Pressespiegel El País, 10.1.: Statt Import lieber „Made in Russia“

„DER TEURE RUSSISCHE PLAN GEGEN DIE WIRTSCHAFTSSANKTIONEN

Als Reaktion auf die Sanktionen nahm die russische Regierung 2014 einen ehrgeizigen Wirtschaftsplan in Angriff, um die die Importe durch einheimische Produktion zu ersetzen.“

So etwas hat die Freie Welt gar nicht gerne.
Der Rest des Globus hat sich als Markt für ihre Produkte zu bewähren, weil irgendwohin muß sie ihren Krempel ja exportieren. Es war also ein sehr schlechtes Benehmen Rußlands, sich diesem Anspruch entziehen zu wollen. Die Annexion der Krim ist dagegen ein Klacks. Es war ja schon eines der Verbrechen der Sowjetunion, sich nicht in gebührender Weise in den Weltmarkt zu integrieren.
Rußland hat nach der Wende alles brav so gemacht, wie es die Heimatländer der Marktwirtschaft und der Menschenrechte forderten und nach wie vor fordern: Es hat seine Währung konvertibel gemacht und sich fest bei westlichen Banken verschuldet, um die Importe, die in großer Zahl hereinströmten, auch zahlen zu können.
Diese idyllischen Zustände sind als Reaktion auf die Sanktionen jetzt gefährdet. Der ganze folgende Artikel ist von dem Ärger über diese gar nicht marktkonforme Verhalten erfüllt.

„Die Bestrafung derjenigen Personen, die in diesem Jahr (2014) an der Einverleibung der Krim beteiligt waren, durch die EU und die USA“ (Reihenfolge!) „wurde vom Kreml durch ein vollständiges Einfuhrverbot für Lebensmittel aus dem Westen beantwortet.“

Der „Westen“ sind hier eindeutig USA und EU, Rußland war es wichtig, das klarzustellen. Israel oder die Schweiz fielen nicht unter das Einfuhrverbot.

„In den folgenden Jahren verlängerte sich die Liste der Sanktionen, wegen Repression und Einmischung in die Wahlen, in in gleichem Maße verstärkten sich die mehr oder weniger erfolgreichen Bemühungen um Waren »Made in Russia«.
Der Befehl, Importwaren durch russische Erzeugnisse zu ersetzen, trifft alle auch nur vorstellbaren Bereiche. Das Industrieministerium richtete ein Internet-Portal ein, in dem alle geplanten Ersatzproduktionen aufgelistet sind, von der Schwerindustrie über Medikamente bis zum alltäglichen Konsum. So ist zum Beispiel vorgesehen, Kinderkleidung von einer Importquote von 85% 2016 auf 65% 2021 zu verringern, und gleichzeitig die Bremsscheiben für Autos von 60% auf 20%.“

Diese Artikel werden aber gar nicht aus der EU oder den USA geliefert, sondern aus China, der Türkei oder anderen asiatischen Staaten. D.h., das Importsubstitutionsprogramm bezieht sich auf ALLE Waren und hat neben der Verringerung von unerwünschten Abhängigkeiten auch die Verbesserung der Zahlungsbilanz und eine Verringerung der Auslandsverschuldung im Auge.

„Auf manchen Gebieten wurden tatsächlich bemerkenswerte Fortschritte erzielt.“

Bei diesem gönnerhaften Tonfall muß man sich erst einmal zurückerinnern, wie es eigentlich zu dieser Importabhängigkeit gekommen ist. In sowjetischen Zeiten wurde relativ wenig importiert, weil Devisen knapp waren. Kaffee und Bananen waren deshalb Mangelware, weil die auf dem Gebiet der SU und ihrer Satellitenstaaten nicht wuchsen. Bei Technologie waren die Staaten des Warschauer Paktes Verboten unterworfen, die auf den COCOM-Listen angeführt waren – sie KONNTEN sie also nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten kaufen.

