DIE STERBLICHKEIT
1. Vom Leben und Sterben im Kapitalismus
Jeder stirbt einmal. Aber ob früher oder später, macht schon einen Unterschied für die Betroffenen und ihre Umgebung aus. Es ist allgemein anerkannt, daß die Erhöhung der Lebenserwartung eine zivilisatorische Errungenschaft ist.
Aber das ist nicht so gut, wie es ausschaut. Erstens ist immer noch Luft nach oben, schon was das hohe Alter angeht, zweitens aber sagt das bloße Datum, die Quantität der Lebensjahre, nichts aus über die Qualität, mit der dieses Leben abgelaufen ist.
Eine britische Krankenschwester und Sterbebegleiterin hat einmal ein Buch geschrieben, in dem sie erzählt, daß viele der von ihr Betreuten auf dem Sterbebett gesagt haben: Kämen sie noch einmal auf die Welt, so würden sie versuchen, das zu tun, was sie wollen, und nicht das, was andere von ihnen erwarten.
Die Erwartungshaltung von Regierungen und Behörden ist beachtlich: Sie hätten es am liebsten, wenn ihre werten Mitbürger ihre Gesundheit nur beim Dienst an Staat und Kapital vernutzen und nicht mit Lastern aller Art wie Rauchen und Saufen; gesunde Sportarten treiben, anstatt mit Extremsportarten zu verunfallen, und sich stabil reproduzieren. Also 2 Kinder in die Welt setzen und die ordentlich und anständig ernähren und erziehen.
Zum Mißfallen vieler Beamter und Politiker tun die Leute das jedoch nicht und belasten deshalb das Gesundheitswesen, was stöhn! stöhn! Steuergeld kostet.
Über die Ausgaben, an denen auch andere Interessierte wie Pharmakonzerne hängen, wird genau Buch geführt und immer wieder gejammert, daß das alles viel zu viel kostet. Ein Präsident der Weltmacht Nr. 1 ist daran gescheitert, seinen Bürgern eine erschwingliche Krankenversorgung einzurichten, während unter seiner Regierungszeit immerhin einige Kriege und Bombardements stattfanden, was die US-Staatskasse sicher auch einiges gekostet hat.
Zur Pflege der Volksgesundheit gehört auch das Sammeln von Daten über die Häufigkeit verschiedener Gebrechen, und die Todesrate. Wenn sich eine tödliche Krankheit häuft, wie z.B. jetzt das Coronavirus, so werden dagegen Maßnahmen ergriffen. Ansonsten gibt es Empfehlungen zu Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen.
Im Großen und Ganzen ist es jedoch gerade angesichts der medizinischen Kenntnisse weltweit beachtlich, wie wenig davon zur Anwendung gelangt bzw. wie wenig gesellschaftliche Maßnahmen ergriffen werden, um die Menschen gesünder zu machen.
Und diese relative Gleichgültigkeit gegenüber der Lebensqualität zeigt sich auch bei den Sterblichkeitsdaten.
2. Krankheiten überhaupt
Es gibt einen Haufen Krankheiten und Gebrechen, die die Bürger Europas befallen, gegen die aber relativ wenig gemacht wird, weil sie erstens nicht allzu häufig sind, und zweitens nicht unbedingt tödlich. Dazu gehören die Erkrankungen des Nervensystems, wie Multiple Sklerose, Epilepsie, Parkinson u.a. Weder ist das Erforschen dieser Krankheiten Chefsache, noch werden Maßnahmen ergriffen, um ihr Auftreten zu reduzieren.
Dann gehören weiters Autoimmunerkrankungen und solche des Stoffwechsels, die zwar schon lange existieren, aber auch heute noch bestenfalls mit irgendwelchen symptomschwächenden Medikamenten behandelt werden.
Dann die Atemwegserkrankungen, Magengeschwüre, usw.
Schließlich gehören dazu die Krankheiten der Psyche, die inzwischen soweit als Krankheit anerkannt sind, daß Therapien und Medikamente vom öffentlichen Gesundheitswesen getragen werden, bezüglich deren Ursachen und der möglichen Vermeidung Psychologie und Medizin jedoch völlig im Dunklen tappen.
