EIN FASS OHNE BODEN?
Kurz nach dem Triumphgeschrei der Medien über den Sturz der Regierung Janukowitsch und der Einsetzung der neuen Hampelmänner, die jetzt als „Regierung“ gehandelt werden, obwohl sie diesen Namen nicht verdienen, machte die Botschaft, die Ukraine sei praktisch pleite, die Runde. Sie benötige dringend einen IWF-Kredit, um ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können.
Sofort drängen sich Fragen auf: Bei wem sind diese Zahlungsverpflichtungen aufgelaufen? Wer sind die Gläubiger der Ukraine? Wann, wie ist diese Schuld entstanden?
Man hörte dann nicht mehr viel von dem Thema.
Der IWF gewährte der Ukraine angeblich seit 1994 Kredite. Über diejenigen der 90er Jahre findet man wenig Information. Dennoch war ihre Gewährung an die „Politik des knappen Geldes“ gebunden und hatte zur Folge, daß in vielen Sektoren der Ökonomie und der Beamtenschaft jahrelang keine Gehälter gezahlt wurden, bevorzugtermaßen in den russischsprachigen Gebieten der Ukraine, wo die Identifikation mit der Regierung in Kiew von Anfang an gering bzw. inexistent war.
Ein Streik der Bergleute im Donbass 1996 für die Zahlung der ausstehenden Löhne wurde unter dem Ministerpräsidenten Lasarenko zu einem Akt des Landesverrates erklärt und durch Militäreinsatz beendet. Ebendieser Pawlo Lasarenko floh schließlich in die USA, wo er wegen Korruption und Geldwäsche zu einigen Jahren Haft verurteilt wurde. Vermutlich stehen die Vorwürfe gegen Lasarenko im Zusammenhang mit erhaltenen Krediten, die in private Taschen wanderten – ob vom IWF oder anderen Institutionen, weiß man nicht.
Überhaupt umgibt die gesamte Staatsschuld der Ukraine der Flair eines Mysteriums. Weder ihre Höhe noch ihre Herkunft ist bekannt. Generell läßt sich sagen, und das mußte auch der IWF erfahren, daß die Gelder weder widmungsgemäß verwendet, noch die Bedingungen der Vergabe eingehalten werden. Das hat mit der zerstörerischen Wirkung dieser Bedingungen sowie mit rasch wechselnden Koalitionen und Rotationen von Ministern zu tun – die jeweils nur kurzfristig tätigen Amtsinhaber sahen sich an die Verträge, die ihre Vorgänger unterschrieben hatten, nicht gebunden. Besonders augenfällig war das beim IWF-Kredit von 2008:
„2008 gewährte der IWF eine Kreditlinie über 17 Milliarden Dollar und setzte Bedingungen: Freigabe des Kurses der Landeswährung Hrywnja, Streichung von Staatsausgaben und eine Anhebung der inländischen Gaspreise. Das IWF-Geld floss, doch das Reformprogramm »lief rasch aus der Spur«, so ein IWF-Bericht. Kaum eine seiner Forderungen wurde erfüllt. Denn sie waren unpopulär: Die Freigabe der Hrywnja hätte eine deutliche Abwertung der Währung bedeutet. Importe würden dadurch teurer. Zudem hatten viele Ukrainer Kredite in Auslandswährung aufgenommen, deren Rückzahlung mit der Abwertung viel teurer würde.“ (Frankfurter Rundschau, 9.3.)
Damals waren noch die inzwischen zerstrittenen Lichtgestalten Timoschenko und Juschtschenko, die durch die „Orange Revolution“ an die Macht gekommen waren, im Amt. Die IWF-Verhandler hofften offenbar, bei einer solchen prowestlichen Führung endlich Vertragssicherheit zu haben. Aber das Gegenteil war der Fall. Zögerliche Versuche, die IWF-Bedingungen umzusetzen, hatten den Abgang beider von der politischen Bühne zur Folge, und die an die Macht gekommene Partei der Regionen sah sich an das Verelendungsprogramm, das der IWF verordnet hatte, nicht gebunden.
