Pressespiegel El País, 15.5.: Großreinemachen in Israel

„ISRAEL NUTZT DIE KRISE IN GAZA, UM DIE KOLONISIERUNG DES WESTJORDANLANDES VORANZUTREIBEN

Antonio Pita, Korrespondent

Die Regierung erklärt seit den 1990er-Jahren eine Reihe von Hektar zu Staatsbesitz, während der rechtsextreme Finanzminister durch die Hintertür mehr als 60 Kolonien legalisiert und in den Hügeln 15 neue Kolonien entstehen.“

Einfache glatte Aneignungen – teilweise wirklich herrenlosen Landes, das von Beduinen als Weidegebiet genutzt wurde.
Die Siedlungspolitik Israels treibt hier eine ursprüngliche Akkumulation voran, die in vielen anderen Staaten vor Jahrhunderten über die Bühne gegangen ist, aber im Nahen Osten noch in verschiedenen arabischen Staaten aus Mangel an Kapital nicht stattgefunden hat.

„»Das jüdische Volk hat das ausschließliche und unbestreitbare Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller ihrer Teile fördern und entwickeln.« Dieser Satz – unter Verwendung des biblischen Konzepts, das zumindest das heutige Israel und Palästina umfasst – der in der Vereinbarung der von Premierminister Benjamin Netanyahu geführten Regierungskoalition vorkommt – nimmt heute, eineinhalb Jahre später, in diesen Wüstenregionen des Westjordanlandes verschiedene Formen an, in dem jeder unwirtliche Hektar zum Schlachtfeld einer Kolonisierung wird, die Israel stillschweigend beschleunigt hat, indem es den Lärm ausnutzt, der durch die Invasion in Gaza entsteht.“

„From the River to the Sea“ – der Schlachtruf der Palästinenser wird Tatsache, allerdings in umgekehrter Form …

„»Sehen Sie, das ist neu. Vor ein paar Wochen war es noch nicht da. Mit ihm sind es allein seit Oktober 14“, sagt Dror Etkes, der israelische Aktivist, der den Ausbau der Siedlungen am besten kennt, bei einem langen Rundgang durch die Gegend.
Seit Februar hat die Exekutive mehr als 1.097 Hektar zum Staatsgebiet erklärt (was den Bau oder Ausbau jüdischer Siedlungen dort erleichtert). Dieser Wert macht 2024 nun zu einem Rekordjahr seit den 90-er Jahren und ein Ende ist nicht abzusehen.

Die Zahlen zur Kolonisierung im Westjordanland bleiben seit Jahren unter Verschluß, aber das Schweigen“ (in Israel) „zum Gaza-Krieg und eine Regierung, in der religiöser Nationalismus – eng verbunden mit der Förderung von Siedlungen – eine Schlüsselrolle einnimmt, haben eine perfekte Mischung für ihren rasanten Aufschwung geschaffen. »Unser Recht auf das Land Israel ist in der Bibel verankert«, betonte Netanjahu, ein säkularer Jude, der in Form von Bibelbezügen zunehmend auf die religiöse Rechte verweist, an diesem Dienstag.“

Wie man es braucht. Notfalls kann man als säkulärer Politiker auch am Sabbat bombardieren, wenn „die Lage“ es erfordert, oder religiöse Juden zum Militärdienst verpflichten, aber an anderen Tagen ist die Heilige Schrift gerade recht.
Warum eigentlich die Bibel? Die ist doch christlich.
Gibt die Thora oder der Talmud am Ende nichts für das Staatsprogramm Israels her, wie manche strenggläubige Juden behaupten?

„Etkes selbst, der den Kolonisierungsfortschritt seit drei Jahrzehnten verfolgt und die NGO »Kerem Navot« (Nabots Weingarten) leitet, hat Schwierigkeiten, mit dem Tempo der Entwicklung Schritt zu halten.
Es kommt immer häufiger vor, dass man auf einer strategisch wichtigen Anhöhe eine Siedlung aus einigen Wohnwägen sieht. Sie werden heimlich von religiösen Ultranationalisten hingestellt, die zu sagen pflegen, dass sie außer der Bibel, in der Gott diese Ländereien dem jüdischen Volk gibt, kein Eigentumsdokument benötigen.“

Auch hier die Bibel, seltsam, seltsam.

