Überlegungen zum Coronavirus – 4.: Zu viele Alte?

WARUM ITALIEN? – TEIL 4

Hier wird die Serie der Erklärungen fortgesetzt:
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut.
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander

1. Vom Altern in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft

Unser – europäisches – Gesundheitssystem, das stets gepriesen wird als flächendeckende Versorgung, kennt eine breite Liste der Berufskrankheiten. „Typische Berufskrankheiten sind Lärmschwerhörigkeit, Hautkrankheiten, Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats sowie Erkrankungen durch anorganische Stäube (Asbestose und Silikose).“ (Wikipedia, Berufskrankheit)

Die Anerkennung dieser Krankheiten bedeutet zweierlei: Erstens ist anerkannt, daß diverse Tätigkeiten krank machen. Zweitens werden sie dennoch nicht verboten oder durch mechanisierte Abläufe ersetzt, sondern weiterhin werden Menschen diesen schädigenden Tätigkeiten ausgesetzt. Und drittens, wenn es sie dann erwischt hat, so haben sie Anspruch auf Entschädigung, Frühpension, Invalidenrente oder andere Einkünfte, die nicht besonders berauschend sind. Den Nachweis muß das Individuum aber erst einmal erbringen, mit Arztbesuchen, Untersuchungen, Amtswegen usw.
Damit ist natürlich keineswegs alles erfaßt, was krank macht: „Psychische Erschöpfungszustände, wie das Burnout-Syndrom, psychische Störungen oder psychiatrische Erkrankungen zählen bislang nicht zu den Berufskrankheiten.“

Dazu kommt, daß oftmals aus Angst um den Arbeitsplatz und das daraus erzielte und oftmals sehr knapp verplante Einkommen trotz Krankheit weiter dort gearbeitet wird. Auch normale Infektionskrankheiten werden nicht einfach mit Abwarten und Teetrinken auskuriert, weil das verlängert den Krankenstand, sondern mit Antibiotika aller Art bekämpft. Andere Schädigungen, wie Schmerzen, Verdauungs- und Schlafstörungen werden ebenfalls mit Pillen beschossen. Zu den legalen Tabletten gesellen sich Alkohol und Drogen, die oft auch noch zu Mangelernährung führen, weil die Konsumenten dann beim Essen sparen, um sämtliche Rechnungen zahlen zu können.

In Zeiten der prekären Beschäftigung und der Ich-AGs ist überhaupt die Ernährung ein beliebter Sparposten, weil das Immobilienkapital fordert immer höhere Teile des Gehaltes, und sich kleiden und heizen muß man in unseren Breiten ja auch noch. Die Lebensmittelindustrie hat sich darauf eingestellt und produziert jede Menge Billigfutter, in dem Nährstoffe und Vitamine durch dubiose Zusätze und Reste von Unkrautvertilgungsmittel und Kunstdünger ersetzt werden. Und mit viel Zucker, der Glücksdroge der Armen.
Die regelmäßig eingenommenen Medikamente und das miese Essen führen dann zu Nebenwirkungen und anderen Beschwerden, die auch wieder mit Medikamenten bekämpft werden, und so erreicht der arbeitende Mensch sein Pensionsalter meistens in einem Zustand, der nicht als beneidenswert eingestuft werden kann. Zur möglicherweise steigenden Lebenserwartung gesellt sich dadurch eine schlechte Lebensqualität, die sich aufs Gemüt schlägt und zur Einnahme weiterer Pillen führt, die einem das Leben rosiger erscheinen lassen und einen guten Teil der Lebensrealität ausblenden helfen.

Zu dem allen kommt auch noch eine sehr gesteigerte Geschwindigkeit des täglichen Lebens, alle möglichen flotten Fortbewegungsgeräte auf dem Gehsteig, Telefone, mit denen man immer und überall erreichbar ist und jede Menge weiterer Streß, ob man mit der Pension über die Runden kommt und nicht womöglich dem noch mehr gestreßten Nachwuchs zur Last fällt. Sofern man überhaupt einen hat und sich nicht mit Katzen und Hunden über die Vereinsamung hinwegtröstet.

