Ein neuer Präsident in Chile

EIN EMPÖRTER EROBERT DIE STAATSMACHT

Es sieht so aus, als ob sich das Blatt wieder wendet und in Lateinamerika wieder Leute an die Macht kommen, die sich zumindest mehr ihrer eigenen Bevölkerung verpflichtet fühlen als dem Weltmarkt, dem IWF und den USA. Fernández in Argentinien, Arce in Bolivien, Castro in Honduras und jetzt in Chile Gabriel Boric.

Die Schüler- und Studentenproteste im Jahr 2011 in Chile, bei denen Boric erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, und auch die vorherigen Schülerproteste von 2006 richteten sich gegen das elitäre Ausbildungswesen Chiles, wie es in den Zeiten der Pinochet-Diktatur eingerichtet wurde: Für die Arbeiterklasse waren verschiedene, teilweise auch kostenpflichtige Berufsschulen und Fachhochschulen eingerichtet, und für die Eliten ein recht kostspieliges höheres Bildungswesen.
Der Zugang zu Geld entschied also über den Zugang zu den Jobs der Elite.
Außerdem befanden sich auch viele Bildungseinrichtungen und Privatschulen in den Händen der Kirche, wie z.B. des in verschiedene Mißbrauchs-Skandale verwickelten Ordens „Legionäre Christi“. Über diese Schiene konnten auch Mitglieder der Unterschicht nach oben kommen, wenn sie die nötige Demut vor dem Herrn vorweisen konnten.

Diese Proteste der Jugend hatten zur Folge, daß die traditionellen Parteien Chiles mehr oder weniger zerbröselten. Die neuen Nach-Pinochet-Generationen wollten von ihnen nichts mehr wissen. Die Christdemokraten, die Sozialisten, die Radikalen, die Kommunistische Partei und die Pinochet-nahen Parteien begannen Koalitionen zu bilden, um bei den Kommunal-, Regional und Parlamentswahlen noch irgendwie im Spiel zu bleiben. Die unzufriedene Jugend organisierte sich in verschiedenen Bewegungen und Gruppierungen, die sich auflösten, den Namen änderten oder in größeren Formationen aufgingen. Das ganze ist so unübersichtlich, daß vermutlich einige der Wähler an der Situation verzweifelten und deshalb ungültig wählten oder zu Hause blieben. Die Wahlbeteiligung war jedenfalls eher bescheiden und lag bei unter 50% beim ersten, um die 55% beim 2. Durchgang.

Die neuen Gruppierungen heißen oder hießen „Neue Mehrheit“, „Breite Front“, „Los geht’s, Chile!“, „Würdiges Chile“, „Demokratische Revolution“, „Partei Gleichheit“, „Humanistische Aktion“, „Christliche Linke“, „Libertäre Linke“, „Grün-sozialer Regionalbund“, „Fortschrittliche Partei“, „Zusammen können wir mehr“, „Sozialer Zusammenschluß“ und schließlich die jetzige Partei des Wahlsiegers: „Ich akzeptiere Würde“. Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll nur einen Eindruck vom Pluralismus der chilenischen Parteienlandschaft vermitteln.

Es erinnert vage an die ersten freien Parlamentswahlen in Polen, als 29 Parteien in den Sejm einzogen und die polnischen Wähler heftige Schelte in der europäischen Presse bekamen, weil sie die Demokratie falsch verstanden und den Pluralismus zu ernst genommen hatten.

Der Wahlsieg von Boric war dadurch möglich, daß in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen außer Boric noch 3 weitere linke Kandidaten antraten, die ebenfalls das Beste für alle wollten, und 3 Parteien der Rechten. Aus beiden Lagern traten dann die stimmenstärksten Kandidaten zur Stichwahl an und da setzte sich Boric gegen den Pinochet-Anhänger, Rechtsaußen und katholischen Fundamentalisten Kast durch.

Das Programm der Partei von Boric ist ehrgeizig: In seiner Regierungszeit soll eine neue Verfassung verabschiedet werden, an der bereits eine verfassungsgebende Versammlung arbeitet, und der Staat soll wieder eine tragende Rolle in Erziehung, Gesundheitswesen und Pensions-Verwaltung spielen. Es ist im Grunde das Programm der Volksfront-Regierung aus den 70-er Jahren, das sich die Würde-Partei vorgenommen hat.

Der neue Präsident, der ähnliche junge und motivierte Leute aus der Studentenbewegung in seinem Team hat, wird diese Aufgabe sicher mit viel Schwung angehen. „Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus ist, wird es auch sein Grab sein“, sagte Boric während seiner Kampagne.

Die FAZ weist auf die Hindernisse für diese Pläne hin:

„Viel Spielraum hat Boric nicht, um all seine Versprechen zu erfüllen. Das Wirtschaftswachstum wird sich im kommenden Jahr laut Ökonomen wieder massiv verlangsamen oder vielleicht gar zum Stillstand kommen. Weiterhin kämpft das Land mit einer hohen Inflation und hohen Kosten und wachsenden Schulden als Folge der Pandemie. Die Wahl von Boric ist mit hohen Erwartungen verbunden, die in der ungeduldigen Bevölkerung rasch in Enttäuschung umschlagen könnten.“

Die internationale Presse ist jedenfalls recht mild mit Boric: Alle sind sicher, daß er sich die Hörndln schon abstoßen und einen ganz normalen Präsidenten abgeben wird. Es gibt viel Verständnis dafür, daß man sehr viel verspricht, um gewählt zu werden, um sich, einmal im Amt, den Sachzwängen zu beugen. Das gehört zu einer reifen Demokratie dazu, und das wissen die Wähler auch.

