DIE BESTELLUNG DES DEMOKRATISCHEN HERRSCHAFTSPERSONALS
In Österreich wurde gerade ein neuer Bundespräsident gewählt. Das Echo, das dieser Umstand nicht nur im heimischen, sondern auch im internationalen Blätterwald hervorgerufen hat, ist bemerkenswert – um so mehr, als bei der letzten Wahl vor 6 Jahren ziemlich tote Hose war:
„Die große Überraschung bei dieser Wahl (2010) war, dass die Wahlbeteiligung mit 53,6% so gering wie noch nie war. Damit wurde sichtbar, dass Bundespräsident Heinz Fischer und noch mehr das Amt des österr Bundespräsidenten ein deutliches Akzeptanzproblem bei der Bevölkerung hat. Im Anschluß an die Wahl gab es heftige Debatten bei den Parteien und in den Medien, ob man das Amt des Österreichischen Bundespräsidenten nicht einsparen sollte. Das Amt bringt der Bevölkerung wenig und kostet viel zuviel Steuergeld. Die anderen argumentierten, dass es besser wäre, wenn es keine Möglichkeit zur Wiederwahl gäbe. … Die ÖVP schaffte es nicht, einen Kandidaten aufzustellen und gab sogar eine Wahlempfehlung zum Ungültig-Wählen an ihre Anhänger ab.“ (Wahlinformation.at)
Bei der Wahl 2016 wurde auf einmal entdeckt, daß dieses Amt sich keineswegs in rein formal-protokollarischen Repräsentationstätigkeiten erschöpft, sondern daß ihm quasi diktatorische Potenzen innewohnen:
„Laut Verfassung ist der Bundespräsident die höchste Instanz der Republik. Zu seinen Kompetenzen zählt unter anderem die Ernennung und Angelobung der Regierung. Ebenso kann er den Kanzler und seine Minister entlassen – und zwar ohne Angabe von Gründen. Formal amtiert er sogar als Oberbefehlshaber des Bundesheeres.“ (Profil, 9.1. 2016)
In der spanischen Tageszeitung „El País“ nahm der Sieg Van der Bellens den ersten Platz auf der Titelseite ein. Die argentinische Tageszeitung „Clarín“ titelt ähnlich:
„Mit nur 31.000 Stimmen bremst ein „Grüner“ die extreme Rechte in Österreich“
und verrät gleich mit den Grund für die allgemeine Aufregung:
„Erleichterung bei den Führern der EU.“ (Clarín, 24.5.)
Angesichts dieser erklärenswerten Widersprüche und Ungereimtheiten einmal eine Untersuchung dessen, um was für ein Amt es sich da eigentlich handelt.
1. Der österreichische Bundespräsident
Der erste und wichtigste Auftrag dieses Amtes besteht darin, daß sein Inhaber die Nation repräsentiert, also sozusagen das Allerheiligste des heutigen Staatsbürgers bzw. Staatsverständnisses.
Darüber sollte man sich keine Illusionen machen – auch wenn manche Leute beim Begriff Nation schief dreinschauen, auf Demokratie und Rechts- und Sozialstaat pochen und damit ihre Verbundenheit mit diesem Land ausdrücken wollen – letztlich ist es die Nation, die alle zusammenhält und auf die sie als gute Österreicher auch nicht verzichten wollen, wenn sie verantwortungsbewußt zu den Wahlurnen schreiten.
Mit dem Begriff der „österreichischen Nation“ hapert es nämlich ein bißl. Ungern wird sich daran erinnert, daß Hitler Österreicher war, noch weniger gern daran, daß Beethoven keiner war, und daß Nikola Tesla einer war, nimmt die Allgemeinheit erst recht nicht zur Kenntnis.
Die moderne Ideologie, daß das staatliche Gewaltmonopol sozusagen natürlich, gleichsam wie ein Baum aus Sprache und Brauchtum hervorwächst, hat nämlich in Österreich aufgrund von historischen Wachstums- und Schrumpfungsprozessen ihre Sollbruchstellen. Vor einigen Jahrzehnten verschwand Österreich sogar für einige Jahre von der Landkarte und nur eine obskure „Ostmark“ nahm seine Stelle ein.