Es gibt zwar jede Menge Ratgeber, wie man gesund und fit bleibt. Was immer man davon halten mag: Es ist bemerkenswert, daß sie sich alle auf das Funktionieren des Körpers beziehen. Weitaus weniger Wert wird darauf gelegt, wie man seinen Verstand fit halten und gezielt einsetzen könnte. Im Gegenteil, in den Medien gibt es jede Menge Verblödungsangebote, genannt „Unterhaltung“, die aus den oben genannten Gründen auch gerne angenommen werden, um sich von der tristen Wirklichkeit abzuwenden.

Die Demenz ist dann die Endstation, das endgültige Abschalten von Menschen, die einen Weltkrieg erlebt und den Wiederaufbau bewerkstelligt haben – und nicht begreifen können, wie sich Menschen um I-Phones über Nacht anstellen oder in einer Schlange stehen, um auf den Mount Everest zu kommen, während sie selbst schon froh sind, wenn sie sich hin und wieder einen Ausflug mit dem Seniorenklub unternehmen.
Dazu gibt es noch eine Menge öffentliche Schelte, daß sie der Gesellschaft auf der Tasche liegen, über das Umlagesystem der Pensionskasse.

2. Die Bevölkerungspyramide und das Pensionssystem

Immer wieder erklingt das Wehgeschrei der Demographen (= Bevölkerungswissenschaftler), daß die Graphik, die die Altersverteilung anzeigt, zusehends kopflastig und instabil ist. Das ist deshalb, weil das Pensionssystem über die Einzahlungen der Arbeitenden, die sogenannten Arbeitgeberbeiträge, über die die Unternehmer klagen, finanziert wird. Obwohl sie formell als Zahlung des Unternehmers abgewickelt werden, sind sie tatsächlich ein Teil des Gehalts. Die Arbeitenden zahlen ein, um einmal in den Genuß einer Pension einer Pension zu kommen, und das Geld tropft auf der anderen Seite auf diejenigen, die bereits in Pension sind. Es ist klar, daß da ein Mißverhältnis eintritt, wenn auf der einen Seite immer weniger in das Gefäß hineingeleert und auf der anderen Seite immer mehr entnommen wird.

Die Bevölkerungswissenschaftler, die das in ein reines Problem der mangelhaften Reproduktion – zuwenig Kinder! – verwandeln, lassen dabei einen wichtigen Umstand weg: In Zeiten großer Jugendarbeitslosigkeit gibt es gar kein Deckungsverhältnis der Arbeitsfähigen mit den tatsächlich Arbeitenden und Einzahlenden. Die kapitalistische Wirtschaft kann immer weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter brauchen, und das Mißverhältnis ist dadurch noch größer, weil auf Pensionsberechtigte aus Zeiten der Fast-Vollbeschäftigung treffen Prekäre, Niedriglohnsektoren und auch immer weniger tatsächlich Einzahlende.

Dieses Mißverhältnis sollte durch die Schaffung von privaten Pensionsfonds ausgeglichen werden, in die die besser Verdienenden einen Teil ihres Gehalts einzahlen sollten. Die Idee war von Haus aus rein arithmetisch nicht sehr gut, weil damit wurden der staatlichen Pensionskasse erst einmal Gelder entzogen.

Diese Pensionsfonds sollten, so die Idee, mit Spekulationen auf dem Wertpapiermarkt eine wundersame Geldvermehrung erzielen und damit dann ihrer Kundschaft ein sorgenfreies Alter ermöglichen. Dieser schöne Plan wurde spätestens durch die Finanz- und Eurokrise 2008 ff. in ganz Europa (und auch außerhalb) zunichte. Wertpapiere wurden entwertet, sichere Anlagen sind mit Null- und Negativzinsen belastet, aus den Einnahmen der privaten Pensionsfonds wurde nichts, und sie müssen jetzt oft wie die staatliche Pensionskasse bezuschußt werden, um nicht den Geist aufzugeben und damit womöglich einen Bankencrash auszulösen.
Das schafft eine mißliche Lage für viele Staatshaushalte, die ihrerseits ein Problem haben, sich zu finanzieren und sich und anderen Schuldenbremsen verordnet haben, um nicht durch muntere Verschuldungstätigkeit wieder eine Neuauflage der Eurokrise von 2012 ff. hervorzurufen.

Manche Staaten, wie Nachfolgestaaten Jugoslawiens oder Rumänien müssen Kredite aufnehmen, um ihre Pensionsfonds zu stützen.

