch die Verbindlichkeiten dieses Halb-Staates betrifft, ist er auf sich allein gestellt. Die USA stehen nicht gerade für die Schulden Puerto Ricos, und sie haben keinerlei Verpflichtung, für die Schäden auf der Insel aufzukommen, die Naturkatastrophen verursachen.
Im Jones Act von 1917 wurde den Puertorikanern die US-Staatsbürgerschaft zugesprochen – sofern sie nach der Annexion von 1898 geboren waren. Damit verfestigten die USA ihren Anspruch auf die Insel und verwehrten sich gegen Unabhängigkeitsbestrebungen. Der unklare Status von Puerto Rico wurde damit weiter festgeschrieben.
Der unmittelbare Anlaß für diesen Beschluß – gegen den Willen der damaligen puertorikanischen Politiker – war der Wille, die Männer Puerto Ricos als US-Soldaten in den 1. Weltkrieg schicken zu können, in den die USA einen Monat nach dem In-Kraft-Treten des Gesetzes eintraten.
Seither ist die Emigration aus Puerto Rico in die USA ein taugliches Ventil für alle ökonomischen Nöte. Die Puertorikaner bevölkern die Slums der USA und ermöglichen durch ihre Überweisungen das Überleben der restlichen Bewohner der Insel.
Das zum gleichen Zeitpunkt, im Zuge des Krieges der USA gegen Spanien 1898 annektierte Hawai wurde 1959 unter der Präsidentschaft Eisenhowers zum 51. Bundesstaat der USA erklärt. Dem ging eine Abstimmung voraus, wo die Bewohner Hawais befragt wurden, ob sie den USA beitreten oder weiter in dem gleichen ungeklärten Status – wie Puerto Rico – verbleiben wollten. Die Idee der Unabhängigkeit wurde gar nicht zum Thema gemacht.
In Puerto Rico wurde anders vorgegangen. Versuche eines US-Politikers, über die Unabhängigkeit Puerto Ricos zu entscheiden, wurden sowohl in den USA als auch unter deren Parteigängern in Puerto Rico hintertrieben. 1948 wurde das sogenannte Knebelgesetz erlassen, das das Hissen der puertorikanischen Flagge und andere Äußerungen für die Unabhängigkeit Puerto Ricos sowie Vereine, die sich selbige zum Ziel setzten, unter Strafe stellten. Dieses Gesetz war bis 1957 in Kraft, als es vom US-Kongress aufgehoben wurde.
Eine Abstimmung über den Status der Insel fand während des gesamten 20. Jahrhunderts nicht statt. Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung wurden ermordet oder zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Ein Referendum von 2012 zu dieser Frage wurde ignoriert.
Puerto Rico ist also bis heute ein annektiertes Territorium der USA, mit ungeklärten Zuständigkeiten.
Als Rufe nach Unabhängigkeit sowie Streiks überhandnahmen und die Stabilität und Funktionalität Puerto Ricos ernsthaft gefährdeten, dehnten die USA 1933 die New Deal-Maßnahmen auch nach Puerto Rico aus. Vor allem auf dem Gebiet der Infrastruktur und des Gesundheitswesens wurde in den 30-er Jahren einiges investiert. Damals wurde die Insel mit Staudämmen für die Elektrizitätsgewinnung versehen und ein Stromnetz aufgebaut. Eine angestrebte Landreform und der Aufbau einer Industrie scheiterten vor allem am Widerstand von Firmen und Politikern in den USA.
Damals wurden jedoch die Grundlagen für das ehrgeizige Projekt der Nachkriegszeit gelegt, und auch die Politiker erzeugt, die in der Zugehörigkeit zu den USA das Heil Puerto Ricos sahen und alle anderen Richtungen ausschalteten.
Operation „Ans Werk!“
Unter dem 1948 gewählten Präsidenten Luis Muñoz Marín, den man als einen Vorkämpfer der Idee der „Entwicklung“ betrachten kann, wurde in Puerto Rico ein Programm begonnen das die bisherige, auf Zuckerrohranbau und sonstige Agrarprodukten basierende Wirtschaft der Insel gründlich umkrempelte.
Muñoz Marín war der erste nicht vom Senat ernannte, sondern von der Bevölkerung gewählte Präsident Puerto Ricos. Mit der solchermaßen zustande gekommenen Autorität sah er sich befugt, nicht nur alle Unabhängigkeitsbestrebungen zu verfolgen und niederzumachen, sondern auch dem Segen des Privateigentums und des Kredits auf der Insel zum Durchbruch zu verhelfen. Er war ein bekennender Anhänger der freien Marktwirtschaft, und der USA als Wohltäter Puerto Ricos.
„Ans Werk!“ war nicht mehr und nicht weniger, als eine Billiglohnzone für US-Kapital zu schaffen, – das, was später in Mexiko flächendeckend als „Maquiladoras“ stattfand. Puerto Rico und sein voraussehender Präsident schufen eine Art Mischung von Billiglohnsektor und Steuerparadies für US-Kapital. Der unklare Status Puerto Ricos wurde als Lockvögeli für das US-Kapital eingesetzt. Die Insel wurde – durchaus als eine Art Vorreiter für Verlagerung in Billiglohnländer – dem amerikanischen Kapital angeboten: zollmäßig Inland, und dennoch steuermäßig und gesetzesmäßig Ausland.