Deswegen ist es um so wichtiger, daß Österreich einen Bundespräsidenten hat, der glaubwürdig den heutigen Staat Österreich vertritt – glaubwürdig nach innen und nach außen, also die Einheit zwischen Staat und Volk und damit auch den sozialen Frieden in seiner Person vereinigt, auf die sowohl der Politiker als auch der Staatsbürger, der citoyen, so viel Wert legen.
Darüberhinaus ist das Amt auch in guten Zeiten nicht so rein protokollarisch, wie oft getan wird. Man erinnere sich an die Besuche des scheidenden Bundespräsidenten Fischer in China, dem Iran und anderswo, bei denen er sich als Türöffner für die nachdrängende österreichische Unternehmerwelt betätigt hat.
Der BuPrä ist also nicht nur der Vertreter des Volkes, sondern auch des nationalen Kapitals.
Was die jetzt neu entdeckten Vollmachten des Bundespräsidenten betrifft, so sind sie keineswegs neu. Es liegt aber an den jüngeren Entwicklungen innerhalb der EU, daß sie jetzt von verantwortungsbewußten Geistern thematisiert werden.
Jede demokratische Verfassung kennt nämlich auch den Notstand des Staates. Wenn das Volk aufmüpfig wird oder sich nicht auf eine gemeinsame Herrschaft einigen kann, so bietet jede Verfassung die Ausrufung des Notstandes, was was soviel heißt wie:: Demokratie und Bürgerrechte ade! Und diesen Notstand auszurufen und zu betreuen ist – in Österreich zumindest – Sache des Bundespräsidenten. Er, als der höchste Repräsentant der politischen Herrschaft, hat sich um ihre Bewahrung bzw. Wiederherstellung zu kümmern.
Diejenigen Kritiker, die in diesen Befugnissen eine Gefahr für die Demokratie sehen, sitzen einem gründlichen Mißverständnis über das Wesen der Demokratie auf. Die ist nämlich eine Form der bürgerlichen Herrschaft, also derer, bei der es um die Verwaltung der gewinnorientierten Produktion geht. Wenn dieses Ziel mit dem demokratischen Procedere nicht mehr verfolgt werden kann, so sind eben andere Herrschaftsformen gefragt.
Es gilt also nach wie vor der Spruch Horkheimers: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen!“
2. Die Parteienkonkurrenz
Die Parteienkonkurrenz ist identisch mit dem demokratischen Kampf um die Macht. In guten Zeiten, wenn die Profitmacherei der vermögenden Klasse funktioniert und die Arbeiterklasse großflächig dafür eingesetzt wird, ist es leicht, Staat zu machen und die demokratischen Wahlkämpfe laufen mit einer gewissen Routine ab. Von allen Plakaten und Bildschirmen lächeln einem die Kandidaten entgegen und versichern dem p.t. Publikum, daß sie der Beste für das Land sind. Der eine macht mehr auf christlich, der oder die andere mehr auf soziale Gerechtigkeit. Einer trägt einen Trachtenanzug, ein anderer eine rote Krawatte, und alle entdecken die sozial Schwachen, denen sie versichern, daß sie nicht vergessen sind. Dann gibt es noch etwas Geplänkel um Steuern und Bildung, und im Grunde versichern alle, daß es so weitergeht wie bisher, und das Erreichte abgesichert werden soll. Und die Verlierer beglückwünschen nach der Wahl den Sieger und gestehen zu, daß er einfach besser war.
Seit der Krise 2008 klappt diese Idylle immer weniger. Die Ratlosigkeit innerhalb der Parteien wächst, wie sie mit der immer mehr bröselnden Marktwirtschaft umgehen sollen. Auf einmal wollen alle Veränderung. Die Veränderungswünsche klingen ein wenig nach Qualtingers „Wilden auf seiner Maschin’“: Ich weiß nicht wohin, aber dafür bin ich schneller dort!