In den 80-er Jahren entdeckten europäische Staaten den Handel und die Verschuldung als einen Hebel zur Schwächung des dortigen Systems, und begannen gerade zu Zeiten der Perestroika vermehrt in Geschäftsbeziehungen zu den sozialistischen Staaten zu treten.
Nach der Wende kam es zu einem unglaublichen Verfall der Produktion in Rußland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die gesamten Lieferketten waren unterbrochen, die bisherige Finanzierung fiel weg. Der IWF nahm sich Rußlands an und verordnete weniger Geld-Drucken, um die Inflation klein zu halten. Massenentlassungen und Nicht-Zahlen von Gehältern ließen den inneren Markt zusammenbrechen. Und findige Ökonomen und aufsteigende Oligarchen entdeckten, daß ja die einheimischen Produkte sowieso nichts wert waren, predigten die Marktwirtschaft und erklärten, bevor die nicht Wurzeln geschlagen hätte, müßte man sowieso alles aus dem Goldenen Westen beziehen.
Mit Müh und Not gelang es Betriebsleitern, Lokalpolitikern, Geheimdienstlern und Militärs, wenigstens die Rüstungsindustrie halbwegs aufrechtzuerhalten, teilweise durch Schwarzhandel mit Waffen. Aber gerade die Lebensmittel- und Konsumgüterindustrie machte einen steilen Abstieg durch, der sich in den folgenden 2 Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen sehr unangenehm bemerkbar machte.

„Die Gas- und Ölkonzerne, die von den Sanktionen sehr betroffen waren, haben laut Industrieministerium zwischen 2015 und 2020 ihre Importe an Ausrüstung von 60 auf 43% reduziert. Diesen Sektor hatten die Strafmaßnamen vor allem im Auge, »um einen langfristigen wirtschaftlichen Druck auf das Land auszuüben«, wie in einem Gutachten des US-Kongresses vom Jänner 2020 betont wird.“

Die Idee der westlichen Regierungen war offensichtlich, durch Sanktionen Engpässe bei der Beschaffung von Ausrüstung für die Energie-Industrie zu erzeugen und damit eine wichtige Devisenquelle Rußlands zu beschädigen. Dergleichen ist bei Venezuela eine Zeitlang gelungen, aber Rußland hat doch andere industrielle und technische Ressourcen, die Maßnahme blieb allem Anschein nach völlig wirkungslos.
Die 43% Importe an Gerät für die Öl- und Gas-Industrie kamen also entweder durch Schmuggel oder durch Import aus befreundeten Staaten ins Land.
Man muß bei solchen Importbeschränkungen bedenken, daß die auch die Exporteure von dergleichen Technologie schädigen, die haben selber ein Interesse, ihr Zeug zu verkaufen, und sei es eben durch andere Kanäle.

„In anderen Fällen hat sich am Markt nichts geändert. Laut einer Studie der Wirtschaftshochschule Moskau machen die Importe an Konsumgütern 75% des Verbrauchs aus, nimmt man Kleidung und Spielzeug hinzu, sogar 90%.
»Bestimmte Importwaren zu ersetzen ist noch nicht per se Protektionismus. In den 70-er Jahren kauften Japan und Südkorea Lizenzen und Zusatzstoffe, um selbst die entsprechenden Produktionen anzuleiern, und sie waren damit erfolgreich«, führt der Professor dieser Wirtschaftshochschule Alexej Portanski ins Feld. Er war früher der Leiter der Behörde für den 2012 erfolgten WTO-Beitritt Rußlands. »Dergleichen will allerdings genau geplant werden, also in welchen Bereichen konkret etwas verändert werden soll, und innerhalb welcher Zeitspanne,« betont er.“

Japan und Südkorea waren allerdings damals Verbündete der USA, im Interesse des „Containments“ des sozialistischen Blocks (das war noch vor dem Bruch zwischen China und der SU) sollten diese Staaten gestärkt und zu Industrienationen aufgebaut werden. Heute würden Lizenzen und dergleichen nicht mehr so einfach an andere Staaten hinübergeschoben.

„Eines der Probleme bei der Steigerung der einheimischen Erzeugung ist, daß es dafür bedeutende Investitionen und auch Zeit braucht, um Wettbewerbsfähigkeit auf Exportmärkten zu erreichen, weil der innere Markt nicht groß genug ist, um die Kosten hereinzubringen.
Dazu gesellen sich die gestiegenen Kosten für den Import der Vorprodukte: Die russische Währung hat sich seit 2014 von 45 Rubel pro Euro auf 85 pro Euro entwertet.
»Die Importsubstitution ist ergebnislos geblieben. Es wird behauptet, sie hätte Erfolge verzeichnet, aber das stimmt nicht. Die Zahlen werden manipuliert,« behauptet Portanski,

um diese Behauptung gleich zu widerlegen:

