Pressespiegel El País, 11.11.: Die Mudschahedin-e-Khalq als Teil der europäischen Politik

DIE IRANISCHE ORGANISATION, DIE VOX ÜBER VIDAL-QUADRAS FINANZIERT HAT: OPPOSITIONSGRUPPE, TERRORISTISCHE ORGANISATION ODER SEKTE?

Der Politiker Vidal-Quadras verbindet den Angriff, den er erlitten hat, mit seinen Verbindungen zum »Nationalen Widerstandsrat des Iran«, einer Exilgruppe mit einer langen Geschichte der Gewalt.

Kurz nachdem ihm an diesem Donnerstag in Madrid in den Kiefer geschossen wurde, erklärte der 78-jährige ehemalige Präsident der katalanischen PP und Gründer von Vox, Alejo Vidal-Quadras gegenüber der Polizei, daß dieser Angriff möglicherweise mit seinen Verbindungen zur iranischen Opposition im Exil zusammenhängt. Diese Hypothese wird derzeit laut Quellen aus Polizeikreisen untersucht.
Vidal-Quadras, ehemaliger Vizepräsident des Europäischen Parlaments (1999–2014) verwies auf seine Beziehungen zum Nationalen Widerstandsrates des Iran (NWRI), dem politischen Zweig einer umstrittenen Organisation, den Volksmudschahedin des Iran.
Diese Organisation stand bis 2009 bzw. 2012 auf den Listen terroristischer Gruppen der EU und der USA. Die Präsidentin des NWRI, Maryam Radschavi, beschuldigte Stunden später in einem Tweet den »an der Macht befindlichen religiösen Faschismus des Iran«, hinter dem Angriff zu stecken. Die iranische Botschaft in Spanien hat diesen Vorwurf in einer Erklärung zurückgewiesen, in der sie »jede Form des Terrorismus« ablehnt und der Oppositionsgruppe vorwirft, den Tod von »17.000 unschuldigen Menschen« verursacht zu haben.“

So ganz stimmt das nicht, daß der Iran den Terrorismus ablehnt – hin und wieder hat sich auch der iranische Gottesstaat in diese Niederungen der politischen Auseinandersetzung begeben. Die Kurdenmorde von Wien 1989, das Mykonos-Attentat in Berlin 1992, der Anschlag auf die AMIA 1994, oder das Attentat auf Massud Molavi 2019 gehen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf das Konto des Iran.
Das ist allerdings alles klein gegen die Anschläge auf Kinos zur Zeit des Schah, die Hunderte Tote forderten und damals und später dem damaligen iranischen Geheimdienst SAVAK zugeschrieben worden waren – während heute bekannt ist, daß sie von Anhängern Chomeinis durchgeführt wurden, die damit den westlichen Einfluß und die Unsittlichkeit bekämpfen wollten.

Gegen die Tätigkeit der Volksmudschahedin verblassen jedoch auch alle diese Attentate. Sie machten sich schon zu Zeiten des Schah einen Namen durch Terrorattentate und wurden später zu einer Art Todesschwadron-Gruppe im Irak, die sich unter Saddam Hussein als Aufräum-Truppe gegen irakische Kurden und Iraner einen Namen machten. Die Volksmudschahedin wurden dort eingesetzt, wo sich die irakische Führung ihrer eigenen Militärs nicht sicher war.

Heute ist ihr Hauptquartier in Albanien, das sie 2010 aufnahm, um sich bei der damaligen US-Führung beliebt zu machen und sie seither nicht mehr los wird.


„Was sind der NWRI und die MEK?

Der Nationalen Widerstandsrat (NWRI) ist eine Organisation, die mehrere Oppositionsgruppen im Exil in der Islamischen Republik Iran vereint und die als bloßes Feigenblatt der Volksmudschahedin des Iran (»Modschahedin-e-Khalq«, kurz MEK) betrachtet wird. Hierbei handelt es sich um eine iranische Oppositionsgruppe mit einer dunklen Vergangenheit.
Die MEK ist nicht nur die größte Oppositionseinheit zum iranischen Regime, das ihr den Tod von 17.000 Menschen zuschreibt. Dieser Gruppe wird auch vorgeworfen, daß sie ihre Mitglieder schweren Menschenrechtsverletzungen und Praktiken der Gedankenkontrolle aussetzt.
Zwei Berichte, einer von Human Rights Watch aus dem Jahr 2004 und ein weiterer im Auftrag der US-Regierung aus dem Jahr 2009, kamen zu dem Schluss, daß die Organisation viele der typischen Merkmale einer Sekte aufwies. Im zweiten Abschnitt wurden Missbräuche wie »autoritäre Kontrolle, Beschlagnahmung von Eigentum, sexuelle Kontrolle (einschließlich Zwangsscheidung und Zölibat), emotionale Isolation, Zwangsarbeit, Schlafentzug, körperliche Misshandlung« und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit ihrer Mitglieder detailliert beschrieben.“

So so.
Eigenartig, daß es diese Sekte bis heute gibt und sie sogar ein eigenes »Hauptquartier« hat.