Als Obama seinerzeit die Wahlen mit der Parole „Change!“ gewann, waren alle hellauf begeistert. Niemand dachte daran, daß Veränderung auch zum Schlechteren führen könnte.
Und so macht sich in der Parteienkonkurrenz und in den Wahlkampagnen einerseits Lustlosigkeit, andererseits Dämonisierung breit. Ich bringe Veränderung! – versprechen viele – ohne genauer zu präzisieren, worin die eigentlich bestehen sollte. Die einzigen, die konkrete Vorschläge haben – abgesehen davon, ob die jetzt gut sind – sind die Parteien der Rechten, die bereits deshalb als „extreme Rechte“ gehandelt werden. Der Rest der Parteienlandschaft zieht sich auf Positionen wie Steuerreform oder erneuerbare Energien zurück, die im Grunde keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken, weil jedem klar ist, daß damit keines der Probleme gelöst werden kann, denen sich die diversen Staaten gegenübersehen: Schuldenkrise, kaputte Banken, Negativzinsen, Nullwachstum, Flüchtlinge usw.
In Spanien kommt deshalb seit Monaten keine Regierung zusammen, weil niemand weiß, wie mit dem ganzen dort angehäuften Mist umgegangen werden soll. Die Krise in Spanien wird durch die Austritts-Bestrebungen Kataloniens noch intensiviert. Es ist gar nicht abzusehen, ob Neuwahlen irgendetwas an dem Chaos verändern könnten.
Man muß sich auch vor Augen führen, daß der österreichische Regierungschef zwischen den beiden BuPrä-Wahlgängen zurückgetreten ist und daß sich bei beiden regierenden Koalitionsparteien Auflösungserscheinungen zeigen. Es ist gar nicht klar, wie lange in Österreich eine regierungsfähige Mehrheit zustandekommt.
Stefan Petzner – der „Ziehsohn“ Jörg Haiders, – hat vor dazu ein bemerkenswertes Interview gegeben, dessen Lektüre ich jedem empfehle.
Die Parteien der Rechten bzw. „extremen Rechten“ werden deshalb von den anderen Parteien dämonisiert – sie gefährden angeblich das ganze „System“. Das ist insofern bemerkenswert, als zwar Politiker wie Boris Johnson oder Marie Le Pen den Austritt aus der EU befürworten bzw. überlegen, aber die FPÖ des BuPrä-Kanditaten Hofer dergleichen gar nicht angedacht hat. Österreich gehört eindeutig zu den Gewinnern der EU, so ein Schritt wurde von keiner Oppositionspartei auch nur erwogen. Aber alle Parteien der Rechten stehen unter dem Generalverdacht, die Auflösung der EU zu betreiben – deswegen, wie die EU selbst inzwischen dasteht.
3. Die EU
Die EU hat immer weniger zu bieten – sowohl materiell: jede Menge EU-Gelder für Projekte aller Art wurden in den letzten Jahren eingefroren, und die meisten EU-Mitgliedsstaaten können kein Wachstum vorzeigen – als auch ideell: die Flüchtlingskrise hat die Ratlosigkeit der EU gegenüber den Opfern der imperialistischen Politik, die die EU mitgetragen hat und weiter mitträgt, gezeigt. Die Flüchtlingsströme haben dieses imperialistische Staatenbündnis, das über 23 Millionen Arbeitslose hervorgebracht hat, in seinem Nerv getroffen: Jede Menge Habenichtse kommt in die EU und trifft da auf den Abbau des Sozialstaates hierzulande. Das System des Ein- und Auszahlens aus den Sozialtöpfen kommt langsam an sein Ende, weil immer weniger Menschen vom Kapital benützt und immer mehr aus den jeweiligen Budgets erhalten werden müssen. Das wachsende Elend der EU-Staaten kann den Zustrom der Vertriebenen der imperialistischen Kriege nicht verkraften, und darüber ist die EU als Projekt mehr als fragwürdig geworden.