„»Die russischen Lebensmittel haben ihren Anteil am Markt erhöht, das stimmt, aber betrachten wir sie vom Standpunkt des Konsumenten und der interessiert uns: Russische Produkte tauchten auf, aber sie sind teurer und die Qualität ist nicht sehr gut. Warum? Vorher hatten die Supermärkte ein größeres Angebot, jetzt sind unsere Produzenten die Monopolisten«, meint der Experte.“

Der Experte hat also doch nicht so sehr den Standpunkt der Konsumenten, sondern ein Lehrbuch der Marktwirtschaft vor Augen, wo der Wettbewerb die Qualität garantieren soll – wovon man hierzulande ein Lied singen kann: Hier bestimmt das Geldbörsel über die Qualität der Lebensmittel, wobei es verschiedene Marken von Bio- und verschiedene Marken von Junkfood gibt.

„Portanski bezieht sich auf eine Studie der Wirtschaftshochschule von 2019, die untersuchte, wie sich die Importsubstitution im Bereich der Lebensmittel in den ersten 5 Jahren ausgewirkt hatte. Außer den Kategorien Geflügel, Schweinefleisch und Tomaten, wo sich die Verbraucherpreise verringert hatten, waren sie in den restlichen Kategorien gestiegen.“

Das muß aber nicht an einer Verteuerung der einheimischen Lebensmittel liegen, sondern kann auch dadurch verursacht, daß von weiter weg importiert wurde, z.B. aus Brasilien. Die hier gelieferte Information beschränkt sich auf die Preise, die Herkunft und die Qualität bleiben im Dunkeln.

„Nach diesen Berechnungen haben sich die Kosten für Lebensmittel für die russischen Staatsbürger um 5,1 Milliarden Euros pro Jahr gegenüber 2013 verteuert.
Und das vor dem Coronavirus.
Mit der Pandemie und der globalen Unterbrechung von Lieferungen ist die Situation noch schlechter, weil laut (der Statistikbehörde) Rosstat haben sich die Lebensmittel im Vorjahr um 10,6% verteuert.“

Man fragt sich, woher dieses plötzliche Mitgefühl mit dem kleinen Mann von der Straße? – aus dem Munde von „Experten“, die sonst immer dafür sind, daß alle den Gürtel enger schnallen müssen, wenn die wirtschaftliche Vernunft das verlangt, wie z.B. in Griechenland, weil es überschuldet ist.
Außerdem mutet die ganze Argumentation seltsam an, weil aufgrund der Unterbrechung globaler Lieferketten hätte der Schaden noch größer ausfallen können, wenn die Auslandsabhängigkeit größer gewesen wäre.
Aber kommt schnell heraus, worum es dem Artikelschreiber und seinem Experten geht:

„»Die EU ist unser Haupt-Handelspartner und wir wollen diese Zusammenarbeit fortsetzen, weil mit den Investitionen von dort das Know-How ins Land kommt, das uns fehlt«, unterstreicht Potanski.“

Sanktionen und Hetze hin und her, wir wollen gut Freund bleiben mit dem Westen, damit er uns entwickelt! – dieses Credo der russischen westorientierten Ökonomen ist offenbar wasserdicht gegenüber den Feindschaftserklärungen, die seit Jahren aus westlichen Medien und von westlichen Politikern verlautbart werden.
Mit dieser Bewunderung der westlichen Expertise werden gleichzeitig die eigenen Schulen, Universitäten, Fabriken heruntergestuft und für mangelhaft erklärt, und die eigene Bevölkerung für zurückgeblieben. Es ist nicht notwendig, das ausdrücklich zu erwähnen – im Lob des westlichen Know-How ist diese Zurückstufung enthalten.