„Wie entstanden die MEK?

Die »Mujahidin e-Khalq« (Volks-Dschihadisten) entstanden 1965 als radikale Abspaltung der nationalistischen Befreiungsbewegung des Iran, die sich gegen die Diktatur von Schah Mohamed Reza Pahlavi wandte. Deren Ideologie war eine Mischung aus marxistischer, maoistischer Philosophie und schiitischer Befreiungstheologie, die sich bei der Verteidigung eines gewaltsamen revolutionären Kampfes trafen.
Die Organisation begrüßte mit Begeisterung die Islamische Revolution von 1979 und die Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran im selben Jahr. Diese anfängliche Nähe zum iranischen Regime ging durch die Bedenken des Obersten Führers Ayatollah Chomeini hinsichtlich der Ideologie der Gruppe in die Brüche. Diese Bedenken führten nämlich auch zum Ausschluß der Organisation und ihres damaligen Führers Massud Radschavi von der Machtverteilung in der Islamischen Republik.“

Eine elegante Art, auszudrücken, daß Chomeini und seine engeren Mitarbeiter offensichtlich von den Mudschahedin nichts hielten.

„Waren die MEK eine Terrorgruppe?

In den 1970er Jahren, vor dem Sturz des Schahs, ermordete die MEK zahlreiche Iraner und Westler im Iran. Nach ihrem Bruch mit dem Chomeini-Regime wurden sie im Juni 1981 verboten, als die Behörden ihnen einen Bombenanschlag vorwarfen, bei dem 74“ (angeblich in Wirklichkeit 85) „Menschen starben, darunter die damalige Nummer zwei der Islamischen Republik, Ayatollah Mohammad Beheschti.
Im selben Monat wurde die MEK des Angriffs beschuldigt, der die rechte Hand des derzeitigen Obersten Führers Irans, Ayatollah Ali Chamenei, gelähmt hatte. Im August führte ein neuer Angriff der Nationalen Befreiungsarmee – dem bewaffneten Flügel der MEK – zum Tod von Präsident Mohamed Ali Radschai und Premierminister Mohammed Dschavad Bahonar.“

Bis heute ist allerdings nicht sicher, ob die Volksmudjahidin tatsächlich alle diese Attentate verübt haben oder ob Machtkämpfe innerhalb der sich eben konsolidierenden Islamischen Republik den MEK in die Schuhe geschoben wurden, um nach außen Einheit vorzutäuschen.

„1983 gingen die Führung der Organisation und fast alle ihre Mitglieder nach einer gewaltsamen Repressionskampagne der iranischen Behörden nach Paris ins Exil.

Und heute?

Im Jahr 2012 verzichtete die MEK öffentlich auf Gewalt und wurde dadurch von der US-Liste terroristischer Organisationen gestrichen. Drei Jahre zuvor hatte die EU sie ebenfalls von ihrer Liste gewalttätiger Gruppen gestrichen.
Es besteht jedoch der Verdacht, daß sie an Anschlägen beteiligt waren, bei denen zwischen 2010 und 2012 fünf iranische Nuklearwissenschaftler getötet wurden. Von NBC zitierte US-Beamte gaben an, daß von den israelischen Geheimdiensten ausgebildete Auftragsmörder der Organisation diese Anschläge verübt hätten. Die MEK bestreiten dies.“

Nun ja. Das ist ja Terrorismus für den Westen und daher nicht bedenklich.

„Welche Beziehung haben diese Gruppen zu Vidal-Quadras und Vox?

Der NWRI hat die Partei Vox seit ihrer Gründung finanziell unterstützt, wie Vidal-Quadras selbst gegenüber dieser Zeitung bestätigte.
Die erste Überweisung von iranischen Gegnern (1.156,22 Euro) erhielt die Partei am selben Tag, an dem sie am 17. Dezember 2013 im Register der politischen Parteien des Innenministeriums eingetragen wurde.“

Man fragt sich, warum diese edle Spende?