Es zeigt sich nämlich, daß die ursprüngliche Zielsetzung der EG/EU – als Konkurrent zu den USA um die – zumindest ökonomische – Weltherrschaft zu ringen, gescheitert ist. Die EU ist inzwischen mit Schadensvermeidung beschäftigt, und mit dem Versuch, das ganze Projekt überhaupt vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren.
Man führe sich vor Augen, was ein Auseinanderbrechen der EU bedeuten würde: der Euro als Weltgeld würde entwertet. alle Handelsbeziehungen müßten auf regionale Gelder umgestellt werden und das ganze Weltwährungssystem wäre in Frage gestellt. Sowohl der Brexit als auch die weitere Kreditierung Griechenlands stellen diese Rute ins Fenster.
Deswegen wird die Bestellung des Herrschaftspersonals in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu einer Haupt- und Staats-Aktion. Sogar ein vergleichsweise kleines Land wie Österreich und ein vergleichsweise kleiner Posten wie der des österreichischen Bundespräsidenten werden zu Eckdaten in der Frage: wann bricht die EU auseinander?
Die Frage bewegt, wie man sieht, nicht nur Österreich oder die EU, sondern die ganze Welt.
Kategorie: Ideologie
Was für berichtenswert erachtet wird
EIN KURZER ÜBERBLICK ÜBER DIE MELDUNGEN DER LETZTEN TAGE
Es ist bemerkenswert, was die Medien in den letzten Tagen an Meldungen brachten. Und auch, wovon man nichts mehr erfährt.
So sollen wieder einmal ein paar Hunderte im Mittelmeer abgesoffen sein, weil dank des segensreichen Abkommens – endlich ist die „Flüchtlingskrise“ halbwegs gelöst! – zwischen der EU und der Türkei jetzt viele Flüchtlinge von Ägypten starten und mit den Seelenverkäufern, auf die sie gepfercht werden, auf der weiten Strecke untergehen.
Von den 50 000 oder mehr Flüchtlingen, die in Griechenland festsitzen, hört man auch nichts mehr. Kriegen sie zu essen, haben sie ein Dach über dem Kopf, werden sie medizinisch versorgt? Die Nachfrage ist angebracht, weil viele Griechen selbst dieses Problem haben, sich in Suppenküchen verpflegen, auf der Straße leben und kein Geld für Medikamente haben.
Was ist eigentlich derzeit los in Idomeni, Piräus, Moria? Werden Flüchtlinge weiter in die Türkei deportiert, und wenn ja, mit welchen Zwangsmaßnahmen?
Man hört nur, daß Griechenland wieder neue Sparmaßnahmen übernehmen und durchziehen soll, um neue Kreditstützungsprogramme zugestanden zu kriegen. Was das für die Leute dort heißt, und wie das überhaupt gehen soll, wird dem p.t. Publikum in der EU nicht mitgeteilt. Bestenfalls hört man, daß die griechische Regierung ihre Verpflichtungen nicht erfüllt und die Troika unzufrieden ist, und daß der IWF selbst etwas ratlos zu sein scheint, wie er weiter mit diesem Problem-Land verfahren soll.
Ob Griechenland zusätzliches Geld erhält, um die vielen dort gestrandeten Flüchtlinge irgendwie zu versorgen, ist ebenfalls unklar. Man fragt ja nur. Angesichts dessen, daß der Tenor der EU-Aussagen ist, daß Griechenland als ganzes eine Belastung ist und doch gefälligst weniger Geld verbrauchen sollte, ist bezüglich der Unterstützung in der Flüchtlingsfrage Skepsis angebracht.