„Im offenen, mit Sanktionen ausgetragenen Konflikt beschuldigt Brüssel den Kreml, bei Ausschreibungen die eigenen Firmen gegenüber ausländischen zu bevorzugen“ –

unerhört! –

„und kündigte im November an, bei der WTO eine Beschwerde einzubringen, weil deren Grundprinzip heißt, daß ihre Mitglieder nicht aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt werden dürfen. Die Europäische Kommission betont, daß die wirtschaftlichen Folgen für ihre Unternehmen »sehr bedeutend« sind, da es bei den russischen Ausschreibungen jährlich um Millionen von Euros geht.“

Das schlägt dem Faß den Boden aus! Erst Sanktionen verhängen, damit die russische Wirtschaft geschädigt wird, und dann sich beschweren, daß die Gegenmaßnahmen der russischen Regierung die eigenen Unternehmen schädigen.
Man merkt daran, mit welcher Unverschämtheit sich die EU-Führung auf den Rest der Welt bezieht, der ihr anscheinend zu Füßen liegen müßte, und welchen Groll sie bei sich nährt, wenn sich eine Macht von den Dimensionen Rußlands diesem Anspruch verweigert.

„Brüssel beanstandet konkret drei Vorgaben des Kreml.
Erstens, die russischen Staatsbetriebe ziehen beim Preis, den die russischen Unternehmen anbieten, 30% ab. Zweitens, beim Import einiger Industriegüter ist für russische Firmen eine staatliche Genehmigung erforderlich. Und drittens, es gibt bei den Ausschreibungen Quoten für russische Produkte, die enthalten sein müssen, z.B. Fahrzeuge, medizinische Ausrüstung und Technologie.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, kommentierte die Forderungen Brüssels auf ihrem Telegram-Kanal: »Sie sind ein Unsinn, weil die Importsubstitution war eine Antwort auf die Sanktionen der EU gegen Rußland. Brüssel behauptete lange, daß unser Land ,hart bestraft’ worden sei. Hart daran ist nur der Sadomasochismus.«“

Die Dame verweist die EU-Kommission damit an das Salzamt, und die WTO-Beschwerdestelle ist ja auch ein solches.

„Ein Zeichen dafür, daß nicht alles läuft wie geplant, ist die Novellierung des Erlasses von 2014 vom vergangenen 24. Dezember“ (wie neckisch! Andere feiern Weihnachten, wir novellieren Dekrete) „bezüglich der Quoten für russische Produkte bei staatlichen Einkäufen. Von den in dieser Aufstellung gelisteten 100 Produkten werden 41 temporär entfernt, weil es keine passenden russischen Fabrikate gibt.“

Aber für 59 gibt es sie offenbar!

„Dazu gehören etwa medizinische Lampen, Laptops, Chipkarten, integrierte Schaltkreise und andere elektronische Teile.
Im Jänner 2014 plädierte der (2019 verstorbene) Ökonom Viktor Ivanter in einem Artikel in der offiziellen Rossijskaja Gazeta dafür, in die heimische Industrie zu investieren und auch der »besorgniserregenden Abhängigkeit« auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung ein Ende zu bereiten. »Nach Jahren der Reformen haben wir etwas erreicht, worauf wir nicht verzichten wollen: Der Konsument kann auswählen, aber diese Auswahl ist noch vom Import abhängig.«
8 Jahre später gibt es weniger Auswahl und alles kostet mehr.“

Man merkt, daß „der Kreml“ vielleicht noch nicht ganz dort ist, wo er hinkommen möchte, aber doch auf dem Weg dorthin, und wie sehr das westliche Medien stört.

Ein neuer Präsident in Chile

EIN EMPÖRTER EROBERT DIE STAATSMACHT

Es sieht so aus, als ob sich das Blatt wieder wendet und in Lateinamerika wieder Leute an die Macht kommen, die sich zumindest mehr ihrer eigenen Bevölkerung verpflichtet fühlen als dem Weltmarkt, dem IWF und den USA. Fernández in Argentinien, Arce in Bolivien, Castro in Honduras und jetzt in Chile Gabriel Boric.

Die Schüler- und Studentenproteste im Jahr 2011 in Chile, bei denen Boric erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, und auch die vorherigen Schülerproteste von 2006 richteten sich gegen das elitäre Ausbildungswesen Chiles, wie es in den Zeiten der Pinochet-Diktatur eingerichtet wurde: Für die Arbeiterklasse waren verschiedene, teilweise auch kostenpflichtige Berufsschulen und Fachhochschulen eingerichtet, und für die Eliten ein recht kostspieliges höheres Bildungswesen.
Der Zugang zu Geld entschied also über den Zugang zu den Jobs der Elite.
Außerdem befanden sich auch viele Bildungseinrichtungen und Privatschulen in den Händen der Kirche, wie z.B. des in verschiedene Mißbrauchs-Skandale verwickelten Ordens „Legionäre Christi“. Über diese Schiene konnten auch Mitglieder der Unterschicht nach oben kommen, wenn sie die nötige Demut vor dem Herrn vorweisen konnten.