Man erinnere sich, was die gegenteilige Bewegung zum Abgang vieler der vorigen linken Regierungschefs auslöste: Rollback in Lateinamerika: Aus der Traum?

24 Gedanken zu “Ein neuer Präsident in Chile

  1. Weder auf dem Portal Amerika 21 noch per google-Schnellsuche bin ich auf belastbares Material über Chiles aktuelle Ökonomie gestoßen.

    Fundamentals gab es früher schon auf diesem Blog

    https://nestormachno.alanier.at/354-2/#comment-18369

    und als Überblick.     https://de.wikipedia.org/wiki/Chile#Wirtschaftssektoren

    So radikal wie Scholz, titelt die SZ über den Wahlsieger
    https://www.sueddeutsche.de/meinung/gabriel-boric-chile-jose-antonio-kast-praesident-1.5492371

    “Sein Sieg bei der Stichwahl am Sonntag lässt sich am ehesten vielleicht auf diese einfache Formel bringen: Erst seit diesem 19. Dezember ist Augusto Pinochet endgültig, endlich tot. Boric‘ überraschend klar unterlegener Gegner José Antonio Kast war der hoffentlich letzte bekennende Anhänger des Diktators, dessen Verfassung auch in den drei Jahrzehnten seit der Rückkehr zur Demokratie die sozial- und wirtschaftspolitische Realität des Landes bestimmte.” https://www.fr.de/meinung/kommentare/chile-wahl-gabriel-boric-praesident-sieg-radikeler-reformer-kommentar-91190646.html

    [Nach der Pandemie wird allenthalben weltweit der Staatskredit in Anschlag gebracht, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Die verschiedenen wirtschaftlichen “Sektoren” in Chile dürften sehr unterschiedlich betroffen gemacht worden sein…]

    —-

    EDIT: Folgendes Bonmot aus dem wiki-Artikel: “Chiles Wirtschaft hängt stark vom Export ab. 2004 betrug der Exportanteil 34 Prozent des Bruttosozialprodukts, was ziemlich genau dem von Deutschland entspricht.” – suggeriert eine Sorte “Gleichartigkeit” dieser Ökonomien.
    Darin sind einige fundamentale Unterschiede verschwunden …

    1981 wurden solche – allerdings bezüglich von Brasilien – einmal aufgeschrieben

    https://de.gegenstandpunkt.com/kapitel/imperialismus-3/brasilien#toc_3890877988

  2. Aus dem SZ-Artikel habe ich ja schon im obigen Beitrag zitiert. Alle Meinungsfuzis halten Boric für Business as usual.

    Ich schau einmal nach über Chile, aber eines kann man immer machen: Den Kupferpreis anschauen, dann weiß man schon, was eine Regierung für Spielraum hat. Immerhin ist CODELCO bis heute staatlich.

    Und da schaut es gut aus:


    Quelle: https://www.finanzen.at/rohstoffe/chart/kupferpreis

  3. Was die Wirtschaft Chiles angeht, so hat sie sich im letzten Jahrzehnt insofern diversifiziert, als Chile inzwischen zu einem Lebensmittelexporteur geworden ist. Obst, Gemüse, Wein und Lachs werden von dort um die halbe Welt geschippert.
    Man fragt sich, was auf dem Speisezettel der ärmeren Schichten Chiles steht?

    Die Zahlen und Fakten zu Chiles Wirtschaft rufen bei Ökonomen Verzückung hervor: Zweithöchstes Pro-Kopf-Einkommen Lateinamerikas, geringe Verschuldung, kaum Korruption, usw. usf. Gleichzeitig wird die besonders hohe Ungleichheit beklagt – als ob es eine Überraschung ist, daß irgendwer die Zeche für dieses kapitalistische Modell bezahlen muß.

    Die chilenische Klassengesellschaft wurde eben unter anderem durch das Bildungswesen festgeschrieben, und durch die Verfassung, die diverse sozialstaatliche Funktionen dem Privatkapital überantwortet – was jetzt geändert werden soll.

    Man wird sehen.
    Vielleicht tritt mit Boric ein ähnlicher Effekt ein wie mit Tsipras. Der wurde ja auch als Hoffnungsträger begrüßt, unter seiner Regierung hörten aber die Streiks und Proteste auf, weil er offenbar klarmachen konnte, daß auch die allerbeste Regierung gegen Sachzwänge nix machen kann.

  4. Heute war ein Artikel in El País, der diese verfassungsgebende Versammlung beschreibt, die vermutlich nie auf einen grünen Zweig kommen wird, weil die dort versammelten Parteien und Gruppierungen so sind wie oben beschrieben: zahlreich, ohne Programm, aber dafür mit blumigen Namen.

  5. Streik beim größten Kupferproduzenten der Welt in Chile beendet

    Der Streik beim chilenischen Kupferkonzern Codelco ist nach nur einem Tag beendet worden. Geschäftsführung und Gewerkschaft einigten sich im Fall der umstrittenen Gießerei Ventanas auf einen Kompromiss – die geplante Schließung werde sich über fünf Jahre erstrecken, 300 Angestellte woanders beschäftigt, wie beide Seiten am Donnerstag mitteilten. Die Mine soll aus Umweltschutzgründen geschlossen werden.