Gegenüber der hier genannten bescheidenen Summe ist festzuhalten, daß die Unterstützung dieser iranischen Gruppe für Vox beträchtlich war.
Vox, die inzwischen 33 (12%) Sitze im spanischen Parlament hat und seit Jahren in regionalen Parlamenten und Gemeinderäten als Zünglein an der Waage mit der PP regiert, konnte sich ursprünglich nur dank der Spenden des NWRI aus der Bedeutungslosigkeit zum politischen Machtfaktor emporschwingen.
Die Rede ist von einer Summe zwischen einer halben und einer Million Euro.

Die zweite Frage, die sich hier auftut ist, warum diese Organisation über so viel Geld verfügt, das sie ohne weitere Probleme einer obskuren spanischen Mini-Partei hinüberschieben kann?

„Hat diese Gruppe Unterstützung im Iran?

Nein.
Die Ablehnung des NWRI ist einer der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen dem islamischen Regime und vielen seiner iranischen Gegner.
Der Hauptgrund sind ihre terroristischen Aktivitäten im Iran, aber auch das, was viele Iraner als Verrat empfinden: Als Frankreich 1986 die MEK auswies, ließ sich die Gruppe im Irak nieder und ihre Mitglieder kämpften in den Reihen der irakischen Armee Krieg gegen den Iran. Sie arbeiteten auch mit Saddam Hussein zusammen, um abweichende Meinungen und Opposition im Irak zu verfolgen.
Einige Zeugenaussagen haben berichtet, daß die Gruppe sogar“ (offensichtlich nicht-iranische) „Studenten dafür bezahlen muß, sich bei der Großveranstaltung, die sie normalerweise jedes Jahr am Stadtrand von Paris veranstaltet, als Iraner auszugeben.

Wer unterstützt den NWRI?

Die offenbar große Verfügbarkeit von Geldern – mehrere Berichte deuten auf eine angebliche Finanzierung durch Saudi-Arabien hin – hat es dieser Gruppe ermöglicht, unter anderem in den USA, Frankreich und dem UK Lobbyarbeit zu betreiben und die Unterstützung von Parteien und Politikern unterschiedlicher Ideologien zu gewinnen. Diese Lobbyarbeit führte dazu, daß bei den jährlichen Treffen Politiker anwesend waren, die dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump nahe stehen, darunter der ehemalige New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani und der ehemalige Vizepräsident Mike Pence.
Laut Joanne Stocker, einer Journalistin, die MEK-Spenden in den USA untersuchte, hätte der ehemalige nationale Sicherheitsberater der Trump-Administration John Bolton bis zu 180.000 US-Dollar [168.000 Euro] für seine Rede bei einer dieser Kundgebungen erhalten, sagte sie MSNBC. Auch die ehemaligen spanischen Präsidenten José María Aznar (2016 und 2010) und José Luis Rodríguez Zapatero (2013) nahmen an der jährlichen NWRI-Kundgebung teil.“

Diese eigenartige (ex-?)Terror-Sekte ist also bestens vernetzt und mit beachtlichen Finanzen ausgestattet und mischt in der spanischen Parteienlandschaft mit.
Und das, wo heute gerade Einheit gegen den „Terrorismus der HAMAS“ gefordert wird.
Eine beunruhigende Entwicklung.

Pressespiegel El País, 5.11.: Was wird aus dem Gazastreifen?

„WAS KOMMT NACH DEM KRIEG?: DER GAZASTREIFEN VON ÜBERMORGEN BEUNRUHIGT DIE WELT

Die USA fordern Israel dringend auf, jetzt über Szenarien für den Gazastreifen nachzudenken, der aus den Trümmern entstehen soll.
Experten weisen auf die Schwachstellen des Plans hin, der Gestalt annimmt“

Wie sich im Weiteren herausstellt, gibt es keinen Plan, oder aber einen solchen, der nicht durchsetzbar sein wird: Die vollständige Vertreibung

„Heutzutage hört man in Israel häufig den Ausdruck: »Sobald wir gewinnen.« Es dient dazu, dringende Fragen aufzuschieben oder sich ein besseres Leben vorzustellen, wenn das Land die öffentlich dargelegte Mission erfüllt: die Hamas in Gaza zu liquidieren, die für ihren blutigsten Tag in 75 Jahren Geschichte verantwortlich ist.“