Diese Proteste der Jugend hatten zur Folge, daß die traditionellen Parteien Chiles mehr oder weniger zerbröselten. Die neuen Nach-Pinochet-Generationen wollten von ihnen nichts mehr wissen. Die Christdemokraten, die Sozialisten, die Radikalen, die Kommunistische Partei und die Pinochet-nahen Parteien begannen Koalitionen zu bilden, um bei den Kommunal-, Regional und Parlamentswahlen noch irgendwie im Spiel zu bleiben. Die unzufriedene Jugend organisierte sich in verschiedenen Bewegungen und Gruppierungen, die sich auflösten, den Namen änderten oder in größeren Formationen aufgingen. Das ganze ist so unübersichtlich, daß vermutlich einige der Wähler an der Situation verzweifelten und deshalb ungültig wählten oder zu Hause blieben. Die Wahlbeteiligung war jedenfalls eher bescheiden und lag bei unter 50% beim ersten, um die 55% beim 2. Durchgang.

Die neuen Gruppierungen heißen oder hießen „Neue Mehrheit“, „Breite Front“, „Los geht’s, Chile!“, „Würdiges Chile“, „Demokratische Revolution“, „Partei Gleichheit“, „Humanistische Aktion“, „Christliche Linke“, „Libertäre Linke“, „Grün-sozialer Regionalbund“, „Fortschrittliche Partei“, „Zusammen können wir mehr“, „Sozialer Zusammenschluß“ und schließlich die jetzige Partei des Wahlsiegers: „Ich akzeptiere Würde“. Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll nur einen Eindruck vom Pluralismus der chilenischen Parteienlandschaft vermitteln.

Es erinnert vage an die ersten freien Parlamentswahlen in Polen, als 29 Parteien in den Sejm einzogen und die polnischen Wähler heftige Schelte in der europäischen Presse bekamen, weil sie die Demokratie falsch verstanden und den Pluralismus zu ernst genommen hatten.

Der Wahlsieg von Boric war dadurch möglich, daß in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen außer Boric noch 3 weitere linke Kandidaten antraten, die ebenfalls das Beste für alle wollten, und 3 Parteien der Rechten. Aus beiden Lagern traten dann die stimmenstärksten Kandidaten zur Stichwahl an und da setzte sich Boric gegen den Pinochet-Anhänger, Rechtsaußen und katholischen Fundamentalisten Kast durch.

Das Programm der Partei von Boric ist ehrgeizig: In seiner Regierungszeit soll eine neue Verfassung verabschiedet werden, an der bereits eine verfassungsgebende Versammlung arbeitet, und der Staat soll wieder eine tragende Rolle in Erziehung, Gesundheitswesen und Pensions-Verwaltung spielen. Es ist im Grunde das Programm der Volksfront-Regierung aus den 70-er Jahren, das sich die Würde-Partei vorgenommen hat.

Der neue Präsident, der ähnliche junge und motivierte Leute aus der Studentenbewegung in seinem Team hat, wird diese Aufgabe sicher mit viel Schwung angehen. „Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus ist, wird es auch sein Grab sein“, sagte Boric während seiner Kampagne.

Die FAZ weist auf die Hindernisse für diese Pläne hin:

„Viel Spielraum hat Boric nicht, um all seine Versprechen zu erfüllen. Das Wirtschaftswachstum wird sich im kommenden Jahr laut Ökonomen wieder massiv verlangsamen oder vielleicht gar zum Stillstand kommen. Weiterhin kämpft das Land mit einer hohen Inflation und hohen Kosten und wachsenden Schulden als Folge der Pandemie. Die Wahl von Boric ist mit hohen Erwartungen verbunden, die in der ungeduldigen Bevölkerung rasch in Enttäuschung umschlagen könnten.“

Die internationale Presse ist jedenfalls recht mild mit Boric: Alle sind sicher, daß er sich die Hörndln schon abstoßen und einen ganz normalen Präsidenten abgeben wird. Es gibt viel Verständnis dafür, daß man sehr viel verspricht, um gewählt zu werden, um sich, einmal im Amt, den Sachzwängen zu beugen. Das gehört zu einer reifen Demokratie dazu, und das wissen die Wähler auch.

