Pressespiegel: Rebelión, 5.2.

ARGENTINIEN IST IN DER SCHULDENFRAGE NICHT NACH SCHERZEN ZUMUTE

Es besteht kein Zweifel, dass alles, was mit der eingeforderten Schuld verbunden ist, schwerwiegend ist. Sie ist verhaßt, unrechtmäßig, unerträglich und kann niemals getilgt werden. (1) Die Regierung hat dieses Thema zum wichtigsten und – neben dem Thema Hunger – vorrangigen Thema ihrer Tagesordnung gemacht. Jeder, der mit Ämtern zu tun hat, kann das wahrnehmen. Alle wichtigen Pläne, Programme und Sprachregelungen scheinen von der Lösung dieses Problems abhängig zu sein.
Der Gesamtbetrag der angeblichen Schulden beläuft sich auf rund 100 Milliarden US-Dollar (2), verteilt auf Schulden internationaler und privater Organisationen. In diesem Rahmen will die Regierung zahlen, indem sie Verbesserungen auf drei Ebenen anstrebt: Zinsen (niedriger), Fristen (länger) und Streichungen (vom Gesamtbetrag). Das ist es, was sie für machbar im Sinne von „wachsend zahlen“ (3) hält.

Um sich auf diesem schwierigen Terrain nicht zu verirren, sind in diesem Szenario vier Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Die Fristen der Verhandlungen; mögliche Fallen, die dort gestellt werden können; die auftretenden Gegensätze und die einzuschlagende Regierungspolitik.

1. Fristen
Die Regierung selbst hat festgesetzt, daß die Verhandlungen bis Ende März abgeschlossen sein müssen. Der Grund dafür ist, daß nachher Zahlungen fällig wären, die für die argentinische Staatskasse nicht zu bewältigen sind.
Können die Verhandlungen bis dahin abgeschlossen werden, so herrscht für beide Seiten Klarheit. Wenn nicht, so haben beide Seiten – Argentinien und seine Gläubiger – ihre jeweiligen Grenzen aufgezeigt. (4)
Gelingt keines von beiden, so ist zu untersuchen, welche Folgen die Einstellung von Zahlungen auf Land und Leute und die wirtschaftliche Entwicklung haben würde. (5)
Nach der Logik, der die Regierung folgt, würde also im April ihr Wirtschaftsprogramm in Angriff genommen. Das hat einige Widersprüche, da die finanzielle Situation Argentiniens ungeklärt ist.

2. Das Stellen von Fallen bei den Verhandlungen
Betrug und Täuschungsmanöver sind in heimischen Kartenspielen üblich und lassen sich auch in dieser Frage beobachten, sodaß gar nicht klar ist, was die genauen Verhandlungspositionen sind. Die Verhandlungspartner spielen falsch – mit der Zukunft von Millionen von Argentiniern, und letztlich von uns allen.
Den Betroffenen dieser Verhandlungen, die von selbigen ausgeschlossen sind, bleibt nur der Protest auf den Straßen. (6)
Es ist wahrscheinlich, daß diese Verhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu unerfreulichen Ergebnissen für die Bevölkerung des Landes führen werden.

Hier sei an die Worte von Joseph Stiglitz erinnert, – der Nobelpreisträger, ehemaliger prominenter Mitarbeiter der Weltbank und Mentor des derzeitigen argentinischen Finanzministers Martín Guzmán, der in diesen Verhandlungen die argentinische Delegation anführt.

In Anspielung auf die jüngsten Proteste in Ecuador, Kolumbien und vor allem in Chile meinte er, „das Überraschende sei, daß sich die Unzufriedenheit erst mit solcher Verspätung äußert“.
Die Regierung seines Schülers sollte das nicht vergessen.