Diese eigentlich ausweglose Lage wird mit ständigen besorgten Artikeln, Belangsendungen und Interviews immer wieder thematisiert: Wie werden wir die Pensionen weiter zahlen? – was eine sehr unerfreuliche Stimmung für die Betroffenen erzeugt. Erstens erfahren sie in einem fort, daß sie zu viele sind, zu lange leben, lästig sind, unnütz sind, und den kommenden Generationen die Butter vom Brot essen. Zweitens schwebt über ihnen auch das Damoklesschwert, daß eines Tages das Konto leer sein könnte, weil die Überweisung der Pensionskasse nicht mehr kommt.

Immerhin wurden z.B. in Griechenland die Pensionen seit 2014 zehnmal oder noch öfter gekürzt, und auch in Spanien stehen die Pensionsfonds kurz vor dem Kollaps, weil durch die Finanzkrise eine große Abwanderung eingesetzt hat, die Arbeitslosigkeit gestiegen ist und immer weniger an Einzahlungen hereinkommt.
Obwohl also die Überalterung der Gesellschaft nicht der wichtigste Grund für die Schwierigkeit der Finanzierung des Pensionssystems ist, ist sie doch eine Tatsache.
Wie kam es dazu?

3. Italien: Von der Bambinifreudigkeit zum Großelternüberhang

a) Die „Scala Mobile“

In Italien war bis 1990 die Kommunistische Partei sehr stark, vor allem in der 1944 im Pakt von Rom gegründeten Einheitsgewerkschaft CGIL. Ihrem Einfluß, und auch dem Entgegenkommen der italienischen Eliten war es zu danken, daß 1945 die „Scala Mobile“ eingeführt wurde. Die Gegenseite, Industrielle und Politiker, sahen damals ein, daß die Lohnpolitik einen entscheidenden Einfluß auf den „sozialen Frieden“, also den Gehorsam der Arbeiterklasse haben würde.
Nach der Scala (ww.: Rolltreppe) wurden den Arbeitern jährlich die Preissteigerungen durch eine nationale Lohnerhöhung abgegolten. Zunächst war das ein höchst kompliziertes Verfahren, wo sich diese Erhöhungen nach Berufsgruppe, Alter, Geschlecht und Qualifikation unterschieden. In den Jahren 1975-77 wurde das Verfahren vereinfacht. Unter der sozialistischen Regierung Craxi fand 1984 per Dekret eine Verringerung der Lohnsteigerung statt, und 1992 wurde sie unter der ebenfalls sozialistischen Regierung Amato abgeschafft. Die Sozialdemokraten bewährten sich hier, ähnlich wie Schröder & Co. in Deutschland, als die wahren Diener des Kapitals, indem sie die Arbeiterklasse auf einen Schlag verbilligten.
Die Scala Mobile spielte eine bedeutende Rolle in den Klassenkämpfen der 60-er und 70-er Jahre. Die militanten Organisationen der Linken, die wilde Streiks organisierten, proletarische Einkäufe veranstalteten und sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, wurden in den späten 70er und 80-er Jahren durch die Justiz aufgerieben. Es gelang ihnen nicht, das italienische Proletariat zu mobilisieren, weil es u.a. durch die Lohnpolitik von Staat und Kapital bei der Stange gehalten wurde.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges fiel der italienische Eurokommunismus in sich zusammen. Obwohl sie sich als nationalstaatlich orientierte Sozialisten im Schulterschluß mit der herrschenden Klasse gegen den Ostblock präsentierte, hatte die PCI ihre Bedeutung doch nur als Schwesterpartei des Realen Sozialismus gehabt. Damit fiel jeder Widerstand gegen die Ansprüche des Kapitals und die Scala Mobile wurde abgeschafft.
Dank der im europäischen Vergleich hohen Löhne war es in Italien bis in die 80-er Jahre nicht üblich, daß beide Elternteile arbeiten gingen. Die Mamma war Hausfrau und versorgte Mann und Kinder, und oft auch noch die im Haushalt mitlebenden und mithelfenden Eltern. Unter diesen Bedingungen war es üblich, daß in Italien mehr Kinder pro Familie geboren und aufgezogen waren, im Unterschied zur Zweikinderfamilie, die damals in Mitteleuropa Standard war.

