FORTSETZUNG DER DISKUSSION ZU DIESEM THEMA
Da sich auf der vorigen Pinnwand auch schon wieder über 200 Postings angesammelt haben und sich außerdem eine weltpolitische Wende zu diesem Thema abzeichnet, ist es angebracht, wieder ein neues Forum zu eröffnen.
Kategorie: Imperialismus
Die Schatten der Vergangenheit?
GENOZID
Anläßlich des 100. Jahrestages der Deportationen der Armenier im Osmanischen Reich, aber auch wegen der im Rahmen der polnisch-russischen Spannungen wieder aufgelebten Debatte um Katyn ist der Begriff des Völkermords derzeit wieder in aller Munde. Die Gemüter erhitzen sich, diplomatische Noten werden ausgetauscht, Moralwachteln und Nationalisten beschuldigen einander der Geschichtslügen, und ergreifen den Anlaß, um ihrer Selbstgerechtigkeit und ihrem Rassismus wieder einmal freien Lauf zu lassen.
Bei diesem verbalen und schriftlichen Schlagabtausch wird so getan, als sei das Genozid eine erwiesene Tatsache, die von irgendwelchen Schuften geleugnet wird – wie manchmal unterstellt wird, sicher mit dem bösen Hintergedanken, schon den nächsten Völkermord zu planen. Die Genozidvorwürfe gehen daher mit dem entsprechenden Erdogan- und Putin-bashing einher.
Dabei ist das Genozid als juristischer Begriff einer der umstrittensten überhaupt.
1. Das Völkerrecht
Zum Unterschied vom innerstaatlichen Recht, wo ein Gewaltmonopol das Recht setzt und alle seine Bürger darauf verpflichtet, gibt es im Völkerrecht eine solche übergeordnete Instanz nicht. Hier stehen sich Gewaltmonopole gegenüber. Alle Fragen des Völkerrechts betreffen dadurch unmittelbar die Souveränität und werden daher von Regierungen und Verfassungsjuristen mit Vorbehalt behandelt: Man möchte sich dieses Instrumentes vielleicht gegenüber einem anderen Souverän bedienen, aber dabei verhindern, daß es gegen den eigenen Staat in Anschlag gebracht wird.
Aus diesem Umstand, daß sich auf dem Boden des internationalen Rechts feindliche Brüder, Konkurrenten um Weltmacht und Weltmarkt gegenübertreten, ergibt sich auch, daß das Völkerrecht ständig umgeschrieben werden und sich den jeweiligen Konstellationen anpassen muß. Sowohl auf dem Gebiet der Gesetzgebung, also des Abfassens von Tatbeständen und den dafür verhängten Strafen, als auch in der Rechtspflege gibt es da viel Anlaß für Streit und Reibungen.
So gibt es z.B. seit 2002 einen internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der von den USA nicht anerkannt wird. Verschiedene mit den USA verbündete Staaten haben bereits Erklärungen abgegeben, dorthin niemals US-Staatsbürger ausliefern zu wollen. Viele Menschenrechts-Fans betrachten das als Skandal und Mißachtung des Rechts durch die USA. Sie begreifen nicht, oder wollen nicht zur Kenntnis nehmen, daß nicht das Recht über der Macht steht, sondern umgekehrt, und daß es eben die Weltmacht ist, die die Normen setzt oder dies zumindest anstrebt.
2. Der historische Kontext, unter dem der Begriff „Genozid“ entstand
Der Mann, der das Genozid „schuf“, der jüdisch-polnische Jurist Raphael Lemkin, sollte 1943 im Auftrag der polnischen Exilregierung einen Begriff erfinden, oder einen Tatbestand definieren, mit dem die Verbrechen der deutschen und sowjetischen Besatzungstruppen in Polen angeklagt werden konnten.
Die Schwierigkeit, die er vor sich hatte, war zunächst, daß damals der II. Weltkrieg noch im Gange war, obwohl sich die Niederlage der Achsenmächte bereits abzeichnete. Das erste und Allerwichtigste war, den Krieg als solchen, der ja durchaus als Völkermord betrachtet werden kann, aus dieser Definition auszugrenzen. Der Krieg ist nämlich etwas, was sich jede Nation als wichtigstes und letztes Mittel der Durchsetzung bzw. Selbstbehauptung vorbehält, ihn als solches als Verbrechen zu qualifizieren, geht gegen die Grundlagen des Völkerrechts.