Jedenfalls beginnt mit dem IWF-Kredit von 2008 – nach den offiziellen Zahlen – eine rasante Verschuldung der Ukraine, weil ihr dieser Kredit die Tore zu den Finanzmärkten öffnete. Von 6,3 Milliarden € im Jahr 2007 stieg sie bis 2013 auf 43,7 Mrd. €.
Der Versuch, einen neuerlichen IWF-Kredit auszuhandeln, und die Bedingungen, die er enthielt, sollen nach Aussage des damaligen Ministerpräsidenten Mykola Azarow der letzte Tropfen gewesen sein, der das Faß zum Überlaufen brachte und die Regierung bewog, sowohl die Verhandlungen mit dem IWF abzubrechen, als auch von der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EU zurückzutreten. (New York Times, 22.11. 2013)
Die Pleite wurde inzwischen abgewendet und die Gläubiger, die mehrheitlich im Westen sitzen, können aufatmen:
„Der IWF will der Ukraine einen Kredit zwischen 14 und 18 Milliarden Dollar (rund 10 bis 13 Milliarden Euro) gewähren. Das teilte der Währungsfonds nach tagelangen Verhandlungen mit der Kiewer Regierung mit. Eigentlich hatte die Ukraine sogar auf bis zu 20 Milliarden Dollar gehofft. Der genaue Betrag werde festgelegt, wenn die ukrainischen Behörden ihre Bedürfnisse präzisiert hätten und geklärt sei, welche anderen Hilfen das Land bekommen werde, so der IWF. Im Gegenzug muss die Regierung in Kiew umfassende Wirtschaftsreformen im Land anpacken.“ (Tagesschau, 27.3.)
Es kann jedoch den Verhandlern von IWF und auch denen der EU nicht ganz entgangen sein, daß die derzeitigen Hampelmänner in Kiew sich nicht einmal in den Straßen Kiews Respekt verschaffen können, geschweige denn im Rest des Landes, und ihre Unterschrift unter irgendwelche Verträge daher nichts wert ist.
In diesem Zusammenhang ist folgende Meldung interessant:
„Goldreserven der Ukraine wurden in die USA transportiert. Das ukrainische Nachrichtenportal Iskra-News berichtet, dass die Goldreserven der Ukraine in die USA geflogen worden seien. Laut einem Augenzeugenbericht sei entsprechende Ware am Kiewer Flughafen Borispol auf eine Frachtmaschine verladen worden … Iskra-News erklärte zudem, dass man von einem leitenden Regierungsbeamten die Information erhalten habe, dass auf Befehl der »neuen Führung« in der Ukraine, alle Goldreserven des Landes in die USA geliefert worden seien. Die Goldreserven der Ukraine werden im jüngsten Bericht des World Gold Council mit 42,3 Tonnen beziffert. Das entspricht einem aktuellen Marktwert von 1,3 Milliarden Euro.“ (Goldreporter, 10.3.)
Soweit es ging, haben sich also die maßgeblichen Autoritäten die größtmögliche Sicherheit verschafft, bevor sie irgendwelche Zusagen gegeben haben. Der Goldschatz der Ukraine wurde eingesteckt, um westliche Gläubiger zu befriedigen. Es ist sogar wahrscheinlich, daß der IWF selber zu denjenigen Gläubigern gehört, deren Schuld unbedingt bedient werden mußte, um nicht seine Glaubwürdigkeit als Garant des Kredites einzubüßen. Mit einer Pleite der Ukraine hätte das ganze Weltwährungssystem gewackelt.
Auch wenn die ukrainische Pseudoregierung stürzt, es zu Bürgerkrieg kommen sollte, das Land geteilt wird, usw. – die Schuld wird bleiben:
„Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld. Daher ganz konsequent die moderne Doktrin, daß ein Volk um so reicher wird, je tiefer es sich verschuldet. Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. Und mit dem Entstehen der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der Treubruch an der Staatsschuld.“ (Karl Marx, Das Kapital I, 24. Kapitel, S 782-783)
Kategorie: Imperialismus
Präsidentschaftskandidaten in der Ukraine
DEMOKRATIE ALS KASPERLTHEATER
Die Ukraine hat derzeit, man erinnere sich, eine Regierung von Usurpatoren, die von einer Minderheit im Parlament mittels getürkter Abstimmung ins Amt gehievt wurde. Auf was für einer Grundlage diese Regierung eigentlich Verträge unterschreiben und Verfassungsänderungen vornehmen darf, ist unklar. Schon ihre Existenz und ihre Anerkennung durch die Weltmächte, die sonst – in Venezuela oder Argentinien – mit der Lupe nachschauen gehen, ob es auch demokratisch zugeht, ist eine deutliche Auskunft darüber, worum es bei dem ganzen Demokratie-Gesäusel eigentlich geht: eine stabile Herrschaft soll zustande kommen, die uns zu Diensten ist.
