Let’s get Brexit done!

GESCHAFFT?
Nachdem sich die mediale Öffentlichkeit lange an einer sichtlich uneinigen britischen Politikermannschaft ergötzt hatte, ist inzwischen eine Mischung zwischen Erleichterung, Ernüchterung und und Ärger eingetreten.
Sie haben es doch wirklich gemacht!
Die Bilder von vereinzelten und verhärmten EU-Fans, die auf den Straßen Londons EU-Fahnen wedeln und gegen den Brexit protestieren, werden uns also in Zukunft erspart bleiben.
Die überall breitgetretene Hoffnung, daß es sich die Briten doch überlegen und ein 2. Referendum ansetzen und schön brav wieder in die EU zurückkehren werden, haben sich endgültig in Luft aufgelöst. Insofern ist tatsächlich etwas geschehen, d.h. Fakten sind gesetzt worden.

1. Vom Referendum zum Austritt

sind ja immerhin dreieinhalb Jahre vergangen, in denen einem Uneinigkeit der britischen Eliten in Sachen Brexit und EU vorgeführt wurde.
Wie kam es eigentlich zu dem Referendum?
David Cameron bestritt unter anderem damit seinen Wahlkampf: Er erklärte 2013, ein Referendum „EU-Mitgliedschaft: Ja oder Nein?“ abhalten zu wollen, sollte er die Wahl gewinnen. Er gewann sie 2015 und setzte für das folgende Jahr diese Abstimmung an.
Der innenpolitische Grund für diese Abstimmung war also, auf eine gewisse Anti-EU-Stimmung zu setzen, auch im Lager der Opposition, und darüber auf Stimmenfang zu gehen.
Was die außenpolitische Lage angeht, so wollte der britische Premier sich über eine solche Abstimmung Rückendeckung und eine bessere Ausgangslage für Neuverhandlungen über den Mitgliedsstatus verschaffen. Die Veränderungen in der EU selbst wären Teil einer auch von anderen EU-Staaten angestrebten Reform gewesen, wo verschiedene Staaten mehr Handlungsfreiheit, mehr Unabhängigkeit und weniger Zahlungen auf Kosten anderer durchsetzen wollten. Diese Reform war also kein britisches Sonderprojekt.
Noch vor dem neuerlichen Wahlsieg Camerons ging 2014 das schottische Unabhängigkeitsreferendum über die Bühne. Über die vorangegangenen Entscheidungen und die britisch-schottische Parteienkonkurrenz, die diese Abstimmung zur Folge hatte, mögen Interessierte woanders nachlesen. Es stellte allerdings in Westeuropa eine Besonderheit dar – normalerweise sind Zugehörigkeit von Territorium und Separatismus Gewaltfragen, die mit der Waffe in der Hand entschieden werden, siehe Jugoslawien – und fand dann auch in Katalonien Nachahmer.
Das wichtige für die Brexit-Frage war jedoch, daß das schottische Referendum als eine Art Probegalopp für das Brexit-Referendum angesehen wurde. Da es mit relativ hoher Beteiligung – über 84% – recht bequem für den Verbleib Schottlands im Staatsverband ausging – 55,3: 44,7 –, waren alle beruhigt, daß das EU-Refrendum eine reine Formsache, eine g’mahte Wiesn für die EU-Anhänger sein würde. Dieser Zweckoptimismus herrschte bis zum Vortrag des Referendums in den Medien.
Dies alles nur zur Illustration dessen, daß keiner der Verantwortlichen den Brexit wollte. Er ist ihnen „passiert“. Das Volk hatte gesprochen.
Rücktritte und Schuldzuweisungen folgten. Nachdem sich in Brüssel das Entsetzen gelegt hatte, bildeten sich 2 Strategien heraus:
1. Das war ein Versehen, man sollte ein neues Referendum abhalten und die Wählerschaft entsprechend bearbeiten, wie es ja bisher in der EU auch ein paarmal gelungen war: So lange abstimmen, bis das Ergebnis paßt, – das war die erfolgreiche Strategie in Irland 2008, Holland und Frankreich 2005, wenn Plebiszite gegen die Generallinie der EU waren.
2. Wenn die Briten wirklich ernst machen, so sollte man sie hart bestrafen und schauen, daß sie ohne EU praktisch in der Unterhose dastehen.
In den folgenden Jahren stellte sich heraus, daß sich für Variante 1 keine Anhänger in GB finden würden, da das Votum eben kein Versehen war, und ein weiteres Referendum deutlich mehr Stimmen für den Austritt erbringen würde, nach dem Motto: Jetzt erst recht!
Unter 2. stellte sich heraus, daß die EU sich ein solches Vorgehen nicht leisten kann, weil GB ein zu wichtiger Handelspartner ist, dem man nicht einfach abschütteln kann, ohne negative Folgen für die Rest-EU.
Innenpolitisch hat sich bei der letzten Wahl gezeigt, daß in GB ein entschlossenes Auftreten für den Austritt satte Mehrheiten bringt.

2. Was heißt eigentlich „Austritt“?

Zunächst wurde einmal festgestellt und von der EU anerkannt, daß die britische Führung in Zukunft ihr Heil außerhalb des Bündnisses suchen will und wird.
Obwohl noch immer nicht klar ist, was das im Detail alles für Folgen haben wird, so ist mit diesem Schritt schon einiges passiert: Ein Land hat „Nein!“ gesagt und damit kundgetan, daß es seine nationalen Ambitionen bei diesem Bündnis nicht gut bedient sieht. Die EU ist dadurch schwächer geworden, und es ist nicht absehbar, wie sehr dieses Beispiel Schule machen und weitere Austritte nach sich ziehen wird.
Immerhin ist ja jetzt ein Präzedenzfall gesetzt, an dem andere Unzufriedene sich orientieren können.
Der Separatismus in der EU erhält ebenfalls Auftrieb, da Schottland sich gerne abspalten würde. Das wird die Londoner Regierung zwar nicht zulassen, aber die Lockrufe aus der EU werden erstens nationale Spannungen in Großbritannien verschärfen, und zweitens auch andere Abspaltungstendenzen befeuern, wie in Katalonien und Flandern.
Nordirland befindet sich in einer unklaren Situation, da die Frage der Grenze zwischen Irland und Nordirland nicht gelöst und letztlich auch nicht lösbar ist. Es würde eines Krieges bedürfen, um hier klare Verhältnisse zu schaffen.
Ein ausgetretenes Großbritannien hat außerdem die Möglichkeit, durch bilaterale Handelsverträge einen weiteren Spaltpilz in die EU zu pflanzen.
Schließlich gibt es auch Pläne, GB zu einer großen Steueroase zu machen.
In diesem Falle müßte sich GB verstärkt über Verschuldung finanzieren und das Pfund, das im Schatten des Euro groß geworden ist, würde in offene Rivalität zum Euro treten, mittels Zinsfüßen und Risikoprämien.

3. Stimmungsbilder-Reportagen statt Analyse

Den Medien kann man wenig über diese Überlegungen und Risiken entnehmen. Mit geschmäcklerischen Urteilen über Engländer – vor allem ältere und arme – und kulturphilosophischen Leerformeln über „Europa“ bis hin zu Häme und Schadenfreude – „Es wird euch schon noch leid tun!“ – wird man hingegen überschüttet.
Die selbsternannten Hüter des imperialistischen Auftrags der EU – als Bündnis zu einer Großmacht zu werden – und Gegner aller Zeichen von Schwäche bei der Verfolgung dieses Ziels haben ein Feindbild gefunden, das an Großbritannien mit Reportagen und Feulletons ausgemalt wird: Das sind die Ausgesteuerten, die Mindestrentner, die Perspektivlosen, die dann irgendwelchen Scharlatanen nachrennen und sie wählen – von Trump über Johnson (Corbyns Sieg wäre den Jounalisten und Kommentatoren natürlich auch nicht recht gewesen) bis zur AfD.
Die Grundlage der demokratischen Ermächtigung von Herrschaft: 1 Person = 1 Stimme wird von ihnen mehr oder weniger in Zweifel gezogen. Am liebsten wäre es ihnen, die Arbeiterklasse, die Armen und Überflüssigen in große bewachte Ghettos zu sperren, und ihnen das Stimmrecht zu entziehen.
Noch wird dergleichen nicht offen ausgesprochen, aber die Verachtung der Unterschicht ist den meisten dieser Brexit-Artikel deutlich anzumerken.