3. Auftretende Widersprüche bzw. Gegensätze
Bisher haben Alberto Fernández und Cristina vorsichtig Konflikte vermieden und sich als geschlossener Block präsentiert.
Die Frage der Schulden droht jedoch dieses fragile Gleichgewicht zum Kippen zu bringen. Einige Fakten der jüngsten Vergangenheit weisen darauf hin, daß es innerhalb der Regierungspartei größere Gegensätze gibt als zwischen Regierung und Opposition.
Kürzlich haben mit 3 Ausnahmen alle Parlamentsabgeordneten für die „Wiederherstellung der Nachhaltigkeit der Auslandsschuld“ ausgesprochen. In dieser Frage herrscht also bemerkenswerte Einigkeit zwischen Regierung und Opposition. (7)

Während also mit der Opposition in dieser Frage Einigkeit herrschte, gab es innerhalb der Regierungspartei Zwist. Es war der Gouverneur von Buenos Aires, Axel Kicillof, der sich widersetzte und verkündete, ohne finanzielle Unterstützung aus der Staatskasse seine am 28. Jänner fälligen Zahlungen an die Gläubiger der Provinz nicht zahlen könne. (8)
Er versuchte Fristverlängerungen in den Verhandlungen mit den Gläubigern zu erreichen, aber es gelang nicht.

Aus dem Umfeld von Wirtschaft und Präsidentschaft wird versucht, dieses Problem herunterzuspielen und darauf hinzuweisen, dass es sich um eine vereinbarte Strategie handeln könnte. Es wächst jedoch der Eindruck, dass die Provinz Buenos Aires eine andere Vorgehensweise bei der Lösung des Schuldenproblems verfolgt. Schließlich ist Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner die unmittelbare Vorgesetzte von Kicillof. (9)
In diesem Zusammenhang rief auch die kürzliche Israelreise Kicillofs und sein Abendessen mit Netanyahu Kritik in kirchnerschen und anderen Kreisen hervor. Es entsteht der Eindruck, daß er sich israelische Fürsprache in den USA für die Verhandlungen mit dem IWF und privaten Anleihenbesitzern sichern will, offenbar im Gegenzug für die Unterstützung Argentiniens für den zwischen Israel und den USA abgeschlossenen „Jahrhundert-Deal“ zur Zurückdrängung der Palästinenser. (10)

4. Regierungskurs und andere Entwicklungen
Der IWF scheint das „Spiel“, das Argentinien vorschlägt, zu akzeptieren oder daran beteiligt zu sein, und hat gerade angekündigt, dass das Land – angesichts der bestehenden „Unsicherheiten“ – bis April vom Report über Ausblicke für Lateinamerika und die Karibik ausgenommen wurde. (11) Innerhalb dieser „Unsicherheit“ unternimmt die Regierung einige Schritte, die den zukünftigen Kurs markieren sollen.
Die Regierung bekräftigt ihren Kompromiß mit der westlichen Welt unter Führung der USA. (12) Obwohl angenommen werden kann, dass dies Teil ihrer Strategie in Bezug auf den IWF und die „Verschuldung“ ist, gibt es Fakten, die diesen Charakter überschreiten und die künftigen Entwicklungen gefährden. (13)
Bezüglich der Schulden gibt es den oben erwähnten Beschluß der Abgeordneten, die Schuld auf jeden Fall anzuerkennen und zu bedienen. Die Rechtmäßigkeit der Forderungen wird außer Frage gestellt und die argentinische Regierung unterwirft sich in strittigen Fällen den ausländischen Gerichten.
Hier fällt das dröhnende Schweigen verschiedener sozialer Organisationen auf, die glauben, die drückenden Schulden, die auf der gesamten Bevölkerung lasten, durch guten Beziehungen zur Obrigkeit abschütteln zu können.

Ebenso wurde mit einer Mehrheit ähnlich wie bei der Abstimmung der Schulden eine Genehmigung für die Anwesenheit ausländischer Truppen und den Verlegung nationaler Streitkräfte zur Teilnahme an den Übungen, die im Programm für kombinierte Übungen vorgesehen sind, bis zum 31. August genehmigt 2020. Dem radikalen Block zufolge sind dies bereits 18 Militärübungen. (14)
Jeder, der es herausfinden möchte, kann sich über die engen Beziehungen zwischen diesen Operationen und den von den USA geförderten Putschen informieren.
Eine gemeinsame Operation mit den US-Marines in Gewässern des Südatlantiks, in denen sich die argentinischen Falklandinseln befinden, die nach wie vor von den mit den USA in der NATO verbündeten Briten besetzt sind, ist in diesem Rahmen ebenfalls möglich.