„Diese Gruppen junger Menschen wissen heute drei Dinge: dass ihre Vertreter Teil der Regierung sind; dass ihre neue Kolonie überleben wird, auch wenn sie selbst gegen die israelische Gesetzgebung verstößt; und daß sie nur ausharren müssen.
Mini-Siedlungen erhalten häufig institutionellen (mehr oder weniger verdeckten) und privaten Schutz und Unterstützung. Heutige Trabantenstädte bestanden vor Jahrzehnten auch nur aus einer Handvoll Häusern.

Im Februar erklärte die Zivilverwaltung, die als Unterorganisation des Verteidigungsministeriums die laufenden Operationen der militärischen Besatzung verwaltet, 264 Hektar zwischen den Siedlungen Maale Adumim und Keidar östlich von Jerusalem zum Staatsland.
Einen Monat später fügte sie weitere 800 im Jordantal hinzu, zu denen noch einige Dutzend weitere hinzukamen. Um die Dimension zu verstehen: Die Gesamtfläche beträgt etwas weniger als die Hälfte aller zwischen 2018 und 2023 deklarierten Hektar (2.400).“

Wobei die deklarierten Hektar, siehe oben, offenbar nur die Spitze des Eisbergs der tatsächlich angeeigneten Fläche zu sein scheinen.

„Die Erklärung zu Staatsland basiert auf der interessensgeleiteten israelischen Interpretation eines Gesetzes aus dem 19. Jahrhundert, also zur osmanischen Zeit, für die Nutzung von (brachliegenden) Feldern.
Völkerrechtlich ist es für Israel als Besatzungsmacht illegal, Land für seine eigenen Ziele zu beschlagnahmen. Deshalb greift es auf das osmanische Gesetz zurück, um sich die Ländereien im Westjordanland anzueignen, die seit Jahren unbebaut bleiben.“

Unbebaut, nota bene, heißt nicht unbenutzt, aber da kommt eben das osmanische Gesetz zu Hilfe …

„Das kann geschehen, weil ihre Besitzer zu Flüchtlingen wurden, weil die Armee ihnen den Zugang zu ihnen verweigert, weil sie Angriffe von Siedlern fürchten …“

Ein Zweistufenplan, der die Privatgewalt der Siedler anstachelt: Erst vertreibt man die Leute, dann ist das Land unbenutzt, und dann läßt es sich beschlagnahmen …

„Die Regierung von Isaac Rabin stoppte die Enteignungen 1992, als sie über das Oslo-Abkommen verhandelten, und Netanjahu nahm sie im selben Jahrzehnt, in seiner ersten Amtszeit wieder auf. Dank dieser rechtlichen Auslegung hat Israel nach Angaben von Peace Now, der wichtigsten pazifistischen NGO des Landes, 16% des Westjordanlands zu Staatseigentum erklärt, – seit seiner Einnahme im Sechs-Tage-Krieg von 1967 unter militärischer Besatzung.“

Da ist ja noch viel Luft nach oben … Es fehlen noch 84%!

„Verlassene Städte

Ein langes schwarzes Rohr beginnt an einer Militärbasis. Er erreicht die Siedlung Malajei Hashalom, die es mit Wasser versorgt, obwohl dies theoretisch verboten, weil nach den Gesetzen Israels illegal ist.
Direkt in bzw. auf den Ruinen von Ein Ar Rashash, einem Beduinendorf, dessen Bewohner es aus Angst vor Angriffen von Siedlern verließen, ist eine Siedlung entstanden: Gal Yosef.

Etkes schätzt, dass die Palästinenser seit Oktober zwischen 15.000 und 20.000 Hektar nicht mehr erreichen können.

Eine Barriere aus Steinen und Sand verhindert, dass die mehr als 3.000 Einwohner von Douma auf die Straße gelangen. Zusammen mit dem kleineren Mugayer ist es die einzige palästinensische Ortschaft zwischen Ramum im Westen, die Stadt Jericho, nahe der Grenze zu Jordanien (im Südosten); und der Siedlung Maale Efraim (im Nordosten).
»Vor einem Jahr konnte man hier Beduinenhirten sehen, und jetzt ist alles leer«, erinnert sich Etkes. Zu sehen sind lediglich die Überreste ihrer alten provisorischen Behausungen, die in weniger gefährliche Teile des Westjordanlandes oder sonstige Ansiedlungsstätten verlegt wurden.