Man erinnere sich, was die gegenteilige Bewegung zum Abgang vieler der vorigen linken Regierungschefs auslöste: Rollback in Lateinamerika: Aus der Traum?

Pressespiegel El País, 18.12.: Die Erhöhung der Gaspreise führt zu einer Renaissance der Kohle

DIE KRISE VERLEIHT DER KOHLE EIN GEFÄHRLICHES ZWEITES LEBEN

„Die Energiekrise, die wir erleben, hat ebenso unerfreuliche wie schwer akzeptierbare Auswege eröffnet. Die Kohle, die seit Jahren zum Verschwinden verdammt zu sein scheint, um die Klimakrise nicht eskalieren zu lassen, ist im Begriff, das Jahr 2021 mit Rekordzahlen zu beschließen.“

Alles sehr komisch ausgedrückt.
Spanien hat seinen Kohle-Bergbau sehr zurückgefahren und ist deshalb von Energie-Importen extrem abhängig geworden. In diesem Artikel wird die Festlegung auf das Kyoto-Protokoll, die Verminderung von CO2-Emissionen als Methode zur Bekämpfung der Erderwärmung als eine Art Natur-Ereignis, sogar eine übernatürliche Kraft besprochen, der sich die Kohle sozusagen als ungehöriges Subjekt widersetzt. Die wirklichen Subjekte der Energiegewinnung, Energiepolitik und auch deren Kalkulationen kommen zwischen diesen Geistersubjekten gar nicht mehr vor.

„Der allgemeine Preisanstieg aller fossilen Energieträger – insbesondere von Gas, ihrem natürlichen Erbe im Stromsystem – hat einen brutalen Preisanstieg und ein wiederbelebtes Interesse an Kohle in verschiedenen Teilen der Erde verursacht. In kurzer Zeit ist sie aus der rhetorischen Ächtung entkommen und an vorderster Front wieder aufgetaucht.“

Die Kohle, ein schlauer und listiger Kämpfer!
Es ist wirklich bemerkenswert, wie eine Zeitung, die im Grunde seit ihren Anfängen auf ihr intellektuelles Niveau Wert legt, in ausgesprochen kindischer Weise und auch noch mit großem Schwung einen Rohstoff zum Subjekt kürt.

„Der Trend, zu dem auch auf der Nordhalbkugel ein besonders kalter Start in die kalte Jahreszeit mit niedrigeren Temperaturen als üblich beiträgt, wird kurzfristig sein: Der Vormarsch der erneuerbaren Energien ist nicht aufzuhalten und der Rückzug (= der Abschied von) der Kohle bleibt mittelfristig gültig.“

Na sowas, entgegen allen Erwartungen kommt der Winter!
Der übrigens weder besonders früh kam noch besonders kalt ist – es sei denn, man stellt an den Klimawandel den Anspruch, diese Jahreszeit sollte später und kürzer ausfallen.

„Der temporäre Boom könnte nicht gefährlicher und unpassender sein, denn der Erfolg der Energiewende wird zu einem großen Teil daran gemessen, dass die Kohle so schnell wie möglich aus der Energieerzeugung verschwindet.
»Die Kohle füllt die Lücke, die das Erdgas wegen Lieferschwierigkeiten und Preiserhöhungen hinterläßt“, meint Samantha Gross, Chefin der Abteilung für Energie und Klimawandel bei der Brookings Institution, eines der führenden Think Tanks der USA. Sie schließt jedoch aus, daß diese Situation länger andauert. »Die Gaslieferungen und die Windenergie werden wieder zunehmen, und die Preise werden sich normalisieren«, so ihre Prophezeiung. »Es handelt sich um eine zeitlich begrenzte Wiederbelebung der Kohle.«“

Man merkt hier beim Zitieren der Expertin aus Übersee das fast beschwörende Wunschdenken, daß doch die vielerorts beschworene Energiewende stattfinden möge, obwohl die Zeichen dafür offensichtlich schlecht stehen.