Der gegenwärtige Regierungskurs dürfte schwerlich mit den souveränen Interessen unserer Völker und der Region vereinbar sein.

Rebelión, 5.2.
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(1) Zum Begriff der „odious debt“ siehe hier.

(2) Hier scheint sich der Verfasser auf unmittelbar anstehende Schulden zu beziehen. Die Außenstände Argentiniens sind viel höher, offiziell 300 Millionen, aber möglicherweise gibt es auch viel verborgende Schuld, die durch Sonderklauseln bei Schuldaufnahmen auch noch irgendwo auftauchen wird.

(3) Damit ist gemeint, die Schuld zu bedienen und dennoch Wirtschaftswachstum zu erzielen. Der Schuldendienst soll also das Wachstum nicht übersteigen. Bei der Schuld Argentiniens ist das unmöglich.

(4) Hier wird etwas Zweckoptimismus an den Tag gelegt. Die Gläubiger sind natürlich auch Konkurrenten, sie bilden keine einheitliche Gruppe. Die Schulden Argentiniens verteilen sich auf jede Menge verschiedene Banken, Hedgefonds, private Anleihen-Halter und den IWF selbst.

(5) Die argentinische Regierung droht also offen mit einem neuerlichen Zahlungsstopp. „Wir können auch anders!“ sagen sie. Die Einstellung des Schuldendienstes 2002 hatte üble Folgen für Argentiniens Bevölkerung, aber auch die Maßnahmen der Schuldenzahlung unter Macri haben ähnliche Folgen gehabt: Hunger in einem Land, das seit langem ein großer Agrarexporteur ist.

(6) In diesem Zusammenhang sollte man sich daran erinnern daß es die Proteste auf der Straße waren, die zum Sturz des Präsidenten De La Rua im Jahr 2001 führten und damit den Bankrott Argentiniens 2001/2002 auslösten.

(7) Diese Einigkeit wurde aber relativ billig hergestellt, da dieser Beschluß eine Leerformel darstellt. Was heißt denn „Nachhaltigkeit“ in Schuldfragen, noch dazu bei einer solchen Überschuldung wie in Argentinien? Gemeint ist offenbar, daß eine Zahlungsunfähigkeit, ein „default“, auf jeden Fall vermieden werden soll. Das wiederum läuft darauf hinaus, sich den Bedingungen des Währungsfonds auf jeden Fall zu beugen.

(8) Hier zeigt sich ein Erbe der Ära Macri: Um im Parlament eine Mehrheit für die Wiederaufnahme des Schuldendienstes für die Altschuld zu erreichen, gewährte Macri den Provinzen eigene Verschuldungsfähigkeit, und ein munteres Schuldenmachen setzte ein, dessen gesamte Ergebnisse nach Schuldsumme, Zinszahlungen und Zahlungsfrist noch nicht einmal alle erfaßt sind.
Kicillof erbte die Schuld seiner Vorgänger und setzte jetzt die Regierung unter Druck, wieder die Verantwortung für die gesamte öffentliche Schuld zu übernehmen, was natürlich die Verhandlungen erschwert, weil immer mehr Schulden-Leichen im Keller auftauchen.

(9) Axel Kicillof ist ein keynesianisch orientierter Ökonomieprofessor, der in der Regierung Kirchner von 2013 bis 2015 Finanzminister und damals eine der Triebkräfte der abweisenden Verhandlungen mit den „Geierfonds“ war.

(10) Es ist unwahrscheinlich, daß Netanyahu in dieser Frage viel ausrichten kann. Außerdem berührt diese Frage die Außenpolitik Argentiniens, die möglicherweise anderen Prioritäten folgt. Kicillof kann darüber gar nicht entscheiden, und es ist anzunehmen, daß Netanyahu das auch weiß. Sehr viel wurde mit dieser Goodwill-Reise also nicht ausgerichtet.