Wie geht es weiter in Libyen? Seit einiger Zeit ist Säbelrasseln angesagt, EU und USA reden davon, daß man dort intervenieren sollte, um die mit UNO-Beistand geschaffene Marionettenregierung zu implantieren, aber wie das gehen soll, wer dafür die nötige Militärmacht zu Verfügung stellt, und so eine Intervention überhaupt finanziell trägt – sowas kostet ja einen Haufen Geld – davon hört man auch nichts. Dort in Libyen schlagen sich jedenfalls weiterhin die Milizen untereinander den Schädel ein, und der IS mischt dabei kräftig mit. Das alles wird präsentiert als eine „Lage“, mit der sich die EU herumschlagen muß. So ein Pech! Als ob die EU nicht schon mit sich selbst genug Probleme hätte, und dann noch dazu dieses Durcheinander in Libyen, was auch noch dazu „uns“ jede Menge Flüchtlinge verursacht.
In der ganzen Präsentation dieser „Lage“ fehlt auch nur das geringste Bewußtsein davon oder die geringste Erinnerung daran, wie dieses blutige Drama in Libyen durch diverse EU-Staaten und die USA verursacht worden ist. Damals wurde heftig Beifall geklatscht von den Medien, daß da endlich dieser blutrünstige Diktator beseitigt worden ist, mit dem bis dahin viele dieser Staaten gerne Geschäfte gemacht haben und von dem sich der französische Häuptling sogar seinen Wahlkampf finanzieren hat lassen, um dann an vorderster Front bei dessen Wegräumen dabei zu sein.
Dann kommen noch so geschätzte Regierungen ins Bild, wie die der Türkei, wo Kritiker weggeräumt, Journalisten eingesperrt oder verprügelt werden und ein ziemlich leichenträchtiger Kampf gegen die Kurden geführt wird. Das ist kein „Regime“ wie das bitterböse von Baschar Al Assad. Wo ist eigentlich das Geschrei wegen Beschränkung der Meinungsfreiheit und Unterdrückung der Minderheiten, das immer sofort ertönt, wenn die Politik hierzulande irgendwo Feinde ausfindig macht? Aber unsere Hurensöhne, ja klar, die dürfen alles.
Weiters gibt es noch einen Staat wie Saudi Arabien, wo überhaupt alles geschieht, was die menschenrechtsbeflissene Öffentlichkeit woanders überhaupt nicht leiden kann. Aber dort, bei unseren lieben Freunden, auf deren Kohle ja EU und USA total scharf sind, dort dürfen Ehebrecherinnen gesteinigt und Regimekritiker eingesperrt und ausgepeitscht werden. Das sind sozusagen einheimische Traditionen, ehrenwerte Gebräuche, und da darf man sich von außen keineswegs einmischen.
Und was ist in Syrien? Der grauenhafte Schlächter Assad, der ja nichts anderes im Sinn hat, als seine eigene Bevölkerung auszurotten, wird von den Russen unterstützt und hält sich an der Macht, wodurch die geschätzten „moderaten“ islamischen Rebellen in Bedrängnis geraten und womöglich den Kürzeren ziehen, was das ganze Gleichgewicht in der Region destabilisieren könnte!
Schauen wir einmal in die EU und vergessen wir nicht Bulgarien, wo die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt oder das Baltikum, wo es ähnlich ausschaut. In Ungarn sind diesen Winter über 200 Leute nach offiziellen Angaben erfroren. In anderen Ländern, wie Rumänien, Bulgarien oder der Ukraine werden darüber überhaupt keine Statistiken geführt. Stattdessen lesen wir hin und wieder, was „wir“ in der EU für einen Wohlstand haben.
Um das teilweise Informationsdefizit über Libyen, die Ukraine oder die EU selbst aufzufüllen, wird man als Medienkonsument mit anderen wichtigen Meldungen versorgt:
In Bangladesh (dem Land, wo das europäische Kapital jede Menge Sweatshops unterhält, die manchmal den dortigen ArbeiterInnen auf den Kopf fallen und/oder abbrennen) wurde ein Homosexuellen-Aktivist ermordet! Ja Sapperlot, was ist denn dort los?! Respektieren die die Menschenrechte nicht?