Das Reproduktionsverhalten einer Gesellschaft hängt nämlich von den Einkommen ihrer Mitglieder ab.

b) Das Pensionssystem

Ein allgemeines Pensionssystem wie oben beschrieben, mit Einzahlungen der arbeitenden und Berechtigung einer Alterspension wurde in Italien erst 1969 eingeführt. Vorher gab es zwar allgemeine Pensionskassen, wo Alterspensionen beantragt werden konnten, und spezielle Pensionskassen für einige Berufe. Im Großen und Ganzen war es aber bis dahin die Aufgabe des Familienverbandes gewesen, die Alten und Arbeitsunfähigen zu erhalten.

Damals war die Arbeitsmarktsituation gut, die Löhne und Gehälter vergleichsweise hoch und es gab viele Einzahlungen, die einen Grundstock für die Pensionskasse schufen, die die damals geringfügigen Auszahlungen locker verkraften konnte.
Die damaligen (zahlreichen) Einzahler sind jedoch die Pensionisten, also die Bezieher von heute.

c) schwindende Einnahmen

Ab dem Jahr 1992, dem ersten Jahr der EU und nach dem Zerfall der Sowjetunion, wurde das ganze Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit neu definiert, was Löhne, Gehälter und Sozialauszahlungen betraf. Das Kapital hatte gewonnen, die Arbeitermacht gab es nicht mehr, die Unternehmer mußten keine Rücksicht mehr nehmen, weil auch die ausgesteuerten Staatsbürger der ehemals sozialistischen Staaten auf den Arbeitsmarkt drängten und die industrielle Reservearmee schier unendlich anwuchs.

Italien war zudem Vorreiter der Ausweitung des informellen Sektors. Um die per Scala Mobile geregelten Löhne zu umgehen, war Schwarz- und Teilzeitarbeit dort seit den 70-er Jahren üblich und verhinderte auch viele Familiengründungen.

Das heißt auch, daß die Einzahlungen in die Pensionskasse nicht nur nach Höhe, sondern auch nach Anzahl zurückgegangen sind.

Als dann die Löhne und Gehälter der Fix-Angestellten auch noch fielen – seit 1996 stagnieren sie, bei gleichzeitig bedeutenden Preisanstiegen, vor allem nach der Einführung des Euro – blieb nur mehr die Verschuldung, um z.B. überhaupt zu Wohnraum zu kommen, und die Geburtenrate fiel noch schneller als in anderen europäischen Staaten, da sie ursprünglich von einem höheren Niveau ausgegangen war.
Italien hat heute die niedrigste Geburtenrate der EU.

Daß in Italien heute häufig mehrere Generationen unter einem Dach leben, hat nicht nur mit Traditionen zu tun, sondern vor allem damit, daß die meisten Menschen sich getrennte Haushalte gar nicht mehr leisten können.

Fortsetzung folgt: Messestadt Mailand

Überlegungen zum Coronavirus – 3.: Die Serenissima

WARUM ITALIEN? – TEIL 3
Hier wird die Serie der Erklärungen fortgesetzt:
1. Der Mailänder Flughafen ist der wichtigste europäische Flughafen für Ostasienflüge
2. Die italienische Mode wird seit geraumer Zeit von Chinesen in Sweatshops in Norditalien hergestellt
3. Der Karneval in Venedig + die Kreuzfahrten nach Venedig haben als Verteiler gewirkt
4. Es gibt halt so viele alte Leute dort
5. Die Einrichtungs-Messe Homi in Mailand im Jänner wurde vor allem von chinesischen Arbeitern aufgebaut.
6. Das Gesundheitswesen in Italien war auch vor der Epidemie schlecht beinander