(11) Diese Entscheidung, zu Argentinien für die nächsten 2 Monate nichts zu verlautbaren, erhöht die Unsicherheit, denn der IWF stuft natürlich damit das Land als unsicheren Kantonisten ein. Andererseits ist das natürlich keine Überraschung – niemand weiß, wie Argentinien seine Schulden stemmen wird, und es ist übrigens fraglich, ob im April diesbezüglich mehr Klarheit herrschen wird.

(12) Diese Beobachtung bezieht sich wohl vor allem auf die Haltung gegenüber China und der BRICS-Gemeinschaft, die unter Kirchner die bevorzugten Handelspartner und Gläubiger Argentiniens waren.

(13) Hierbei handelt es sich um Verpflichtungen, die gegenüber diesen Staaten – China und BRICS – eingegangen wurden und die die argentinische Regierung nicht ohne weiteres ad acta legen kann. Es geht vermutlich um Lieferverpflichtungen für Rohstoffe als Zahlung früherer Kredite.

(14) Hier scheint es sich um Manöver zusammen mit US-Streitkräften zu handeln, eine Art Plan für den Hinterhof, zur Niederhaltung widerspenstiger Regierungen oder Protestbewegungen. Die Regierung Macri scheint diesbezüglich einiges in die Wege geleitet zu haben, denen sich die jetzige Regierung nicht entziehen will. So werden eventuell Schuldenmoratorien an Interventionen in mißliebigen Staaten gekoppelt.
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Das sind ja schöne Perspektiven. Teil einer Interventionstruppe zu sein, um vom IWF Kredit zu erhalten.
Man wird sehen, wie sich dieses System von Abhängigkeiten und Erpressungen entwickelt.

Siehe auch bisherige Beiträge zu Argentinien:

ARGENTINIEN; SEIN PRÄSIDENT UND SEINE SCHULDEN – 19. Juni 2019
DIE EWIGE WIEDERKEHR DER ARGENTINISCHEN KRISE – 26. September 2018
ARGENTINIEN BITTET DEN IWF UM KREDIT – 11. Mai 2018
RICHTUNGSWECHSEL IN ARGENTINIEN: MAURICIO MACRI, EIN HELD AUF ABRUF – 31. Januar 2016
FLEUNDSCHAFT! – 15. August 2015
DER COUNTDOWN LÄUFT – 11. Juli 2014
usw.

Let’s get Brexit done!

GESCHAFFT?
Nachdem sich die mediale Öffentlichkeit lange an einer sichtlich uneinigen britischen Politikermannschaft ergötzt hatte, ist inzwischen eine Mischung zwischen Erleichterung, Ernüchterung und und Ärger eingetreten.
Sie haben es doch wirklich gemacht!
Die Bilder von vereinzelten und verhärmten EU-Fans, die auf den Straßen Londons EU-Fahnen wedeln und gegen den Brexit protestieren, werden uns also in Zukunft erspart bleiben.
Die überall breitgetretene Hoffnung, daß es sich die Briten doch überlegen und ein 2. Referendum ansetzen und schön brav wieder in die EU zurückkehren werden, haben sich endgültig in Luft aufgelöst. Insofern ist tatsächlich etwas geschehen, d.h. Fakten sind gesetzt worden.