Den Bewohnern Puerto Ricos wurde dieses Programm verkauft als: Seid nur willig und billig, und schon kommt der Segen des Kapitals, schafft Arbeitsplätze und Wohlstand! Schon der Name dieses Programms war ein Aufruf an die Botmäßigkeit an die Bewohner der Insel: Es liegt an euch, macht doch etwas daraus!
Im Zuge dieses Programm wurde die Landwirtschaft heruntergefahren, sodaß Puerto Rico nicht nur bei allen Grundnahrungsmitteln, sondern auch bei seinen ehemaligen Exportprodukten Zucker und Kaffee importabhängig ist. Puerto Rico wurde damit auch zu einem Markt für US-Konsumgüter.
Um das US-Kapital anzulocken, schuf die puertorikanische Regierung noch einen zusätzlichen Attraktivitäts-Faktor: Unter dem Motto „Fortschritt“ und „Familienplanung“ wurde mehr als ein Drittel der weiblichen Bevölkerung zur Sterilisation überredet, was von USA-Organisationen großzügig finanziert wurde, um „Überbevölkerung“ und Armut zu lindern. Damit sollte das Einstellen von weiblichen Arbeitskräften befördert werden, die dem Kapital verläßlich das ganze Jahr hindurch zur Verfügung stehen würden. Auch „die Pille“ wurde zuerst in Puerto Rico großflächig ausprobiert, bevor sie in den USA zugelassen wurde. Die Frauen Puerto Ricos waren also in mehrerlei Hinsicht Versuchskaninchen für US-Firmen. Als Nebenprodukt dieser Vorgangsweise hat sich eine gewisse pharmazeutische Industrie dort angesiedelt.
Puerto Rico heute
Mit dem Abschluß des Freihandelsabkommens NAFTA mit Mexiko 1994 wurde Puerto Rico als Billiglohnland unbedeutend. Mexiko ist für die US-Firmen näher, größer, über den Landweg erreichbar. Neue Firmen siedelten sich in Puerto Rico nicht mehr an, manche alte sperrten zu und verlegten ihre Produktion nach Mexiko. In die Infrastruktur wurde nicht mehr viel investiert, die Abwanderung nahm zu.
Puerto Rico war lange eine Steueroase für US-Kapital. Das bedeutete jedoch, daß weder die Firmen, die nur ihren Firmensitz auf der Insel angemeldet hatten, als auch diejenigen, die dort tatsächlich Produktionsstandorte betrieben, Steuern bezahlten. Die Haupteinnahmen des Staates bestanden also sowieso lange Zeit – neben Zuschüssen aus den USA selbst – in den Steuern und Abgaben, die die arbeitende Bevölkerung in seine Kassen spülte.
2 Jahre nach dem Abschluß von NAFTA, 1996, strichen die USA die Steuervergünstigung für Puerto Rico, das damit endgültig unattraktiv für Investoren aller Art wurde.
Der Weltmarkt war so weit fortgeschritten, daß Puerto Rico unwichtig für das USA-Kapital wurde, weil inzwischen anderswo in Lateinamerika auch die meisten Schranken für das US-Kapital niedergerissen worden waren.
Und Puerto Rico begann sich zu verschulden, ohne irgendeine Aussicht, diese Schuld jemals selbst bedienen zu können. Es erhielt Kredit, weil es für die Gläubiger ein Teil des US-Territoriums war und deshalb als relativ solider Schuldner eingestuft wurde. Vermutlich nahmen die Banken und Fonds, die puertorikanische Anleihen kauften, auch an, daß der Kredit Puerto Ricos von der Fed irgendwie gestützt werden würde, falls die die Regierung der Insel ihren Verbindlichkeiten nicht mehr nachkommen könnte.
Seit 2015 kann Puerto Rico seine Anleihen nicht mehr bedienen und erhält daher auch keinen Kredit mehr. Bezüglich einer Stützung durch den US-Staatskredit haben sich die Gläubiger genauso geirrt wie in Detroit oder Kalifornien. Puerto Rico kann jedoch aufgrund seiner ungeklärten rechtlichen Stellung auch keinen Bankrott anmelden oder seine Schuld mit den Gläubigern neu verhandeln. Es ist auf Zuschüsse aus den USA angewiesen, auf die es jedoch keinen konkreten Rechtsanspruch hat. Die Hilfen, die es von Budget und Katastrophenschutz der USA erhält, haben daher den Charakter eines Almosens.
Dieser unerfreuliche Zustand betrifft über 3 Millionen Menschen. Seit 2007 wurde keine Volkszählung mehr durchgeführt, damals wurden 3,7 Millionen gezählt. Seither ist die Einwohnerzahl wegen Abwanderung wahrscheinlich zurückgegangen.