    Greenpeace nennt das Gebiet um Ventanas “Chiles Tschernobyl”, nachdem bei einem Unfall 2018 rund 600 Menschen wegen Kopfschmerzen, Lähmung an Armen und Beinen und Blutspuckens ärztlich behandelt werden mussten. In der Region um Ventanas leben rund 50.000 Menschen; dort gibt es vier Kohlekraftwerke, Öl- und Kupferraffinerien.

    Der seit März amtierende linksgerichtete Präsident Gabriel Boric hatte vergangene Woche erklärt, er wolle keine “Umweltschutzopfer” mehr. Es gebe hunderttausende Menschen im Land, die schweren Umweltschäden ausgesetzt seien, “die wir hervorgerufen oder zugelassen haben”. Der staatliche Konzern Codelco produziert rund acht Prozent des weltweit abgebauten Kupfers.

    https://www.deutschetageszeitung.de/wirtschaft/196114-streik-beim-groessten-kupferproduzenten-der-welt-in-chile-beendet.html

  6. Diese neue chilenische Verfassung bzw. deren Entwurf ist in allen wichtigen Punkten schwammig formuliert – das war anscheinend der Preis, um zu irgendeiner Einigung zu kommen.

    Wenn die abgelehnt wird, entsteht nicht viel Schaden – allerdings wird damit die Hoffnung zuschanden, mit einer neuen Verfassung könnte sich Chile sanieren bzw. runderneuern.

    Seltsam ist übrigens die Verkündigung einer Wahlpflicht für diese Wunder-Verfassung – das ganze System der Ermächtigung der Staatsgewalt durch Wahlen lebt von der Freiwilligkeit derer, die da zu den Urnen schreiten.

  7. Das »chilenische Tschernobyl« wird geschlossen

    Kupferschmelze Ventanas verseuchte über Jahrzehnte Mensch und Umwelt – und sorgte für Jobs

    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165232.umweltpolitik-das-chilenische-tschernobyl-wird-geschlossen.html

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    Kupferminenarbeiter in Chile haben vergangene Woche einen landesweiten 48-stündigen Streik durchgeführt.

    Auslöser war die Ankündigung des staatlichen Kupferunternehmens Codelco und des (chilenischen) Staatspräsidenten Gabriel Boric, die Codelco-Gießerei Ventanas in der zweitwichtigsten Region Chiles, Valparaíso, stillzulegen. Die Föderation der Kupferarbeiter FTC rief zu einem Streik auf, um die Schließung der Niederlassung zu verhindern, von der 349 Kollegen und Kolleginnen betroffen sind.

    https://amerika21.de/2022/06/258798/chile-kupferindustrie-streik

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    Brasilien: Bolsonaro warnt USA vor Isolation durch ein “rotes” Lateinamerika

    Amtierender Präsident baut Drohszenarien über einen Wahlsieg Lulas auf und weist Kritik an Umgang mit Pandemie und Amazonas-Abholzungen zurück

    https://amerika21.de/2022/07/259003/bolsonaro-wahlkampf-tucker-interview

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    Gaby Weber: Lateinamerika: Die Ukraine ist weit weg, der Russland-Handel wichtig

    https://www.heise.de/tp/features/Lateinamerika-Die-Ukraine-ist-weit-weg-der-Russland-Handel-wichtig-6680173.html?seite=all (14.04.22)

  8. Chiles neue Verfassung spaltet die Bevölkerung

    Nach zehn Monaten zähen Ringens ist das neue, progressive Grundgesetz des Andenstaates fertig. Einen Konsens darüber gibt es jedoch nicht

    Auf dem Siedepunkt der Proteste in Chile im Herbst 2019 brachte die Vereinbarung über eine neue Verfassung den Ausweg aus der Eskalation. Vorige Woche legte der Verfassungskonvent nach zehnmonatiger Arbeit den Entwurf des neuen Grundgesetzes vor, der Chile auf ein neues, modernes Fundament stellen und die noch unter Diktator Augusto Pinochet verabschiedete Verfassung von 1980 ersetzen soll. Am 4. September müssen die Chileninnen und Chilenen darüber abstimmen. Doch der Enthusiasmus ist abgeflaut, und die Kampagne zum "ja" oder "nein" wird emotional geführt. Selbst Fachleute haben einiges an dem Entwurf auszusetzen, der von politisch und juristisch unbeleckten Laien verfasst wurde.

    Sechs grundlegende Neuerungen bringt die Verfassung: Chile wird darin zum plurinationalen und interkulturellen Staat, was den Forderungen der indigenen Völker nach Anerkennung und Autonomie nachkommt. Elf indigene Völker leben in Chile und stellen 12,8% der 19 Millionen Einwohner. Alle Staatsorgane müssen fortan paritätisch besetzt werden, Frauen wird ein Recht auf Abtreibung garantiert. Neben dem demokratisch gewählten Parlament soll es fortan statt des bisherigen elitären Oberhauses eine Art Bundesrat geben, in dem die Regionen vertreten sind. Damit wird einer der zentralistischsten Staaten Lateinamerikas föderaler.