Auf der Alon-Autobahn, die das Westjordanland von Norden nach Süden und zwischen hebräischen Schildern und Absperrungen mit Phrasen wie »Rache« oder »Tod den Arabern« durchquert, sieht man keine Autos mit grünen oder weißen Nummernschildern. Das sind die von Palästinensern, die keine Genehmigung haben, nach Israel oder andere von Israel kontrollierte Gebiete des Westjordanlandes – wie Ostjerusalem – zu fahren.“

Die Unterscheidung ist wichtig. „Israel“ bezeichnet das Territorium vor der Besetzung des Westjordanlandes, „die von Israel kontrollierten Gebiete“ sind diejenigen, die entweder einen speziellen Status nach den Abkommen von Oslo haben und diejenigen, die seither illegal mit Beschlag belegt und mit Mauern abgegrenzt wurden.
In alle diese Gebiete dürfen Palästinenser nicht mehr hinein – es sei denn, sie verfügen über eine spezielle Erlaubnis, weil sie dort arbeiten.
D.h., sogar Verwandtenbesuche sind für sie nicht mehr möglich. Wollen sie ihre Verwandten in den anderen Gebieten sehen, so müssen diese zu ihnen kommen, um sich dann bei ihrer Rückkehr in israelisch besetzte bzw. angeeignete Gebiete hochnotpeinlichen Kontrollen zu unterziehen. Man kann auch bei einer solchen Rückkehr verhaftet werden und monatelang, sogar jahrelang in irgendwelchen israelischen Gefängnissen verschwinden, ohne Anklage oder Verfahren.

„Zum Teil geschieht dies aus Angst – nach dem Mord an einem israelischen Teenager in der Nähe vor einem Monat, der eine Welle von Angriffen gegen Palästinenser auslöste –, erklärt Etkes.“

Der bewußte Mord an einem Hirtenbuben aus einer dieser neuen Siedlungen wurde nie aufgeklärt, es gibt auch keine Bemühungen, die Mörder zu finden.
Man kann sich daher des Verdachts nicht erwehren, daß dieser Mord von Agenten Israels verübt wurde, um die Angriffe auf Palästinenser anzustacheln.

„Letzten Monat, als die Eskalation zwischen dem Iran und Israel und die Proteste an US-Universitäten die Medien beherrschten, wegen einer Invasion in Gaza, bei der mehr als 35.000 Menschen ums Leben kamen, wies der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich die betreffenden Ministerien an, ungefähr 60 kleine Siedlungen, die nach der israelischen Gesetzgebung illegal sind, an die Infrastruktur anzuschließen, kommunale Dienstleistungen für sie bereitzustellen und dort öffentliche Gebäude zu errichten.
Es handelt sich um die Umsetzung eines Beschlusses aus dem letzten Jahr, in dem die Regierung dazu aufruft, in bestimmten Siedlungen, die »die Regierung regulieren will«, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um sie »an die wesentliche Infrastruktur anzuschließen, öffentliche Gebäude und Bildungsgebäude zu errichten«.
Einige waren bereits angeschlossen, jedoch über nahegelegene Siedlungen oder als vorübergehend angesehene Infrastruktur.“

Es wäre interessant, zu erfahren, wann genau dieser Beschluß gefaßt wurde. Falls er vor dem 7. Oktober erging, wirft das ein bezeichnendes Licht auf die israelische „Überraschung“, mit der sie vom Überfall der HAMAS betroffen war.

„Obwohl er weniger im Vordergrund steht und nicht so beliebt ist wie Itamar Ben Gvir, der Chef der Nationalen Sicherheit, der ihm auf der Wahlliste folgte, ist Smotrich der Rechtsaußen mit der größten Macht in der Exekutive.
Nicht nur, weil er die Hand ist, die das Geld ausschüttet, sondern auch, weil er in Verhandlungen mit einem Netanyahu, der unbedingt an die Macht zurückkehren wollte, ihm eine Position im Verteidigungsministerium abgerungen hat, die ihm umfassende Kontrolle über zivile Angelegenheiten im Westjordanland verleiht.“

Smotrich ist also nicht nur Finanzminister, sondern ihm untersteht auch die ganze zivile Betreuung des Westjordanlandes. Er hat also eine Art Superministerium inne.

„Die NGO »Peace Now« definierte seine Entscheidung als »Legalisierung durch die Hintertür«: Sie vermeidet internationale Verurteilungen und rechtliche Probleme und schützt sie vor dem Abriss, den diese Regierung praktisch nicht mehr anwendet, die nächste jedoch möglicherweise auch nicht.“

Die jetzige Regierung schafft also Fakten, die über ihre mögliche Abwahl hinaus reichen. Der Widerstand gegen Abrisse bereits bestehender und voll ausgestatteter Siedlungen wäre wahrscheinlich zu groß.