1. Vom Referendum zum Austritt

sind ja immerhin dreieinhalb Jahre vergangen, in denen einem Uneinigkeit der britischen Eliten in Sachen Brexit und EU vorgeführt wurde.
Wie kam es eigentlich zu dem Referendum?
David Cameron bestritt unter anderem damit seinen Wahlkampf: Er erklärte 2013, ein Referendum „EU-Mitgliedschaft: Ja oder Nein?“ abhalten zu wollen, sollte er die Wahl gewinnen. Er gewann sie 2015 und setzte für das folgende Jahr diese Abstimmung an.
Der innenpolitische Grund für diese Abstimmung war also, auf eine gewisse Anti-EU-Stimmung zu setzen, auch im Lager der Opposition, und darüber auf Stimmenfang zu gehen.
Was die außenpolitische Lage angeht, so wollte der britische Premier sich über eine solche Abstimmung Rückendeckung und eine bessere Ausgangslage für Neuverhandlungen über den Mitgliedsstatus verschaffen. Die Veränderungen in der EU selbst wären Teil einer auch von anderen EU-Staaten angestrebten Reform gewesen, wo verschiedene Staaten mehr Handlungsfreiheit, mehr Unabhängigkeit und weniger Zahlungen auf Kosten anderer durchsetzen wollten. Diese Reform war also kein britisches Sonderprojekt.
Noch vor dem neuerlichen Wahlsieg Camerons ging 2014 das schottische Unabhängigkeitsreferendum über die Bühne. Über die vorangegangenen Entscheidungen und die britisch-schottische Parteienkonkurrenz, die diese Abstimmung zur Folge hatte, mögen Interessierte woanders nachlesen. Es stellte allerdings in Westeuropa eine Besonderheit dar – normalerweise sind Zugehörigkeit von Territorium und Separatismus Gewaltfragen, die mit der Waffe in der Hand entschieden werden, siehe Jugoslawien – und fand dann auch in Katalonien Nachahmer.
Das wichtige für die Brexit-Frage war jedoch, daß das schottische Referendum als eine Art Probegalopp für das Brexit-Referendum angesehen wurde. Da es mit relativ hoher Beteiligung – über 84% – recht bequem für den Verbleib Schottlands im Staatsverband ausging – 55,3: 44,7 –, waren alle beruhigt, daß das EU-Refrendum eine reine Formsache, eine g’mahte Wiesn für die EU-Anhänger sein würde. Dieser Zweckoptimismus herrschte bis zum Vortrag des Referendums in den Medien.
Dies alles nur zur Illustration dessen, daß keiner der Verantwortlichen den Brexit wollte. Er ist ihnen „passiert“. Das Volk hatte gesprochen.
Rücktritte und Schuldzuweisungen folgten. Nachdem sich in Brüssel das Entsetzen gelegt hatte, bildeten sich 2 Strategien heraus:
1. Das war ein Versehen, man sollte ein neues Referendum abhalten und die Wählerschaft entsprechend bearbeiten, wie es ja bisher in der EU auch ein paarmal gelungen war: So lange abstimmen, bis das Ergebnis paßt, – das war die erfolgreiche Strategie in Irland 2008, Holland und Frankreich 2005, wenn Plebiszite gegen die Generallinie der EU waren.
2. Wenn die Briten wirklich ernst machen, so sollte man sie hart bestrafen und schauen, daß sie ohne EU praktisch in der Unterhose dastehen.
In den folgenden Jahren stellte sich heraus, daß sich für Variante 1 keine Anhänger in GB finden würden, da das Votum eben kein Versehen war, und ein weiteres Referendum deutlich mehr Stimmen für den Austritt erbringen würde, nach dem Motto: Jetzt erst recht!
Unter 2. stellte sich heraus, daß die EU sich ein solches Vorgehen nicht leisten kann, weil GB ein zu wichtiger Handelspartner ist, dem man nicht einfach abschütteln kann, ohne negative Folgen für die Rest-EU.
Innenpolitisch hat sich bei der letzten Wahl gezeigt, daß in GB ein entschlossenes Auftreten für den Austritt satte Mehrheiten bringt.