32 Gedanken zu “Let’s get Brexit done!

  1. Die Grenzen der europäischen Demokratie (31.01.2020)
    EU-Austritt Großbritanniens: Berlin und EU-Eliten erstmals mit dem Versuch gescheitert, ein missliebiges Referendum aufzuheben
    BRÜSSEL/LONDON (Eigener Bericht) – Mit dem heutigen Austritt Großbritanniens aus der EU setzt zum ersten Mal ein Mitgliedstaat das Ergebnis eines Referendums um, das den Interessen der EU-Eliten zuwiderläuft. Zuvor war es der Union sowie ihren Parteigängern in den betreffenden Ländern stets gelungen, missliebige Referendumsresultate glatt auszuhebeln – entweder per Wiederholung der Abstimmung, so etwa 1992/3 in Dänemark und mehrmals in Irland, oder auch mit Verfahrenstricks wie der Umbenennung der EU-Verfassung in “Vertrag von Lissabon”. In Griechenland hatten Brüssel und Athen der Bevölkerung, als diese im Jahr 2015 per Referendum ein hartes Kürzungsdiktat zurückgewiesen hatte, gar noch härtere Einsparungen oktroyiert. Nach dem britischen Referendum vom Juni 2016 sind erstmals alle Versuche gescheitert, das Resultat zu korrigieren. Dabei hatten Berliner Regierungspolitiker bereits wenige Tage nach der Abstimmung mit der Suche nach Optionen begonnen, das Resultat auszuhebeln – etwa per Wiederholung des Urnengangs. Auch Spitzenfunktionäre der EU hatten regelmäßig interveniert – ohne Erfolg.
    Nie in Zweifel gezogen
    Die Resultate von Referenden sind in der EU immer nur dann in Frage gestellt worden, wenn sie den Interessen der unionsorientierten Eliten zuwiderliefen. Entsprachen sie ihnen, dann genügten stets auch recht knappe Siege, um das Vorhaben, über das in der jeweiligen Abstimmung entschieden worden war, umstandslos zu realisieren. Dies galt vor allem auch für den EU-Beitritt mehrerer Länder. In Schweden sprachen sich am 13. November 1994 lediglich 52,3 Prozent der Referendumsteilnehmer für die Integration des Landes in die EU aus; in Malta taten dies am 8. März 2003 nur 53,7 Prozent. Die Überprüfung in einem zweiten Urnengang stand danach nie zur Debatte. Das galt ebenfalls für das französische Referendum über den Vertrag von Maastricht, in dem am 20. September 1992 knappe 51,0 Prozent der Abstimmenden mit “Ja” votierten. Die Gültigkeit des Referendums wurde nie in Zweifel gezogen.
    Zustimmung erkauft
    Anders verhält es sich regelmäßig, wenn das Resultat eines Referendums bei den EU-Eliten auf Missbilligung stößt. Dies war erstmals der Fall, als die Bevölkerung Dänemarks am 2. Juni 1992 mit 50,7 Prozent den Vertrag von Maastricht ablehnte. Die Abstimmung wurde am 18. Mai 1993 wiederholt. Immerhin machte Brüssel Kopenhagen damals noch echte Zugeständnisse: Dänemark erhielt vier “Opt-Outs”, also die Erlaubnis, die Integration auf vier Politikfeldern zu vermeiden – beim Euro, bei der EU-Staatsbürgerschaft, bei der EU-Militärpolitik sowie bei der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik. In Verbindung mit den vier Opt-Outs bekam der Maastricht-Vertrag im Mai 1993 eine Zustimmung von 56,7 Prozent. Freilich haben sich weder Brüssel noch die EU-orientierten Politmilieus in Kopenhagen damit zufrieden gegeben. Am 28. September 2000 wurde die dänische Bevölkerung ganz im Stile klassischer Salamitaktik an die Urnen gerufen, um die Einführung des Euro abzusegnen; am 3. Dezember 2015 sollte sie dann das Opt-Out in der Innen- und Justizpolitik zumindest teilweise aufheben. Beides verweigerte sie – mit 53,2 Prozent (2000) respektive 53,1 Prozent (2015).
    Mit Propaganda zum Erfolg
    Keine relevanten Zugeständnisse mehr erhielt die Bevölkerung Irlands, als sie 2001 und 2008 EU-Verträge durchfallen ließ und jeweils zu einem zweiten Wahlgang gebeten wurde. Am 7. Juni 2001 wiesen die irischen Wähler den Vertrag von Nizza mit 53,9 Prozent zurück. Dublin ergänzte das Dokument um einige Formulierungen, die freilich keinerlei nennenswerte Änderungen bedeuteten, und schaffte es mit einer geballten Propagandakampagne, am 19. Oktober 2002 eine Zustimmung von 62,9 Prozent der Referendumsteilnehmer zu erzielen. Der Vorgang wiederholte sich mehr oder weniger identisch nach dem “Nein” zum Vertrag von Lissabon am 12. Juni 2008, den 53,4 Prozent der Wähler ablehnten. Nach ebenfalls kosmetischen Ergänzungen und einer erneut massiven Pro-EU-Kampagne sprachen sich am 2. Oktober 2009 67,1 Prozent für den Vertrag aus.
    Gegen den Willen der Mehrheit
    Dass das irische Lissabon-Referendum wiederholt werden musste, war dabei ausschließlich einer Besonderheit der irischen Verfassung geschuldet, die bei bestimmten Fragen großer Reichweite die Befragung der Bevölkerung so gut wie unvermeidlich vorschreibt. Allgemein waren die EU und ihre Anhänger unter den Eliten der Mitgliedstaaten damals bereits dazu übergegangen, Referenden einfach zu umgehen. Dies war zuerst der Fall, nachdem die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande ihre Zustimmung zu der geplanten EU-Verfassung ausdrücklich verweigert hatten. In Frankreich war das Dokument in einem Referendum am 29. Mai 2005 von 54,7 Prozent abgelehnt worden, in den Niederlanden am 1. Juni 2005 von 61,5 Prozent. Die EU und ihre Mitgliedstaaten transformierten den Verfassungsvertrag daraufhin ohne wesentliche Änderungen in ein gewöhnliches Abkommen, das in allen EU-Ländern bis auf Irland ohne Referendum ratifiziert werden kann, und unterzeichneten es, nun unter dem neuen Namen “Vertrag von Lissabon”, am 13. Dezember 2007. Ähnlich gingen Brüssel und Den Haag vor, als die niederländische Bevölkerung am 6. April 2016 das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zurückwies. Das Parlament ratifizierte wenig später den Vertrag, ergänzt um einige “Klarstellungen”, gegen den expliziten Willen der Bevölkerung. Hohe Wellen geschlagen hatte zuvor das Referendum, in dem die Bevölkerung Griechenlands am 5. Juli 2015 mit 61,3 Prozent brachiale Kürzungsdiktate der EU abgelehnt hatte. Athen und Brüssel reagierten, indem sie den widerspenstigen Bürgern noch brutalere Einsparungen oktroyierten.
    Die alten Rezepte
    Im Fall des britischen EU-Austrittsreferendums vom 23. Juni 2016, in dem sich 51,9 Prozent der Bevölkerung dafür aussprachen, die Union zu verlassen, ist es Brüssel und den EU-orientierten Spektren im Land des Urnengangs zum ersten Mal nicht gelungen, ein missliebiges Resultat zu korrigieren. Versuche, dies zu tun, hat es von Anfang an gegeben. In Berlin etwa diskutierten Berichten zufolge bereits wenige Tage nach dem Referendum die Bundeskanzlerin und weitere Regierungsmitglieder, “wie die Briten vielleicht doch noch in der EU verbleiben könnten”; dabei wurden unter anderem eine Wiederholung des Referendums, ersatzweise Neuwahlen in Betracht gezogen.[1] Deutsche Leitmedien spekulierten, Regierung oder Parlament könnten sich weigern, dem Mehrheitswillen der Bevölkerung nachzukommen, und das Austrittsverfahren entweder einfach nicht einleiten oder aber seine Durchführung gesetzlich untersagen.[2] Manche schlugen vor, dem Vereinigten Königreich lediglich desolate Austrittsbedingungen zuzugestehen – in der Hoffnung, man könne, wenn man diese der Bevölkerung zur erneuten Entscheidung vorlege, das Referendumsresultat umkehren.[3]
    Eine Premiere
    Diese und ähnliche Überlegungen sind fast dreieinhalb Jahre lang stets wiederholt worden – in der Bundesrepublik, in den anderen EU-Staaten und auch in der Pro-EU-Fraktion der britischen Eliten. Der damalige EU-Ratspräsident Donald Tusk feuerte noch Mitte November 2019 britische Brexit-Gegner an, sie sollten “nicht aufgeben” und alles unternehmen, um den Austritt zu stoppen.[4] Zuvor hatte nicht zuletzt der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker regelmäßig geäußert, die britische Bevölkerung werde den Austritt noch bedauern; das Vereinigte Königreich könne der EU allerdings jederzeit wieder beitreten.[5] In den erbitterten Machtkämpfen um den Brexit hat sich in London schließlich diejenige Fraktion durchgesetzt, die den Austritt befürwortet. Dass die Realisierung einer gegen den Willen der EU-Eliten gefällten Mehrheitsentscheidung der Bevölkerung eines – nun scheidenden – Mitgliedstaates eine Premiere darstellt, ist eine klare Aussage über die Grenzen der europäischen Demokratie.

  2. Britisches Kapital ist übrigens – selbstverständlich – nach wie vor auch in ganz Kontinental-Europa zugange.
    Zum Beispiel: in Trás-os-Montes, im äußersten Nordosten Portugals, – dort wird Lithium abgebaut …
    https://programm.ard.de/?sendung=287242597953522&first=1
    Einen Überblick vom Mai 2018 über europäische Pläne in den Bereichen Lithium/Batterien:
    https://www.euractiv.de/section/europakompakt/news/bruessel-mit-unterstuetzung-fuer-die-europaeische-batterie-industrie/
    Bereits genehmigt im Dezember 2019 wurde dies:
    https://www.tagesschau.de/wirtschaft/batteriezellen-produktion-staatshilfen-101.html

    Ob ein einzelner europäischer Staat dergleichen zukünftig wird pur national stemmen können ?

    Und umgekehrt: Die Zerlegung der EU durch Trump schreitet flott voran. Z.B. nach diversen osteuropäischen EU-Staaten nun auch im EU-Umfeld im Balkan. [Dorthin will die EU sich ja derzeit nicht ‘erweitern’…]
    https://www.dw.com/de/mein-europa-trumps-deal-auf-dem-balkan/a-52216927
    Frankreich ist gegen eine solche Erweiterung, zielt eher auf die Stärkung französischer Machtpositionen Richtung Militär (“Integration” statt Erweiterung..). Das zielt, so dt. Ansicht dazu, a) auf eine Stärkung Frankreichs, b) auf einen Konflikt mit den USA, Richtung europäische Militärpolitik.
    https://www.euractiv.de/section/europakompakt/news/macrons-europaeische-militaerkoalition-waechst/
    Dt. Position war stattdessen bisher eher die EU-Erweiterung – als könnte man damit auch die Konflikte mit den USA (und mit Frankreich) vertagen. Sei es auch wg. deutscher Autos oder wg. der Pipeline …
    https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/eu-erweiterung-kommission-versucht-die-wiederbelebung/
    Und in der europäischen Sicherheitspolitik daher:
    https://rp-online.de/politik/ausland/aussenminister-heiko-maas-ruft-zur-staerkung-der-nato-auf_aid-47578425

  3. Was Batterien, GB, Portugal und das Lithium angeht: Es muß ja kein Staat pur national etwas angehen. Bündnisse gab es ja auch vor der EU und wird es nach der EU auch geben, solange es eine imperialistische Staatenwelt gibt.
    GB kann sich sowohl in der EU als außerhalb derselben jetzt sehr frei seine Bündnispartner wählen. China, USA, Australien, Portugal – mit allen kann es Kooperationen eingehen, ohne daß Brüssel etwas mitzureden hätte.
    Zum Balkan:
    Die Erweiterung war eigentlich das Erfolgsrezept, genaugenommen die Grundlage der EU: Nur mit Erweiterung konnte sie ihr Spielchen von Kredit und Konsum fortsetzen.
    Mit dem Ukraine-Fiasko ist die Erweiterung irgendwie schiefgegangen. Auch in Georgien und Moldawien ist die EU anscheinend nicht wirklich weitergekommen.
    Deswegen dividiert sie sich über die künftig einzuschlagende Richtung auch hier auseinander.