„Lokalen Medien zufolge enthält das Dokument des Ministers Anweisungen etwa zur Errichtung von Bildungseinrichtungen, zum Bau von Straßen oder zu alltäglichen Angelegenheiten, etwa zu Krankenkassen.“

Damit wird sichergestellt, daß die Bewohner dieser de facto Siedlungen Zugang zum israelischen Gesundheitswesen erhalten, was derzeit anscheinend noch nicht gesichert ist.

„Die Entscheidung stellt de facto fünfzig „Außenposten“, also illegale Ansiedlungen, mit offiziellen Siedlungen gleich. Obwohl alle Siedlungen, in denen rund 700.000 Menschen leben, nach internationalem Recht illegal sind, unterscheidet das politische Vokabular Israels normalerweise zwischen »Bezirken« (die großen Wohnviertel in Ostjerusalem) und »Siedlungen« (diejenigen im Westjordanland, die als legal angesehen werden, in der Regel vor Jahrzehnten errichtet)“

– die aber völkerrechtlich gesehen ebenso illegal sind, aber aufgrund einer Art von Gewohnheitsrecht bereits einen halblegalen Status errungen haben –

und den »Außenposten« oder „vorgeschobenen Grenzposten«, die kleiner und auch nach israelischem Recht illegal sind. Sie wurden seit den neunziger Jahren, nach dem Oslo-Abkommen, eingerichtet.
Auch die Vertreibungen von Palästinensern sind seit Oktober sprunghaft angestiegen, weil sie Angst vor Angriffen durch Siedler haben, die aufgrund der massiven Mobilisierung von Reservisten und der Leichtigkeit, an Waffen zu gelangen, zunehmend nicht mehr von Soldaten zu unterscheiden sind.
Fast 20 Ortschaften mit mehr als 1.000 Einwohnern (in der Regel Beduinen, die einem Familienclan angehören und von Landwirtschaft und Viehzucht leben) haben ihre Häuser abgebaut, ihre prekären Konstruktionen abgebaut und nach einem weniger exponierten Standort gesucht.“

Diese Beduinen https://de.wikipedia.org/wiki/Beduinen sind Halbnomaden, die sich als die eigentlichen Araber betrachten, zum Unterschied von den ackerbauenden Fellachen, die meist dem im Nahen Osten üblichen Feudalismus unterworfen waren und einem Grundherren Tribut und Roboten leisten mußten. Die Beduinen hingegen waren stets frei und nur an ihre Stammeshierarchien gebunden.
Sie hatten meist einen Stammsitz, an den sie periodisch zurückkehrten, meist in der Nähe von Wasser. Aus der Angst vor Steuern ließen sie sich den jedoch nie urkundlich bestätigen. Sie sind also offiziell Landlose, wovon Israel bei seiner Vertreibungspolitik profitiert.
Die meisten von ihnen wurden im Negev zwangsangesiedelt, wo sie in Siedlungen ohne Infrastruktur und ohne ihre angestammten Existenzformen vor sich hin leben, aber wie man sieht, zogen manche Stämme weiter herum und sind daher ein leichtes Ziel für Vertreibungen.
Viele dieser ehemaligen Beduinen landen an den Stadträndern palästinensischer Städte im Westjordanland, ohne ihre angestammten Existenzmöglichkeiten.

Bei dieser durch Siedler betriebenen Vertreibung (oftmals mit Toten) „handelt sich um ein Phänomen, das oft mit der Duldung oder Passivität des Militärs und eng mit der jahrelangen Ausbreitung von Kolonien in Form von Farmen verbunden ist, die es ermöglichen, mit geringem Aufwand große Gebiete zu kontrollieren.“

Die Siedler sind sozusagen Wehrbauern oder Paramilitärs, die mit der Zustimmung des offiziellen Militärs handeln und legal über Schußwaffen verfügen.

„Von Zeit zu Zeit sieht man diese“ (einzelnen jüdischen Farmen) „von der Straße, ebenso wie einen jungen Mann in der üblichen Kleidung religiöser Nationalisten, der sich um das Vieh kümmert.
Die Zunahme von Angriffen auf Palästinenser oder linke Aktivisten, das wachsende Bewußtsein der Siedler von der Freiheit, sich alles erlauben zu können, und allgemein die vorherrschende Atmosphäre seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober … veranlassen Etkes, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.
Er verfügt über kein eigenes Fahrzeug, so dass die Siedler es nicht erkennen können; und er möchte nicht, dass seine jeweiligen Leihwägen oder sein Gesicht auf Fotos erscheinen, um seine Identifizierung zu erschweren.
Die Stopps sind kurz.