Man fragt sich, wann die israelische Führung eigentlich die HAMAS für „liquidiert“ ansieht?
Zur Erinnerung: Die HAMAS besteht aus vielen dezentralen Teilen. Ihre Anführer leben in Katar oder der Türkei. Sie lassen sich nicht so einfach von Israel liquidieren.
Weiters gehören zur HAMAS außer den Kassam-Brigaden, die den Anschlag nach Israel geplant und durchgeführt haben, auch verschiedene andere Unterorganisationen, die sozusagen den gesamten Sozialstaat im Gazastreifen verwalteten, von Lehrern über medizinisches Personal und Leute, die humanitäre Hilfe besorgten und verteilten, in Zusammenarbeit mit der UNO, dem Roten Halbmond und verschiedenen NGOs. Und auch Polizei, Justiz usw.
Weiters vermute ich, daß die HAMAS keine Mitgliedsbücher und kein Verzeichnis ihrer Mitglieder führt.
Es ist also im Grunde jeder Bewohner des Gazastreifens verdächtig, der HAMAS anzugehören oder mit ihr zu sympathisieren – schon allein deshalb, weil in den vergangenen Jahren bzw. Jahrzehnten dank der Bedingungen, unter denen die Bewohner des Gazastreifens existieren mußten, an der HAMAS kein Weg vorbei geführt hat.
Das heißt, solange noch Menschen dort leben, kann man nie sicher sein, die HAMAS „liquidiert“ zu haben.

„Auch wenn die Formulierung vage ist und Experten sich über ihren Realismus nicht einig sind, handelt es sich um ein klares Ziel, für das sie unaufhörlich bombardiert (die Zahl der Toten übersteigt 9.000, hauptsächlich Zivilisten) und die Hauptstadt von Gaza mit Panzern umgibt.
Aber was danach?
Wer wird den Gazastreifen regieren, wenn die islamistische Parteimiliz, die dies seit 2007 getan hat, gestürzt ist? Wer wird verhindern, dass der Hass in seinen Trümmern einen neuen Irak nach Saddam Hussein entstehen lässt?
Dies sind Fragen, die Washington – da sein sehr symbolträchtiger Rückzug aus Afghanistan noch lebendig im Gedächtnis ist – und die arabischen und europäischen Außenministerien, besorgt über die möglichen Auswirkungen, wie etwa eine Flüchtlingskrise, Israel dieser Tage privat stellen.“

Eine wohlbegründete Besorgnis. Israel will die Bewohner Gazas vertreiben, und genau das befürchten die Nachbarstaaten, die USA – und auch die EU.

„Letzte Woche reagierte der nationale Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi in einer Pressekonferenz defensiv (»Der Tag danach?«) und betonte, dass es Israels aktuelles Anliegen sei, die mehr als 200 Geiseln zu befreien und der Hamas ein Ende zu setzen.“

Das mit den Geiseln ist ein fertiger Textbaustein, hinter dem keine Ernsthaftigkeit steht.
Die israelische Führung nimmt locker in Kauf, daß diese Leute unter Schutt und Trümmern ihr Ende finden, genauso wie ihre Bewacher.

„»Wenn wir dem Ziel nahe sind, können wir über den Tag danach nachdenken«, betont der Sprecher des israelischen Außenministeriums, Lior Haiat.

Die USA drängen jedoch ihren Verbündeten, dem sie wirtschaftlich und militärisch helfen, mittel- bis langfristig zu denken. Außenminister Antony Blinken sprach das Thema an diesem Freitag auf einer Pressekonferenz in Tel Aviv an, bei seinem dritten Besuch in Israel seit Beginn des Krieges am 7. Oktober: »Alle sind sich einig, dass es keine Rückkehr zum Status quo gibt, in dem die HAMAS weiterhin Regierungs- und Sicherheitsverantwortung trägt.«
»Aber«, fügte er hinzu, »wir wissen auch, dass Israel die dauerhafte Kontrolle von Gaza, aus dem es 2005 seine Siedler und Soldaten abgezogen hat, das es aber technisch gesehen weiterhin besetzt hat, nicht wieder aufnehmen kann« und das auch »nicht beabsichtigt«. Mit diesen Zielen, fügte er hinzu, führen die USA Gespräche mit ihren regionalen und internationalen Partnern, aus denen sich »mehrere Möglichkeiten und Varianten« ergeben hätten, auf die es jedoch »verfrüht« sei, näher einzugehen.“

Eine davon wäre vermutlich, das Territorium samt Leuten Ägypten zu übergeben und denen dann die Aufsicht über die Bewohner zu übertragen.
Es fragt sich nur, ob das irgendwer will? – in Ägypten, in Israel und in der restlichen arabischen Welt, Palästinenser in der West Bank inbegriffen.