  4. Hauen und Stechen
    Britannien und die EU
    Von Jörg Kronauer
    An beiden Ufern des Ärmelkanals hat das große Schaulaufen begonnen. Bevor die Gespräche über ein dauerhaftes Handels- und Partnerschaftsabkommen zwischen Großbritannien und der EU Anfang März offiziell eröffnet werden, stecken Brüssel und London ihre Positionen öffentlich ab. Kürzlich hatte die EU vorgelegt: Kommission und Parlament verlangen, das Vereinigte Königreich solle sich nach seinem Austritt ganz freiwillig weitgehend an die Regel- und Normenwerke der EU anpassen. Der britische Chefunterhändler David Frost hat am Montag abend in einer Rede in Brüssel darauf geantwortet. London meine es mit dem »Brexit« wirklich ernst, bestätigte er: »Der Kern des ganzen Projekts« sei nichts Geringeres als die volle Unabhängigkeit Großbritanniens auf politischer und wirtschaftlicher Ebene. Strebe die EU ein dauerhaftes Bündnis mit dem Königreich an, dann bestehe »der einzige Weg« darin, es »auf der Grundlage einer Beziehung gleichberechtigter Partner aufzubauen«. Frosts Rede war eine deutliche Absage an jede künftige Dominanz der EU.
    Worauf man sich für die kommenden Monate einstellen muss, das hat Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian am Wochenende so beschrieben: Beide Seiten werden sich »gegenseitig zerfetzen«. Das sei ganz normal, erläuterte Le Drian. Schließlich stelle kein Staat seine Interessen ohne zwingenden Anlass zurück. Bis Jahresende muss das erwartete Hauen und Stechen beendet sein, denn liegt bis dahin kein Abkommen vor, dann erfolgt der »Brexit« ungeregelt. Das wäre aus Sicht nicht nur der deutschen Wirtschaft, die um ihr Geschäft fürchtet, sondern auch aus Sicht deutscher Großmachtstrategen fatal: Berlin und Brüssel sind, wollen sie weltpolitisch mitreden, auf das britische Einflusspotential angewiesen. Und wenn man sich über den Ärmelkanal hinweg ökonomisch zerlegt, wird aus der Wasserstraße schnell ein politisch spaltender Graben.
    Wird es Berlin, Brüssel und London gelingen, um des gemeinsamen Weltmachtstrebens willen einen Modus vivendi für die Wirtschaftsbeziehungen zu finden? Man sollte meinen: na klar. Allerdings ist Berlin nicht nur unter Historikern dafür bekannt, in maßloser Selbstüberschätzung in die Niederlage zu stürmen. Als London Anfang 2016 die EU um Zugeständnisse bat, um den »Brexit« abzuwenden, speiste Brüssel die Briten vor allem auf deutschen Druck mit Krümeln ab. Das Ergebnis ist bekannt; es sorgte in Deutschland für Entsetzen. Die Versuche des EU-Verhandlungsteams unter Michel Barnier und seiner eigentlichen Strippenzieherin Sabine Weyand, die britische Premierministerin Theresa May auflaufen zu lassen, um den »Brexit« zu stoppen, führten zu Mays Sturz. Der »Brexit« kam, und Boris Johnson dürfte weitaus geringere Zugeständnisse machen als seine Amtsvorgängerin. Ob Berlin und Brüssel sich nun zum dritten Mal verzocken? Zuzutrauen wäre es ihnen.
    Torpedo aus Brüssel
    EU droht Großbritannien nach »Brexit« als Steueroase einzustufen. Überseegebiete auf schwarzer Liste geführt
    Von Steffen Stierle
    Am Dienstag haben die EU-Finanzminister unter anderem das britische Überseegebiet Cayman Islands auf die schwarze Liste der Steueroasen gesetzt. Damit einher geht die Drohung, das gesamte Vereinigte Königreich nach dem »Brexit« als Steueroase zu behandeln.
    Die Beamten in Brüssel und die mächtigsten EU-Mitgliedsstaaten fürchten, im Zuge des Austritts Großbritanniens auf der Insel Barrieren für den Marktzugang in den Weg gelegt zu bekommen. London könnte sich künftig nicht mehr an die gemeinsamen Wirtschaftsregeln halten und der Staatengemeinschaft so Investitionen streitig machen. Mit der Drohung, das Vereinigte Königreich als Steuerparadies zu behandeln, soll die britische Regierung davon abgehalten werden, Unternehmen Vorteile gegenüber einem Engagement auf dem Kontinent einzuräumen.
    Dabei ist die schwarze Liste der EU eigentlich ein Witz, waren doch vor der Tagung am Dienstag lediglich acht Länder gelistet, darunter keine der Steueroasen innerhalb der Staatengemeinschaft, wie etwa Irland, Luxemburg oder Malta. Auch die Cayman Islands wurden bislang aufgrund der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens verschont. Das ändert sich nun. Überhaupt erst eingerichtet wurde die Liste 2017 nach langem Hin und Her, als der Druck durch die geleakten »Panama Papers« zu groß geworden war.
    Bezüglich der Motivation, die Cayman Islands auf die Liste zu setzen, wurde der Abgeordnete im EU-Parlament Markus Ferber (CSU) deutlich: »Der Traum einiger Brexit-Befürworter, aus dem Vereinigten Königreich eine Steueroase vor der europäischen Küste zu machen, wird nicht aufgehen«, sagte er am Dienstag in Brüssel. Wenn die britische Regierung das Vereinigte Königreich zur Steueroase machen wolle, würden auch die Briten auf der schwarzen Liste enden.
    Die Konsequenzen einer Listung sind bislang allerdings unklar. In einer Mitteilung des Europäischen Rates hieß es dazu am Dienstag: »Abgesehen von dem mit der Auflistung verbundenen Ansehensverlust bekommen die gelisteten Länder und Gebiete zudem Abwehrmaßnahmen sowohl auf Ebene der EU als auch auf Ebene der Mitgliedsstaaten zu spüren.« Auf EU-Ebene betreffe dies etwa die Verteilung von Fördermitteln. Auf nationaler Ebene seien die Mitgliedsstaaten gefordert, »gemäß dem vereinbarten koordinierten Ansatz Gegenmaßnahmen zu ergreifen«.
    Neben den Cayman Islands setzten die Finanzminister am Dienstag auch Panama, die Seychellen und Palau auf die Liste. Damit gibt es nun nach EU-Verständnis weltweit zwölf Steuerparadiese. Laut Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni habe das Listenverfahren in den vergangenen Jahren bereits Wirkung gezeigt. Es sei dadurch gelungen, weltweit 120 »schädliche Steuerregelungen« zu beseitigen.
    Noch mal davongekommen ist derweil die Türkei. Österreichs Finanzminister Gernot Blümel warf Ankara jedoch vor, internationale Verpflichtungen wie den zugesagten automatischen Informationsaustausch in Steuerfragen nicht einzuhalten. Man werde die türkische Fiskalpolitik weiter beobachten, kündigte er am Dienstag gegenüber AFP in Brüssel an. Wenn die Türkei sich weiter nicht an die EU-Vorgaben halte, werde Wien dafür plädieren, »dass diese auf die schwarze Liste kommt«.