Lemkin wollte auch einen Tatbestand festlegen, nachdem folgende Ereignisse strafbar gemacht werden konnten:
1. der Völkermord an den Armeniern 1915 ff., der seit damals unter den Juristen, die sich mit internationalem Recht befaßten, eine ungelöste und ungesühnte Tat darstellten, einen historischen Präzedenzfall, der auch ihn selbst seit seiner Studienzeit beschäftigt hatte,
2. die Verbrechen der Nationalsozialisten an den europäischen Juden, deren Ausmaß damals, 1944, noch gar nicht abzusehen war, obwohl jedem klar war, daß das alles bisher auf diesem Gebiet Dagewesene sprengen würde, und
3. die Massaker des sowjetischen Geheimdienstes an polnischen Offizieren, von denen die polnische Exilregierung seit 1941 wußte, dabei aber bei den Westalliierten auf wenig Gegenliebe stieß, weil diese die Kriegskoalition gegen Hitlerdeutschland nicht gefährden wollten.
Diese drei Massenmorde oder Massenvernichtungen sollten also in diesen Begriff hineinpassen. Damit war zunächst einmal klar, daß die Zahl der Opfer nicht das Ausschlaggebende des Verbrechens sein konnte, da bei keinem der 3 Fälle die Anzahl auch nur annähernd bekannt war.
3. Der Begriff als solcher
Das Genozid als zu verfolgendes und zu bestrafendes Verbrechen ist mit dem deutschen Wort „Völkermord“ unzureichend wiedergegeben. Lemkin ging es darum, die betroffene Personengruppe so zu definieren, daß alle 3 oben beschriebenen Fälle hineinpaßten. Er wähle daher den griechischen Ausdruck „Genos“, das einen Stamm, auf jeden Fall eine Gruppe blutsverwandter Leute bezeichnet.
Hier war es wichtig, die Verfolgung aufgrund von politischer Gesinnung aus der Genozid-Definition auszuschließen – Kommunisten zu verfolgen und umzubringen, wie z.B. eine halbe Million in Indonesien, fällt nicht unter Genozid.
Interessanterweise war es gerade die Sowjetunion, die in den folgenden Jahren immer wieder darauf drang, politische Verfolgung zu keinem völkerrechtlichen Tatbestand zu machen. Die von der massenhaften Vernichtung betroffene Personengruppe mußte also die Charakteristiken aufweisen, die im Nachkriegs-Sprachgebrauch mit dem unappetitlichen Begriff „unschuldige Opfer“ zusammengefaßt wurden: Leute, die von sich aus garantiert keinen Anlaß gegeben hatten, Opfer von Verfolgung zu werden.
Dieser Genos-Begriff gibt immer wieder Schwierigkeiten auf, wenn es um die Frage geht, ob hier ein Genozid vorliegt oder nicht. Die Armenier, die im Osmanischen Reich als eigene Millet – eine bestimmte Autonomierechte genießende Glaubensgemeinschaft – anerkannt waren, fallen genaugenommen nicht unter den Genos-Begriff.
Noch problematischer ist die Angelegenheit bei den Opfern des Holocaust, die vom nationalsozialistischen Staat zu einem Volk definiert wurden, während sie in ihrem Selbstverständnis Angehörige der jeweiligen Nation waren, auf deren Staatsgebiet sie lebten, also Ungarn, Polen, usw. Es wird also bei der Anerkennung der Shoah als Genozid die Definition der Täter über das Selbstverständnis der Opfer gestellt.
Bei den polnischen Offizieren handelte es sich um Kriegsgefangene und Angehörige der Streitkräfte und Vertreter der Elite – das war der Grund, warum sie der Sowjetmacht im Wege standen, nicht bloß der Umstand, daß sie polnische Staatsbürger waren. Auch bei den Ermordeten von Srebrenica ist der Genos-Begriff fragwürdig: Die Muslime als staatsbildende Nation Jugoslawiens wurden in der Kardeljschen Verfassung von 1974 von einer Religionsgemeinschaft zu einer Nationalität umdefiniert, wo ähnlich wie bei den Juden im 3. Reich nur mehr die Abstammung, nicht die religiöse Überzeugung zählte.
Andere Gemetzel, wo der Genos-Begriff zu Recht in Anschlag gebracht werden könnte, wie bei diversen Massenvernichtungsaktionen im Zuge des Kolonialismus, werden nie in den Rang eines Genozids erhoben, weil sich kein Ankläger findet, der an einer solchen Art von Verurteilung interessiert wäre.