Was letzteres betrifft, so lassen die neuen Hampelmänner nichts anbrennen und bitten in vorauseilendem Gehorsam westliche Politiker, Geheimdienst-Agenten und Militärberater ins Land: Bitte kommt, kolonialisiert uns und beschützt uns vor den bösen Russen!
Aber was ersteres angeht, so hapert es. Diese ohnmächtigen Machthaber haben ihr Volk nicht wirklich im Griff, wie man täglich an Demonstrationen, Schießereien und Gebäude-Besetzungen sehen kann. Um dagegen Abhilfe zu schaffen, soll auf das altbewährte Mittel der Wahl zurückgegriffen werden. Wie es im Demokratie-Lehrbuch steht: die aufrechten und selbstbewußten Staatsbürger schreiten zu den Urnen und wählen sich eine Herrschaft, von der sie sich dann für die nächste Legislaturperiode alles gefallen lassen. Ob und wie das in der Ukraine funktionieren kann, wird sich erst noch erweisen.
Der Andrang ist, was man so liest, gewaltig: Bisher haben 46 Kandidaten ihr Interesse auf den Präsidentenposten angemeldet. Nur die Hälfte von ihnen wurde bisher auch registriert, vor allem, weil manche der Aspiranten das vorgeschriebene Pfand in der Höhe von zweieinhalb Millionen Hriwna (ca. 160.000 €) bisher nicht hinterlegen konnten.
Man erinnere sich an die ersten Wahlen in Polen nach der Wende: Damals zogen 17 oder mehr Parteien in den Sejm ein. Darauf ging in den westlichen Medien ein Geschrei und Gejammer los: Diese Polen haben da was mißverstanden! Pluralismus und Mehrparteiensystem heißt doch nicht: möglichst viele! Zwei Parteien, wie in Großbritannien, im Idealfall 3, um etwas Leben in die Bude zu bringen – das sorgt für stabile Verhältnisse! Aber doch nicht 20! Das ist ja das reinste Chaos, wie sollen da Gesetze erlassen und regiert werden?!
Die polnische Führung nahm sich diese Kritik zu Herzen, zog eine Wahlrechtsreform durch und erhöhte die Prozent-Schwelle für den Eintritt ins Parlament. Seither herrschen dort „normale“ Verhältnisse, mit im Durchschnitt 6 Parlamentsparteien.
Man fragt sich angesichts des Andrangs in der Ukraine, warum so viele Leute unbedingt dieses Land regieren wollen, das pleite und von Separatismus zerrissen ist, und gar nicht über ein Gewaltmonopol verfügt, mittels dessen regiert werden kann. Ein Arbeitsplatz auf 5 Jahre, mit der Option, sich die Taschen zu füllen und eine Villa zu bauen? – obwohl der Karriereknick des letzten Amtsinhabers deutlich zeigt, daß weder Villa noch Bankkonten eigentumsmäßig geschützt sind und auch von einer Arbeitsplatzgarantie keine Rede sein kann …
Unter den 46 Aspiranten finden sich unter anderem der Führer des „Rechten Sektors“, Dimitro Jarosch, der schon einmal übers Internet die Anhänger des Kaukasus-Emirats dazu aufgerufen hat, die Vorgänge in der Ukraine durch Steigerung der Attentate in Rußland zu unterstützen, und deshalb von Rußland auf die terroristische Fahndungsliste gesetzt wurde. Von Jarosch stammt auch die Drohung, gegebenenfalls Öl- und Gaspipelines zu sprengen, um den Gas-Transit nach Westeuropa zu unterbinden.