2. Was heißt eigentlich „Austritt“?

Zunächst wurde einmal festgestellt und von der EU anerkannt, daß die britische Führung in Zukunft ihr Heil außerhalb des Bündnisses suchen will und wird.
Obwohl noch immer nicht klar ist, was das im Detail alles für Folgen haben wird, so ist mit diesem Schritt schon einiges passiert: Ein Land hat „Nein!“ gesagt und damit kundgetan, daß es seine nationalen Ambitionen bei diesem Bündnis nicht gut bedient sieht. Die EU ist dadurch schwächer geworden, und es ist nicht absehbar, wie sehr dieses Beispiel Schule machen und weitere Austritte nach sich ziehen wird.
Immerhin ist ja jetzt ein Präzedenzfall gesetzt, an dem andere Unzufriedene sich orientieren können.
Der Separatismus in der EU erhält ebenfalls Auftrieb, da Schottland sich gerne abspalten würde. Das wird die Londoner Regierung zwar nicht zulassen, aber die Lockrufe aus der EU werden erstens nationale Spannungen in Großbritannien verschärfen, und zweitens auch andere Abspaltungstendenzen befeuern, wie in Katalonien und Flandern.
Nordirland befindet sich in einer unklaren Situation, da die Frage der Grenze zwischen Irland und Nordirland nicht gelöst und letztlich auch nicht lösbar ist. Es würde eines Krieges bedürfen, um hier klare Verhältnisse zu schaffen.
Ein ausgetretenes Großbritannien hat außerdem die Möglichkeit, durch bilaterale Handelsverträge einen weiteren Spaltpilz in die EU zu pflanzen.
Schließlich gibt es auch Pläne, GB zu einer großen Steueroase zu machen.
In diesem Falle müßte sich GB verstärkt über Verschuldung finanzieren und das Pfund, das im Schatten des Euro groß geworden ist, würde in offene Rivalität zum Euro treten, mittels Zinsfüßen und Risikoprämien.

3. Stimmungsbilder-Reportagen statt Analyse

Den Medien kann man wenig über diese Überlegungen und Risiken entnehmen. Mit geschmäcklerischen Urteilen über Engländer – vor allem ältere und arme – und kulturphilosophischen Leerformeln über „Europa“ bis hin zu Häme und Schadenfreude – „Es wird euch schon noch leid tun!“ – wird man hingegen überschüttet.
Die selbsternannten Hüter des imperialistischen Auftrags der EU – als Bündnis zu einer Großmacht zu werden – und Gegner aller Zeichen von Schwäche bei der Verfolgung dieses Ziels haben ein Feindbild gefunden, das an Großbritannien mit Reportagen und Feulletons ausgemalt wird: Das sind die Ausgesteuerten, die Mindestrentner, die Perspektivlosen, die dann irgendwelchen Scharlatanen nachrennen und sie wählen – von Trump über Johnson (Corbyns Sieg wäre den Jounalisten und Kommentatoren natürlich auch nicht recht gewesen) bis zur AfD.
Die Grundlage der demokratischen Ermächtigung von Herrschaft: 1 Person = 1 Stimme wird von ihnen mehr oder weniger in Zweifel gezogen. Am liebsten wäre es ihnen, die Arbeiterklasse, die Armen und Überflüssigen in große bewachte Ghettos zu sperren, und ihnen das Stimmrecht zu entziehen.
Noch wird dergleichen nicht offen ausgesprochen, aber die Verachtung der Unterschicht ist den meisten dieser Brexit-Artikel deutlich anzumerken.