Beliebt sind hier wie auch bei „gewöhnlichen“ Krankheiten die Behauptungen, etwas sei „erblich“ oder „genetisch“, um sich um genauere Nachforschungen herumzudrücken.
Es kennt doch jeder von uns: Man selber oder ein Verwandter erkrankt, man geht zu einer Reihe von Ärzten und meistens kriegt man eine Reihe von Pillen oder Salben, bestenfalls noch eine Überweisung zu einem Kuraufenthalt. Sowohl was Diagnose, als auch Ursachenforschung und Behandlung angeht, ist Eile und schnelle Abfertigung angesagt. Meistens noch mit der Aufforderung garniert, weniger zu rauchen, zu trinken und mehr Bewegung zu machen.
Die einen sind dergleichen Behandlung schon so gewohnt, daß sie sich freuen, das Medikament um die Rezeptgebühr zu kriegen.
Die anderen sind sie satt und laufen zu Alternativmedizinern, die von Behörden und guten Staatsbürgern als Kurpfuscher abqualifiziert werden.
Eine ähnliche gesellschaftliche Haltung wird zu Tod und Todesarten eingenommen. Das zeigt sich auch in der Datenerfassung und den Sterblichkeitsstatistiken.
3. Obduktionen und Todesursachen
In Deutschland werden angeblich 1-2% aller Toten obduziert. Vermutlich ist 1% schon zu hoch gegriffen. In Italien werden Autopsien überhaupt fast nur an vermuteten Mordopfern festgenommen, bei normalen Verstorbenen sind sie ganz ungewöhnlich.
Die Obduktion findet in Österreich statt, wenn die Ärzte selbst sie für geraten ansehen, oder wenn sie gerichtsmedizinisch verordnet wird. In diesen Fällen tragen das Spital oder irgendwelche Behörden die Kosten.
Wollen die Angehörigen eine Obduktion vornehmen lassen, so müssen sie selber die Kosten tragen, die z.B. in Österreich so um die 3000 Euro liegen. Diese Fälle sind also eher selten.
Aber allgemein kann man sagen, daß Autopsien in der EU eine Ausnahme darstellen, es muß etwas Besonderes eintreten, damit überhaupt eine vorgenommen wird.
Wenn manche Zweifler sich heute beschweren, daß anläßlich der angeblichen Coronavirus-Toten so wenige Autopsien vorgenommen werden, so kann man feststellen, daß gerade nie so viele Autopsien vorgenommen wurden wie derzeit.
Es wird angenommen, daß jeder 2. Mord in Deutschland unentdeckt bleibt, weil an dem Opfer keine Obduktion vorgenommen wird.
Das ist aber weniger an einem Vertuschungsinteresse gelegen, als an dem Prinzip, das Gesundheitswesen nicht mit „unnötigen“ Ausgaben zu belasten, und einer gewissen abgeklärten Gleichgültigkeit, auch Resignation gegenüber den Todesursachen allgemein.
Bei den Todesursachen gibt es die 2 Stars Krebs und Herz-Kreislauf-Versagen.
Während der Krebs immerhin diagnostiziert und behandelt wurde, die Todesursache also eine gewisse Übereinstimmung mit der Krankheit aufweist, die zu ihr geführt hat, so sind das Herz und das Gehirn meistens die letzten Stationen, an denen der Körper seinen Geist aufgibt. Alkoholismus, Depressionen, Lungenkrankheiten oder Leberzirrhose, alles im Zusammenhang mit stark wirkenden Medikamenten, münden meistens in einem tödlichen Herzinfarkt. In der Todesursage „Herzversagen“ oder „Gehirnblutung“ sind jedoch diese ganzen Verlaufsformen gelöscht. Die Krankengeschichte landet im Mist, um die Buchhaltung zu entlasten.
Als dritthäufigste Todesursache macht der Diabetes Fortschritte. In Deutschland soll angeblich jeder 5. daran sterben, weltweit angeblich jeder 10. Auch hier sind die Statistiken und Angaben mit Vorsicht zu genießen und allein deswegen umstritten, weil oft Ärzte der betroffenen Fachgebiete die „offiziellen“ Statistiken hinterfragen, weil sie die Wichtigkeit ihres Faches herausstreichen wollen.