Ähnlich ist es mit dem 2. Teil des Wortes. Bei den alten Griechen wurde Lemkin offenbar nicht so richtig fündig – sie waren zu kleinstaatlich organisiert, um richtig klotzige Massenmorde hinzukriegen. Also wandte er sich dem Römischen Reich zu und klebte einen lateinischen Begriff an den griechischen an.
Mit dem bloßen Hinrichten und Abschlachten ist es hierbei aber auch nicht getan: Damit ein Genozid vorliegt, muß die Absicht nachgewiesen werden, die betroffene Personengruppe vernichten zu wollen. Liegt ein derartiger Beweis vor, so genügt das theoretisch bereits für ein Genozid-Urteil, auch wenn die Absicht gar nicht zur Durchführung gelangt ist. So ergibt sich das juristische Paradox, daß die wirklich konsumierten Genozide an afrikanischen und amerikanischen Eingeborenen nie zur Anklage gelangen, während Kriegshandlungen unter dem Gesichtspunkt eines Genozids untersucht und abgehandelt werden, weil sich ein Ankläger findet, der behauptet, diese Absicht hätte bestanden, wie im Fall von Bosnien.
4. Die Geschichte der Genozid-Anklagen und -Vorwürfe
Thematisch gehört das Genozid zu den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, die nicht verjähren und vor jedem Gericht der Welt angeklagt werden können. Wegen der politischen Implikationen in Sachen Verfolgung wurde es jedoch ausgegliedert und 1948 durch UNO-Resolution die Völkermord-Konvention erlassen, die seither von einer Reihe von Staaten ratifiziert wurde. Das Gedränge hielt sich in Grenzen. Die Schweiz z.B. ratifizierte sie erst im Jahr 2000. Die Zurückhaltung erklärt sich daraus, daß die meisten Staaten darin kein Mittel ihrer Außenpolitik entdeckten oder aber, wie die Türkei oder die Sowjetunion, als mögliche Täter ins Visier genommen wurden, was ihr Begeisterung für diese völkerrechtliche Keule dämpfte.
In den Nürnberger Prozessen kam der Genozid-Anklagepunkt nicht zum Einsatz – die Urteile wurden auf Grundlage der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verhängt. Das war deshalb, weil sich die Debatten um den Genozidbegriff hinzogen und er deshalb dem Gericht nicht als Instrument zu Verfügung stand.
Während des Kalten Krieges führte der Begriff in juristischen Fachzeitschriften und UNO-Kommissionen ein Schattendasein. Erst in den 90-er Jahren, nach dem Abgang der SU erwachte er zu Leben und ist inzwischen eine regulärer Bestandteil der Außenpolitik vieler Staaten geworden. Die EU machte die Anerkennung des Armenier-Völkermords durch die Türkei zur Bedingung eines EU-Beitritts. Die bosnische Regierung möchte den Genozid-Begriff für einen Staatsgründungs-Mythos instrumentalisieren. In der Ukraine dient der „Hungermord“, der Holodomor, zur Begründung einer antirussischen Politik.
5. Die politische Bedeutung des Genozid-Begriffs
Man muß begreifen, was der Genozid-Vorwurf gegenüber einem Staat bedeutet: Damit wird er bezichtigt, sein Gewaltmonopol mißbraucht und damit seine Legitimation eingebüßt zu haben. Auch wenn es eine Vorgängerregierung war, die dieses Verbrechens bezichtigt wird, so bleibt aufgrund der ebenfalls völkerrechtlichen Rechtskontinuität doch das meiste an der gegenwärtigen hängen: Ein Staat, dem Völkermord vorgeworfen wird, wird zu einem Unrechtsstaat erklärt. Bei aller Vergangenheitsbewältigung und Auschwitz-Gedenkfeiern usw. hat Deutschland nie eine offizielle Erklärung über den Völkermord an den Juden abgegeben – das, was jetzt von der Türkei in Bezug auf die Armenier verlangt wird.
Es kommt den EU-Staaten gelegen, daß sich die Armenier-Massaker dieses Jahr zum hundertsten Mal jähren. Der Grund für die jetzige Verurteilung der Türkei ist diese runde Zahl jedoch nicht.