„Die Debatte dominiert jedoch bereits akademische und Sicherheitskreise. »Es ist keineswegs zu früh für die Biden-Administration, über das Thema zu sprechen«, sagte Gerald M. Feierstein, ehemaliger Diplomat und Nahostexperte am »Middle East Institute«, einem US-Analysezentrum für die Region, an diesem Donnerstag in einer Videokonferenz. Feierstein kritisierte, dass sich die gesamte Debatte »immer nur um Gaza dreht«, etwa »wer wird ihn regieren oder wie der Wiederaufbau aussehen wird … Wir müssen erkennen, dass dies eine israelisch-palästinensische Angelegenheit ist, nicht bloß Israel und Gaza, und dass die Lösung politisch und nicht militärisch ist und keine der Parteien durch Gewalt den Sieg erringen wird«, bemerkte er.
In den Gesprächen wird bereits ein Plan skizziert. Sobald das israelische Militär die exekutiven und militärischen Fähigkeiten der Hamas zerstört, würde es eine drei Kilometer lange Sicherheitspufferzone errichten. »Gaza muss am Ende des Krieges kleiner sein […] Wer einen Krieg mit Israel beginnt, muss Territorium verlieren«, sagte Gideon Saar, Minister ohne Geschäftsbereich in der neuen Notstandsregierung, vor der Landinvasion.“

Die ohnehin schon höchst beengte Bevölkerung Gazas würde also in ihren Trümmern noch weiter zusammengedrückt, und dauernd beschossen und bombardiert, weil ja die HAMAS noch nicht endgültig „liquidiert“ wäre.
Es ist klar, daß es sich hier um ein weiteres Vertreibungsszenario handelt, wo den Bewohnern des Gazastreifens das Leben unerträglich gemacht werden soll.

„Dann bliebe es einige Monate lang mit viel weniger Truppen vor Ort und entschiede sich für häufige Einfälle, um die vorhersehbaren Quellen des Aufstands zu unterdrücken. Westjordanland-Stil, aber ohne Siedler, die es zu schützen gilt.
Parallel dazu würde eine multinationale Streitmacht entstehen, voraussichtlich mit einer wichtigen Rolle aus dem Teil der arabisch-muslimischen Welt, der Israel anerkennt, wie Ägypten, Jordanien, der Türkei oder Marokko.“

Aha. Nur Staaten, die Israel bereits anerkannt haben, dürfen hier mitreden.

„Die laufende Verwaltung des Gazastreifens würde wieder in die Hände der Palästinensischen Autonomiebehörde (ANP) fallen, genau wie in den neunziger Jahren, nach den Oslo-Abkommen und dem Putsch der Hamas im Jahr 2007; und in den Städten des Westjordanlandes, die unter israelischer Militärbesatzung stehen.“

Dieser Plan hat mehrere Haken.
Schon im Westjordanland ist die PLO unpopulär, weil sie als Befehlsvollstrecker Israels angesehen werden. Sie ist auch schon längere Zeit durch keinerlei Wahlen legitimiert.
Ob sich die Bewohner Gazas nach allem, was geschehen ist, den Behörden dieser Gruppierung unterordnen würden, ist fraglich – sie würden als Kollaborateure Israels angesehen werden.
Zweitens ist ja auch im Westjordanland alles offen, nachdem dort die Siedler praktisch machen können, was sie wollen, und die Autonomiebehörde zusieht.

„All dies sollte von den Legitimitätssiegeln der UNO und der Arabischen Liga, einem Geldregen in Millionenhöhe für den Wiederaufbau“ (von wem?) „und einem neuen Vorstoß zur endgültigen Lösung des Konflikts mit der Schaffung eines palästinensischen Staates begleitet sein.

Neben dem sowieso freien Wunschdenken besteht eines der Hauptprobleme dieser Szenarios darin, dass es zwar vielen Anliegen Israels entgegenkommt – das weder wieder das Leben von 2,3 Millionen Palästinensern verwalten noch wieder Hunderte seiner Bürger hilflos sterben sehen will, nachdem sich die ausgefeilte Grenzsicherungsmauer in einen Schweizer Käse verwandelt hat – jedoch nicht auf die Bedenken anderer Akteure eingeht, denen die vorgesehene Beteiligung kaum Vorteile bringt, aber dennoch als selbstverständlich angesehen wird.
Israel wird auch viele Garantien verlangen, bevor es seine Sicherheit in fremde Hände legt.

Die Zwei-Staaten-Lösung

Der Premierminister der ANP, Mohammed Schtajjeh, hat bereits darauf hingewiesen, dass sie nicht »an Bord einer F-16 oder eines israelischen Panzers« auf die Bühne kommen werden, ohne »eine politische Lösung für das Westjordanland« und einen »globalen Horizont des Friedens«, der es ermöglicht, Gaza an den Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung anzubinden. Es wird auch darüber nachgedacht, Mohammed Dahlan aus Dubai zu holen, den umstrittenen ehemaligen Sicherheitschef der ANP, der Israel recht wäre.
Er selbst hat seine Teilnahme bereits ausgeschlossen und besteht, obwohl er Al-Fatah-Mitglied ist, darauf, dass »die Hamas nicht verschwinden wird« und dass sie in der Lage sein sollte, an Wahlen teilzunehmen, um eine technokratische Übergangsregierung im Gazastreifen vorzubereiten.