  5. Die Brexit-Zwischenbilanz (20.02.2020)
    Deutsche Wirtschaft verzeichnet milliardenschwere Brexit-Verluste. Kaum Verlagerung von Finanzjobs aus London nach Frankfurt am Main
    LONDON/BERLIN (Eigener Bericht) – Deutsche Wirtschaftskreise dringen energisch auf den erfolgreichen Abschluss eines Handels- und Partnerschaftsabkommens mit Großbritannien. Schon jetzt verzeichnen deutsche Unternehmen jährliche Milliardeneinbußen, weil die EU noch keine Regelung für die Post-Brexit-Wirtschaftsbeziehungen mit dem Vereinigten Königreich getroffen hat. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) beziffert die Einbußen beim deutschen Wachstum seit dem Referendum im Juni 2016 auf 0,8 Prozentpunkte. Wird bis Jahresende keine Einigung auf ein Abkommen erzielt, dann rechnet das DIW mit Wachstumsverlusten von rund 0,6 Prozentpunkten allein im Jahr 2021. Aktuelle Schätzungen sehen das diesjährige Gesamtwachstum bei 0,7 Prozent. Dessen ungeachtet pokert Brüssel hoch und verlangt von London eine umfassende vertragliche Anpassung an die Normen und Standards der EU – einen Schritt, den Großbritanniens Regierung, durch den Austritt unabhängig geworden, strikt zurückweist. Die Zugewinne der deutschen Finanzbranche durch den Brexit fallen weitaus schwächer aus als erhofft.
    Die Bedingungen der EU
    Für die Verhandlungen über das geplante Handels- und Partnerschaftsabkommen, das nach dem Ende der Brexit-Übergangsphase Ende des Jahres die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU regeln soll, haben Brüssel und London ihre Positionen inzwischen offiziell abgesteckt. Sie erstrecken sich vor allem auf Wirtschaftsthemen, umfassen allerdings auch die sogenannte Innere Sicherheit sowie die Außen- und Militärpolitik. Die EU-Kommission hat den Entwurf für das Verhandlungsmandat bereits am 3. Februar vorgelegt. Sie bietet dem Vereinigten Königreich zwar prinzipiell freien Handel ohne Zölle und Quoten an – nicht zuletzt im Interesse auch deutscher Konzerne, die wie etwa BMW in Großbritannien Produktionsstandorte unterhalten, deren Lieferketten wiederum eng mit dem Kontinent verflochten sind. Als Gegenleistung fordert die EU von London allerdings eine formelle Übernahme von EU-Normen, etwa Sozial-, Umwelt- oder Klimastandards sowie Beschränkungen von Staatsbeihilfen.[1] Das EU-Parlament hat vergangene Woche noch härtere Bedingungen formuliert; es verlangt beispielsweise die Einhaltung von EU-Produkt- und Verbraucherschutzstandards sowie von EU-Regelungen für die Mehrwertsteuer. Das Parlament bietet sich damit EU-Verhandlungsführer Michel Barnier als Instrument an, den Druck auf London zu erhöhen. Die Brexit-Koordinierungsgruppe des Europaparlaments, der Barnier Bericht erstatten muss, wird von dem deutschen Abgeordneten David McAllister (CDU) geleitet.
    “Keine EU-Aufsicht”
    Großbritanniens Position wiederum haben in Ansätzen zunächst Premierminister Boris Johnson in einer Rede am 3. Februar und zuletzt der britische Chefunterhändler David Frost am Montagabend in Brüssel vorgestellt. Demnach ist das Vereinigte Königreich nicht bereit, EU-Standards in aller Form zu übernehmen; man werde nach dem Austritt keinerlei “EU-Aufsicht” akzeptieren, ließ sich Frost vernehmen.[2] Johnson strebt ein Freihandelsabkommen nach dem Modell des Vertrages an, den die EU mit Kanada geschlossen hat.[3] Dabei ist London laut Auskunft von Frost durchaus bereit, sich auf “gemeinsame Niveaus” etwa beim Umweltschutz oder auch bei den Staatsbeihilfen zu einigen – aber auch nicht mehr: “Wie käme das bei Ihnen an”, fragte Frost am Montag in Brüssel, “würde das Vereinigte Königreich fordern, dass die Europäische Union zu unserem Schutz eine dynamische Harmonisierung mit unseren in Westminster gemachten Gesetzen eingehen muss sowie mit unseren Aufsichtsbehörden und Gerichten?”[4] Sei die EU nicht bereit, sich auf eine derartige Vorgehensweise zu verständigen, dann werde Großbritannien Handelsbeziehungen anstreben, wie die Union sie mit Australien unterhalte, erklärte Johnson bereits am 3. Februar. Die EU und Australien treiben zur Zeit nach WTO-Regeln Handel, streben aber mittlerweile ein Freihandelsabkommen an.
    Milliardeneinbußen
    Warnungen vor einem Scheitern der Verhandlungen werden inzwischen vor allem in der deutschen Wirtschaft laut. Deutsche Exportunternehmen verzeichnen bereits jetzt aufgrund des stark gesunkenen Pfund-Kurses und wegen der allgemeinen Ungewissheit nach dem Brexit-Referendum erhebliche Einbußen im Handel mit Großbritannien. Die Exporte dorthin, die sich im Jahr 2015 noch auf über 89 Milliarden Euro beliefen – Platz drei in der Rangliste der Käufer deutscher Waren -, sanken auf weniger als 79 Milliarden Euro im vergangenen Jahr, während die Ausfuhren in die übrigen EU-Länder stiegen; das Vereinigte Königreich liegt in der deutschen Exportrangliste heute nur noch auf Platz fünf. Die brexitbedingten Einbußen haben die deutsche Wirtschaftsleistung laut Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin seit 2016 um ungefähr 0,8 Prozentpunkte weniger wachsen lassen, als es ohne das britische Austrittsreferendum möglich gewesen wäre.[5] DIW-Präsident Marcel Fratzscher beziffert die bisherigen Kosten des Brexits für die deutsche Wirtschaft auf rund zehn Milliarden Euro pro Jahr.[6] Das DIW dringt mit Blick auf die bisherigen Brexit-Einbußen auf eine Einigung mit Großbritannien bis Jahresende. Bleibe sie aus, dann sei nicht nur mit einer “geringeren heimischen Produktion und dem Wegfall eines Teils der Exporte ins Vereinigte Königreich” zu rechnen, sondern auch mit ernsten Einbußen bei der Ausfuhr in Drittstaaten. Ein Brexit ohne einvernehmliches Abkommen werde das deutsche Wachstum im Jahr 2021 um wohl 0,6 Prozentpunkte senken, prognostiziert das DIW. Das wöge schwer: Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) sagt für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von nur 0,7 Prozent voraus.
    Frankfurter Wunschszenarien
    Hat der Brexit der deutschen Wirtschaft insgesamt bereits deutlich geschadet, so haben sich die auf ihm beruhenden Hoffnungen der deutschen Finanzbranche kaum erfüllt. In den Jahren 2016 und 2017 kursierten – befeuert von PR-Organisationen der hessischen Bankenbranche – Vorhersagen, es werde durch den britischen EU-Austritt zu einer massiven Verlagerung von Arbeitsplätzen in der Finanzbranche nach Frankfurt am Main kommen. So hieß es etwa in einer im Sommer 2017 publizierten Studie, London werde 10.000 Finanzarbeitsplätze an Frankfurt verlieren; in der Rhein-Main-Region sei, da Finanzangestellte eine rege Nachfrage in anderen Branchen hervorriefen, mit zusätzlichen 36.000 (“vorsichtiges Szenario”), vielleicht gar 88.000 (“optimistisches Szenario”) Arbeitsplätzen außerhalb des Finanzsektors zu rechnen. Allein Frankfurt am Main könne dabei auf zusätzliche Einnahmen aus den anfallenden Steuern in Höhe von 136 bis 191 Millionen Euro pro Jahr hoffen.[7] Andere Institute, etwa die Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba), gingen von einem Stellenzuwachs in einer Größenordnung von immerhin 8.000 Arbeitsplätzen aus.
    Kein Bankenboom
    Eine aktuelle Bestandsaufnahme ergibt ein deutlich anderes Bild. So haben zwar eine ganze Reihe von Finanzinstituten eine neue Präsenz in Frankfurt am Main errichtet oder bestehende Präsenzen aufgestockt – oft, weil Finanzgeschäfte innerhalb der EU nur von einem EU-Standort aus getätigt werden dürfen. Bis Ende August 2019 hatten 31 Finanzunternehmen deshalb eine neue Präsenz in Frankfurt geschaffen, deutlich mehr als in Paris (elf), in Dublin und Luxemburg (je neun) und in Amsterdam (fünf).[8] Allerdings beschränkt sich der Stellenzuwachs bislang auf lediglich 1.500 Finanzarbeitsplätze, gerade einmal ein Sechstel der ursprünglich prognostizierten Zahl. Zwar sind PR-Stellen der Frankfurter Banken optimistisch, dass bis Ende 2021 noch rund 2.000 weitere Stellen hinzukommen; doch räumt beispielsweise die Helaba ein, dass dies den Stellenabbau bei den deutschen Großbanken kaum ausgleichen wird: Demnach wird Frankfurt Ende 2021 dank des erhofften Brexit-Zuwachses 64.500 Finanzjobs aufweisen – lediglich 600 mehr als Ende 2018, bei anschließend deutlich fallender Tendenz. Zum Vergleich: Die Zahl der Finanzarbeitsplätze in London wird auf rund 380.000 beziffert.[9] Damit erweist sich, während die Wirtschaft insgesamt Einbußen hinnehmen muss, auch der lange propagierte Hoffnungsschimmer in der deutschen Finanzbranche als trügerisch (german-foreign-policy.com berichtete [10]).

  6. Der Brexit steckt nach wie vor. Der formale Entschluß, wirklich auszutreten, wurde zwar getroffen, alle damit zusammenhängenden Fragen wurden jedoch in die Zukunft verschoben. Und dann kam die Coronakrise, Boris allein zu Hause, und eine generelle Unklarheit über die wirtschaftliche Situation in GB und in der Rest-EU.
    „Die EU und das UK reden wieder von einem wilden Brexit. Nur wäre dieser inzwischen nicht mehr nur eine Gefahr für das Wachstum, sondern für die schwerste Rezession auf diesem Kontinent seit dem II. Weltkrieg. …
    Brüssel beharrt darauf, kein Abkommen um jeden Preis zu wollen. … Man sucht eine Einigung bis zum Herbst, die dann bis zum Ende der Frist von den einzelnen Parlamenten der EU ratifiziert werden kann.“ (El País, 16.6.)
    Wers glaubt, wird selig. Bis Jahresende wird es vermutlich wieder eine Fristverlängerung geben.
    GB hätte gern den Weiterbestand des Freihandelsabkommens ohne irgendwelche Verpflichtungen und Zahlungen an die EU, und unter Aufhebung der Freizügigkeit. Irgendwo hat es das ja bereits, einer Fortsetzung der Verhandlungen Richtung Ende nie steht also nichts im Wege.
    Es fällt inzwischen auf, wie wenig Druckmittel die EU diesbezüglich hat.

  7. “Die EU und das UK reden wieder von einem wilden Brexit. ”
    Erstmal reden sie über einen Brexit ohne Anschlußverträge. “Wild” ist das nur, wenn man, wie die EU, einen Horror davor hat, und dann seine Felle davonschwimmen sieht. Johnsons Position scheint mir schon länger letztlich entschieden zu sein: Gar kein Abkommen, auf keinen Fall und um jeden Preis. Deshalb läßt der ja nicht mal richtig verhandeln. Es wird schon so sein, Daß die EU ihn partout irgendwie in der EU halten will und deshalb liebend gern einer Verlängerung der Verhandlungen zustimmen würde. Ich halte es aber für glaubwürdig, daß Johnson daran kein Interesse hat und deshalb seine Ankündigung, daß GB Ende 2020 raus ist, auch ohne Vertrag, keine leere Drohung ist, um Zugeständnisse der EU für einen de facto Verbleib rauszuschinden, sondern genauso gemeint ist. Vielleicht wird selig, wer was anderes glaubt. Wie werden das ja dann sehen.

  8. Der derzeitige Zustand ist GB doch recht: Freihandel und sonst keine Verpflichtungen.
    Einmal sehen, ob nach dem 31. Dezember was anderes herauskommt.

  9. Der derzeitige Zustand fällt aber Ende 2020 automatisch weg, es sei denn, GB hat bis dahin mit der EU irgendeinen Ersatzvertrag hingekriegt. Dann gibt es natürlich endgültig keine Verpflichtungen mehr für GB gegenüber der EU (und die, die dann eigentlich trotzdem noch gibt, wird GB wohl eher nicht mehr einhalten). Aber dass es dann weiter Freihandel geben wird, halte ich für ein Gerücht der Brexiter.

  10. Aber, aber! Man kann doch immer verlängern, automatisch ist gar nix.
    Lassen wir uns überraschen.
    Was den Freihandel betrifft: Wie viele Länder unterlaufen die Rußland-Sanktionen, während sie sie bei offiziellen Sitzungen immer wieder erneuern! (Österreich ganz vorne.)
    Genauso wird es mit dem Freihandel auch sein. Wer exportieren will, wird sich „Ausnahmeregelungen“ genehmgen lassen, und die Zollkontrollen werden entsprechend gehandhabt werden.
    Man kennt doch die EU, oder?
    Vorne größes Getöse, hinten Ausmauschelei.

  11. “Man kann doch immer verlängern, automatisch ist gar nix.”

    Man natürlich, aber wie kommst du denn zur Auffassung, daß Johnsons Regierung an einer Verlängerung Interesse hätte, wo sie doch gerade erst wieder eindeutig betont hat, daß sie sowas gerade nicht will. Alles nur Verhandlungspoker? Fensterreden für die Sun?

  12. Also da muß man sich entscheiden: Entweder etwas ist „automatisch“, oder es hängt von der Entscheidung der beiden Seiten ab.