    Natur im Verfassungsrang

    Die Natur erhält Verfassungsrang, was ein Gegengewicht zur vorherigen Privatisierung der Ressourcen und ihrer Überausbeutung darstellt. Wasser wird "unverkäuflich" – die rechtliche Reichweite ist jedoch unklar. Die Rolle der Exekutive im internen Machtgleichgewicht wird beschnitten, Chile verwandelt sich in ein semipräsidiales und partizipatives System, in dem auch die Bevölkerung das Recht bekommt, Gesetzesinitiativen einzubringen.

    Gleichzeitig werden die Kompetenzen des Staates ausgeweitet. Er wird zum Hauptakteur in Bildung, Gesundheit und Sozialversicherungen, die bislang weitgehend privatisiert waren, was die soziale Ungleichheit vertiefte. Ein Vorschlag zur Verstaatlichung der Bodenschätze fand nicht die nötige Zweidrittelmehrheit im Plenum und blieb außen vor. "In der Verfassung von 1980 hatte der Staat nur eine untergeordnete Rolle gegenüber der Privatwirtschaft, nun bekommt er eine viel aktivere Rolle", resümiert Javier Sajuria, Direktor des Forschungszentrums Espacio Público.

    (…)

    388 Artikel plus 57 Übergangsartikel hat der Text und ist damit eine der längsten Verfassungen der Welt. Es liest sich stellenweise konfus und hölzern, vieles wird der Justiz überlassen oder soll in neuen Gesetzen geregelt werden. Der Mangel an Stringenz birgt die Gefahr, mehr Konflikte als Klarheit zu bringen.

    Die "Washington Post" sprach von einem Manifest der "Generation woke", die geprägt ist von einem starken Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz. Mit dem erst 36 Jahre alten Gabriel Boric hätten die Chilenen zwar einen Präsidenten dieser Generation gewählt – aber werden sie ihm auch in diesem Punkt folgen? fragten die Journalisten. Nimmt man Umfragen, dann lautet die Antwort der eher als konservativ geltenden chilenischen Gesellschaft "nein". Rund die Hälfte wollen derzeitigen Zahlen zufolge dagegen stimmen, 38 Prozent dafür, der Rest ist unentschlossen. Bei den vorherigen Wahlen waren die Umfragen allerdings ungenau.

    (…)

    https://www.derstandard.at/story/2000137418272/chiles-neue-verfassung-spaltet-die-bevoelkerung

    Schaut nach einem Rohrkrepierer aus.

    Durch die unklaren und komplizierten Formulierungen würde diese Verfassung wahrscheinlich, sollte sie je in Kraft treten, die Bürokratie aufblähen und dadurch die Kosten der Gesellschaft für den Staat verteuern.
    Das ist offensichtlich und spricht gegen sie.

  9. Regierung Boric stellt große Steuerreform für Chile vor
    Die Regierung will anscheinend "die Mittelschicht" also die relativ Armen im Lande, auch mit einer zur Verfassungsreform parallelen Steuerreform hinter sich bringen:  

    (…)  Im Kern versucht die ambitionierte Reform vier Kernthemen anzugehen: Die höhere Besteuerung von Vermögen und hohen Einkommen, die Entlastung der Mittelschicht, die Bekämpfung von Steuervermeidung und -hinterziehung und die Einführung von Gebühren für den großen Bergbau.  

    Die höchsten Einkommen von mehr als vier Millionen Pesos (rund 4.030 Euro) monatlich sollen nach dem Plan drei Prozent mehr an Steuern bezahlen. Nach Informationen des Finanzministeriums wird sich der Steuersatz von 97 Prozent der Chilenen dadurch aber nicht ändern. Zudem soll eine Vermögenssteuer von einem Prozent auf Vermögen von fünf bis 15 Millionen US-Dollar und zwei Prozent auf alle Vermögen über 15 Millionen US-Dollar eingeführt werden.
    Als Vermögenswerte müssen dem Entwurf nach Immobilien, Liegenschaften, Teilhaberschaften an Gesellschaften, Fahrzeuge, Anlageportfolios und weitere Finanzprodukte deklariert werden. Dazu soll noch eine Steuer aus Kapitaleinkommen von 22 Prozent eingeführt werden.

    Die Regierung erklärte, die Mittelschicht solle von diesen Reformen profitieren und könne nach ihren Plänen in Zukunft bis zu 450.000 Pesos der Miete als Entlastung von den gezahlten Steuern abrechnen lassen, wie auch die Ausgaben für Pflege von älteren Angehörigen und kleinen Kindern. (…)

    https://amerika21.de/2022/07/258988/chile-regierung-boric-steuerreform

    Ansonsten tobt in Chile der Meinungskampf:
    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165310.chile-endspurt-fuer-die-neue-verfassung.html

  10. In Peru stehen ähnliche Reformsozialisten vor den Scherbenhaufen ihrer Politik – ob sie das selber so sehen, oder ob das die Sichtweise der Rechten ist, die anscheinend einen Umsturz vorbereiten, das ist allerdings nicht ganz klar.