Die arabischen Staaten ihrerseits »wollten nie Verantwortung für Gaza übernehmen«, erinnerte sich kürzlich Nathan J. Brown, Professor für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der George Washington University und Autor mehrerer Essays über die Politik in der arabischen Welt.
»Und es ist wahrscheinlich, dass dies jetzt noch weniger der Fall ist – sie wollen sich nicht zusammensetzen, um ein Problem zu lösen, das in ihren Augen durch die Rücksichtslosigkeit anderer verursacht worden ist.«“

Ghassan Chatib, ehemaliger palästinensischer Minister und Professor für zeitgenössische Arabistik und internationale Studien an der Universität Bir Zeit im Westjordanland, vertraut auch nicht darauf, daß beide Parteien die heiße Kartoffel akzeptieren. »Israel hat sich nicht aus Gaza zurückgezogen, um dann dorthin zurückzukehren, und ich glaube, dass die arabischen Länder nach dem, was Israel jetzt tut, kein Interesse daran haben, eine Rolle bei der Verwaltung von Gaza zu spielen. Ich glaube auch nicht, dass die Palästinensische Autonomiebehörde dazu bereit ist«, sagt er.“

Nachvollziehbar.

Es geht ja nicht nur darum, Schutt und Asche aufzuräumen und die Toten zu begraben, also um den materiellen Wiederaufbau.
Mit diesem Krieg und Bombardement ist eigentlich jegliches Tischtuch zerschnitten, um mit Israel je wieder zu verhandeln. Die dortige Bevölkerung wird das nicht akzeptieren, ganz gleich, welche Verwaltung man ihr vor die Nase setzt.

„Einer der Favoriten des Westens, Salam Fayyad, zwischen 2007 und 2013 Premierminister der ANP, nachdem er die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds durchlaufen hatte, gab letzte Woche in der Zeitschrift Foreign Affairs zwei Warnungen heraus: Man kann »den Palästinensern keine konkrete Vereinbarung aufzwingen« und auch nicht anstreben, daß die schwache und diskreditierte ANP in ihrer derzeitigen Struktur die Verwaltung des Gazastreifens wieder übernimmt. Fayyad schlägt vor, es zusammen mit der PLO – dem gesetzlichen Vertreter des palästinensischen Volkes, zu der weder HAMAS noch Islamischer Dschihad gehören – so umzugestalten, dass sie »das gesamte Spektrum palästinensischer Ansichten darüber widerspiegeln, was ein akzeptables Abkommen wäre«.“

Fayyad möchte also die PLO in ihre alten Rechte einsetzen und wieder als einzigen Verteter der Palästinenser etablieren – und damit den Machtkampf zwischen HAMAS und PLO beenden.
Ein interessanter Vorschlag – man muß sehen, was Israel dazu sagt. Schließlich hat die israelische Führung seinerzeit – im Einklang mit der ähnlichen Politik der USA – die islamistische HAMAS unterstützt, um die PLO zu schwächen und die Palästinenser zu spalten.

„Jack Joury, Kommentator für arabische Angelegenheiten bei der Zeitung Haaretz, stellte an diesem Dienstag fest: »Ohne die Wiederherstellung der ANP und der Institutionen des palästinensischen Volkes werden Mogadischu und Beirut während ihrer jeweiligen Bürgerkriege im Vergleich zu dem, was sich zwischen Jabalia im Norden und Khan Yunis im Süden von Gaza entwickeln wird, wie ein Paradies erscheinen.«
Aber weder westliche Länder noch Israel werden die Präsenz der Hamas in einer palästinensischen Regierung akzeptieren, da sie dadurch eine Art wirksames Veto wie die Hisbollah im Libanon hätte.“

Es ist seltsam, daß dieses Kapitel „2-Staaten-Lösung“ übertitelt ist, wo doch von einem palästinensischen Staat in den Ausführungen gar keine Rede ist.