  13. Ratlosigkeit nach EU-Gipfel
    London erklärt »Brexit«-Verhandlungen für gescheitert. Brüssel kündigt »Intensivierung« an
    Nach dem EU-Gipfel ist die Fortsetzung der »Brexit«-Gespräche ungewiss. Großbritanniens Premierminister Boris Johnson erklärte weitere Verhandlungen über ein Handelsabkommen am Freitag für sinnlos, sollte Brüssel seine Position nicht »grundsätzlich ändern«. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte dennoch an, die Brüsseler Unterhändler würden nächste Woche »wie geplant« nach London reisen, »um diese Verhandlungen zu intensivieren«.
    Nach Angaben von namentlich nicht genannten Vertretern der EU hat London die Fortsetzung von Verhandlungen akzeptiert. Die britische Regierung bestätigte dies allerdings nicht. »Die Handelsgespräche sind vorbei«, sagte ein Sprecher Johnsons. »Die EU hat sie effektiv beendet.« Sollte sich Brüssel nicht grundsätzlich bewegen, müsse sich das Team von Chefunterhändler Michel Barnier nicht die Mühe machen, nach London zu kommen.
    Johnson hatte der EU kurz zuvor vorgeworfen, nicht seriös zu verhandeln. Wenn sie ihre Position nicht ändere, werde Großbritannien sich darauf einstellen, seine Handelsbeziehungen zur EU ab Januar auf der Grundlage von Regelungen der Welthandelsorganisation WTO zu gestalten.
    Dann würde elf Monate nach dem EU-Austritt Großbritanniens doch noch ein »harter
    Brexit« Realität. Zum Jahreswechsel verlassen die Briten nach einer Übergangsphase auch den EU-Binnenmarkt und die gemeinsame Zollunion.
    Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel die britische Regierung aufgefordert, »die notwendigen Schritte zu unternehmen«, um ein Handelsabkommen zu ermöglichen. Sie stellten »mit Besorgnis« fest, dass es zweieinhalb Monate vor Ende der »Brexit«-Übergangsphase noch immer keine »ausreichenden Fortschritte« bei Schlüsselfragen gebe.
    Die EU-Erklärung war in London auf Verärgerung gestoßen. Dies sei »eine ungewöhnliche Herangehensweise, um Verhandlungen zu führen«, kritisierte der britische Verhandlungsführer David Frost. (AFP/jW)
    Die Uhr tickt
    »Brexit«: EU unter Zugzwang
    Von Jörg Kronauer
    Drei Minuten vor zwölf: Das wird, diese Prognose hat EZB-Präsidentin Christine Lagarde am Donnerstag gewagt, der Zeitpunkt sein, zu dem sich die EU und Großbritannien auf einen »Brexit«-Deal einigen. Die EU ist dafür bekannt, bis zur allerletzten Sekunde zu pokern, gern auch mal darüber hinaus; zuletzt hat dies der Coronakrisengipfel im Juli bis zum Exzess gezeigt. Dass sich am Freitag auf dem EU-Gipfel in Brüssel keine Einigung abzeichnete, da die Union weiterhin auf Maximalpositionen in Sachen »Brexit« beharrte, das muss also nicht weiter verwundern.
    Lagarde gab sich dennoch zuversichtlich, es werde zu einem einvernehmlichen Trennungsdeal kommen. Rechne man einfach einmal aus, wie schwer nicht nur Großbritannien, sondern auch die EU von einem ungeregelten »Brexit« ökonomisch getroffen würden, dann zeige sich »kristallklar«, urteilte die EZB-Präsidentin, »dass es eine Übereinkunft geben muss«. Dass ein »No Deal« das Vereinigte Königreich eine Menge kosten würde, predigen Politik und Medien hierzulande bereits seit Jahren. Dass er aber auch die EU und ganz besonders Deutschland teuer zu stehen käme, das hingegen wird eher selten thematisiert. Dabei ist Großbritannien nicht nur einer der wichtigsten Absatzmärkte der deutschen Exportindustrie, sondern auch der zweitgrößte Auslandsstandort der deutschen Wirtschaft nach den USA – mit Direktinvestitionen, die immer noch um die Hälfte über denjenigen in China liegen. Das setzt kaum jemand freiwillig aufs Spiel, schon gar nicht, wenn globale Machtkämpfe und eine Pandemie ohnehin schwere Schäden anzurichten drohen.
    Das Problem für die Pokerfreunde in der EU: Der britische Premierminister Boris Johnson steigt aus der Zockerei aus. Er hat am Freitag mitgeteilt, die Verhandlungen seien aus seiner Sicht zu Ende; London bereite sich jetzt auf einen »No-­Deal-Brexit« vor. Das ist keine leere Drohung; Johnson meint es ernst. Für die EU bedeutet das: Sie muss sich entscheiden – und zwar jetzt –, ob sie wirklich auf ihren Maximalpositionen beharrt und damit den Deal zum Scheitern bringt. Das war der Zeitpunkt, zu dem sich Bundeskanzlerin Angela Merkel auch offiziell in die Debatte einschaltete. Man habe Großbritannien »gebeten, kompromissbereit zu sein«, sagte sie in Brüssel: »Das schließt ein, dass auch wir Kompromisse machen müssen.« Am Montag soll nun der EU-Verhandlungschef, Michel Barnier, in die britische Hauptstadt fliegen und dort eine Verlängerung erbitten. Johnson ist bereit, ihn zu empfangen, hat allerdings auch klargestellt, dass Barnier nur dann willkommen ist, wenn Brüssel Bereitschaft zu wirklichen Zugeständnissen zeigt. Die Vorbereitungen auf den »No-Deal-Brexit«, teilte er mit, liefen auf vollen Touren.
    Die Uhr tickt also. Merkel hat – im Sinne der deutschen Wirtschaft – von der EU öffentlich die Bereitschaft zum Kompromiss verlangt. Die Interessen der EU-Zentralmacht liegen damit klar auf dem Tisch. Es wäre überraschend, würde sich Brüssel ihnen widersetzen.

  14. Streit um Beihilfen
    Der EU-Gipfel bringt keine Annäherung über ein Post-Brexit-Abkommen
    Von Stephan Kaufmann
    (…) Staaten weltweit versuchen derzeit, mit Milliarden an Subventionen heimische Unternehmen über die Krise zu bringen und Produktionskapazitäten für die Zeit nach der Pandemie aufzubauen. Das sorgt für Streit mit den Konkurrenten. Dieser Streit eskaliert zwischen der EU und Großbritannien. Beide Seiten wollen ein Handelsabkommen für die Zeit nach der Brexit-Übergangsphase schließen. Hauptzankapfel sind dabei – neben den Fischereirechten – die Subventionen. (…)
    (Forts.):
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1143246.brexit-streit-um-beihilfen.html?sstr=Stephan%20Kaufmann

  15. Zunächst war der Brexit ein Schock für die EU, weil gar nicht vorgesehen war, daß ein Mitglied überhaupt austritt, und auch bis zum Schluß gehofft wurde, das werde ohnehin gut ausgehen.
    Als es dann klar war, daß GB wirklich austreten will und wird, so war der Tenor in der EU der, ein Exempel zu statuieren und GB sozusagen zu bestrafen für dieses ungehörige Verhalten.
    2 Jahre und die Corona-Pandemie später ist diese Position zwar eher absurd, aber eine andere fällt den EU-Politikern offenbar nicht ein.
    Auch deshalb, weil jede andere Position dieses Staatenbündnis in seinen Grundfesten berühren würde. Weil wenn die Zentrifugalkräfte stärker sind als die Zusammenhaltsgründe, so könnten andere Austritte folgen.