Die Anhänger des „Rechten Sektors“ befinden sich in offener und gewalttätiger Opposition zu der Regierung und würden am liebsten alle Institutionen – Medien, Gericht, Parlament – von allen Vertretern der bisherigen politischen Klasse säubern und mit ihren Leuten besetzen, damit ihrem Terror niemand mehr etwas entgegensetzen kann.
Ein weiterer Aspirant auf die Präsidentschaft der Ukraine ist Oleg Tjahnibok, der Führer der „Swoboda“-Partei. Eine der Forderungen im Programm der Partei ist die völlige Säuberung aller Institutionen von allen, die in der Sowjetzeit irgendwelche Posten innehatten. In verschiedenen westukrainischen Städten, wo die Swoboda stark ist, wurde die Kommunistische Partei verboten, die meisten ihrer Mitglieder sind abgehaut bzw. untergetaucht. Ein Sieg Tjahniboks würde also eine Hexenjagd im ganzen Land entfachen, von der niemand verschont bliebe, der irgendein Familienmitglied hat, das einmal verantwortungsvolle Posten in der sowjetischen Periode innehatte und/oder bei der KP war.
Außerdem schlägt die Swoboda zwei Arten von Staatsbürgerschaft vor, für solche, die „richtige“ Ukrainer sind, und solche, die als Einwohner des Landes gerade noch geduldet werden.
Man kann sich vorstellen, was losginge oder vielleicht – ohne Medien-Scheinwerfer – bereits geschieht, wenn Mitglieder des „Rechten Sektors“ und der „Swoboda“ sich bei solchen Säuberungsaktonen und ukrainischen Echtheits-Tests überbieten wollen.
Eine weitere Lichtgestalt im Getümmel der Präsidentschafts-Anwärter ist Julia Timoschenko, die lange Zeit als arme geschundene Kranke durch die europäischen Medien geisterte, eine Art bezopfte Unschuld vom Lande, der völlig zu Unrecht Preisabsprachen und Auftragsmorde in die Schuhe geschoben wurden. Seit dem Telefongespräch mit ihrem Parteigenossen, in dem sie ihr Programm kurz und bündig dargelegt hat – alle Rußland-Sympathisanten abmurksen oder vertreiben! – hat ihr Image etwas gelitten. (Das betreffende Gespräch wurde übrigens auf Russisch geführt.) In der Ukraine war sie schon bisher nicht besonders populär, aber inzwischen ist auch die westliche Pro-Timoschenko-Werbung stark zurückgegangen. Ähnlich wie der zu den Wahlen gar nicht erst angemeldete BRD-Hampelmann Klitschko wirkt sie als Trumpfkarte verbraucht.
Um die Versammlung dieser Figuren zu vervollkommnen, hat sich ein Maidan-Aktivist unter dem Star Wars-Pseudonym „Darth Vader“ angemeldet. Seine Kandidatur wurde von der Wahlkommission aus formellen Gründen – das Datum und der Ort der Parteigründung seien nicht eindeutig angegeben worden – zurückgewiesen. Darth Vader, der hin und wieder als Wahlwerbung Happenings mit Kostüm-Auftritten veranstaltet, will dagegen berufen. Er rechnet sich gute Chancen bei der Wahl aus, weil er aus Fernsehen und Filmen bekannt ist. Er will in der Ukraine das erste galaktische Imperium errichten und auch mit Außerirdischen diplomatische Kontakte unterhalten. Regiert soll über das Internet werden, das schließt Korruption aus und ist transparent. Man kann sich einen Haufen Staatsangestellte sparen, die sich eh nur die Taschen füllen wollen.
Zwischen dieser reichen Auswahl von Faschisten und Querulanten, Politikern und Wirtschaftstreibenden kristallisiert sich inzwischen der Oligarch Petro Poroschenko als Wunschkandidat der EU heraus, nachdem den EU-Politikern ihre anderen Hoffnungsträger abhanden gekommen sind.
Die Vorschrift der beträchtlichen Pfandsumme soll offenbar die Präsidentschaftskandidaten auf die bisherige Elite eingrenzen. Mit einigen Ausnahmen ist das bisher auch gelungen. Vorsitzende von mehr als 10 Parteien, allesamt mit Politik- und Parlamentserfahrung, ein Ex-Geheimdienstchef und ein paar Unternehmer, die sich Positionen für die nächsten Jahre sichern wollen, streben dieses hohe Amt an.