„Die Spaltung zwischen Gaza und dem Westjordanland

Heutzutage behandelt Israel die ANP wie einen alten Freund, den es jahrelang ignoriert hat und der plötzlich anruft, um ihn um einen Gefallen zu bitten. Die Regierung von Benjamin Netanyahu – deren Koalitionsvertrag »das ausschließliche Recht des jüdischen Volkes« auf Israel und Palästina betont – fördert seit Jahren die Spaltung zwischen Gaza und dem Westjordanland, um die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern; und die ANP zu schwächen, ohne einen Dialoghorizont zu bieten, der sie gegenüber der Hamas legitimiert.
Für die extreme Rechte ist sie auch der Feind, wie der derzeitige Finanzminister Bezalel Smotrich es beschrieb: »Die ANP ist eine Last und die Hamas ein Aktivposten«, denn »niemand wird sie anerkennen, noch wird sie ihr einen Status [beim Internationalen Strafgerichtshof] verleihen, noch wird ihr erlaubt, eine Resolution im Sicherheitsrat der UNO vorzulegen.«“

Es geht aus diesem Zitat nicht hervor, ob Smotrich damit die ANP, die Hamas oder beide meint. Vermutlich beide. Er stellt damit zufrieden fest, daß die Palästinenser keine anerkannte internationale Vertretung haben und Israel daher mit ihnen machen kann, was es will.

„Wenige Tage vor dem Angriff am 7. schrieen die Ultranationalisten laut auf, weil die ANP-Sicherheitskräfte – deren Einsatz in Gaza derzeit erwogen wird – 18 von den USA finanzierte Fahrzeuge erhalten hatten.

Daniel Wajner ist Assistenzprofessor in der Abteilung für Internationale Beziehungen und Europäisches Forum der Hebräischen Universität Jerusalem und spezialisiert sich auf internationale Legitimation und Konfliktlösung. Er schließt drei Optionen aus: dass Israel die zivile Verwaltung des Gazastreifens wieder aufnimmt, dass die ANP dies tut (»selbst wenn sie es wollte, ist sie in ihrer Bevölkerung zu sehr delegitimiert«, argumentiert er) und ein internationales Mandat.
Er schlägt einen vierten vor: die Einbeziehung »zentraler Länder der arabisch-islamischen Welt«, zumindest Jordanien, Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, die über die Anerkennung Israels verhandelt hatten. »Ich weiß nicht, ob es der beste Plan oder der sicherste ist, aber es ist der am meisten legitimierte«, stellt er klar.“

Man fragt sich, was diese hier ausersehenen Staaten machen sollen? Das zerstörte Gaza wieder aufbauen? Als Besatzungsmacht übernehmen? Was wäre dabei „legitimiert“?

„Wajner besteht darauf, dass die »internationale Einbeziehung«, insbesondere die Unterstützung der Arabischen Liga, wichtiger sei als die Anzahl und Größe der Länder. Was ist, wenn sie es nicht wollen?“

Was genau jetzt sollen sie „wollen“? Die Scherben aufräumen und die Palästinenser ruhigstellen?

„»Das ist die große Unbekannte. »Der Schlüssel wird sein, dass sie verstehen, dass sie davon profitieren können«, antwortet er, worauf er daran erinnert, dass sowohl Kairo – mit leeren Kassen und einer explodierenden Inflation – als auch Amman, das sich in einer besseren wirtschaftlichen Lage befindet, Geld vom IWF erhalten.“

Der IWF ist keine Spendenorganisation, sondern vergibt Kredite. D.h., sowohl Ägypten als Jordanien sind beim IWF verschuldet. Offenbar meint der Interviewte, der IWF sollte als Instrument eingesetzt werden, um diese Staaten dazu zu drängen, sich noch mehr zu verschulden, um Gaza aufzubauen.
Hmmm.
Die Begeisterung dürfte sich in Grenzen halten.

„Vages Konzept

Ein weiteres Problem liegt in der Unbestimmtheit des Konzepts der »Beseitigung der HAMAS«, einer Bewegung, die Gaza verwaltet und Zehntausende Beamte beschäftigt.
Bis zu welcher Hierarchieebene werden sie verhaftet oder eliminiert?

Eyal Hulata, Israels ehemaliger nationaler Sicherheitsberater, plädierte letzte Woche dafür, einen Teil der zivilen Beamten während des Übergangs zu behalten. Ein französischer Vorschlag, über den in der Zeitung Haaretz berichtet wurde, sieht vor, alle von der HAMAS ernannten Beamten durch diejenigen ANP-Mitarbeiter zu ersetzen, die die HAMAS bei Straßenkämpfen ein Jahr nach ihrem Wahlsieg 2006 vertrieben hatte. Die ANP in Ramallah zahlt weiterhin ihre Gehälter, ohne daß sie arbeiten.