    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-linke-praesident-pedro-castillo-sitzt-auf-verlorenem-posten

    https://www.jungewelt.de/artikel/429802.interne-streitigkeiten-präsident-verlässt-partei.html?sstr=Peru

    https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162387.peru-wir-brauchen-den-druck-von-unten.html?sstr=Peru

    https://www.nzz.ch/podcast/warum-perus-praesident-bisher-nicht-zum-regieren-kam-nzz-akzent-ld.1680101

    https://amerika21.de/analyse/259051/peru-krise-verschaerft-sich

    “(…) Wie andere Länder Lateinamerikas wurde Peru durch die Pandemie und durch die daraus folgende Lieferkettenkrise wirtschaftlich hart getroffen. Nun bringt der Ukraine-Konflikt neue Herausforderungen, besonders für die Landwirtschaft und das Transportgewerbe. Zwar können rohstoffreiche Länder wie Peru von den gestiegenen Rohstoff-Preisen profitieren. Doch erst einmal schlägt die Inflation in der Region zu. Brasilien und Chile haben bereits die Zinsen erhöhen müssen, nachdem sich die Inflation jeweils der 10-Prozent-Marke genähert hatte.
    In Ecuador war es bereits Ende des vergangenen Jahres zu gewaltsamen Protesten gegen die hohen Treibstoffpreise gekommen. Das Thema ist in dem Land äusserst heikel, da die armen Bürger auf subventionierte Spritpreise angewiesen sind. Im Jahr 2019 hatte es landesweite Proteste gegeben, nachdem der damalige Präsident Lenín Moreno die Subventionen abgeschafft hatte und die Spritpreise daraufhin stark angestiegen waren.”
    https://www.nzz.ch/international/der-ukraine-konflikt-sorgt-auch-in-suedamerika-fuer-chaos-ld.1678357

  11. Ein typisches Beispiel für den billigen Journalismus heute, die Neue Zürcher:

    Doch erst einmal schlägt die Inflation in der Region zu.

    Die Inflation – eine höhere Gewalt. Nix mit homo faber, die eigenen Geschöpfe, in diesem Fall das Geld, machen mit dem kleinen Erdenwurm, was sie wollen. Eine wahrhafte intellektuelle Bankrotterklärung.
    Und so geht es weiter:

    Brasilien und Chile haben bereits die Zinsen erhöhen müssen, nachdem sich die Inflation jeweils der 10-Prozent-Marke genähert hatte.

    Die Staaten im Würgegriff der Inflation – „müssen“ – und eine Zinserhöhung, wo man gar nicht weiß, was das mit der Inflation zu tun haben soll.
    Außer man teilt den Schmarrn der Wirtschaftswissenschaft, nach der Zinserhöhungen ein probates Mittel gegen Preissteigerungen sein sollen.
    Und das auch noch quantitativ begründet: 10& – dort fängt der Sachzwang erst so recht an!

    Einmal sehen, wie das in der EU wird. Aber da werden irgendwelche Experten sicher alles tun, um die Berechnungen der EU-Staaten so zu gestalten, daß die 10% nicht erreicht werden. Also bei gefühlten 20%-Preissteigerungen werden uns die als „die Inflation hält derzeit bei 9,48%“ verkauft werden.
    _________________

    Was die von dir eigentlich angesprochenen lateinamerikanischen linken Wackel-Regierungen betrifft, so sind die eben deshalb an der Macht, weil die Rechten auch ratlos und zerstritten sind.
    Sogar in Bolivien, wo sich die Regierung einer gewissen Massenunterstützung erfreut, hat es die MAS nur deshalb an den Wahlurnen zum Sieg geschafft, weil die alten Eliten untereinander weder auf ein gemeinsames Programm noch auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen konnten.

  12. The making of a bestseller:

    Verfassungsentwurf ist meistverkauftes Sachbuch in Chile

    Am 4. September soll die Bevölkerung des südamerikanischen Landes über die neue Verfassung entscheiden. Bisher wurden mehr als 70.000 Exemplare verkauft (…)

    https://www.derstandard.at/story/2000138021851/verfassungsentwurf-ist-meistverkauftes-sachbuch-in-chile

    Für die Verfassung selbst und die daran geknüpften Erwartungen verheißt das allerdings nichts gutes, wenn man vorher lange die Gebrauchsanweisung studieren muß.

    Zur Erinnerung: Die jugoslawische (Kardeljsche) Verfassung von 1974 war damals die längste der Welt.

  13. Referendum in Chile: Progressive Verfassung abgelehnt

    62 Prozent der Wahlberechtigten stimmen gegen die Reform. Präsident Boric lädt alle politischen Parteien zur Zusammenarbeit ein, um gemeinsam einen neuen Verfassungsprozess in Gang zu bringen

    Autokorsos in den wohlhabenden Vierteln der Hauptstadt: Es ist lang her, dass die reiche und meist rechte Bevölkerung der Oberschichtviertel gefeiert hat. Nun sei "Chile vom Kommunismus" befreit, heißt es dort. Denn deutlich lehnte am Sonntag eine Mehrheit von knapp 62 Prozent den Entwurf für eine neue Verfassung ab.

    "Die Intoleranz, der Fanatismus und der Geist der Neugründung des Landes wurden heute besiegt", sagte der Sprecher der "Amarillos por Chile", Christian Warnken, gegenüber den Medien.

    Mit der neuen Verfassung sollten soziale Rechte eingeführt, feministische Grundsätze in den Aufbau des Staates übernommen und das Land in einen plurinationalen Staat verwandelt werden. All dies ist nun auf vorerst vorbei.