Der Diabetes als Stoffwechselkrankheit ist eindeutig eine Folge anderer Faktoren (Ernährung, Lebensumstände, Bewegung, Depressionen), die aber in dieser Diagnose auch gelöscht, und die Betroffenen auf Diät und Insulin gesetzt werden.
Schließlich ist es auch denkbar, daß in Kliniken, die sich auf bestimmte Krankheiten spezialisieren wollen, dergleichen Fälle häufiger diagnostiziert werden, um an die benötigten Mittel aus den Versicherungstöpfen zu kommen.
Auf einem anderen Blatt stehen die Selbstmorde. Da ist es wieder so, daß die lokalen Behörden es nicht gerade als Ruhmesblatt ihrer Gemeinden ansehen, wenn sich die Leute massenhaft umbringen und Selbstmorde, wenn möglich, lieber als Unfall, Herzversagen oder „Todesursache unbekannt“ qualifizieren.
Auch so sind die Selbstmorde z.B. in Italien die häufigste nicht mit einer Krankheit verbundene Todesart, noch vor Unfällen und Morden.
Angesichts der überall in Europa (und vermutlich auch anderswo) ansteigenden Selbstmordraten ist es auffallend, wie wenig Beachtung diesem Umstand gewidmet wird. In den Medien herrscht inzwischen völliges Schweigen dazu.
Während im in den 80-er Jahren in Österreich, das damals weltweit ziemlich weit oben auf der Skala der Selbstmorde pro Kopf der Bevölkerung stand, hin und wieder Artikel zu dem Thema erschienen und Studien erstellt wurden, liest man heutzutage kaum mehr etwas davon.
Seit der Wende ist dies eine gesellschaftliche Erscheinung, mit der sich die wissenschaftliche Welt, das Bildungswesen und die gewöhnlichen Mainstream-)Medien einfach nicht mehr beschäftigen wollen.
Man hat manchmal sogar den Eindruck, daß Behörden, Psychologen und Mediziner den Selbstmord als eine Art Entlastung des Sozialsystems betrachten, der Überflüssige, Sozialhilfebezieher, Dauerpatienten und Pflegefälle aus dem System entfernt.
4. Datenerfassung und Statistiken
Man kann anläßlich all dieser Umstände sagen, daß das Einzige, was an den Todesstatistiken verläßlich ist, die Anzahl der jährlich gemeldeten Toten ist. Das schaffen die Datenerhebungs-Zuständigen gerade noch.
Die Aufteilung der Toten auf die verschiedenen Todesursachen ist jedoch mehr als fragwürdig und kann höchstens als Annäherungs- bzw. Schätzwert betrachtet werden.
Deshalb werden von vielen als einzig verläßliche Daten zum Coronavirus diejenigen zur Übersterblichkeit angesehen.
Die wiederum sagen über den Verlauf der Coronavirus-Erkrankung der Todesopfer wenig bis gar nichts aus.
Sind sie an einem durch die virale Infektion verursachten Immunschock gestorben? An einer Überreaktion des Immunsystems? (Das war eine der wichtigsten Todesursachen bei jüngeren Leuten bei der Spanischen Grippe.) An einem multiplen Organversagen aufgrund der mangelnden Sauerstoffversorgung? An einem Herzversagen aufgrund der Überforderung des Immunsystems? An einem Herz-Kreislauf-Versagen aufgrund der Aufregung rundherum? An einer Lungenentzündung, die im Gefolge der Infektion durch das Coronavirus mit dem geschwächten Organismus leichtes Spiel hatte? (Das war eine der Haupt-Todesursachen der Spanischen Grippe, zumindest in den USA)
Fragen über Fragen, die aber inmitten der ganzen Aufregung um Lockdowns und sinkendes BIP kaum jemanden zu interessieren scheinen.
nächstes Mal: Das BIP
Kategorie: Gesundheit
Neues vom Coronavirus
LEBEN MIT CV-19
Während in Nord- und Lateinamerika die Zahlen weiter in die Höhe schnellen, scheint sich in Europa eine Art neue Normalität eingebürgert zu haben, täglich in den Medien mit Corona-Briefings und über „Cluster“ und Vorsichtsmaßnahmen informiert zu werden.