Vorläufige Zusammenfassung der Ereignisse in Bolivien

DER MEDIAL ABGESEGNETE PUTSCH
Lange war es eigentlich ruhig um Bolivien und Evo Morales, obwohl er auch zu der Reihe der marktwirtschaftsfeindlichen Fast-Diktatoren gehörte, wie Maduro, Correa oder Cristina Fernández, auf die sich die Presse schon seit geraumer Zeit eingeschossen hatte.
Vor allem während des ganzen Getöses über Venezuela und den Usurpator Guaidó erschien Bolivien irgendwie verschont zu bleiben von den medialen Kreuzzügen für das Gute und gegen das Böse.
Die Ruhe war trügerisch, wie sich seither herausgestellt hat.
1. Demokratie
Bezüglich der Demokratie als Staatsform herrschen verschiedene Vorstellungen.
Die einen, dazu gehören auch die Eliten der Weltmacht USA, betrachten sie vor allem als eine Form der Absicherung des Privateigentums und der Kapitalakkumulation. Als solche schätzen sie auch das Spektakel namens „Wahl“, mit dem alle paar Jahre die Verwalter dieser Veranstaltung neu bestellt werden. Die sollen nicht zu lange an ihren Sesseln kleben, deswegen gibt es in den meisten demokratischen Verfassungen Beschränkungen der Amtszeit – das ist deshalb, weil auch die Ausübung der Macht als Konkurrenzveranstaltung organisiert ist. Die Kandidaten sollen lernen, sich gut zu verkaufen. Damit soll die sonstige Konkurrenz ums Geschäft gesichert und angestachelt werden.
Die anderen schätzen die Demokratie besonders als Ermächtigung der Herrschaft und immer wieder erneute Herstellung der Einheit zwischen Staat und Volk. Wahlen werden von diesen Menschen als eine Art Abstimmung über die Leistungen der Regierung gesehen, wo die Wähler ihre Zufriedenheit oder Unzufriedenheit ausdrücken. Sie meinen auch, die Regierenden seien ihren Untertanen verpflichtet, und bei der Wahl bekämen sie dann bestätigt, daß sie ihre Sache als „Diener des Volkes“ gut gemacht hätten.
Diese beiden Auffassungen ergänzen sich oft, und bestätigen einander sogar.
Aber manchmal geraten sie auch in Gegensatz zueinander.
Solches geschah und geschieht in Lateinamerika, wo sich unter dem Firmenschild „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ einige Staatsoberhäupter gefunden haben, die nicht gegen die Bevölkerung regieren wollten, sondern im Lincolnschen Sinne „mit dem, durch und für das Volk“ tätig sein wollten.
Für diese guten Absichten fanden sie ungünstige Rahmenbedingungen vor. Ihre Versuche, den ärmeren Bevölkerungsschichten Teile des nationalen Reichtums zukommen zu lassen, stießen im In- und Ausland auf Widerstand.
Um weiter ihren Weg verfolgen zu können, setzten manche auf Nachfolger. So ermöglichte Néstor Kirchner noch zu seinen Lebzeiten seiner Ehefrau die Nachfolge. Rafael Correa scheint sich mit seinem Nachfolger vertan zu haben.
Daniel Ortega glaubt nur an sich und ließ das Wiederwahlverbot aus der Verfassung Nicaraguas streichen.
Evo Morales gelang das nicht, sodaß er sich in einem umstrittenen Verfahren über das internationale Recht vom Verfassungsgericht – gegen die bolivianische Verfassung – zu einer weiteren Amtszeit ermächtigen ließ.
Vor Morales wurden in den letzten 11 Jahren 3 Regierungschefs gestürzt: 2009 in Honduras Manuel Zelaya durch einen Militärputsch, 2012 Fernando Lugo in Paraguay, in einem sehr umstrittenen Amtsenthebungsverfahren, 2016 Dilma Rousseff in einer ebenfalls sehr neuartigen Art von Mißtrauensvotum im Parlament Brasiliens.
Wurde hier die Demokratie mit Füßen getreten, wie manche meinen, oder wurde sie vor Usurpatoren gerettet, wie andere meinen?
Eher wird hier eine Neudefinition von, oder eine Klarstellung zur Demokratie vorgenommen: Demokratie ist, was den Besitzenden nützt und was die Weltmächte als Demokratie anerkennen.
2. Medien
Die Medien weltweit bemühen sich, auf diese Definition einzusteigen – das merkt man der Berichterstattung zu diesem Putsch an.
Die bolivianische Putschistenregierung unterhält Schlägertrupps, die Jagd auf Journalisten machen. Ein paar argentinische Journalisten mußten von ihrer Botschaft evakuiert werden. Die bolivianischen Zeitungen wissen, daß sie nur das schreiben dürfen, was genehm ist, sonst wird auch ihre Redaktion gestürmt, ihre Zeitung bedroht.