    "Es war eine große Vereinfachung der Realität zu denken, die chilenische Bevölkerung würde einen radikalen Wandel wünschen, doch so war es seit Oktober 2019", meint der Anwalt und Kolumnist Carlos Peña in El País.

    Das Wahlergebnis ist ein herber Rückschlag für die politische Linke und die linksreformistische Regierung von Präsident Gabriel Boric, die mit aller Macht versucht haben, Chile zum "Grab des Neoliberalismus" zu machen. Gegen diesen Reformwillen stemmte sich eine breite Koalition aus rechten Parteien und wichtigen politischen Figuren der ehemaligen Mitte-Links Regierungskoalition Concertación, die sich entgegen der Entscheidung ihrer Parteien gegen die neue Verfassung stellten.

    Mit dem Wahlsieg sei auch die "ideologische, radikale Linke" besiegt worden, meint der ehemalige rechte Abgeordnete des Verfassungskonvents, Christian Monckeberg,  gegenüber den Medien.

    Schon vor der Wahl sagten alle Umfragen einen Sieg des gegnerischen Lagers voraus. Allerdings lag die Hoffnung der Befürworter:innen darin, dass die erstmals wieder eingeführte obligatorische Wahlteilnahme mit automatischer Einschreibung im Wahlregister eine Voraussage erschweren würde.

    Doch anstatt das Ergebnis dadurch ihn Richtung einer Zustimmung zur neuen Verfassung zu bewegen, geschah genau das Gegenteil: die Umfragen sagten einen Wahlsieg von etwa 55 Prozent für das Gegner:innenlager voraus, das tatsächliche Ergebnis liegt jedoch sogar sieben Prozentpunkte weiter rechts.

    Während manche die Gründe der Wahlschlappe hinter einer breit angelegten Desinformationskampagne sehen, gehen andere davon aus, dass der Reformwillen des Verfassungskonvents tatsächlich zu radikal war. Am Abstimmungsabend erklärte Präsident Boric in einer Ansprache: "Die chilenische Bevölkerung hat gesagt, dass sie nicht mit dem Entwurf einverstanden ist. Man verlangt von uns mit mehr Eifer, Dialog, Respekt und Zuneigung an einer neuen Verfassung zu arbeiten."

    Der Präsident selbst lud gleich nach Bekanntwerden der ersten Abstimmungsergebnisse alle Parteien zu einer Sitzung am Montag ein. Ziel sei es, einen neuen verfassungsgebenden Prozess anzustoßen. Denn, so die Interpretation, mit der Abstimmung sei nur dieser eine Verfassungsentwurf abgelehnt worden. Da aber im Oktober 2020 einer deutliche Mehrheit von knapp 80 Prozent gegen die aktuelle Verfassung und für eine neue gestimmt hätten, sei der Auftrag klar: Weiterhin muss eine neue Verfassung ausgearbeitet werden.

    Wie das stattfinden soll, ist aber derzeit unklar. Schon jetzt lehnten die rechten Parteien die Einladung zur gemeinsamen Sitzung ab.

    https://amerika21.de/2022/09/259897/verfassung-abgelehnt

    Die Vorstellung, die Klassengesellschaft durch Verfassungsänderung weiter führbar zu halten, ist vorerst einmal gescheitert.
    In Chile wollten sie ja auch einmal eine „Revolution in der Legalität“ …

    Es herrschte Abstimmungspflicht, was der Sache sicher auch nicht gut getan hat. Die Medien sind recht verschwiegen darüber, inwiefern sie auch eingehalten wurde.

  14. "(…) Wie häufig bei Referenden ging es bei der Stimmabgabe nicht nur um die Frage auf dem Stimmzettel, sondern auch um die Zustimmung zur Regierung, die in Umfragen niedrig war. Das politische Umfeld hatte sich seit Beginn der Verfassungsgebung verändert. Während die stagnierende Wirtschaft, eine hohe Inflation und die Zunahme der Kriminalität die Bürger zunehmend beschäftigten, schienen einige der Diskussionen im Umfeld der Verfassung weit von ihren Alltagsproblemen entfernt. 
    Nicht nur das politische Klima, auch die Wählerschaft hat sich im Verlauf des Verfassungsprozesses verändert. Der Verfassungskonvent wurde im Mai 2021 mit einer Wahlbeteiligung von 43 Prozent gewählt. Die linke Mehrheit im Verfassungskonvent war eine Zufallsmehrheit, die nicht unbedingt das Meinungsspektrum in der chilenischen Gesellschaft widerspiegelte. "
    https://www.tagesspiegel.de/politik/verfassungsreferendum-in-chile-gescheitert-chile-wollte-zum-vorbild-fuer-demokratische-erneuerung-werden-es-kam-anders/28660050.html

    “Finanziert wurde die Kampagne für das „Rechazo“ hauptsächlich von Chiles Superreichen. Die Familie Cúneo Solari, eine der reichsten Familien Chiles und Eigentümer des Konzerns Falabella, stehen ganz oben auf der Liste der vom Wahldienst Servel registrierten Spendengeber*innen. Ihre Spenden flossen in die Kampagne der Amarillos por Chile. Einen Großteil der Spenden investierten sie in Anzeigen auf Facebook, Instagram und YouTube.
    Und dort wurden besonders viele Falschnachrichten verbreitet. Die neue Verfassung sei von der „extremen Linken“ ausgearbeitet worden, würde die „Türen für eine kommunistische Diktatur“ öffnen, Häuser enteignen und Indigenen mehr Rechte geben als anderen Chi­le­n*in­nen – so einige der Vorwürfe. Dabei hätte die neue Verfassung soziale Grundrechte und Umweltschutz garantiert.”
    https://taz.de/Verfassungsreferendum-in-Chile/!5879012/

    https://www.sueddeutsche.de/politik/chile-verfassung-inhalt-1.5651025

  15. Nach dem, wie das chilenische Parteienspektrum aussieht, was sich ja auch in dieser verfassungsgebenden Versammlung widerspiegelt, hat es mich gewundert, daß überhaupt ein Text zustandegekommen ist.