Die meisten Politiker scheinen nach wie vor etwas ratlos zu sein, wie mit dieser nicht enden wollenden Pandemie umzugehen ist.
Außer sie heißen Trump, Bolsonaro oder Áñez und es ist ihnen wurscht, wie viele ihrer Mitbürger dabei draufgehen oder schwere Schäden davontragen. Sie verlassen sich offensichtlich auch darauf, daß es nur die ärmeren Bevölkerungsschichten hart treffen wird und bei mit dem nötigen Kleingeld ausgestatteten Personen die Medizin einer allfälligen Erkrankung schon Herr werden wird.
Zunächst einmal die von mir erstellten Statistiken zu den Todesraten (Gemeldete Coronavirus-Tote zu Bevölkerung) weltweit:
0,000860174155305 Belgien
0,000690052238598 UK
0,000603646729425 (seit 3 Tagen gleiche offizielle Todeszahl), oder
=> 0,000952603455818 Spanien
0,000582855402026 Italien
0,000555115041855 Schweden
0,000450972489663 Frankreich
0,000370443093200 Irland
0,000356261127377 Holland
0,000229895744953 Schweiz
0,000162452830189 Portugal
0,000109719380390 Deutschland
0,000093091442554 Rußland
0,000080485168660 Österreich
0,000589614015386 Peru
0,000522760807541 Chile
0,000448518181818 USA
0,000413616322215 Brasilien
0,000342185377774 Mexiko
0,000323372712532 Ecuador
0,000245472986284 Bolivien
0,000236048223926 Kanada
0,000197395438883 Iran
0,000188029075255 Kolumbien
0,000121720899027 Südafrika
0,000071127800526 Argentinien
0,000067885276937 Türkei
0,000024208625482 Indien
Zuwachsraten:
Peru + 0,000154910534285
Bolivien + 0,000040340597378
Chile + 0,00002902013844
Brasilien + 0,00002252878142
Iran + 0,000018496271693
Mexiko + 0,000017882215164
USA + 0,000017810953529
Ecuador + 0,00001262450776
Rußland + 0,0000075709562
UK + 0,000006728325422
Schweden + 0,000003873120822
Indien + 0,000003388395975
Frankreich + 0,000000656785037
Obwohl in einigen europäischen Staaten die Ansteckungszahlenwieder ansteigen oder, wie z.B. in Rußland und Portugal, trotz relativ rigoroser Maßnahmen unvermindert angestiegen sind, drückt sich das nicht in einer parallel ansteigenden Todesrate aus, woraus man entweder schließen kann, daß das Virus inzwischen zu einer harmloseren Art mutiert ist, oder die Behandlungsmethoden besser und sicherer geworden sind.
In Spanien gibt es keine Einigkeit zwischen Gesundheitsbehörden und Lokalpolitikern. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie soll Spanien über 44.000 Coronavirus-Todesfälle zu verzeichnen haben, was sich aus dem Zusammenzählen lokal registrierter Verdachtsfälle und generell sehr dezentralen Statistiken ergibt. Man hat den Eindruck, in Spanien weiß die eine Hand nicht so recht, was die andere tut, und sehr viel wird ad hoc entschieden – keine gute Perspektive für ein Land mit derzeit stark ansteigenden Infektionszahlen und vielen leerstehenden touristischen Unterkünften.
Schlimm sieht es in Lateinamerika aus. Dort werden ständig ansteigende Infektions- und Todesraten gemeldet, die die meisten Beobachter – Epidemologen und andere Mediziner mit internationaler Erfahrung – für zu niedrig halten.
Peru hat bisher nur als Verdachtsfälle geführte Verstorbene inzwischen auch in die Statistik aufgenommen, deshalb die abrupte Zunahme der Todesfälle seit voriger Woche. Außerdem wurde Anfang Juli die Quarantäne in 18 Provinzen aufgehoben und die Restaurants wieder geöffnet, was zu einem rapiden Anstieg der Infektionen geführt hat. Nach einem New York-Times-Artikel, der sich auf die mittels einer Studie gemessene Übersterblichkeit von 136% beruft, liegen die gesamten gemeldeten Coronavirus-Zahlen von Peru weit unter unter den tatsächlichen. Auch so, mit diesen angeblich zu niedrigen Zahlen liegt Peru derzeit in Lateinamerika an 3. Stelle hinter Brasilien und Mexiko.