3. Venedig

a) Eine besondere Stadt
Seiner Rolle als Seehandelsmetropole verdankt Venedig sowohl seine Anlage überhaupt, auf den Inseln der Lagune – der Lido war ein Schutz gegen Überfälle, und die Lagune bot genug Anlegeplätze für Schiffe aller Größen – als seine besondere Architektur, mit der sich die Kaufleute von Venedig ein persönliches Denkmal setzten. Dieses Ensemble macht es schon lange zu einem Ziel für Kunst- und Kulturbeflissene, als Konsumenten oder Produzenten derselben.
Die Bedeutung als Handelsplatz verlor es jedoch im 18. Jahrhundert, weil sich die Handelswege änderten und andere Handelszentren Venedig verdrängten. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß in den fast 2 Jahrhunderten der Stagnation die Bausubstanz erhalten blieb und nicht modernen Zweckbauten Platz machen mußte.
Nach der Einigung Italiens, Ende des 19. Jahrhunderts machten sich einige venezianische Lokalpolitiker und finanzkräftige Unternehmer und Bankiers daran, diese etwas verschlafene Ecke Italiens aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken und an vergangene Größe anzuknüpfen. Damals wurde die Biennale ins Leben gerufen, als Kunstmesse. Es folgten Investitionen in Infrastruktur – Elektrifizierung und Straßenbau und schließlich der Ausbau der Industrie in Orten auf dem Festland.
Während die Bausubstanz der Inseln erhalten bleiben und dem Geschäft mit der Kultur und dem Tourismus dienen sollte, wurde Marghera und Umgebung ausgebaut und im Laufe der Jahrzehnte zu einem wichtigen Industriezentrum und Hafen vergrößert.
An dieser Zweiteilung entwickelte sich Venedig eigentlich das ganze 20. Jahrhundert entlang. Die Biennale entwickelte sich zur wichtigsten Kunst- und Architekturmesse Europas. In den 30-er Jahren kam noch das Filmfestival dazu, im Rahmen der entstehenden italienischen Filmindustrie. Produziert wurde in den Studios in Rom, gezeigt in Venedig.

b) Tourismus
Die Art von kulturbeflissenen Touristen aus dem In- und Ausland, die Venedig anzog, fügten sich gut ins Bild und diese Leute waren auch zahlungskräftig. Luxushotels wurden gebaut, es wurde ein mondäner Treffpunkt des Adels und der Kunstszene.
Mit der Zeit und der Entwicklung des Tourismus zu einem breiter gestreuten Vergnügen wurde Venedig zu einem Ort, den jeder einmal gesehen haben mußte, und sei es auch nur für einen Kurzausflug von billigeren Urlaubsorten der nördlichen Adria.
Die Situation änderte sich graduell mit dem Niedergang der italienischen Industrie und des Hafens von Marghera. Auf einmal wurde der Tourismus zu einem Rettungsanker für ein in die Jahre gekommenes und von den neueren Technologien überflüssig gemachtes Entwicklungsmodell. Die ganzen Ortschaften an der Lagune leben inzwischen direkt oder indirekt von den Menschenmassen, die Venedig zu allen Jahreszeiten be- bzw. heimsuchen.
Der Tourismus in Venedig hat heute etwas von einem Tanz auf dem Vulkan. Während die Altstadt langsam versinkt – die Fundamente geben nach und der Meeresspiegel steigt – und die Stadtverwaltung kein Geld hat für nötige Renovierungen, und sich sogar die Fertigstellung des umstrittenen Schleusenprojekts immer wieder verzögert, ist in der Stadt ständig das Geratter der Rollkoffer zu hören. Züge, Vaporettos und Kreuzfahrschiffe speien in einem fort Touristen aus, die dann in AirB&Bs, Hotels und Alberghi rattern, über den Markusplatz flanieren und in Gondeln steigen. Venedig hat sich in eine Art Kulisse verwandelt, deren noch arbeitsfähige Bewohner die ständig wechselnden Schauspieler verschiedener Wichtigkeit bedienen und ansonsten ihr Leben in überteuerten und feuchten Absteigen fristen oder täglich von Quartieren am Festland in die Altstadt pendeln.
Dazu kommen riesige Kreuzschiffe, die Venedig als ein Muß in ihrem Programm führen und sich wie Elefanten an der Tränke an die Altstadt schmiegen, die Kais der Stadt und den Untergrund der Lagune ruinieren und durch ihre Größe, Gestalt und Nähe einen völlig absurden Kontrast zu den verzierten Palästen des 15 und 16. Jahrhunderts darstellen, wie Walfische neben einer Puppenstadt.
Auf den Kreuzfahrtourismus will aber Venedig auf keinen Fall verzichten.
Erstens war einst viel italienisches Kapital in der Kreuzfahrbranche tätig, die inzwischen zwar von internationalen Konkurrenten aufgekauft wurde, aber dennoch weiter an dem Kuchen mitnascht. Mit dem Unfall der Costa Concordia 2012 ist diese Branche zwar ein wenig ins Zwielicht geraten, aber die Delle bei den Reservierungen war von kurzer Dauer. Kreuzfahrten sind beliebt wie eh und je. Sie bieten nämlich auch Leuten eher bescheidenen Einkommens das Gefühl von wahrem Luxus.
Zweitens hängen an dieser Laufkundschaft Imbißstuben, Konditoreien, Souvenirgeschäfte und dergleichen in Venedig selbst, deren Betreiber aufgrund geringer Gewinnspannen auf große Umsätze angewiesen sind.
Drittens schließlich ist einer der wenigen Betriebe von Marghera, der noch funktioniert, die Fincantieri-Werft, die auf den Bau von Kreuzfahrschiffen spezialisiert ist. Das ginge nicht: Einerseits diese Riesendinger herstellen – die Werft von Marghera ist eine der weltweit bedeutendsten für diese Art von Schiffen – und gleichzeitig die Einfahrt beschränken.
Um ja keine Möglichkeit von Zusatzeinnahmen einzubüßen, bemüht sich Venedigs Verwaltung auch ständig um Events aller Art, auch um das Biennale-Gelände möglichst auszulasten.
Einer dieser Events ist der Karneval.