In einem Fall nähern sich zwei bewaffnete Sicherheitsleute, um herauszufinden, was er hier macht. Die Atmosphäre ist angespannt und sie beleidigen ihn, als er zum Auto zurückkehrt, aber es kommt zu keiner körperlichen Aggression. »Ich habe den richtigen Akzent und die richtige Hautfarbe«, sagt er über seine Tatsache, dass er ein israelischer Jude ist.“

Israelis gehen also noch nicht auf Israelis los – zumindest nicht, wenn ein ausländischer Journalist zugegen ist …

Nebenschauplatz Georgien

GEZERRE UM EINEN STAAT, DER NICHT FRONTSTAAT SEIN WILL


1. Georgien in der SU

Das Land, das als die Heimat des sowjetischen Kaugummis, eines giftgrünen Estragon-Sprudelgetränks, der besten Küche der SU und vieler anderer Spezialitäten gilt, war immer ein kultureller Rivale Rußlands. Der Georgier, der die SU beherrschte, hielt seine Landsleute für höherwertiger als die versoffenen Russen – leider waren es zu wenige, um daraus eine Weltmacht zu formen. Bis lange nach Stalins Tod genoß Georgisch den Status einer Staatssprache der SU.

Diese Rivalität setzte sich fort auf dem Gebiet der Filmindustrie – Georgien war als Drehort populär, es besaß eine renommierte Filmindustrie, eines der ältesten Filmstudios der Welt und stellte viele Regisseure und Schauspieler der SU.
Die Moskauer Dominianz auf dem Gebiet des Schachs bekämpfte Tiflis mit einer Offensive im Frauenschach, die der Welt einige Schachweltmeisterinnen bescherte.
Sogar auf dem Gebiet der Dissidenz setzte sich diese Rivalität fort: Der Publizist und Übersetzer Swiad Gamsachurdia gab als erster den „Archipel GULAG“ Solschenizyns in einer Samisdat-Druckfassung heraus und inspirierte vermutlich damit die russische Dissidenz dazu, ein „Tamisdat“ in Frankreich in die Wege zu leiten, um gegenüber Georgien wieder die Nase vorn zu haben.

Neben dem Georgier, der die SU groß machte, sollte ein zweiter nicht vergessen werden, der zu ihrem Untergang beitrug und dann eine wechselhafte Karriere als georgischer Präsident hinlegte.

2. Die Rolle Georgiens beim Zerfall der SU

Obwohl Georgien nicht zu den Beschlußmächten der Auflösung der SU gehörte, betrieb die georgische dissidentische Fraktion dieselbe bereits vorher eifrig und veranstaltete im Herbst 1990 Wahlen, die von der Partei Gamsachurdias „Freies Georgien“ gewonnen wurde.

Ein Referendum im Frühjahr 1991, das die „staatliche Wiederherstellung“ Georgiens (lies: „Unabhängigkeit“) zum Thema hatte, wird mit widersprüchlichen Resultaten im Internet zitiert: Einerseits soll sich eine überwältigende Mehrheit dafür ausgesprochen haben, andererseits sollen sich Abchasien und Südossetien dagegen ausgesprochen haben. Man kann annehmen, daß die Fragen so formuliert waren, daß sie in dieser Frage Mehrdeutigkeiten zuließen.
Im April 1991, also 8 Monate vor dem offiziellen Ende der SU, erklärte Georgien seine Unabhängigkeit. Man kann also die Georgier als Beschleuniger des Zerfallsprozesses der SU ansehen.
Die Unabhängigkeit Georgiens wurde praktisch sofort von den USA anerkannt.

3. Das freie und unabhängige Georgien

Es folgten 1 bis 2 veritable Bürgerkriege in den und gegen die rebellischen Regionen, die ihren Anschluß an die SU verkündeten und sich gegen von der Zentralregierung in Tiflis entsandte „Besatzungs“-Truppen verteidigten. (Sogenannte „illegitime“ Separatisten, in der heutigen Leseart …)
Nach dem Zerfall der SU erklärten diese Regionen ihre Unabhängigkeit, die bis heute nur von Rußland anerkannt und auch militärisch abgesichert wird. De facto sind es Territorien Rußlands, in denen der Rubel zirkuliert, de jure gehören sie nach wie vor zu Georgien.