    Zwischen frommen Wünschen und Prinzipien, um die man in einer kapitalistischen Klassengesellschaft nicht herumkommt, kam eine elendslanges und eigentlich gar nicht anwendbares Regelwerk heraus.

    Natürlich sagen jetzt die Befürworter des Projekts, es sei an der Propaganda der Gegenseite gescheitert, aber das täuscht über die Schwächen der ganzen Angelegenheit hinweg.

    Aber – weils so schön ist – das Ganze gleich noch einmal:

    „Boric plant einen neuen verfassungsgebenden Prozeß
    Der Präsident legt den Fahrplan für einen neuen Text in die Hände des Kongresses“ (El País, 6.9.)

  16. Nur zur Ergänzung: Chile scheint wirklich einiges von dem Zeug zu haben:

    Statistik von 2022
    https://de.statista.com/statistik/daten/studie/159933/umfrage/laender-mit-den-groessten-lithiumreserven-weltweit/

    Allerdings kommt mir die Statistik ansonsten veraltet und unvollständig vor, weil z.B. Bolivien nicht drauf ist.

    Ganz andere Zahlen sind hier zu finden:

    „Bisher gab es Lithiumreserven in Bolivien, wo heiße 21 Millionen Tonnen zu finden sind. In Argentinien sind es 20 Millionen Tonnen, in Chile 11 Millionen Tonnen. In Australien fand man immerhin noch 7,9 Millionen Tonnen und in China 6,8 Millionen.

    Jetzt gesellt sich ein weiteres Land hinzu: Im Iran gab Ebrahim Ali Molla-Beigi, Generaldirektor des Exploration Affairs Office des Ministeriums für Industrie, Bergbau und Handel, kürzlich bekannt, dass man 8,5 Millionen Tonnen Lithium in der Provinz Hamedan im Westen des Landes entdeckt hat. Damit gehört der Iran schlagartig zu den größten Lithium-Lagerstätten der Welt.“

    https://futurezone.at/b2b/lithium-vorkommen-batterien-e-autos/402351993

    Und was ist eigentlich daraus geworden? Peru scheint weder in der deutschen Statistik noch in vielen anderen Artikeln zu Thema Lithium auf:

    Weißes Gold
    Riesiger Lithium-Fund in Peru befeuert Erwartungen

    Die Entdeckung einer der weltweit größten Lithiumlagerstätten in Peru wirft viele Fragen auf: nach den sozialen und ökologischen Folgen eines massiven Abbaus. Das Land steht vor neuen Herausforderungen. (…)

    (https://www.dw.com/de/riesiger-lithium-fund-in-peru-befeuert-erwartungen/a-44916554 – DW, 2018)

    Und keine Spur davon in der Statistik von 2022. DW und Statista.de scheinen einander nicht zu kennen.
    Nur so viel zum Thema Daten und deren Verarbeitung.

  17. Ein Lob der Welt für einen „Linken“:

    Es gibt noch Linke, die bei Menschenrechten unbestechlich sind

    Klare Worte aus Chile: Präsident Gabriel Boric hat den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beim jüngsten EU-Gipfel unmissverständlich verurteilt. Das ist angesichts der Haltung der übrigen lateinamerikanischen Staaten äußerst bemerkenswert. (…)

    Als sich jüngst die EU-Führung mit den Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas sowie der Karibischen Staaten (Celac) traf, war die klare Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten nicht bereit, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen.

    Umso bemerkenswerter aber, dass ein lateinamerikanischer Staatspräsident aus dieser Front ausscherte: Chiles erst 37 Jahre alter Präsident Gabriel Boric verurteilte Russland unmissverständlich. (…)

    Schon vor dem Treffen hatte er gesagt: „Wir müssen die Menschenrechte dort verteidigen, wo sie verletzt werden“, und er fügte unmissverständlich hinzu: „egal wo und von wem“. Auf dem Treffen wurde er dann noch deutlicher: „Ich denke, es ist wichtig, dass wir aus Lateinamerika klar sagen: Was in der Ukraine geschieht, ist ein inakzeptabler imperialer Angriffskrieg, der das Völkerrecht verletzt. Ich verstehe, dass die gemeinsame Erklärung blockiert ist, weil einige nicht aussprechen wollen, dass es sich um einen Krieg gegen die Ukraine handelt.“

    (Die Welt, 23.7.)

    Um die Aussagen von Boric zu verstehen, muß man sich seine Stellung in Chile vor Augen halten: Er ist mit dem Projekt einer neuen Verfassung gescheitert und seine Partei bzw. deren Verbündete sind auch bei der Wahl zum neuen Verfassungsrat unterlegen.