„Das Bild dieser unerwarteten Auferstehung setzt sich aus vielen einzelnen Faktoren zusammen. (…) Erstens: Der Kohleverbrauch wird in den USA heute das erste Mal seit 7 Jahren ansteigen, um 21%. Damit trägt er zu einem Viertel der dortigen Energieerzeugung bei. Zweitens: Während China sich verpflichtet, keine neuen Kohlekraftwerke zu bauen, wird in den dortigen Bergwerken mehr Kohle denn je abgebaut.“

Man fragt sich, wo die dann verbraucht wird? In Betrieben? Oder wird sie exportiert?

„Drittens: Obwohl der Anteil der Kohle im spanischen Energie-Mix inzwischen verschwindend ist – 1,8 % im heurigen Jahr – hat das Kohlekraftwerk von As Pontes (La Coruña), das umweltschädlichste von ganz Spanien, bereits 3x in diesem Jahr Energie ins Netz eingespeist, und das Kraftwerk von Los Barrios (Cádiz) hat ähnliches vor.“

Auch die Kohlekraftwerke, diese Ungetüme, werden hier als Subjekte präsentiert, man fragt sich, wer die betreibt und wer die Entscheidungen zu ihrem Einsatz trifft?

„Viertens: Der Kohlepreis ist auf den internationalen Märkten auf das Doppelte angestiegen und steigt weiter, nachdem er im Oktober ein historisches Minimum erreicht hatte.
Sowohl die Bergwerksunternehmen als auch die Kohle-Lobby“ (wer das wohl ist?) „spüren Aufwind aufgrund dieser Entwicklung. »Der Markt hat gesprochen: Die Kohle rührt sich wieder«, so vor einigen Wochen der Präsident der Vereinigung der US-Bergwerksunternehmen, Rich Nolan. Mit gutem Grund: Innerhalb einiger Monate sind sie von einer Out-Position wieder zurück im Spiel und müssen nicht um Emissionsrechte kämpfen.
Obgleich es sich bloß um eine zeitlich begrenzte Konjunktur handelt – und das ist so! – so könnte der Kontrast zwischen dem derzeitigen Anstieg des Kohleverbrauchs und dem angestrebten Kurs ihrer Verdrängung zur Verhinderung der Erderwärmung nicht größer sein. Die Realität sieht aus wie folgt: Die Internationale Energie-Agentur, eine Unterabteilung der OECD, sagt voraus, daß sich nach dem historischen Spitzenwert in diesem Jahr der Kohleverbrauch 2022 weiter steigern wird. Was die angestrebten Klimaziele angeht, so sollte der Kohleverbrauch bis 2030 um 55% und bis 2050 um 90% zurückgehen, um ein extrem unerfreuliches Klimaszenario zu vermeiden.
»Die Energiegewinnung aus Kohle ist die Haupt-Quelle der Kohlendioxid-Emissionen. Das historische Hoch der aus Kohle gewonnenen Energie ist ein bedenkliches Signal, wie weit wir vom Erreichen der Null-Emissionen sind«, kritisiert der Direktor dieser Organisation, Fatih Birol.“

Vielleicht ist dieses Erreichen der Null-Emissionen sowieso unmöglich und wird nur aus Gründen der imperialistischen Konkurrenz hochgehalten?
Vielleicht wäre es weitaus nützlicher, diese Emissionen in Kauf zu nehmen und sich um ihre Absorption zu kümmern, durch Aufforstung und Verhinderung von Flächenversiegelung?

„»Ohne eine entschlossene und sofortige Aktion der Regierungen, die CO2-Emissionen zu reduzieren, schaut es schlecht aus um das angestrebte Ziel, die Erderwärmung auf 1,5° zu begrenzen – falls das überhaupt möglich ist.«
Obwohl sich die Gegenstimmen exponentiell steigern, verbleibt der Anteil der Kohle an der weltweiten Energiegewinnung bei 40%, praktisch auf gleichem Niveau wie – Achtung! – 1973, zur Zeit der Ölkrise. Zu einem guten Teil geht dieser hohe und sogar wachsende Kohleanteil in der Energiegewinnung auf das Konto der aufstrebenden Wirtschaften Asiens, wo auch ein großer Teil der Weltbevölkerung zu Hause ist. China war der einzige große wirtschaftliche Player, wo der Kohleverbrauch sogar 2020 zugenommen hat, auf dem Höhepunkt der Pandemie, und heuer auch um 9% gestiegen ist. Noch beunruhigender ist der Fall Indiens: Die Internationale Energie-Agentur schätzt den Anstieg des Verbrauchs für 2021 auf 12% ein.
»Heute ist die Kohle König, weil ihre Erzeugung billiger ist als die jeder anderen Energiequelle«, verlautbarte Mitte Oktober der Präsident der französischen Ölfirma Total, Patrick Pouyanné. Er übersah dabei, daß die Wind- und Sonnen-Energie die billigste ist.“

Wie mans nimmt.
Erstens ist sie deswegen günstig für den Abnehmer, weil viel staatliche Unterstützung hineingebuttert wird. Zweitens ist sie aber zum Unterschied von Kohle von der Witterung abhängig und deshalb im Winter nicht in ausreichender Menge vorhanden.