Poroschenko, der im Laufe der letzten 20 Jahre neben dem Aufbau- eines Süßwaren- und Medien-Imperiums der Politik gewidmet hat – das hängt in der Ukraine besonders eng zusammen – kann Erfahrung aufweisen: Er war bereits Nationalbankdirektor, Minister für Äußeres und Wirtschaft, Leiter des Auslandsgeheimdienstes, Abgeordneter, sowie Gründer bzw. Mitglied von 4 verschiedenen Parteien.
Sein Plan scheint zu sein, durch Eroberung des Präsidentensessels seine übrigen Oligarchen-Kollegen hinter sich zu lassen, sich also in der innerukrainischen Konkurrenz durchzusetzen. Irgend so etwas wird nötig sein, wenn die Konfrontation mit Rußland in die nächste Runde geht: Mehr als die Hälfte seiner Süßwaren wird bisher nach Rußland exportiert.
Vielleicht macht er die Wahl, indem er jedem Bürger, der ihn wählt, eine Tafel Schokolade verspricht.
Großmachtpolitik gegen harmlosen Handel und Wandel?
IST RUSSLAND IMPERIALISTISCH?
Und wie! – behaupten die einen und können sich gar nicht beruhigen über den unerhörten Bruch des Völkerrechts, der mit der Einverleibung der Krim stattgefunden haben soll.
Auf keinen Fall! – meinen die anderen. Rußland verteidigt nur seine Interessen und weist die wirklichen Imperialisten in ihre Schranken.
Begriffsklärung
Der Duden definiert Imperialismus als „Bestreben einer Großmacht, ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich immer weiter auszudehnen“.
Damit wäre das Phänomen auf Großmächte beschränkt. Aber erstens, ab wann ist ein Staat eine Großmacht? und zweitens: wie ist das überhaupt mit dem „politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich“ eines Staates? Ist der nicht jedem Staat zu klein? Ist es ein Privileg von Großmächten, diesen immer weiter ausdehnen zu wollen? Sind Kleinstaaten davor gefeit? Ab wieviel Einwohnern oder Quadratkilometern beginnt der Sündenfall?
Imperialismus kleinformatig
Nehmen wir doch einen Staat wie Österreich. Österreich hat seit der Wende einiges unternommen, um seinen „politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich“ über seine Grenzen hinaus auszudehnen.
So war es sehr aktiv in der Zerschlagung Jugoslawiens. Es benützte seine Medien, um alle Versuche, den Zerfall des Landes aufzuhalten, als Terror und Unterdrückung durch „die Serben“ zu brandmarken. Die österreichische Regierung, aber auch die in Opposition befindlichen Grünen unterstützten mit allen – durchaus auch materiellen – Mitteln die Unabhängigkeitsbestrebungen Kroatiens. Es war federführend in der Anerkennungspolitik der austrittswilligen Teilrepubliken. Das offizielle Österreich jubelte der NATO bei ihren Bombardements 1999 zu. Zu diesem Anlaß entdeckte die österreichische Politik den Freiheitsdrang der Albaner. (Später wurden die albanischen Flüchtlinge wieder abgeschoben.)
Mittels der österreichischen Banken erschloß sich Österreich die Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Die Bank, deren Pleite seit Jahren so viel Wirbel verursacht, war eine Speerspitze dieser nationalen Ambition.
Österreich beteiligt sich seit Jahrzehnten an den UNO-Missionen in Bosnien und dem Kosovo. Es unterhält, obgleich offiziell neutral, eine spezielle Eingreiftruppe für den Balkan. In Bosnien stellt die österreichische Diplomaten-Garde inzwischen schon den zweiten Hohen Repräsentanten in Bosnien.
Die Offensive der österreichischen Banken in die vormals sozialistischen Staaten tat ein weiteres, den „politischen … und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich“ weit über die Grenzen Österreichs hinaus auszudehnen.
Am besten zeigt sich dieses Bestreben an Ungarn.