Wenn das woanders auf der Welt geschähe, z.B. in Rußland oder in Venezuela, oder auch in Polen oder Ungarn, so wäre in den Medien der Teufel los: Die heilige Pressefreiheit wird mit Füßen getreten! Ein „Regime“ unterdrückt Information! usw. usf.
In Bolivien ist das keiner Rede wert.
Unabhängige Berichterstattung ist sowieso schon seit längerer Zeit unüblich, die kostet nur Geld und verschreckt womöglich Kundschaft, die Werbung in dem Medium plazieren will und dafür gut zahlt.
Und so finden sich in den meisten Leitmedien der Welt – wenn überhaupt – die gleichen Fertig-Texte zu den Ereignissen in dem Andenstaat.
Wenn nicht überhaupt der Scheinwerfer von Bolivien weg und hin zu Uiguren und Hongkong geschwenkt wird, wo natürlich nur Unterdrückung und Propaganda herrschen.
Das betrifft einmal die Redaktionen und die dort Beschäftigten oder sogar freien Mitarbeiter.
Eine andere Abteilung sind die vielen – oder vielleicht auch wenigen, aber sehr eifrigen – Propaganda-Ameisen, die die Weltmedien über Twitter und Postings mit Kurztexten überschütten, demzufolge der ganze Putsch nur die Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes sei, und Morales und seine Mannschaft mafiöse Verbrecher waren, die sich unverschämt die Taschen gefüllt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen und sich durch feige Flucht ihrer rechtmäßigen Verhaftung und Verurteilung entzogen haben.
(Vorgesehen war von den Putschisten ursprünglich offenbar ein Milosevic- oder Ghaddafi-Szenario, aber Mexiko hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Zorn auf Mexiko ist bei den bolivianischen Bibelfreunden entsprechend groß.)
Sobald solche Fake-News-Verbreiter angeblich für Rußland tätig sind, heißen sie „Trolle“, und das ganze ist eine hinterlistige Form der Einflußnahme, deren eben nur böse „Regimes“ fähig sind, – aber wenn sie für die Sache der Freiheit tätig sind, gibt es darüber keine Aufregung und niemand prüft ihre Profile oder Postingnamen nach.
Die freie Presse steht also Gewehr bei Fuß für die geistige Aufrüstung.
3. Ökonomie, Imperialismus und internationale Arbeitsteilung
Bei der ganzen Sache geht es um das in Bolivien vorhandene Lithium, so liest man in alternativen Medien.
Da ist auch etwas dran, aber die Angelegenheit geht weit über das Lithium hinaus.
Wenn aus den USA verlautet, Lateinamerika habe wieder als „unser Hinterhof“ zu funktionieren, so hat das zwei Schwerpunkte:
1. „Hinterhof“: Schluß mit Vorstellungen über freien Handel mit der ganzen Welt, womöglich unter Vermeidung des Dollars! Schluß mit Industrialisierungspolitik! Diese ganzen Vorstellungen, mehr Waren im Inland herzustellen, als sie zu importieren, raubt uns unsere Märkte!
Diese Staaten des amerikanischen Kontinents haben uns unsere Konsumgüter abzunehmen – dafür dürfen sie sich auch fest verschulden – und ihre Rohstoffe herzugeben, und zwar möglichst billig!
(Es mag sein, daß genau deshalb diese sehr unbekannte Bulgarin zur IWF-Direktorin ernannt wurde, weil die sich als Werkzeug einer ungehemmten Verschuldung US-treuer Regierungen angeboten hat.)
2. „unser“
In der Art einer Kolonie würden die USA gerne aus Lateinamerika eine exklusive Einflußzone machen und alle Konkurrenten hinausdrängen, vor allem China, und auch die EU.
Da geht es also in Bolivien nicht nur um das Lithium, sondern auch um Öl, Gas und Zinn – was die Rohstoffe anbelangt. Was Importwaren angeht, so würden die USA und ihre bolivianischen Freunde gerne China hinausdrängen und dessen bolivianische Freunde irgendwie plattmachen.
Bolivien ist zusätzlich als eine Art großer Stützpunkt eingeplant, ähnlich wie es Honduras in Mittelamerika darstellt. Von hier aus würden die USA gerne alle anderen Staaten Südamerikas überwachen und mit schnellen Eingreiftruppen ruckzuck erreichen können.
Was in Bolivien selbst geplant ist – Reprivatisierung und möglicherweise sehr repressive Maßnahmen – sind vergleichsweise Kleinigkeiten gegenüber den Plänen, die mit diesem Putsch einhergehen.
Ob diese Pläne aufgehen, hängt natürlich von den Handlangern der USA vor Ort und der Opposition gegen dieselben ab.