In Berg-Karabach (wissen die meisten Leser/Hörer überhaupt, wo das ist?) wird wieder herumgeschossen und ein paar Leute sind dabei hops gegangen.
Nachfragen, was dort eigentlich los ist und wie z.B. der türkische Geheimdienst als Scharfmacher unterwegs ist, wird der Hörer- und Leserschaft gnädigst erspart.
Ach ja, und in Libyen ist das Weltkulturerbe in Gefahr! Auf einmal wird man damit versorgt, was es dort eigentlich an Schätzen gibt. Als noch Ghaddafi auf seinem Thron saß, wußten wir gar nicht, was die Welt dort an – europäischem! – Erbe hat. Aber jetzt müssen sich die Verantwortlichen in Brüssel und anderen EU-Hauptstädten Sorgen machen um diese alten Gemäuer. Die „Zivilbevölkerung“, also die „unschuldigen Opfer“ der dort seit Jahren stattfindenden Kämpfe, figurieren unter ferner liefen, aber die Kultur! Ja, da geht es wirklich schlimm zu in Libyen!
In Afghanistan sind die Taliban wieder auf dem Vormarsch, auch der IS macht sich dort breit, ebenso wie im von Saudi Arabien monatelang bombardierten Jemen, aber das ist auch keine Meldung wert. Sogar die durch die Bomben großflächig ruinierte, seinerzeit hochgelobte Architektur des Jemen, die Kasbahs, interessieren die Zeitungsschmierer überhaupt nicht.
So schaut sie aus, unsere freie Presse und Meinungsfreiheit, auf die die europäische Hochkultur wirklich stolz sein kann. „Lügenpresse“, wie die Medien seit dem Ukraine-Konflikt genannt werden, ist gar nicht der angebrachte Ausdruck für diese Art von Berichterstattung, die mit einer Kombination von Scheinwerfer hin – Scheinwerfer weg – Verdrehungen und Lobhudeleien der eigenen Herrschaft den Hof macht.
Ein Raubritternest, dieses Europa, mit einem Haufen Hofgeschichtsschreiber.
Bad news
TERRORISMUSBEKÄMPFUNG
Anläßlich der Anschläge von Brüssel hört man einiges zu dem Thema: „Wie konnte es dazu kommen?!“ und die Erklärungsangebote sind beunruhigend: Es werden nämlich ausnahmslos Unterlassungen dingfest gemacht. Das, was geschehen ist, ist durch etwas entstanden, was nicht geschehen ist.
Das ist wissenschaftlich betrachtet Unsinn. Die Abwesenheit von etwas kann nie der Grund für etwas anderes sein. Was nicht ist, tut niemandem weh.
Diese Deutungen des Terrors sind aber gar nicht als Erklärungen der Wirklichkeit zu verstehen. Es sind vielmehr zukunftsweisende Absichtserklärungen, mit denen die politischen Akteure kundgeben, was sie zu tun gedenken, und die Medien fordern sie damit auf, das auch wirklich zu tun.
Eine dieser Verlautbarungen ist, die Integration sei gescheitert. Eine zweite lautet, die Überwachung hätte nicht hingehaut und daran anschließend, die Geheimdienste hätte versagt, unter anderem deshalb, weil sie nicht zusammenarbeiten.
„Integration“ „gescheitert“?
Was ist damit gemeint? Was ist eigentlich „Integration“? Ein ordentlicher Arbeitsplatz und damit ein gesichertes Einkommen, so der allgemeine Konsens. Und das hätten die Leute in der Banlieue, in Molenbeek, die Rioters in Großbritannien und die Jugendlichen in Griechenland vermutlich auch gerne. In der krisengeschüttelten EU mit 23 oder mehr Millionen Arbeitslosen, dazu jeder Menge working poor mit Sozialhilfezuschüssen usw. gibt es diese Arbeitsplätze allerdings nicht mehr. Gerade in Belgien, man erinnere sich, gab es 2014 große Proteste gegen die Betriebsschließungen in der Schwerindustrie und die Angriffe auf das Lohn- und Pensionsniveau – übrigens vergeblich. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, der Druck auf die noch Beschäftigten gewachsen.