In den turbulenten Zeiten zwischen der Ausrufung der Unabhängigkeit und einer Beruhigung der Lage um 1994 wurde der erste gewählte Präsident Gamsachurdia erst gestürzt und dann ermordet. Seine Vorstellungen eines unabhängigen Georgiens, zwischen ethnischen Vertreibungen und Steinerscher Anthroposophie, erwiesen sich als undurchführbar. Die Putschisten wählten Schewardnadse zum Präsidenten, die dieses Amt mit einigen Aufs und Abs von 1992 bis 2003 ausübte, bis er auch durch einen Putsch, die sogenannte „Rosenrevolution“, gestürzt wurde.

Als einzige Konstante in all diesen Auseinandersetzungen zwischen Separatisten, Clans, Paramilitärs und Mafiabossen erwies sich die Orthodoxe Kirche Georgiens als einigende und versöhnliche Kraft, weswegen auch bis heute keine Regierung an ihr vorbei kann.
Symbol dieser Entwicklung ist die Sameba-Kathedrale, zu der Schewardnadse den Grundstein legte, die von seinem Nachfolger Saakaschwili 2004 eingeweiht und vom heutigen starken Mann Georgiens, Bidsina Iwanischwili, finanziert wurde.

4. Klare Verhältnisse

Der in Rußland zu Geld gekommene Unternehmer Iwanischwili war der Mentor und finanzielle Unterstützer Saakaschwilis. Dessen Stern begann zu sinken, als sich Iwanischwili von ihm abwendete, vor allem nach dem mißglückten Ossetienkrieg 2008.

Mit der Partei „Georgischer Traum“ gewann Iwanischwili 2012 die Parlamentswahlen. Seither bestimmt er die Politik, zieht Präsidenten und Minister aus dem Ärmel und ernennt Regierungschefs. Das Präsidentenamt wurde durch eine Verfassungsänderung 2013 mehr oder weniger auf eine Repräsentations-Funktion reduziert.
Das stört die jetzige Amtsinhaberin sehr, die ihrer prowestlichen Einstellung kaum noch Geltung verschaffen und Taten folgen lassen kann.

5. Unruhe im Kaukasus

Der Ukraine-Krieg hat etwas Unruhe in diese prästabilisierte Harmonie gebracht.

Zunächst flüchteten Ukrainer mit georgischen Verbindungen und Russen, die dem Militärdienst entgehen wollten, nach Georgien. Anfängliche Streitereien zwischen diesen beiden Personengruppen wurden inzwischen beigelegt, mit dem notwendigen behördlichen Nachdruck.
Der Freie Westen entdeckte Georgien als einen russischen Hinterhof, in dem man Unruhe stiften und womöglich nationale Ressentiments anstiften könnte, Stichwort verlorene Territorien.

Die altbekannten Schlachtrosse der Homosexuellen-Rechte und der Menschenrechte sowie Korruptionsbeschuldigungen wurden losgeschickt. Die US-Botschafterin begann, etwas lauter zu werden und von Georgien Anschluß an die westlichen Sanktionen und Verurteilung Rußlands zu verlangen.

Der „Georgische Traum“ reagierte schließlich mit dem Gesetzesentwurf gegen ausländische Agenten, der weltweit als „russisches Gesetz“ gegen Oppositionelle gebrandmarkt wird, aber in Rußland selbst seinerzeit aus der US-Gesetzgebung übernommen und schöpferisch weiterentwickelt worden war.
Dieses angebliche „Knebelgesetz“ gegen die Opposition ruft seither Straßenproteste hervor, die vor allem von jüngeren Leuten getragen werden, die in internationalen Organisationen und NGOs arbeiten und um ihren Arbeitsplatz fürchten. Sie stehen aber, trotz aller medialen Aufmerksamkeit, auf verlorenem Posten.

Erstens, weil das georgische Parlament zersplittert ist. Dort sitzen neben 11 unabhängigen Abgeordneten und 10 leeren Sitzen (alles Ergebnisse verschiedener Spaltprozesse innerhalb der Parteien) 15 (!) verschiedene Parteien, viele von ihnen aus 1 oder 2 Abgeordneten bestehend. Davon besetzt der „Georgische Traum“ 75 Sitze aus 150. Die größte Oppositionspartei, diejenige des inzwischen inhaftierten ehemaligen Präsidenten Saakaschwili, besitzt 16 Sitze. Mit den restlichen sich als pro-europäisch bezeichnenden Parteien ist sie restlos zerstritten – so wie viele dieser Mini-Parteien untereinander auch. Das Gesetz geht also auf jeden Fall durch das Parlament, notfalls hilft der „Georgische Traum“ mit etwas Bakschisch bei einzelnen Abgeordneten nach.