Die Türkei ist der EU schon seit einiger Zeit ein einziges Ärgernis: Ihre Regierung läßt nämlich durchblicken, daß sie nicht vorhat, sich zum Hinterhof der EU zu machen, und daß sie auch ohne EU-Beitritt gut leben kann. Auch mit den USA hat sie sich angelegt: Sie schert aus der antirussischen Politik des Westens aus und schließt sich den Sanktionen gegen Rußland nicht an, sondern bietet ihnen sogar Unterschlupf für Pipeline-Projekte. Sie unterstützt den IS.
Und was alle besonders ärgert: Die türkische Regierung kann sich diese Haltung leisten. Sie ist nicht erpreßbar, weil sie durch ihre Lage ein viel zu wichtiger Vorposten der NATO ist, um sie Sanktionen oder einer Blockade zu unterwerfen, die sie womöglich endgültig aus dem westlichen Lager abdriften lassen würden.
Also muß sich die westliche Wertegemeinschaft zähneknirschend mit etwas Genozid-Getöse zufriedengeben.
„Tragödien“ im Mittelmeer
ÜBER DIE UNBEWOHNBARKEIT DER WELT
Nachdem sich sowohl die Zahlen derer, die es nach Europa schaffen, als auch die derjenigen, denen es nicht gelingt ständig erhöhen, ist es doch einmal angebracht, nachzufragen, warum mehr und mehr Menschen die höchst gefährliche Reise nach Europa unter allen Umständen unternehmen.
Rekapitulieren wir doch einmal, wie es überhaupt zu diesen Flüchtlingsströmen kommt.
I. AFRIKA
1. Afrika war auch zur Zeit des Kalten Krieges ein vielerorts ungemütlicher Ort. Die postkolonialen Abtransport-Praktiken von Rohstoffen und Agrarprodukten, in Abkommen wie denen von Lomé (Stabex und Minex) und weiteren, bilateralen Verhandlungen festgeschrieben und immer neu verhandelt, beraubten viele Menschen ihrer Existenzgrundlage. In der Landwirtschaft rissen sich Konzerne die fruchtbaren Gegenden unter den Nagel und trieben die mittels Subsistenzwirtschaft existierenden Einheimischen in die Steppen und Halbwüsten, was das Entstehen weiterer unfruchtbarer Gegenden, wie in der Sahelzone begünstigte. Im Bergbau wurden ebenfalls entweder bestehende primitive Abbaumethoden zugunsten maschineller, industrieller verdrängt, oft mit Polizei und Paramilitärs, was die bisherigen Bergarbeiter entweder zu um einen Hungerlohn schuftenden Lohnarbeitern degradierte, oder gleich vom Standort vertrieb. Oder es wurden dort ansässige Landbewohner zugunsten eines Bergbauprojektes vertrieben.
Das alles war zwar unerfreulich für die Menschen vor Ort, führte aber nicht zu großen Flüchtlingsströmen. Die Betroffenen flüchteten innerhalb Afrikas, verhungerten oder wurden niedergemetzelt.
2. Ein weiteres Datum für die Bewohner Afrikas war das Ende des Kalten Krieges. Verschiedene der dortigen Regierungen wurden bis 1990 mittels Militär- und Entwicklungshilfe finanziell unterstützt, um sie als Verbündete des Westens zu erhalten. Das ließen sich vor allem die USA einiges kosten. Es fand so eine eigenartige Art von Arbeitsteilung zwischen den USA und verschiedenen europäischen Staaten statt: Die Amis zahlten einen Haufen Geld, und die Europäer schleppten ab, was es an Rohstoffen und Agrarprodukten zu holen gab.
3. Mit dem Ende des Kalten Krieges gab es auf einmal eine neue Situation: es war nicht mehr nötig, dort irgendwelche Regimes aufrechtzuerhalten, da es keine Konkurrenz mehr gab. Die Alimentierung des südafrikanischen Apartheid-Regimes wurde überflüssig, da die sowjetisch-kubanisch gestützten Regierungen der Nachbarstaaten notgedrungen einlenken und mit den USA und Europa ihren Frieden machen mußten. Der ANC kam dort an die Macht, die er inzwischen – sehr autochton – gegen streikende Arbeiter einsetzt.
Die paar Staaten, die mit der SU verbündet waren, gingen ebenfalls ihrer Unterstützung verlustig. In Äthiopien wurde Mengistu gestürzt.