Kaum war Ungarn am Rande der Zahlungsunfähigkeit und eine Regierung kam an die Macht, die den Verfall der Ökonomie und Gesellschaft irgendwie in den Griff bekommen wollte, so ging das Geschrei in Österreich los: „Unsere“ Banken werden zur Kasse gebeten, Skandal! „Unsere“ Unternehmen müssen Sondersteuern zahlen! „Unsere“ Landwirte werden enteignet!
Es war allen Politikern, Medienfritzen und braven Patrioten klar, daß Österreichs Interessen in Ungarn eigentlich sakrosankt zu sein hätten und jeder Versuch der Regierung eines anderen Staates, den Einfluß Österreichs zurückzudrängen, ein Affront und eine Unerhörtheit sei.
Diese Arten der Einflußnahme gelten aber denen, die jetzt gegen den Imperialismus Rußlands zu Felde ziehen, keineswegs als „Imperialismus“. Nein, das ist mehr oder weniger „Entwicklungshilfe“, mittels derer die Nachbarstaaten mit der Marktwirtschaft beglückt werden.
Imperialismus der nachrangigen Gewalten
Das „Bestreben …, ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich … auszudehnen“, findet sich auch bei denjenigen Staaten, die die Bühne des Weltmarktes und der Staatenkonkurrenz im Zuge der Entkolonialisierung betreten haben.
Diverse Staaten Lateinamerikas und Afrikas haben bis heute offene Grenzfragen mit ihren Nachbarstaaten. Das hat im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte schon zu einer Reihe von Kriegen geführt, bei denen mißliebige Regierungen vertrieben und andere, den aggressiven Nachbarn genehme eingesetzt wurden. Grenzen wurden verschoben, wichtige Häfen oder Bergbaugebiete waren Ziel des begehrlichen Blickes der dortigen Souveräne. Man erinnere sich an den Falkland-Krieg. Bis heute streiten sich Argentinien und Chile um Teile der Antarktis.
Nach der Wende 1989 erwachten in diversen ehemals sozialistischen Staaten alle möglichen als „Nationalismus“ und „Revanchismus“ gebrandmarkte Begierden, den „politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich … auszudehnen“, um so mehr bei solchen Staaten, denen gerade Teile ihres vormaligen Staatsgebietes abhanden gekommen waren.
Ungarn sieht seine ehemaligen Gebiete als Einflußgebiete, die es leider nicht annektieren kann, aber wo es unbedingt mitreden will – nicht erst seit Orbán. Polen mischte sich eine Zeitlang sehr kräftig in Weißrußland und der Ukraine ein. Usbekistan und Kirgisien sind sich überhaupt nicht grün über das Fergana-Tal, das beide gerne exklusiv beherrschen würden. Armenien gibt Berg-Karabach nicht an Aserbaidschan zurück. Usw. usf.
Für die braven Staatsbürger, die die „Völkerfamilie“ gerne als eine durchs Völkerrecht geregelte friedliche Ansammlung von „zivilisierten“ Gesellschaften sehen wollen, wo „Gewalt kein Mittel der Politik sein darf“, sind alle diese Vorkommnisse Verstöße gegen ihre schönen Prinzipien, gegen die gerne die wirklichen Welt- und Großmächte als Hüter der Weltordnung angerufen werden.
Dieser staatsbürgerliche Idealismus, der immer gerne Prinzipien gegen die Wirklichkeit in Anschlag bringt und Abweichungen bejammert, hat sich als eigenes Staatssystem einst eine Zeitlang etabliert.
Der Imperialismus der sozialistischen Staaten
wollte nie einer sein. Sie hielten sich an die andere Definition, den der Duden auch bereit hält. Laut der „marxistischen Wirtschaftstheorie“ ist nämlich „Imperialismus“ die „zwangsläufig eintretende Endstufe des Kapitalismus mit konzentrierten Industrie- und Bankmonopolen“.
Was Staaten machen, ist also gar nicht das Thema dieser hier etwas verkürzt wiedergegebenen Theorie, die – dies sei der Vollständigkeit halber erwähnt – nicht von Marx, sondern von Lenin stammt. Nach dieser Definition sind es nur Banken und Industrie, die „Imperialismus“ betreiben. Staaten sind unschuldige Macht-Hülsen, denen so etwas von selbst nie einfallen würde. Wenn sie es trotzdem tun, so nur deshalb, weil sie von „Monopolen“ dazu getrieben werden. Wo es also keine Banken und profitgierigen Unternehmer gibt, kann es also laut dieser Definition gar keinen „Imperialismus“ geben.