„»Allerdings sind die Kosten für erneuerbare Energien gleich Null, sobald die Sonnenkollektoren und Windräder einmal installiert sind,“

was nicht richtig ist.
Immerhin muß diese Energie in Netze eingespeist werden, die erst einmal für diese unregelmäßig eintreffende Energie ausgelegt sein müssen, und jemand muß diese ganzen Anlagen auch warten. Kosten verursachen die erneuerbaren Energie-Generatoren und der Transport dieser Energie allemal, und gar nicht so wenig.

„aber es ist weiterhin billiger, Kohlekraftwerke zu errichten. Vor allem in Asien, wo der Stromverbrauch stetig ansteigt«, bemerkt Sareena Patel, die wichtigste Analystin für den Kohlemarkt bei der Beratungsfirma IHS Markit. Deshalb wird ihrer Ansicht nach die Verdrängung dieser Energiequelle weitaus komplizierter als viele angenommen haben.“

Mit einem Wort, die Europäer haben die Rechnung ohne den Rest der Welt gemacht. Aber auch hier gibt es solche, die Wasser predigen und Wein trinken:

„Allerdings springt die ungebrochene Bedeutung der Kohle in zwei der größten europäischen Staaten ins Auge. Obwohl sich die neue Regierungskoalition in Deutschland verpflichtet hat, die Kohle bis 2030 aus der Energiegewinnung zu verbannen, ist der Anteil an der Energiegewinnung von 21% in der ersten Hälfte 2020 auf 27% in der ersten Hälfte 2021 gestiegen. Damit hat die Kohle die Windenergie überstochen.
In Polen, dem schwierigsten Fall des Alten Kontinents, wird die Kohle für beinahe drei Viertel der Energieerzeugung verwendet.
Das sind die zwei Schönheitsflecken in einem Europa, das sich anschickt, sich von der Kohle zu verabschieden.“

Oder eben auch nicht.
Der Artikel weist diverse sprachliche Eigenheiten auf, die allesamt dem Umstand geschuldet sind, die Wiederkehr der Kohle schön- und wegzureden.

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Der Strompreis in Spanien verzeichnet ein historisches Maximum am letzten Samstag

Der Durchschnittspreis für Strom im Großhandel beträgt heute (am 18.12.) 306,33 € pro Megawatt/Stunde (MWh), der teuerste an einem Samstag erreichte Strompreis in der Geschichte Spaniens. Der wochenendmäßig bedingte Verbrauchsrückgang hat wenig genützt: Der Rückgang betrug weniger als 1% gegenüber gestern, Freitag, mit einem Preis von 309,20 € pro MWh, der zweite Tag mit einem Maximum hintereinander und der 3. Tag mit mehr als 300 €/MWh. Damit stieg der Strompreis um 28% gegenüber letztem Samstag und das 6-fache gegenüber dem Preis vom 18. 12. des Vorjahres.
(…)
Nach der leichten Beruhigung im November, als der Gaspreis sich auf den internationalen Märkten stabilisierte, stieg er im Dezember aufgrund der Spannungen zwischen Rußland und der Ukraine (…) in ungeahnte Höhen. Dazu kam noch der Baustopp von Nord Stream II.
In Spanien kommt noch dazu, daß nach einigen Tagen der Windstille die Erzeugung von Windenergie stark zurückgegangen ist. Das war aber im heurigen Jahr die wichtigste Energiequelle in Spanien.
Der Dezember wird also vermutlich den Oktober als den Monat mit dem historisch höchsten Strompreis ablösen. (…) Im Laufe dieses Monats war der Durchschnittspreis im Großhandel 235,25 €/MWh, 35 Euros über dem Durchschnittspreis vom Oktober.