  16. Im Interesse der deutschen Industrie (19.10.2020)
    Kanzlerin Angela Merkel dringt gegen EU-Konsens auf “Kompromiss” beim Handelsabkommen mit Großbritannien.
    BERLIN/LONDON (Eigener Bericht) – Die Bundesregierung schert aus dem EU-Konsens in den Verhandlungen über ein Brexit-Freihandelsabkommen aus und verlangt Zugeständnisse gegenüber Großbritannien. Hatten die EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag noch einhellig – mit Zustimmung Berlins – den Druck auf London erhöht und die britische Regierung zum einseitigen Nachgeben im Streit um das Abkommen aufgefordert, so plädiert Bundeskanzlerin Angela Merkel jetzt dringend für “einen Kompromiss”. Auslöser für den Kurswechsel ist, dass London bekräftigt, einen ungeregelten Brexit vorzuziehen, wenn die EU vollumfänglich auf ihren Positionen beharrt. Ein ungeregelter Brexit allerdings brächte gravierende Nachteile vor allem für die deutsche Industrie, deren zweitgrößter Investitionsstandort – deutlich vor China – das Vereinigte Königreich ist und deren Geschäft auf den britischen Inseln schon jetzt ganz erheblich unter den Brexit-Ungewissheiten leidet. Weitere Einbrüche sucht Berlin, mit den Schäden der Coronakrise und den Wirtschaftsrisiken des Machtkampfs zwischen den USA und China konfrontiert, zu vermeiden.
    Streit um das Handelsabkommen
    Auslöser für die jüngste Eskalation im Streit um das geplante Brexit-Handelsabkommen war eine kurzfristig vorgenommene Änderung der aktuellen Vorgaben für EU-Chefunterhändler Michel Barnier, die die EU-Staats- und Regierungschefs am vergangenen Donnerstag beschlossen hatten. Ursprünglich hatte es heißen sollen, Barnier müsse “die Verhandlungen mit dem Ziel intensivieren, dass eine Vereinbarung ab dem 1. Januar 2021 angewendet werden kann”.[1] Am Mittwoch entschieden die EU-Botschafter der Mitgliedstaaten jedoch, die Formulierung herabzustufen; nun sollte statt der “Intensivierung” nur noch gefordert werden, “die Verhandlungen in den kommenden Wochen weiterzuführen”. Diesen Wortlaut verabschiedeten dann die Staats-und Regierungschefs, dies mit dem Ziel, auf Zeit zu spielen, um den Druck auf das Vereinigte Königreich zu erhöhen.[2] Ergänzend riefen sie die britische Regierung dazu auf, “die notwendigen Schritte zu tun, um eine Vereinbarung zu ermöglichen” – eine Erklärung, die alle noch erforderlichen Zugeständnisse einseitig von London verlangt.
    Strafzölle (I)
    Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil in den beiden wichtigsten noch ungeklärten Fragen das Vereinigte Königreich gute Verhandlungspositionen besitzt – dies auch laut Einschätzung deutscher Beobachter. Das gilt zum einen für den Streit um Fischfangrechte in britischen Hoheitsgewässern. Die derzeit gültigen EU-Regelungen laufen, so formuliert es der Hamburger Fischereirechtsexperte Valentin Schatz, darauf hinaus, “dass die Flotten anderer EU-Mitgliedstaaten etwa acht Mal so viel Fisch in britischen Gewässern fangen wie britische Fischer in deren Gewässern”.[3] Britische Fischer empfänden dies als Missstand und forderten Verbesserungen. Großbritannien sei prinzipiell nicht dazu verpflichtet, “der EU auch in Zukunft Zugang zu den Fischbeständen in [britischen] Gewässern … zu gewähren”. Die Rechtslage sei für die Union also “unvorteilhaft”. Brüssel bemühe sich daher, “die Frage der künftigen Fangrechte mit den künftigen Handelsbeziehungen … zu verknüpfen”, und bestehe nicht zuletzt darauf, auf einen etwaigen “Verstoß gegen die Vorschriften über Fangrechte” mit EU-Strafzöllen gegenüber Großbritannien reagieren zu dürfen, resümiert Schatz: “Solche Regelungen sind für Fischereiabkommen ungewöhnlich”.
    Strafzölle (II)
    Ähnlich verhält es sich beim Streit um künftige Staatssubventionen für Privatunternehmen. Nach wie vor besteht die EU darauf, Großbritannien müsse ihre bestehenden Beschränkungen für solche Subventionen vollumfänglich übernehmen, um Vorteile für britische Firmen gegenüber der kontinentalen Konkurrenz zu verhindern. London verweigert das mit Verweis auf seine staatliche Souveränität. Ergänzend erinnern Experten daran, dass das Vereinigte Königreich bereits in der Vergangenheit deutlich weniger Subventionen zahlte als etwa Frankreich oder Deutschland; so gab Paris zuletzt 0,76 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Staatszuschüsse aus, Berlin sogar 1,31 Prozent, London jedoch gerade einmal 0,38 Prozent.[4] Die britische Regierung ist bereit, sich in dem Abkommen auf internationale Standards festzulegen, wie sie etwa im Freihandelsabkommen der EU mit Japan festgeschrieben sind.[5] Das wiederum reicht der EU, die Großbritannien so fest wie möglich an ihre Regelwerke zurren will, nicht aus. Zuletzt schlug sie vor, dem Vereinigten Königreich die Übernahme ihrer Mindeststandards vorzuschreiben, ihm gleichzeitig zu erlauben, diese ausnahmsweise zu unterbieten, darauf allerdings sofort mit eigenen Strafzöllen gegen Waren aus Großbritannien reagieren zu dürfen. London lehnt das als Einführung von EU-Normen durch die Hintertür ab.
    Zu hoch gepokert
    Für den Versuch, ihre Forderungen trotz deutlich schlechterer Verhandlungsposition durchzusetzen, sahen EU-Unterhändler jüngst neue Chancen – weil, wie Insider formulieren, Großbritanniens Premierminister Boris Johnson sich “in eine schwierige Lage gebracht” habe: Er stehe “wegen des schlechten Managements der Pandemie” zur Zeit “mit dem Rücken zur Wand und könne sich einen weiteren Fehlschlag nicht leisten”. Auch habe kürzlich Washington der EU Hilfestellung geleistet – mit der Ankündigung, bei britischen Verstößen gegen die bisherigen Brexit-Einigungen einem Freihandelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich eine Abfuhr zu erteilen.[6] Solche Verstöße zieht die britische Regierung für den Fall, dass es zu keiner Einigung kommt, in zwei Einzelfragen in Betracht. Auf die daraufhin erfolgte Entscheidung des EU-Gipfels, die aktuellen Vorgaben für Verhandlungsführer Barnier wie erwähnt zu ändern, hat London allerdings scharf reagiert, zunächst mit erstem Protest unmittelbar nach dem EU-Gipfelbeschluss, dann mit Äußerungen von Johnson am Freitag. Er gehe nun nicht mehr davon aus, dass es zu einer Einigung komme, teilte Johnson mit: Die Forderungen der EU, von denen abzurücken Brüssel offenbar nicht bereit sei, seien “völlig inakzeptabel für ein unabhängiges Land” wie Großbritannien.[7] Der Premierminister schloss nicht aus, Barnier könne – wie geplant – an diesem Montag zur Fortsetzung der Gespräche in London empfangen werden, erklärte allerdings, das werde nur bei einer Abkehr der EU von ihren Maximalpositionen geschehen.
    Zu viele Eisen im Feuer
    Zu einer solchen Abkehr hat unmittelbar nach den ersten Protestäußerungen aus London Kanzlerin Angela Merkel aufgerufen. Wenn man Großbritannien zu Zugeständnissen auffordere, dann “heißt [das] natürlich, dass auch wir einen Kompromiss machen müssen”, erklärte Merkel – und brach damit aus dem vielbeschworenen EU-Konsens aus, dem sie selbst noch auf dem EU-Gipfel vom Donnerstag explizit zugestimmt hatte.[8] Grund ist, dass die deutsche Wirtschaft von einem Brexit ohne regelndes Freihandelsabkommen hart getroffen würde. Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft etwa weist darauf hin, dass die deutschen Exporte in das Vereinigte Königreich, die von 1991 bis 2015 jährlich im Durchschnitt um fünf Prozent stiegen, seit 2016 – dem Jahr, in dem das Brexit-Referendum stattfand – im Jahresdurchschnitt um drei Prozent gefallen sind, insgesamt von 89,0 Milliarden Euro im Jahr 2015 auf nur noch 78,9 Milliarden Euro vergangenes Jahr.[9] Zölle, wie sie ohne ein Freihandelsabkommen erhoben werden müssten, würden den deutschen Absatz in Großbritannien weiter schrumpfen lassen. Hinzu kommt, dass der Bestand unmittelbarer und mittelbarer deutscher Investitionen auf den britischen Inseln derzeit 137,7 Milliarden Euro beträgt; damit ist das Vereinigte Königreich weiterhin der zweitgrößte Investitionsstandort deutscher Unternehmen überhaupt mit einem Investitionsvolumen, das immer noch mehr als 50 Prozent über demjenigen in China liegt. Die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade & Invest (gtai) wies kürzlich darauf hin, dass sich die deutschen Investitionen in Großbritannien schon jetzt “unter ihrem Potenzial” entwickeln.[10] Kommt das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien nicht zustande, wird mit empfindlichen Einbußen gerechnet – in einer Zeit, in der die Coronakrise die Wirtschaft dramatisch einbrechen lässt und der Machtkampf zwischen den Vereinigten Staaten und China für die Bundesrepublik beträchtliche ökonomische Risiken mit sich bringt. Die Gefahr, die eigenen Potenziale in den diversen globalen Konflikten zu überreizen und der eigenen Wirtschaft dadurch schwere Schäden zuzufügen, wächst.

  17. Im Windschatten des Brexit
    London und Tokio vereinbaren Handelsabkommen. Britische Finanzbranche erhält erleichterten Zugang in Japan
    Von Jörg Kronauer
    Die britische Handelsministerin Elizabeth Truss und der japanische Außenminister To­shimitsu Motegi haben am Freitag in Tokio das erste Post-Brexit-Handelsabkommen unterzeichnet. Es streicht die Zölle auf rund 99 Prozent aller Waren, die zwischen den beiden Ländern gehandelt werden. Es wird, so hofft es jedenfalls die britische Regierung, die Ex- und Importe um zusammen 15 Milliarden Pfund pro Jahr steigern – und, dies ist das eigentlich Neue: Es geht über die Normen hinaus, die die EU in ihrem Handelsabkommen mit Japan festgelegt hatte.
    Wie sich das in der Praxis gestaltet, kann man den Verhandlungen zwischen London und Tokio entnehmen. Als beide Seiten am 9. Juni dieses Jahres die Gespräche über das Abkommen starteten, nahmen sie als Grundlage den Bestand der Handelsvereinbarungen zwischen Japan und der EU. Darüber hinaus erweiterten sie die Liste der Herkunftsbezeichnungen und lockerten die Ursprungsregeln. Zum einen dürfen mehr Waren zollfrei gehandelt werden, zum anderen sind mehr lokale Spezialitäten wie schottischer Whisky künftig in Japan produktgeschützt. London räumte der japanischen Autoindustrie attraktive Vorteile ein: Zölle auf die Einfuhr von Kfz-Teilen werden deutlich gesenkt. Das dürfte die Autoproduktion bei Nissan in Sunderland oder bei Toyota in Derbyshire spürbar verbilligen. Der Haken an der Sache: Nissan und Toyota verbauen in ihren britischen Werken nicht nur Teile aus Japan, sondern auch welche aus der EU, in die sie ihre in Großbritannien hergestellten Autos außerdem exportieren. Tokio hoffe sehr, dass es London gelinge, sein geplantes Handelsabkommen mit Brüssel zu realisieren, insistierte der japanische Außenminister Motegi bei der Unterzeichnung des Vertrages.
    Japan wiederum hat sich in der Vereinbarung auf Zugeständnisse eingelassen, die der Londoner City hochwillkommen sind: Die Lockerung einschlägiger Normen etwa zur Datenweitergabe erleichtert es der britischen Finanzbranche, in Japan Fuß zu fassen. Der Finanzmarkt dort sei im Vergleich etwa zu Hongkong oder zu Singapur noch relativ isoliert, aber hochattraktiv. Immerhin trage er 250 Milliarden US-Dollar zur japanischen Wirtschaftsleistung bei, urteilte Sherry Madera, Managerin des milliardenschweren Londoner Finanzdatenanbieters Refinitiv, am Freitag nach der Unterzeichnung des Abkommens. Der Finanzplatz Tokio könne seinerseits von einer Öffnung für britische Finanzfirmen profitieren, da er bei seinem Bestreben, global weiter aufzusteigen, auf Verbündete angewiesen sei.
    Die Londoner Eliten betrachten das Abkommen mit Japan darüber hinaus als Mittel, ihre eigene Position im Asien-Pazifik-Raum zu stärken. In Zukunft würden voraussichtlich 90 Prozent des weltweiten Wachstums außerhalb Europas generiert. Es gelte also, den Sprung in die Boomregionen zu schaffen. Das Vereinigte Königreich hat dazu die Mitgliedschaft im transpazifischen Handelsbündnis CPTPP im Blick. Dieses war eigentlich unter der Bezeichnung TPP (Trans-Pacific Partnership) als antichinesischer Pakt der Vereinigten Staaten geplant, bis US-Präsident Donald Trump unmittelbar nach seinem Amtsantritt die Mitgliedschaft der USA beendete. Die verbliebenen elf Staaten von Japan und Singapur über Australien und Neuseeland bis Chile und Kanada bilden nun seit 2018 das drittgrößte Handelsbündnis der Welt. Sie erwirtschaften immerhin rund 13 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung.
    Das Abkommen zwischen Großbritannien und Japan wird Anfang nächsten Jahres in Kraft treten können – gerade rechtzeitig nach Ende der Brexit-Übergangsphase zum 1. Januar 2021. Bereits vor ihm hat das Vereinigte Königreich rund 20 weitere Handelsverträge geschlossen. Allerdings handelt es sich dabei lediglich um die Adaption bestehender EU-Abkommen, an denen Großbritannien als EU-Mitglied beteiligt war und die es jetzt ersetzen muss. Darüber hinaus hat London Verhandlungen über eine Handelsliberalisierung mit den USA, Australien und Neuseeland gestartet. Damit geht es, wie im Fall Japans, über die EU hinaus. Offizielles Ziel ist es, bis 2022 80 Prozent des britischen Ex- und Imports mit Handelsabkommen für das Kapital zu vergünstigen.