In Bolivien, wo die Pandemie weiter um sich greift, wurden die längst fälligen Wahlen wieder um einen Monat verschoben. Das ist zwar seuchenpolitisch argumentierbar, kommt aber der Putschistenregierung gerade recht, weil keine der Putschparteien sich Chancen auf einen Wahlsieg ausrechnen könnte. Die stärkste Partei in allen Umfragen ist die MAS. Die Putschisten und der CIA beten jetzt zum Coronavirus, daß sie bis zu einem endgültigen Wahltermin eine Möglichkeit finden werden, diese Partei oder ihre aussichtsreichsten Kandidaten zu verbieten, ähnlich wie es den Eliten und der mit ihnen kooperierenden Justiz in Ecuador oder Mexico gelungen ist.
Generell verlieren sich alle Gewißheiten um tatsächlich Infizierte oder Verstorbene in Lateinamerika in einem Netz von Kriminalität, Regionalismus, medizinischer Unterversorgung und unverläßlicher Datenerfassung. Manche Regionalbehörden melden Opfer von Schießereien oder Entführungen als Coronatote, oder umgekehrt, um mehr Mittel von der Zentralregierung zu erhalten. Andere verbergen das Ausmaß der Betroffenheit, weil sie um ihre Wiederwahl fürchten. Dazu kommt noch die Situation mit den Tests, die ja schon den Behörden in Österreich und Deutschland zu teuer sind (von den reichen Leuten kann man das Sparen lernen), erst recht in krisengeschüttelten lateinamerikanischen Staaten.
Auch die Vergleiche mit der „Übersterblichkeit“ helfen nur bedingt, da in Staaten wie Mexiko, Brasilien, El Salvador, Honduras u.a. die Rate der gewaltsamen Tode von Jahr zu Jahr ansteigt, wodurch der Durchschnitt der letzten 10 Jahre gegenüber den heutigen Mordzahlen niedrig wirkt.
Pressespiegel Komsomolskaja Pravda, 22.7.: Coronavirus in Rußland
DAS EPIZENTRUM DER CORONAVIRUS-ERKRANKUNGEN VERLAGERT SICH VON MOSKAU IN DIE REGIONEN
„Das Risiko einer COVID-19-Infektion in Russland ist nach wie vor hoch
Sogar das Coronavirus erwies sich vor so einer machtvollen Erscheinung wie dem russischen Vertrauen ins eigene Glück als schwächlich. Nach dem Ende der Zeit der Selbstisolation ignorieren die Menschen geradezu genießerisch Sicherheitsmaßnahmen: Sie vergessen die medizinischen Masken, feiern den Sieg über das Coronavirus in zahlreicher Gesellschaft und ignorieren die Anforderungen der sozialen Distanzierung.
Ist es nicht zu früh, um die Zügel derartig schleifen zu lassen? Diese Frage haben wir Artyom Gil gestellt, Professor am Institut für Gesundheitsmanagement an der Setschenov-Universität.
Wenn Sie sich die Statistiken ansehen, dann ähnelt die Situation dort einer Fläche mit einem sehr langsamen, kaum wahrnehmbaren Aufwärtstrend – sagt Artyom Jurjevitsch.
Es besteht jedoch das Gefühl, dass eine beträchtliche Anzahl infizierter Personen gar nicht in die Statistik eingeht (z. B. gehen sie nicht mit leichten Atemwegsbeschwerden zum Arzt). Darüber hinaus sind sogar die offiziellen Zahlen – etwa 6500 neu registrierte Fälle im Land pro Tag – sehr hoch. Es gibt in der Tat immer noch ein hohes Infektionsrisiko. Es gibt Regionen, in denen eine angespannte Situation bezüglich der Bettenkapazität besteht. Daher glaube ich, dass Menschen völlig grundlos aufhören, vorbeugende Maßnahmen zu beachten. Dies schafft das Potenzial für einen zukünftigen Ausbruch. Wenn in solchen Regionen, in denen die Bettenversorgung bereits jetzt nicht ausreichend ist, auch nur ein kleiner Ausbruch auftritt und die Anzahl der Patienten zunimmt, kann das Gesundheitssystem eine solche Belastung nicht bewältigen.