Zweitens, weil der Gewaltapparat fest hinter dem „Georgischen Traum“ steht. Erst seitdem Iwanischwili auf die politische Bühne Georgiens trat, werden Militär und Polizei nämlich anständig bezahlt und ordentlich ausstaffiert.

Drittens, weil die Präsidentin, die in ihrem Palast vor sich hintobt und ihre politische Ohnmacht verflucht, das Gesetz durch Vetos nicht ewig verhindern kann:
„Das Veto der Präsidentin kann nur erwirken, daß das Parlament es einer erneuten Abstimmung unterwirft, wonach der Text endgültig Gesetz wird.“ (El País, 14.5.)

Der extra angereiste US-Beamte O’Brien wurde von Iwanischwili nicht empfangen, weil er sowieso keine ausländischen (westlichen) Politiker sehen will, solange er das Geld nicht zurückkriegt, das ihm im Rahmen der Credit Suisse-Rettung vom Westen, der „Partei des Globalen Krieges“, gestohlen worden ist.

Pressespiegel Komsomolskaja Pravda, 5.5.: Die Fremdenlegion reitet in der Ukraine ein

EINE KOMPANIE SOLDATEN KOMMT AUS FRANKREICH IN DIE UKRAINE: EIN BITTERES SCHICKSAL ERWARTET SIE

Der ehemalige Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums Stephen Bryen berichtete in der Asia Times, dass 100 Soldaten der französischen Fremdenlegion in der Stadt Slawjansk in der Ukraine eingetroffen seien. Bryen schrieb: »Sie werden zur Unterstützung der 54. separaten mechanisierten Brigade der ukrainischen Streitkräfte in Slawjansk eingesetzt. Die Soldaten wurden aus dem 3. französischen Infanterieregiment rekrutiert. Dies ist eine der Haupteinheiten der Fremdenlegion.«

Der ehemaliger Pentagon-Beamte meint, dass es sich bei den Ankömmlingen hauptsächlich um Artilleristen und Geheimdienstoffiziere handelte. Und es bestätigt die Information, dass letztendlich bis zu eineinhalbtausend Soldaten aus Frankreich in die Ukraine geschickt werden.

Bryen stellt eine nicht rhetorische Frage: »Überschreitet dies eine rote Linie im Hinblick auf die NATO-Beteiligung am Konflikt in der Ukraine?« Werden die Russen dies als Beginn eines größeren Krieges außerhalb der Ukraine wahrnehmen?

In diesem Frühjahr gab es bereits Berichte über den Tod der Franzosen in der Ukraine – es handelte sich jedoch um »Söldner«. Wie sehr wird die Übertragung dieser »französischen Hundertschaft« die Situation verändern?

Die KP kontaktierte den pensionierten Hauptmann 1. Ranges, den Militärexperten Wassilij Dandykin, der derzeit die operative Situation auf der Krim beurteilt, einen der Schlüsselpunkte unserer Verteidigung und einer möglichen Offensive.

KP: Wassilij Alexejewitsch, kann der Transfer der ersten hundert Soldaten der französischen Fremdenlegion als Einmarsch der NATO-Truppen in das Territorium der Ukraine angesehen werden?

WD: Formal noch nicht. Die Fremdenlegion hat in Frankreich einen Sonderstatus. Im Großen und Ganzen gehört sie zum französischen Verteidigungsministerium. Die Feinheit besteht darin, dass dort Bürger anderer Länder dienen, von denen viele zum Zeitpunkt ihres Auslandseinsatzes, beispielsweise in die Ukraine, möglicherweise noch nicht über die formelle französische Staatsbürgerschaft verfügen. Und sie erhalten nach einer bestimmten Anzahl von Dienstjahren in dieser Einheit einen Pass der 5. Republik. Dort könnten also Russen und Ukrainer Seite an Seite dienen.

KP: Und deshalb kann man in Paris sagen, dass es keine französischen Soldaten waren, die in die Ukraine einmarschierten?

WD: So ist es. Offiziell scheint es sich hierbei nicht um die französische Armee zu handeln. Aber hier ist ein bedeutender Moment. Der Köder ist geworfen – wie werden wir das wahrnehmen?“

Sehr neckisch von der KP, die Anwesenheit ausländischer Soldaten in der Ukraine als „Köder“ zu bezeichnen. Offenbar soll es als ein besonderes Anliegen der russischen Armee dargestellt werden, diese zu vernichten.

„KP: Und wie?

WD: Ich denke, wir werden es mit »großer russischer Gastfreundschaft« akzeptieren. Worüber ein Nachkomme des Grafen Leo Tolstoi kürzlich sprach.