c) Fasching
Die ausgelassene Zeit zwischen Weihnachten und der Fastenzeit ist ein europäisches Phänomen, das anderen Kulturen fremd ist. Auch in die Neue Welt kam es erst mit den Kolonisatoren.
Erstens sollen damit lange Winternächte und Finsternis überwunden werden. Das ist jener Teil des Faschings oder der Saturnalien, der sich auf die Natur bezieht. Die Feldarbeit ruht, der Geist ist müßig, man kommt da auf viele dumme Gedanken. Das Beste ist, sich durch ausgiebiges Feiern, Rausch und Ähnliches ins Frühjahr durchzuhangeln.

Zweitens aber stellt er eine Reparaturmethode für brüchige Klassengesellschaften dar. Herr und Knecht, Patrizier und Bettler, Kaufmann und Fischer, König und Page begegnen sich auf gleicher Stufe und verbrüdern sich, wenn auch nur für einen Tag oder eine Nacht. Dieser Aufhebung der Standesunterschiede und Außer-Kraft-Setzen von Geboten dient auch die Verkleidung. Viele bedeutungslose Personen werden zu weisen Hofnarren, Mönche und Nonnen verlassen die Mauern ihrer Klöster und vergnügen sich in anderen Örtlichkeiten, Reiche lassen andere an ihrem Reichtum teilhaben, und wichtige Personen des öffentlichen Lebens mischen sich wie Harun Al-Raschid unters Volk, um einmal die Bürde ihrer Verantwortung los zu sein und dem Volk aufs Maul zu schauen.
Der russische Denker Michail Bachtin sah den Karneval als ein Fenster der Freiheit, wo die Strenge der christlichen und bürgerlichen Normen ein Stück weit aufgehoben wird, um die Unfreiheit und das Gesetz des übrigen Jahres zu ertragen.

Eine weitere Dimension erhält der Karneval heute in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft, wo die Heuchelei und das Vorspiegeln falscher Tatsachen vielen Menschen selbstverständlich geworden sind. Die Überschätzung der eigenen Bedeutung und der Wunsch nach Anerkennung werden im Fasching ein Stück weit befriedigt. Mit Kostümen und Masken verläßt man die Enge des gewöhnlichen Ich und genießt sich in einer anderen, selbstgewählten Rolle. Narrenkönige und gewöhnliche Narren verwandeln sich in Politikberater, die es den Mächtigen so richtig reinsagen, während sie ansonsten nur den Stammtisch mit ihren Weisheiten beglücken können. Die durch den Kakao gezogenen Politiker machen gute Miene zum bösen Spiel und lachen mit – im Bewußtsein, daß genau diese Art von plumpen Scherzen sie in ihrer Stellung bestätigt.