Die Sowjetunion betrieb von allem Anfang an Imperialismus in der ersten Definition: Sie bemühte sich, „ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflußbereich immer weiter auszudehnen“. Der Idee der Weltrevolution begab sie sich bereits 1922, nicht erst unter Stalin. Mit der Festlegung des „Sozialismus in einem Land“ strebte sie Anerkennung als Staat im Konzert der Nationen an. Sie definierte damit die kommunistischen Parteien anderer Länder zu Instrumenten der Außenpolitik der Sowjetunion.
Falls es dennoch zu Revolutionen in anderen Ländern kam, wie in Jugoslawien oder China, so führte das früher oder später zum Bruch mit der SU. Diese Staaten beharrten auf einem eigenen Weg und wurden selber imperialistisch, wie Jugoslawien mit der Blockfreien-Bewegung oder China mit seinem eigenen Weg der Unterstützung derer, die sich gegen das „Großmachtstreben“ der SU verwehrten.
Die SU bemühte sich, weltweit Verbündete zu schaffen, die der SU und nicht den USA und deren europäischen Verbündeten verpflichtet waren. Für die Außenpolitik bzw. den Imperialismus der SU war es gleichgültig, wie diese Staaten im Inneren verfaßt waren. Sie unterstützten im Interesse ihrer Bündnispolitik auch Mörderregimes wie dasjenige Saddam Husseins im Irak oder dasjenige Mengistus in Äthiopien. Ebenso unterstützte China im Versuch, seinen Einfluß über die Landesgrenzen hinaus auszudehnen, unter anderem die Roten Khmer in Kambodscha. Bis heute hält es aus geostrategischen bzw. imperialistischen Absichten heraus seine schützende Hand über Nordkorea.
Die Anhänger der SU jedoch beharrten darauf, daß die SU eine „Weltfriedensmacht“ und keineswegs aggressiv sei. Die verdeckten Interventionen – Lieferungen von Waffen und Militärberatern – wurden verschwiegen, die weniger verdeckten des CIA angeprangert. Die Parteilichkeit für „gute“ Staaten machte sie blind für die imperialistischen Handlungen ebendieser Staaten.
Diese Imperialismus-Definition geht ähnlich vor wie die aller guten Demokraten und Staats-Anhänger: Staaten sind an und für sich super-friedliche und gutwillige Institutionen, nur wenn Profit-Interessen bei der Einflußnahme auf andere Souveräne vorliegen, so wurde „Imperialismus“ verortet.
Imperialismus heute
Der Fall des Eisernen Vorhangs hat den Imperialismus entfesselt. Die Konkurrenz um die Eroberung von Einflußsphären ging jetzt so richtig los. Die USA als verbliebene Weltmacht Nr. 1 intervenierte rund um den Globus, um sich genehme Vasallen zu schaffen. Die EU versucht, im Windschatten der NATO zu expandieren, so gut sie kann. Die anderen Großmächte versuchen, durch Zusammenarbeit ihre Einflußsphären zu sichern und zu erweitern. Das betrifft nicht nur die Aufrüstung, sondern auch die Bündnis- und Währungspolitik. Rußlands Zollunion-Projekt oder der Versuch Chinas, ihre Währung zu einem Weltgeld zu machen, gehören genauso in die Rubrik „Imperialismus“ wie der Versuch der EU, die Ukraine mittels eines Assoziations-Abkommens in sich zu binden.
All das wird unter den Tisch gekehrt, wenn Rußland die Annexion der Krim als „Imperialismus“ vorgeworfen wird, während der von außen alimentierte Sturz einer gewählten Regierung in der Ukraine als „Volkswille“ und „Selbstbestimmung“ definiert wird.
Fazit
Rußland ist natürlich imperialistisch – genau so, wie die USA, die EU, deren Mitgliedsstaaten und der Rest der Welt es auch sind: Weil nämlich Staaten ohne Imperialismus nicht zu haben sind.