KP: Tatsächlich sind in der Ukraine bereits französische Söldner gestorben.

WD: Ja, sie haben »Urlaub gemacht« und sind in die Ukraine gefahren. Die Entsendung dieser Soldaten ist eine Art Test. Wir haben gerade Otscheretino befreit. Die Lage der ukrainischen Streitkräfte ist nicht sehr gut. Und jetzt sind diese Hundert gelandet, um Sie zu unterstützen. Angeblich – Artilleristen und Späher – aber eben nur angeblich. Vielleicht handelt es sich auch um Piloten. Unter Berücksichtigung der Aufgaben, die die Fremdenlegion üblicherweise in Afrika wahrnahm.

KP: Das heißt, nicht, um uns mit ihren Caesar-Kanonen zu treffen oder ihre von Delair hergestellten Drohnen, deren Hauptquartier sich in Toulouse befindet, in unsere Richtung zu schießen?

WD: Was die Artilleristen und Aufklärungsoffiziere betrifft, ich wiederhole, ist das, was sie selbst gegenüber den Medien laut gesagt haben. Warum sollten wir das glauben? Drin besteht Aufklärung im Krieg. So prüfen sie uns. Erwarten Sie unsere schnelle Antwort. Ich denke, und ich bin mir fast sicher, dass nicht alle dieser hundert Kämpfer in Slawjansk französische Pässe haben. Aber sicher wurden sie ihnen versprochen – nach diesem Einsatz. Aber viele werden diese französischen Pässe posthum erhalten.

KP: Wie weit ist es von der Front bis zum Standort dieser »französischen Kompanie«?

WD: Die Front bewegt sich ständig. Na ja, 40-50 Kilometer. Das Verteidigungsministerium bestätigt sorgfältig und nach genauer Prüfung die Befreiung weiterer besiedelter Gebiete.

KP: Ist es möglich, den Stützpunkt in Slawjansk sowohl mit Artillerie als auch mit der Luftwaffe zu erreichen?

WD: Das Beste wäre, die Soldaten dieser Kompanie gefangen zu nehmen. Ja, sie werden versuchen, dies auf jede erdenkliche Weise zu vermeiden, aber sie sind in etwas geraten, auf das sie sich nicht einlassen sollten. Und vorerst werden sie mit dem Namen »Fremdenlegion« spielen. Man wird darauf bestehen, dass diese im Grunde keine Franzosen sind. Das werden sie vorschieben. Nichts wie Heuchelei.“

Es handelt sich hier um die ukrainische Fremdenlegion, in der Söldner aus verschiedenen Staaten kämpfen und die auch schon sehr dezimiert wurde. Der sollen diese französischen Fremdenlegionäre sozusagen als Privatpersonen eingegliedert werden. Damit sind dann offiziell immer noch keine französischen Soldaten im Einsatz.
Heuchelei ist möglicherweise nicht ganz der richtige Ausdruck, weil immerhin wäre die offizielle Anerkennung der Truppenentsendung so etwas wie eine Kriegserklärung Frankreichs an Rußland.
Die Eingliederung der französischen Fremdenlegionäre in die ukrainische Fremdenlegion löst auch möglicherweise das Problem, wem diese Soldaten jetzt eigentlich unterstehen? Dem französischen oder dem ukrainischen Oberkommando?

KP: Und diese fünfzehnhundert Franzosen, die vor mehr als einem Monat in Bulgarien gelandet sind und zur rumänisch-ukrainischen Grenze marschierten?

WD: Nun, das alles geschieht im Rahmen groß angelegter NATO-Übungen, die sie von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer durchführen. Die östlichen Bündnispartner haben dort kaum Mitspracherecht, sind aber immer bereit, sich dafür anzudienen.

KP: Können die Franzosen sehr schnell aus dem rumänischen Constanța nach Odessa verlegt werden?

WD: Wahrscheinlich in ein oder zwei Stunden. Ja, sie können. Aber wir dürfen Transnistrien nicht vergessen. Die Situation dort ist kompliziert. Dort sind Zehntausende Menschen mit russischen Pässen.“

– und auch mit russischer militärischer Unterstützung und Bewaffnung. Transnistrien ist wehrfähig.

„Aber ich glaube weiterhin, dass die Staats- und Regierungschefs großer Länder immer noch über einen Rest gesunden Menschenverstands verfügen. Was die Legionäre angeht: Sie erhielten den Befehl – sie nahmen ihre Stellung ein.“