Afrika verbilligte sich für die imperialistischen Staaten. Und das Wettrennen um Rohstoffe beschleunigte sich. Die Küsten wurden verpachtet und die dortigen Fischer verloren ihre Existenzgrundlage.
Das erste Land, das darüber vollständig kippte, war Somalia – der erste so richtig anerkannte „failed state“. Interventionen der USA in den 90-er Jahren scheiterten. Somalia dümpelt weiterhin als Krisenfall vor sich hin. Gegen die Überlebensversuche der dortigen Bevölkerung mittels Piraterie (Somalia kontrolliert wie der Jemen die Einfahrt in den Suezkanal) wurden internationale Flottengeschwader in die Gegend geschickt.
4. Ruanda, Burundi, Nigeria, der Kongo, Uganda, Liberia, Sierra Leone – die meisten Menschen hierzulande wissen weder, wo diese Staaten sich befinden, noch was dort geschieht. Wir werden sporadisch informiert über Bürgerkriege, Warlords – die dann medienwirksam gesucht werden, selbstverständlich ohne Erfolg –, dazu noch ein Dokumentarfilm über den Victoriasee, usw.
Dann gibt es noch Hungerkatastrophen, wo man zu Spenden aufgerufen wird – was natürlich nie zu einer gründlicheren Untersuchung oder auch nur Nachfrage darüber führt, wie es eigentlich dazu kommt. Meistens heißt es, das Wetter war schlecht, Heuschrecken sind eingefallen, und die Leute dort machen einfach zu viele Kinder. Dann wird wieder gegen den Sudan und seine „islamistische“ Regierung Stimmung gemacht, ein Stück von dem Land wird abgetrennt – man weiß gar nicht, warum? – und dann liest man irgendwo, daß es darüber Unfrieden gibt.
Als nächstes gibt es Terroristen in der Sahara, von denen verübte „Greueltaten“, und dann muß Frankreich intervenieren, um dort Ordnung zu schaffen.
Alle diese verstreuten Informationen, die hin und wieder in unser Bewußtsein einsickern und ein angenehmes Gruseln über diesen Kontinent verursachen, – primitiv, sexbesessen, keine Demokratie, Stammeskriege, Vodoo – sind Ausdruck des Umstandes, daß in vielen Gegenden Afrikas das Leben bzw. Überleben unmöglich geworden ist.
II. DER NAHE UND MITTLERE OSTEN
Auch in diesen Weltgegenden hat sich einiges abgespielt. Afghanistan wurde zum Szenario des Showdowns zwischen den USA und der SU. Die USA wollten der SU ihr Vietnam verursachen. Das ist auch gründlich gelungen, Afghanistan wurde in diesem Konflikt noch mehr ruiniert als Vietnam, und seit mehr als 30 Jahren herrscht dort Krieg.
Dann wurde der Irak gründlich zerstört, nach der damals vorherrschenden USA-Außenpolitik-Doktrin: Wo immer uns wer nicht paßt, reiten wir dort ein und schaffen Tsching-Bumm-Krach! Ordnung. Damit wurde ein zwar diktatorisch regierter, aber ökonomisch halbwegs funktionierender Staat in Stücke geschlagen, wo die Bewohner nicht nur täglich um ihr Leben fürchten müssen, aber auch nebenbei die Landwirtschaft, die Wasser- und Stromversorgung ziemlich kaputt ist.
Inzwischen sind dort mehrere kriegerische Einheiten entstanden, die mit recht modernem Waffenarsenal nichts anderes im Sinn haben, als – unter völliger Zerstörung aller Mittel des jeweiligen Gegners – das Territorium unter sich aufzuteilen.
Dazu kommen zwei flächendeckende Bombardements Israels gegen Gaza – 2008 und 2014 – die dieses Palästinenser-Ghetto recht gründlich in Schutt und Asche gelegt haben.
Als weiterer Mosaikstein in der Zerstörung des Nahen Ostens sei der eigentlich ohne besonderen Grund vom Zaun gebrochene Krieg Israels gegen den Libanon erwähnt. Schwups, auf einmal bombardierte die israelische Armee den Libanon und ruinierte dessen gesamte Infrastruktur – und damit auch Ökonomie – weitaus gründlicher als der jahrelange Bürgerkrieg im Libanon.
Bei diesen Kriegen fragte die europäische Öffentlichkeit nie ernsthaft nach: ja he, was ist denn da los?