    Man kann sich ausrechnen, daß das ganze Parteienkonglomerat um Boric und die ihn umgebende Politikermannschaft beim nächsten Wahlgang wieder in der Versenkung verschwinden wird.
    Um das zu verhindern, versucht er sich jetzt außenpolitisch zu profilieren und Liebkind bei den USA und der EU zu machen.

    Das ist übrigens kein Bruch mit seinen Überzeugungen. Die chilenischen Parteien und auch die von Boric sind so unbestimmt in ihren Zielen und Überzeugungen – sie sind nur für das Gute und gegen das Böse –, daß man sich dann auch bei den USA als anerkannte Verteidiger des Völkerrechts und der Menschenrechte anschleimen kann.
    Möglicherweise wird er auch bald beim Lithium nachgeben und US-Firmen Tür und Tor öffnen.

    Es ist allerdings wahrscheinlich, daß er sich so in Lateinamerika selbst isolieren und in der Gesellschaft von Regierungen finden wird, mit denen die derzeitige chilenische Regierungsmannschaft wenig anfangen kann. Ähnlich erging es Sánchez mit der eifrigen Anerkennung Guaidós.

    Auch ob Boric sich in Chile selbst beliebt macht mit dieser Haltung, wird erst die Zeit weisen.

  18. Endspurt der Mobilisierung in Chile gegen rechte Verfassung

    Abstimmung über neue Verfassung am Sonntag. Entwurf gilt als erzkonservativ und neoliberal. Befürworter:innen betonen mehr Sicherheit und Abstrafung der Regierung Boric

    Am Sonntag entscheidet die wahlberechtigte Bevölkerung Chiles zum zweiten Mal innerhalb von eineinhalb Jahren über eine neue Verfassung. Der Verfassungsentwurf wurde von einer Parlamentskommission geschrieben und anschließend von einem gewählten Verfassungsrat modifiziert. Rechte und rechtsextreme Parteien dominierten den im Mai 2023 gewählten Rat. Parteien ab der politischen Mitte nach links nahmen lediglich 17 von 50 Sitzen ein und verfehlten sogar eine Sperrminorität.

    Der erste Entwurf galt als feministisch, ökologisch, sozialstaatlich und war mit tiefgreifenden neuen demokratischen Rechten ergänzt. Er sollte das Resultat der sozialen Revolte von 2019 sein, bei denen Millionen von Menschen gegen die Auswirkungen des neoliberalen Wirtschaftsregimes auf die Straße gingen, das aus der Pinochet-Diktatur entstanden war. Doch im September 2022 stimmte eine deutliche Mehrheit von 62 Prozent gegen den Entwurf.

    "Der Text wirft uns in Bezug auf soziale Rechte und insbesondere in Bezug auf die Rechte von Frauen um 50 Jahre zurück", meint Juan Pablo Rojas zum neuen Entwurf. Der Aktivist steht mit einer Fahne am Eingang zur Metro der Santiagoer Vorstadt Maipú und verteilt Flyer. Er will die letzten Tage vor der Abstimmung nutzen, um möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, gegen die neue Verfassung zu stimmen.

    "Sofern die Option 'Dafür' gewinnt, wäre das wirklich unheilvoll für das ganze Land", meint Rojas, der Mitglied in der Regierungspartei Revolución Democrática ist. Der zur Abstimmung stehende Entwurf ist stark von der rechtsextremen Partido Republicano und deren ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast geprägt.

    In dem Text wird das Leben eines Fötus unter Schutz gestellt und somit Abtreibung verboten. Staatliche Aufgaben werden weiter reduziert: So dürfte der Staat nicht mehr in die Bildungspläne privater Schulen eingreifen, selbst wenn er diese subventioniert. Die Familie wird als einzige Verantwortliche für das Wohl des Kindes anerkannt und Mechanismen der Solidarität bei Renten- und Krankenversicherungen quasi per Verfassung verboten.

    "Der aktuelle Verfassungsentwurf ist hochideologisch aufgeladen", sagt der Politologe Javier Couso gegenüber amerika21. Er ist sich sicher: Während der erste Entwurf stark nach links zeigte und wenig Kompromiss mit den rechten Sektoren suchte, ist der aktuelle das genaue Gegenteil.

    Couso steht der Christdemokratischen Partei nahe und sprach sich für den ersten Verfassungsentwurf aus, den aktuellen hingegen lehnt er ab. Er verfestige die neoliberale Struktur des Landes und sei gleichzeitig Ausdruck einer erzkonservativen Ideologie, die im schlimmsten Fall den Rechtsstaat beeinträchtigen könnte. Ein Sieg der neuen Verfassung würde zumindest dazu führen, dass kleinere progressive Reformen, wie die Einführung eines allgemeinen und verbindlichen Sexualkundeunterrichts im Jahr 2019 oder das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe aus dem Jahr 2021, in den nächsten Jahren unwahrscheinlich sind.

    (…)

    (amerika21, 15.12.)

    Nach allem, was man über den neuen Verfassungsentwurf liest, ist die chilenische Bevölkerung mit der alten Pinochet-Verfassung besser bedient.

    Das Projekt einer Verfassungsänderung dürfte damit gestorben sein. Es sei denn, die neue wird angenommen, was aber unwahrscheinlich ist – siehe oben.

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