KP: Die Ansicht ist weit verbreitet, dass die Coronavirus-Epidemie in Moskau nachlässt, aber das Epizentrum sich in die Regionen verlagert. Ist das wirklich so?
Zum Teil ja, die Infektion hat sich im ganzen Land verbreitet. Nach meinen Vermutungen begann die Ausbreitung des Coronavirus außerhalb Moskaus nach den Maifeiertagen. Jedes Jahr gibt es Anfang Mai eine massive Abreise aus Moskau von denen, die in die Hauptstadt gezogen sind, um dort zu arbeiten. Das gleiche passierte dieses Jahr. Heute sehen wir wirklich mehrere lokale Epizentren, hauptsächlich im Norden Russlands – den Autonomen Kreis Chanty-Mansi, den Autonomen Kreis Yamalo-Nenzien, das Gebiet Murmansk …
Das bestätigt übrigens die Hypothese der Saisonalität von Covid-19. Im Norden ist es jetzt, anders als in Zentralrussland, feucht und kühl, und das Virus verbreitet sich dort schneller. Im Herbst trägt das Wetter nach unseren Maßstäben zur Situation vor der Krise bezüglich der Bettenkapazität und des Mangels an medizinischem Personal bei. In Moskau gibt es zwar eine überdurchschnittliche Sterblichkeit, aber wir beobachten keine Überlastung des Gesundheitssystems.
KP: Was ist, wenn die zweite Welle des Coronavirus kommt?
Selbst wenn es eine zweite Welle gibt, ist die Überlastung des Moskauer Gesundheitssystems kaum zu erwarten, da die Hauptstadt einen Mechanismus für den raschen Einsatz von Covid-Betten eingerichtet hat. Es ist klar, daß wir Todesfälle nicht vermeiden können, weil es noch keine wirksame Behandlung für diese Infektion gibt.
Andererseits gibt es Anzeichen für eine Mutation des Virus, es gibt Hinweise darauf, dass es weniger bösartig wird. Daher kann man erwarten, dass die zweite Welle weniger tödlich ist als die erste. In Moskau gibt es immer noch keine Anzeichen für die ernsthafte Situation, die am Anfang stand. Aber in der Provinz entstehen neue Epizentren. Deshalb kann man nicht Entwarnung geben, das Infektionsrisiko ist immer noch sehr hoch.“
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In Rußland wurde lange das Augenmerk auf diejenigen Personen gelegt, die von China einreisten – ob zu Land oder in der Luft.
Das Coronavirus wurde jedoch von russischen Touristen aus Westeuropa eingeschleppt und verbreitete sich in Moskau, bevor die Quarantäneregeln in Kraft traten.
Und von dort eben offenbar weiter.
Die Zahlen aus Rußland lauten:
Bestätigte Fälle: 789.190
Genesen: 572.053
Todesfälle: 12.745
Durchgeführte Tests: 25 704.372
Neue nachgewiesene Infizierte seit dem Vortag: 5862
Quelle: Jandex, „Coronavirus in Rußland“
Auffällig ist die hohe Testrate und die geringe Todesrate.
Wenn man Rußland (146.877.088 Einwohner mitsamt Krim, nach der Volkszählung 2018)) mit den USA (geschätzte 330 Millionen) vergleicht, wird das besonders auffällig:
Bestätigte Fälle: 3 903.684
Genesen: 1,888,787
Todesfälle: 142,095
Durchgeführte Tests: 47 224 382
Neue nachgewiesene Infizierte seit dem Vortag: 4,473
Quelle: United States COVID-19 Statistics
Die USA testen auch sehr viel, aber sowohl die Zahl der noch aktiven Fälle als die der Todesfälle ist weitaus höher, sowohl im Vergleich mit der Einwohnerzahl als auch im Vergleich mit den bestätigten Fällen. Lediglich der Anstieg der Infiziertenzahlen ist geringer.