Die berufliche Perspektivenlosigkeit kettet die jungen Leute an das Elternhaus oder treibt sie in die Kriminalität.
Der Begriff „Integration“ beinhaltet jedoch noch mehr. Er vermittelt den Eindruck, es läge nur an den Betroffenen selbst, sich zu integrieren, sich zu bemühen, Ausbildungen zu machen, miese Jobs anzunehmen, anständig zu bleiben, usw. usf. Bestenfalls werden noch Behörden angewiesen, ihnen dabei unter die Arme zu greifen und Hilfen für diese Integration anzubieten.
Dabei sind weder die Jugendlichen noch die Behörden diejenigen, die über den Arbeitsmarkt gebieten und Arbeitsplätze schaffen. Das kann nur das Kapital, und das hat in seiner inzwischen schrankenlosen Freiheit der Auswahl der Sphären und Standorte beschlossen, daß es einen guten Teil der europäischen Bevölkerung nicht benötigt.
Es ist also die Integration nicht „gescheitert“, sondern die Schaffung von überflüssiger Bevölkerung ist ein Ergebnis der Akkumulation des Kapitals, nicht der Abwesenheit von gutem Willen und Investitionen.
Kontrolle der Bevölkerung mangelhaft?
Hier schlagen sich alle möglichen Vertreter der nationalen Gewaltapparate der EU auf die Brust und seufzen „mea culpa“. Andere wiederum meinen, ihre Hausübungen bereits gemacht zu haben und auf dem richtigen Weg zu sein. Man müßte mehr Telefongespräche abhören, mehr Spitzel anwerben, mehr Verkehrskontrollen veranstalten, mehr Sicherheitskräfte einsetzen usw. Die Staaten sind aufgerufen, ihrerseits zu investieren, den ganzen Sicherheitsapparat aufzustocken, mehr Polizisten mit Waffen patrouillieren zu lassen, die Grenzen besser zu überwachen – Schengen ade! – und die Gesetzeslage dahingehend zu verändern, daß sich die Polizei und Justiz von allen falschen Rücksichten gegenüber den Untertanen möglichst entfesseln. Dabei können sie auf Medien zählen, die diese Aufhebung der bürgerlichen Rechte begrüßen und beklatschen.
Man erinnere sich, daß in Frankreich seit Monaten der Ausnahmezustand herrscht. In dem Land, das seinerzeit die Deklaration der Menschenrechte verabschiedete, können heute Leute ohne richterlichen Befehl verhaftet und Hausdurchsuchungen vorgenommen werden, Versammlungen verboten und Leute recht lange ohne Anklage in Haft gehalten werden. Ähnliche Entwicklungen sind in ganz Europa zu erwarten, ähnlich wie in den USA durch dem Erlaß der Antiterrorgesetze nach 9/11.
Das totalitäre Ideal, den Menschen ins Hirnkastl hineinschauen und dadurch alle strafbaren Handlungen bereits im Vorfeld unterbinden zu können, wird hier wieder einmal gepäppelt. Ein Ideal bleibt es allemal, und den Terror damit zu bekämpfen, ist unmöglich: Staaten, wo ein Teil der Bevölkerung hauptberuflich damit beschäftigt ist, den anderen zu überwachen, können auf Dauer nicht bestehen – die Demokratie, und das war ihr Erfolgsmodell, beruht auf dem Konsens der Bürger, nicht auf ihrer Kontrolle.
Bei all diesen Verfahrensformen und Aussagen, und auch beim lockeren Umgang mit Asylrecht und Flüchtlingen, der schon die UNO als Kritiker auf den Plan gerufen hat, zeigt sich auch noch ein weiteres wichtiges Moment der Demokratie: sie ist eine Staatsform, erfüllt sie ihren Zweck nicht mehr, so wird eben anders Staat gemacht.
Rückerinnerung: DSCHIHAD (25.8. 2014)