  18. Offizielles Ziel ist es, bis 2022 80 Prozent des britischen Ex- und Imports mit Handelsabkommen für das Kapital zu vergünstigen.

    Wenn gleichzeitig das mit der EU abstürzt, so kann es sich höchstens um Schadensminderung handeln.

  19. Als Weihnachtsgeschenk ein Abkommen eine Woche vor dem Stichtag:
    Brexit-Handelspakt Das steht im Abkommen
    Stand: 24.12.2020 20:37 Uhr
    Keine Einfuhrzölle zwischen Großbritannien und der EU, eine Übergangsphase für die Fischfangquote und enge Zusammenarbeit im Kampf gegen Kriminalität: Die wichtigsten Inhalte des Brexit-Handelsabkommens.
    Nach monatelangen Verhandlungen haben sich die EU und Großbritannien auf ein Handelsabkommen nach dem Brexit geeinigt. Es betrifft nicht nur den Warenverkehr, sondern Bereiche wie Staatssubventionen, Luft- und Straßenverkehr oder soziale Sicherung. Großbritannien spricht vom “größten bilateralen Handelsabkommen”, das beide Seiten je vereinbart hätten. Die wesentlichen Elemente des Post-Brexit-Deals im Überblick.
    Keine Zölle
    Auf Waren im beiderseitigen Handel werden keine Zölle bei der Einfuhr erhoben. Zudem gibt es keine mengenmäßigen Beschränkungen für den Import. Ein- und Ausfuhrformalitäten etwa wegen der Kontrolle anderer Standards sollen möglichst vereinfacht werden. Besonders reibungslos soll dabei der Handel in Bereichen mit Autos, Medikamente, Chemikalien und Wein gestaltet werden.
    https://www.tagesschau.de/ausland/brexit-handelsabkommen-inhalt-101.html
    Es ist aber offenbar geplant, schrittweise Zölle einzuführen – auf jedenfall werden jetzt auf beiden Seiten des Ärmelkanals Zollkontrollen eingeführt.
    Laut El País rechnet die britische Regierung damit, 50.000 Zöllner einzustellen.
    (Da merkt man einmal, was die EU mit ihren offenen Grenzen alles an Arbeitsplätzen wegfallen hat lassen.)
    Bisher fuhren pro Jahr 4,4 Millionen Lastwägen hin und her, das wird sich vermutlich bald ziemlich reduzieren.
    Die Gebrauchsanweisung, wie man in Zukunft die Zollerklärungen gestalten muß, umfaßt auf Englisch 40 Seiten, auf Französisch 60.
    https://elpais.com/internacional/2020-12-24/el-acuerdo-de-la-era-post-brexit-que-salva-el-precipicio-pero-no-evita-la-caida.html
    Dieses Abkommen wurde nur möglich, weil ein Haufen zu klärende Fragen auf März verschoben wurden.
    Man wird sehen, was sich zwischen 1.1. und März beim Warenverkehr tut …

  20. Das Allerwichtigste hat dieses Abkommen aber erreicht: Das Pfund und der Euro sind gegenüber dem Dollar gestiegen.
    Für nach Weihnachten wird eine Börsenrally in GB erwartet, weil ja jetzt ein Abkommen da ist!

  21. Ergänzungen: Das steht auch noch im Abkommen, laut Lutz Herden (im Freitag):
    “Ein Zugang light zum Binnenmarkt, wie ihn sich die Briten als Zeichen ihrer Post-Brexit-Souveränität vorstellten, war und ist für die Brüsseler EU-Zentrale nicht hinnehmbar. Dies würde destruktive Briten belohnen und hätte das Zeug zur Blaupause. EU-Staaten könnten im Konfliktfall geltend machen, wie den Briten solle man ihnen gleichfalls Sonderrechte einräumen.
    Die jetzt gefundene Übereinkunft verbietet dem EU-Aussteiger einen Binnenmarkt à la carte nach dem Prinzip – die Zollfreiheit auskosten, aber bei den Standards das eine oder andere auslassen. Desgleichen dürfte nun feststehen, dass es keinen Sonderstatus für Nordirland geben muss, der als Notlösung (Backstop) greift, falls kein Handelsvertrag zustande kommt. Das heißt, die innerirische Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden bleibt für den Warenverkehr so durchlässig und unsichtbar wie gehabt.
    Was die konservative Regierung für sich als Erfolg ausgeben kann und garantiert wird, sollte dieser Handelsvertrag wie vorgesehen am 30. Dezember im Unterhaus zur Abstimmung stehen, das ist der Umgang mit Vertragsverletzungen und Streitfällen. Werden dazu unabhängige Schiedsgerichte angerufen, ist die EU-Rechtsprechung in Gestalt des EU-Gerichtshofs (EuGH) ausgebootet. London wird das als kolossalen Souveränitätsgewinn feiern. (…)
    Schließlich werden britischen Fischern in den eigenen Hoheitsgewässern nur 25 Prozent des bisherigen Fangwertes der EU-Fischer zugestanden, nicht 60 Prozent, wie das die britischen Verhandler noch zu Beginn der Woche als unumgängliche Quote reklamierten. Über fünfeinhalb Jahre hinweg soll die EU-Fangquote jedoch Schritt für Schritt schrumpfen.
    Feststeht: Großbritannien bleibt eng mit Kontinentaleuropa oder eben der EU verflochten. Der große Durchbruch hin zu einer freischwebenden handelspolitischen Souveränität, die keine Zwänge, nur die eigenen Bedürfnisse kennt, ist gestundet.”
    https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/selig-sind-die-verladenen

  22. Weg von der EU – aber wohin?
    Großbritannien verlässt die Europäische Union. Der Handelspakt federt die Folgen des Bruchs lediglich ab.
    Am einleitenden Beispiel der “Fischindustrie” erläutert Stephan Kaufmann:
    “(…) In der Auseinandersetzung um die Fische ging es London offensichtlich nicht ums Geld, sondern um ein Symbol. Aber wofür? Um ein Symbol der Fähigkeit Großbritanniens, sich gegen die EU durchzusetzen. Das zeigt, dass die britische Regierung ihre eigene Stärke inzwischen daran misst, inwieweit sie in der Lage ist, dem Rest Europas Zugeständnisse abzuringen. Sie sieht die EU als Gegner, und auch das Vertragswerk zwischen den beiden Parteien wird diesen Gegensatz nicht tilgen, sondern ihm lediglich eine Verlaufsform geben. Aus Sicht Londons repräsentiert sich damit jede Einigung nicht als Summe von Gemeinsamkeiten, sondern als Summe von errungenen Siegen und erlittenen Niederlagen. Das verheißt für die Zukunft nichts Gutes.
    Nicht bloß um Fische, sondern ums Ganze ging es in dem anderen zentralen Streitpunkt zwischen London und Brüssel: dem »level playing field«, also den verbindlich festgelegten Regeln, zu denen Standorte und Unternehmen in Europa konkurrieren. »Alle Bestandteile des Handels zwischen Großbritannien und dem Kontinent über etwa 680 Milliarden Pfund werden von diesen Regeln berührt«, so die Berenberg Bank. Daher sei klar, dass hier am härtesten gestritten wurde.
    Die Wettbewerbsregeln legen unter anderem fest, welche Sozial- oder Umweltauflagen Unternehmen erfüllen müssen oder welche Hilfen der Staat seiner Wirtschaft angedeihen lassen kann. Die britische Regierung hatte für den Brexit damit geworben, dass Großbritannien nach dem EU-Austritt endlich frei von den »Brüsseler Ketten« sei und sich »souverän« daran machen könne, den Standort für den internationalen Wettbewerb aufzurüsten. Die EU wiederum forderte, dass sich die Briten auch in Zukunft den EU-Regeln beugen, denn andernfalls wurden Wettbewerbsnachteile für Unternehmen aus der EU befürchtet – schließlich entstehe durch den Brexit »ein Konkurrent vor unserer Hautür«, so Bundeskanzlerin Angela Merkel.
    Von besonderem Gewicht war in diesem Streit ein Bereich, der in der Vergangenheit keine große Rolle mehr gespielt hatte und über die Jahrzehnten auch immer unwichtiger geworden war: staatliche Beihilfen für heimische Unternehmen.
    Um einen Subventionswettlauf zu verhindern, regelt das EU-Beihilferecht streng die Fälle, in denen eine Regierung ihre Unternehmen unterstützen darf. In der Folge schrumpfte das Volumen staatlicher Hilfen in der EU, das in den 1970er Jahren noch rund drei Prozent der Wirtschaftsleistung ausgemacht hatte, bis 1980 auf zwei Prozent und zwischen 2014 und 2017 auf rund ein Prozent, errechnet das österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut WIIW. Insbesondere der britische Staat hielt sich mit Unterstützungen zurück und setzte auf die Marktkräfte.
    Doch inzwischen hat sich das Bild radikal gewandelt. Zwischen den Staaten ist eine scharfe Konkurrenz entbrannt, wer die Zukunftsfelder der digitalen Technik besetzen kann. Umkämpft ist auch der Bereich der Klimatechnologien. Beides sind Sektoren, in denen die Regierungen sich nicht auf die Kalkulationen der privaten Unternehmen verlassen, sondern Milliarden in Infrastruktur, Forschung und Entwicklung investieren müssen, um technologisch nicht zurückzufallen.
    Dazu kommt die Wirtschaftskrise im Zuge der Corona-Pandemie. Um den Abschwung zu bremsen – die britische Wirtschaft wird 2020 so stark schrumpfen wie seit 300 Jahren nicht mehr – müssen die Staaten Hunderte von Milliarden mobilisieren. Und schließlich zwingen Verschiebungen der geopolitischen Machtverhältnisse – Stichwort Aufstieg Chinas – die Regierungen Europas zu Überlegungen, ihre globalen Lieferketten neu zu konstruieren, um einseitige Abhängigkeiten zu verhindern. Auch hier sind der Staat und sein Geld gefragt.
    Das früher eher randständige Feld staatlicher Beihilfen ist damit ins Zentrum europäischer Auseinandersetzungen gerückt: Überall wird wieder Industriepolitik geplant und betrieben, um die Wachstumsfelder der Zukunft zu erschließen. Das birgt Konfliktpotenzial, denn am Ende werden nicht alle zu den Gewinnern gehören. Dieses Konfliktpotenzial entlud sich auch im Streit zwischen Großbritannien und der EU: nämlich zum einen in der Frage, ob sich die Briten den EU-Regeln unterwerfen; und in der Frage, wie eventuelle Verstöße gegen geltende Regeln geahndet werden sollen.
    Wie im Fall der Fischereirechte zeigt sich auch hier, dass die britische Regierung sich in einem permanenten Gegensatz zur EU sieht. »Die britische Konzentration auf das Thema Staatshilfen beruht auf der Vorstellung, das Land könne eine Welle von Innovationen auslösen, wenn es erst nicht mehr von Europa behindert wird«, erklärt der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze. Unabhängig davon, ob das zutreffe oder nicht, handele es sich hier um völlig konträre Visionen von Europa. »Die EU zielt auf eine im Wesentlichen parallele Entwicklung von Großbritannien und dem Kontinent, die von stabilen Vereinbarungen geregelt wird«, so Tooze. »Die Brexiteers hingegen wollen ihr Land von der EU weg steuern – wohin, das weiß niemand.« Jede Vereinbarung mit der EU sei für die britische Regierung daher kein Garant für eine parallele Entwicklung beider, »sondern nichts als eine Reihe von Strafen, die sie zahlen muss, um ihren Anti-EU-Kurs zu verfolgen«.”
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1146284.brexit-weg-von-der-eu-aber-wohin.html?sstr=Stephan%20Kaufmann