Dann kam der „arabische Frühling“. Unzufriedene aller Art strömten auf Straßen und Plätze und forderten Freedom and Democracy. Die guten Leute hatten nicht mitbekommen, daß beides bei ihnen längst angekommen war, nur in anderer Form als erwartet. Von der demokratischen Öffentlichkeit in Europa wurden sie beglückwünscht und mit jeder Menge Komplimenten über die Fortschrittlichkeit ihrer Ideen überschüttet.
Inzwischen wären die meisten Bewohner der betroffenen Länder froh, wenn sie ihre Diktatoren und die von ihnen eingerichteten halbwegs geordneten Zustände wieder zurück hätten.
Und so begann ein Exodus in kriegsfreie Gebiete, und in Gegenden, die im Ruf stehen, dort könnte man halbwegs gesichert existieren.
Man weiß ja nicht, was in den Staaten Schwarzafrikas für Gerüchte über den Wohlstand in Europa kursieren, aber eines sehen die Leute vor Ort doch im Fernsehen: jeder scheint dort im Norden – im Unterschied zu ihnen – zumindest irgendwie sein Auskommen zu haben.
Und die Anzahl der Auswanderungswilligen, die jedes Risiko auf sich nehmen, um nach Europa zu gelangen, wächst mit der Anzahl der Kriege, Konflikte, „Natur“katastrophen und Ähnlichem von Jahr zu Jahr.
III: FRONTEX
Die europäischen Politiker haben hier ein Problem, das von Marx mit der Bezeichnung „relative Überbevölkerung“ charakterisiert worden ist, relativ nämlich zu den Bedürfnissen des Kapitals. Während in den 60-er Jahren das Kapital mancher europäischer Staaten nicht genug Arbeitskräfte vorfand und deren Regierungen deshalb aus Südeuropa und der Türkei Gastarbeiter anwarben, ist heute eine ständig anwachsende Zahl überflüssiger Bevölkerung zu verzeichnen, die den Sozialstaat belastet und Anlaß für Publikumsbeschimpfung a la Sarrazin bietet. Und dann steht da an den Toren der Festung Europa – die ja im Inneren sehr viel von Freizügigkeit hält, ein Menschenrecht sozusagen – noch jede Menge Habenichtse aus zwei anderen Kontinenten, mit fremder Kultur, Sprache und Religion!
Nie gab es einen Moment lang die Überlegung von führenden Politikern, vielleicht einmal die eigene Politik gegenüber afrikanischen Staaten zu überdenken, statt Bomben, Soldaten und Militärhilfe vielleicht wieder etwas mehr an Infrastruktur und Bildung zu finanzieren, den USA bei kriegerischen Konflikten die Gefolgschaft aufzukündigen, auf Israel Druck auszuüben, damit es sich mit den Palästinensern einigt, anstatt sie dauernd wegbomben zu wollen, usw. Nein, die EU-Staaten wollen mitreden und möglichst auch mit dabei sein, wenn irgendeinem Staat oder einer Regierung wieder einmal klar gemacht werden soll, wessen Befehle sie gefälligst entgegenzunehmen habe.
Gegen den Ansturm der Flüchtlinge errichtete Spanien meterhohe, mit Stacheldraht umwickelte Zäune um die Enklaven Ceuta und Melilla. Und die EU richtete eine eigene Abwehrbehörde gegen Immigranten ein, die Frontex. Mit der für die EU-Außenpolitik typischen Mischung aus Rücksichtslosigkeit, Dreistigkeit und Schönfärberei soll sie die EU-Außengrenzen „sichern“. Die mittellosen Flüchtlinge werden damit von vornherein zu einer Gefahr erklärt, vor der man die braven EU-Bürger schützen muß. Nur so viel zum spezifischen EU-Rassismus, der von ganz oben kommt und nicht aus der angeblich so rückständigen Bevölkerung, wie manche Ausländerfreunde beklagen.