Der Karneval in Venedig diente jahrhundertelang auch der Zurschaustellung des Reichtums der Serenissima. Mit Samt und Seide wurden aufwendige Kostüme geschneidert, um aller Welt zu zeigen, wie die Handelsstadt zu feiern versteht.
Während der Zeit der Stagnation nach dem Frieden von Passarowitz und unter der österreichischen Herrschaft schlief diese Tradition ein. Venedig hatte weder Grund noch Geld, ausgiebig zu feiern. Und sogar im 20. Jahrhundert besann sich lange niemand auf dieses römisch-italienische Erbe.
Die Wiederentdeckung des Karnevals mit Fellinis „Casanova“ Ende der 70-er Jahre war eine Mischung aus Zufall und Berechnung. Fellini hatte vermutlich nicht die Absicht, eine Tourismusattraktion herzustellen, als er sich für diesen Film der venezianischen Tradition bediente. Aber für Künstler, Lokalpolitiker und Tourismusunternehmen in Venedig war der Anlaß gegeben, ihre Stadt um einen Anziehungspunkt reicher zu machen.

Der venezianische Karneval ist heute eine Art große Show, für die viel Geld locker gemacht wird und wo sich Unterhaltungsbedürfnis mit Bildungsbürgertum paart. Eine Art Mißwahl, Preise für die besten Kostüme, ein akrobatischer Akt vom Markusturm und andere scharfe Vergnügungen können immer mit dem Bewußtsein genossen werden, daß man dabei auf Tradition und Stil Wert legt. Ballermann in Mallorca oder sonstwo ist für Proleten – der Mensch mit gehobenen Bedürfnissen geht nach Venedig zum Karneval, läßt ordentlich was springen und schwelgt dann daheim in seinen Erinnerungen bzw. stellt seine Fotos aufs Facebook.

Ein paar Zahlen:
„So konnten am Sonntag nicht mehr als 23.000 Besucher gleichzeitig Zugang zum wichtigsten Platz der Stadt haben, berichteten lokale Medien. …
Täglich tummeln sich bis zu 100.000 Besucher in Venedig, während der Faschingszeit sind es sogar 130.000. Der Karneval zählt mit seinen Maskenbällen, Gondel-Paraden und Feuerwerken zu den wichtigsten Festen von Venedig. 40.000 Menschen leben in der Lagunenstadt nur vom Tourismus.“
(Salzburger Nachrichten, 24.2. 2019)

Für dieses Jahr wurden offenbar keine Besucherzahlen ermittelt, weil der Virus dazwischengekommen ist. Es waren aber wahrscheinlich eher mehr als weniger.

Wikipedia gibt die Einwohnerzahl Venedigs mit 259.809 Personen an. Das bezieht sich auf Groß-Venedig, also auch Mestre, Marghera und andere Ortschaften auf dem Festland, die zur Gemeinde Venedig gehören. Die eigentliche Altstadt auf den Inseln zählt jedoch nur 54.000 Einwohner – nur damit man die 23.000 Leute auf dem Markusplatz und die 100.000 „Normal“-Besucher in ein Verhältnis setzen kann. Zu der Masse muß man noch die Fluktuation berücksichtigen – diese Menschenmengen befinden sich in einem beständigen Kommen und Gehen mit allen zur Verfügung stehenden Transportmitteln.
Das bunte Treiben in Venedig hat also sicher zu der Verbreitung des Coronavirus beigetragen – nicht nur für Italien, sondern für die ganze Welt, die dort, wie man sieht, in nicht geringer Menge aus und ein geht. Der Faschingsdienstag fiel auf den 25. Februar. Zu diesem Zeitpunkt war der Coronavirus in Italien zwar schon aufgetreten, aber niemand hatte eine Vorstellung vom Ernst der Lage. Außerdem wäre es sowieso unmöglich gewesen, dieses Spektakel von einem Tag auf den anderen zu stoppen.
„Die Bevölkerung der Stadt hat seit Jahren eine negative Bilanz (-6,4 ‰ im Jahr 2018), die viel stärker ist als im Großraum Venedig (-4,2 ‰) und der Region Veneto (-2,8 ‰). Auch im Vergleich zu den anderen italienischen Großstädten gehört Venedig zu denjenigen, die am stärksten vom Phänomen des Alterns betroffen sind, nur noch hinter Genua.“ (ebd.)

Fortsetzung: Die überalterte Gesellschaft, oder: „De oidn Leit“