    “Symbol der Fähigkeit, sich durchzusetzen”: das übersetze ich mir als öffentliche und demonstrative Geltendmachung des britischen Anspruchs (nicht nur gegenüber der EU!), in der höheren Liga der Regel und Normen setzenden Weltmächte auch zukünftig mitspielen zu wollen. Und nicht nur benutzt zu werden. Und darin auch als erbitterter Konkurrent der restlichen Weltmächte selbst handeln zu können.
    Umgekehrt umgekehrt von Seiten der EU: An unserem Verhältnis zu GB demonstrieren wir, dass in Europa an der EU keiner vorbei kommt, der im kapitalistischen Weltsystem eine wuchtige Rolle spielen will. Demonstriert wird das gegenüber allen EU-Mitgliedern, auch Ungarn, Polen, Italien.

    (Auch) Finanzplätze werden staatlich reglementiert. Wie weit London nun profitiert oder Verluste einfährt, das wird sich zeigen.
    https://www.nzz.ch/wirtschaft/brexit-zaesur-fuer-grossbritanniens-banken-und-finanzplatz-london-ld.1589420

  23. Für die Mieter in London hatte der Umstand, dass in der Vergangenheit der div. Finanzkrisen alle Welt ihr Geld dadurch in Sicherheit bringen wollte, dass sie es bevorzugt – auch – in Immobilien in Lindon investieren, ja bisher bekanntlich schon die Folge, dass man dort als Normalmensch sich kaum noch eine Bude leisten konnte. Auch darin war und ist Otto Normalmensch in London also abhängige Variable von den diversen Kalkulationen der Krisenbewältigungsstrategen weltweit und deren Vergleich von Rendite-Erwartungen gewesen.
    https://www.stern.de/wirtschaft/immobilien/wenn-mieten-explodieren—trotz-karriere-mit-55-obdachlos-9444002.html
    Jeder selber sei seines Glückes Schmied, das sagt man sich dann zu nicht nur solchen Lebensumständen – und nicht nur zum Jahreswechsel….

  24. Es ist eine sehr verbreitete und sehr verkehrte Auffassung, bei den Fischereirechten ginge es nur um „Symbolik“.
    Die Hoheitsrechte, die sich das UK wieder zurückholen will in die eigene Verfügung, sind die Grundlage dessen, was als Wirtschaftssystem von einer herrschenden Klasse gemanaged wird.
    Es ist ein großes Mißverständnis des Brexit, daß es da um größere oder geringere Geldsummen ginge, die Wirtschaftssubjekte in GB vor und nach dem Brexit in ihre Taschen füllen konnten bzw. können.
    Eine Erbsenzählerei, die diesem Akt der Loslösung nicht gerecht wird.
    Der

    hätte das Zeug zur Blaupause.

    Hat er auch.
    Es ist immerhin der erste Austritt aus der EU und andere Austrittswillige würden sich an ihm orientieren.

  25. die britische Wirtschaft wird 2020 so stark schrumpfen wie seit 300 Jahren nicht mehr

    Na na. Vor 300 Jahren gab es so etwas wie eine BIP-Berechnung nicht, diese Meldung hat also etwas leicht Hysterisches an sich. Vor allem angesichts der ebenfalls sicheren BIP-Schrumpfung auf dem Kontinent.
    Woraus besteht die britische Wirtschaft vor allem?
    1. Finanzsektor – ob der schrumpft oder nicht, und wie sehr, ist überhaupt nicht abzusehen. Derzeit gibt es überall Börsenrallys. Es wird von den Entwicklungen im nächsten Jahr abhängen, ob sich das Pfund womöglich als sicherer Hafen für Spekulanten erweist, oder als Weltwährung abschifft.
    2. Welthandel. Vermittlung zwischen EU und dem Commonwealth
    Daß dieser Sektor stark schrumpfen wird, ist sicher, aber davon ist nicht nur das UK betroffen.
    3. Öl
    Die Perspektiven für die Ölförderung sind mäßig, das merken andere Erdölproduzenten auch.
    4. Industrielle Produktion & Landwirtschaft.
    Auch da ist noch nicht klar, ob die Abkopplung von der EU unbedingt nachteilige Folgen haben wird.
    Ich warne vor Kassandra-Rufen, das ist alles Propaganda gegen diese – siehe oben – mögliche Blaupause, die sich zur self fulfilling prophecy verfestigen soll.

  26. Alle Waren, die von dem UK in die EU und umgekehrt verschifft werden, müssen zwar keinen Zoll zahlen, aber sich einer Kontrolle unterziehen und eine Zollerklärung abgeben.
    Abgesehen von dem Papierkram und der dafür nötigen Formulare bedarf es dafür eines Haufens neuer Angestellter – einmal sehen, ob die rechtzeitig an Ort und Stelle ihren Dienst versehen werden.
    Ansonsten gibt es ziemliche Schlangen vor dem Ärmelkanal, und Stockungen des Kapitalkreislaufes verschiedenster Unternehmen.
    Das UK steigt aus dem Erasmus-Programm aus. Das bringt einige britische Universitäten in ziemliche finanziele Bedrängnis, die sich seit Jahren teilweise über die Subventionen rund um das Erasmus-Programm finanziert haben.
    Was die Fischerei-Rechte betrifft, so hat das UK seine Quoten schon seit geraumer Zeit an EU-Fischerei-Unternehmen verkauft, die die Küsten Albions befischen.
    Diese Verträge müßten jetzt aufglöst werden, aber das UK hat gar nicht die nötige Fischereiflotte, um die eigenen Gewässer zu befischen, zumindest nicht in einer Effizienz wie andere EU-Fischereinationen.
    (Das ist vielleicht gar nicht schlecht. In britischen Gewässern tumeln sich weitaus mehr Fische als in einigen Nachbarländern.)
    Völlig unklar ist der Status der inneririschen Grenze. Derzeit ist vorgesehen, daß zwischen Nordirland und GB eine Zollgrenze wie mit der EU errichtet wird, also alle Waren deklariert werden müssen.
    Das kommt aber im Grunde einem Eingeständnis gleich, daß Nordirland zu Irland und nicht zum Vereinigten Königreich gehört und wird sicher eine Menge Scherereien verursachen.

  27. Wenn das so stimmt, was sagt das über die territoriale Einheit des UK aus?
    Spanien und Großbritannien einigen sich in Gibraltar-Streit
    Das britische Überseegebiet wird Teil des Schengen-Abkommens, sagte die spanische Außenministerin. Damit werde eine undurchlässige EU-Außengrenze vermieden
    https://www.derstandard.at/story/2000122870340/spanien-und-grossbritannien-einigen-sich-in-gibraltar-streit
    Gibraltar und GB waren bisher nicht Teil des Schengen-Raums. Jetzt soll Gibraltar sozusagen bei der EU bleiben?
    Die Meldung ist recht frisch, es wird sich zeigen, ob diese Abmachung auch hält.

  28. https://www.tagesschau.de/ausland/brexit-gibraltar-105.html
    Würde der freie Grenzübertritt verunmöglicht, dann wäre Gibraltar ökonomisch von diversen Zirkulationen abgeschnitten, bzw. wären diese verkomplifiziert worden, und manch europäischer Tourist in Andalusien und umzu würde evtl dort nicht mehr zur Besichtigung vorbeikommen – vom zollfreien Warenverkehr ganz zu schweigen.
    “Ohne Abkommen hätten die Bürger von Gibraltar keinen Zugang mehr zum spanischen Gesundheitssystem, zu Fachärzten dort. Ihre Autos wären auf europäischen Straßen eventuell nicht mehr versichert. Und: Gibraltar läge außerhalb des europäischen Luftraums.” (ARD)
    Das wäre für Gibraltar und damit also für Great Britain vermutlich absehbar teuer geworden….
    Mal schaun, wann spanische oder/und andalusische Nationalisten nun über den privilegierten Status von Gibraltar [und darüber ganz prinzipiell von wegen “Fremdherrschaft auf eigenem Boden”] wieder das Meckern und Behindern anfangen…

  29. Man bemerkt hier, wie sich die EU im Zuge ihrer Aufhebung von Grenzen im Inneren an die Zumauerung ihrer Außengrenzen behüht hat.
    Noch dazu wird das als Normalzustand hingestellt, wenn man nicht bei der EU ist.
    Dabei könnte vielen Leuten noch erinnerlich sein, daß vor EU-Zeiten viele Grenzen durchaus „durchlässig“ waren, auch mit Zöllen Handel getrieben werden und mit Paß auch ohne Visum gereist werden kann.
    Gibraltar hat sich seit EU-Zeiten sehr in Spanien integriert, ebenso wie Nordirland in Irland.
    Es wird sich zeigen, wie die Bindung zum Mutterland in Post-Brexit-Zeiten ausschaut und wie das auf andere Territorien des UK wirken wird.

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