Für die Tätigkeit von Frontex ist nichts zu teuer, während bei Asylbetreuung und Sozialhilfe geknausert wird. Sowohl personalmäßig als auch ausrüstungsmäßig ist Frontex bestens ausgestattet und auch relativ erfolgreich. Durch Verträge mit den Staaten, von denen die Flüchtlinge starten könnten, wie Marokko, Tunesien oder dem Libanon, und Überwachung der Küste zu Wasser und zu Land, ist es gelungen, den Strom der Bootsflüchtlinge auf die Kanarischen Inseln und nach Andalusien zu stoppen. Es ist beinahe unmöglich, obwohl es das nächstliegende wäre, von Syrien nach Zypern zu kommen – Zypern ist abgeriegelt. Es gibt eine italienische Insel in der Nähe der tunesischen Küste, Pantelleria, die ebenfalls nie angesteuert wird, da Frontex Tunesien fest in der Hand hat. An der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland wurde eine Mauer errichtet. (Erinnern wir uns noch an den Fall der Berliner Mauer? Keine Mauern mehr in Europa … ) Die Türkei stellt sich allerdings ein wenig als Problem dar, weil sie weder bereit ist, sich zum Büttel der EU zu machen, noch für Frontex auf Souveränität zu verzichten, damit sich deren Abwehr-Bande an der türkischen Küste breitmachen kann. Also schafft es auch hin und wieder ein Schiff bzw. Boot aus der Türkei – ausgerechnet nach Griechenland, wo sich ja ein wachsender Teil der eigenen Bevölkerung nur mit öffentlichen Suppenküchen weiterbringt.
Das einzige Land jedoch, das sich als Loch in der Frontex-Kette weiterhin hält, ist Libyen.
Auch hier erinnere man sich zurück: Berlusconi handelte für die EU seinerzeit mit Ghaddafi aus, daß die libyschen Behörden und Polizisten den Flüchtlingen die Überfahrt verunmöglichten. Die libysche Regierung setzte diese in eigenen, sehr ungemütlichen Lagern fest, wenn sie nicht von ihrem Unterfangen Abstand nehmen wollten. Ihnen wurden allerdings auch Jobs in Libyen angeboten, wenn sie dort bleiben wollten.
Das verringerte deutlich die Attraktivität der Trans-Sahara-Route für diejenigen, die nach Europa strebten, und Libyens Küste war für Flüchtlinge gesperrt. Die libysche Gesellschaft war damals auch zu gut überwacht, als daß sich ein Schlepperwesen etablieren hätte können.
Heute ist Libyens Ökonomie am Boden, Milizen bekämpfen einander und zerstören dabei das, was die NATO-Bombardements stehengelassen haben, es gibt weder Regierung noch Polizei, die Existenzgrundlage des Großteils der Bevölkerung ist zerstört, und die Flüchtlinge sind eine der wenigen Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Also strömen erstens die meisten Flüchtlinge nach Libyen, und dort gibt es zweitens genug Leute, die dafür sorgen, daß sich immer ein Schiff findet, von dem aus sie nach Lampedusa, Sizilien oder Malta starten können.
Die EU ist ratlos. Reinlassen will man die alle überhaupt nicht, aber jede Woche Hunderte absaufen zu lassen, hat eine schiefe Optik, und Italien und Malta wollen das auch nicht, weil diese ständige Wasserleichenverwaltung an ihrem Image kratzt und dem Tourismus schadet. Jedes Schiff, dessen menschliche Fracht gerettet wird, bestärkt jedoch diejenigen, die nach Libyen unterwegs sind oder von dort starten, wirkt also ermunternd.
Die Vorschläge mancher EU-Politiker zeugen von dieser Ratlosigkeit. „Auffangzentren“ sollen in Nordafrika errichtet werden. Gefängnisse, die bald voll sein werden, und deren Insassen durchgefüttert werden müssen, mit EU-Geldern? Es ist klar, daß diese Variante nichts bringen würde – es sei denn, man richtet die Flüchtlinge gleich an Ort und Stelle hin, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen.
Da ist es aber ein geringerer Aufwand, sie gleich ertrinken zu lassen.
Der spanische Außenminister schlägt vor, alle in den libyschen Häfen liegenden Schiffe zu zerstören und Libyen eine Regierung zu verpassen.
So etwas käme, wenn man damit ernst machen wollte, einer Besatzung Libyens auf unbestimmte Zeit gleich. Europa könnte sich dort sozusagen sein eigenes Afghanistan einrichten, mit allen Konsequenzen. Das wäre zwar in der Logik der EU durchaus vertretbar, wird aber sicherlich daran scheitern, daß niemand von den Mitgliedsstaaten dabei sein will, wenn es an die praktische Umsetzung geht.
Rückerinnerung an den Sturz Gaddafis:
Die Zerstörung Libyens (29.9. 2011)
Die Abschlachtung Gaddafis (28.10. 2011)