Auch Israel hat es nicht leicht, zu einer Einigung gelangen, was das Ziel sein soll. Das Fiasko vom 7. hat Netanjahus politische Zukunft aufs Spiel gesetzt, und die für den Krieg gebildete Notstandsregierung birgt heikle Positionen, die von denen, die eine Stärkung der ANP befürworten, die vor einem Monat noch Teil der Opposition waren, bis zu denen reichen, die eine Möglichkeit sehen, in Gaza zu bleiben und die Siedlung Gush Katif wieder aufzubauen, die 2005 evakuiert wurde.
Letzteres ist der Fall von Simja Rotman, der Vorsitzenden der parlamentarischen Justizkommission und Galeonsfigur der umstrittenen Justizreform, die den Sieg so definierte: »Dass ein jüdisches Kind durch die Hauptstraße von Gaza gehen kann.«“

Mit einem Wort, ein palästinenserfreies Gaza.

„Ein durchgesickertes Arbeitsdokument des Geheimdienstministeriums schlägt beispielsweise vor, die Bevölkerung von Gaza gewaltsam und für immer in den ägyptischen Sinai zu vertreiben.“

Das wäre natürlich der Traum von Netanjahu und Co., aber das wird sich unter den gegebenen Umständen nicht verwirklichen lassen.

„»Auf die Frage: ‚Wie soll Gaza regiert werden, wenn der Krieg vorbei ist?‘ gibt es möglicherweise keine guten Antworten und ist möglicherweise nicht einmal ein guter Ausgangspunkt«, fasste der Experte Brown in einem Artikel zusammen, der diesen Freitag im Carnegie Center über den Nahen Osten veröffentlicht wurde. »Es wäre besser zu fragen: Was bedeutet es, eine Partei wie Hamas von der Macht zu entfernen, wenn sie alle Regierungsebenen in Gaza dominiert? Was bedeutet es für Israel, zu versuchen, die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu zerstören, einer sozialen Bewegung mit einem militärischen Arm, die auch die öffentliche Sicherheit, die Verwaltung und andere Regierungsfunktionen überwacht, insbesondere wenn sie über und unter der Erde [durch das unterirdische Tunnelnetz] operiert? Was bedeutet ,Sieg‘? Und was wird Israel tatsächlich erreichen, Ziele hin oder her? Und woher soll jemand wissen, dass der Krieg vorbei ist?«“

Schöne Aussichten …

Pressespiegel Izvestija, 16.7.: Vorteile sind nicht zu erkennen:

„WARUM FINNLAND DIE NEUTRALITÄT DURCH DIE NATO-MITGLIEDSCHAFT ERSETZT

Die ersten wirtschaftlichen und politischen Folgen hat das Land bereits zu spüren bekommen

Seit Jahrzehnten trug der neutrale Status Finnlands in vielerlei Hinsicht zur Anerkennung des Landes auf dem internationalen Parkett bei und brachte dem Land gleichzeitig greifbare politische und wirtschaftliche Vorteile.

Im Jahr 2023 hat sich jedoch alles geändert, und Helsinki steht nun vor der Notwendigkeit, sich nicht nur an die neue Realität anzupassen, sondern auch die Verteidigungsausgaben zu erhöhen, und das angesichts ungewisser wirtschaftlicher Zukunftsperspektiven. Warum Finnland sich seiner privilegierten Stellung entzogen hat und wie viel es dafür bezahlen wird, untersucht die Izvestija.

Eine goldene Karte

Nach 4 umfassenden militärischen Konflikten mit der UdSSR in 25 Jahren (*1), in deren Folge die Idee von „Großfinnland“ begraben wurde, begann die politische Elite des Landes, nach und nach das Konzept der Neutralität zu entwickeln.

Darüber hinaus geschah dies in der Nachkriegszeit im Rahmen einer wirklich souveränen Außenpolitik, ungeachtet der Bemühungen des Westens, Nordeuropa in die NATO-Struktur zu integrieren. Der Beitritt Norwegens, Islands und Dänemarks zur NATO im Jahr 1949 beendete allerdings die Idee des Skandinavischen Verteidigungsbündnisses, einer Organisation, deren Gründung den neutralen Status der gesamten Region festigen hätte können.

Die Bemühungen der Regierungen Juho Kusti Paasikivi und Urho Kaleva Kekkonen trugen Früchte. Finnland blieb mehr als 70 Jahre lang nicht nur von den Hauptwidersprüchen des Kalten Krieges fern, sondern trug auch erfolgreich zu deren Lösung bei. Es war Kekkonens Initiative, die die Annahme der Schlussakte von Helsinki von 1975 beeinflusste, eigentlich eines gesamteuropäischen Nichtangriffspakts.“

Hier lernt man einmal die sowjetisch-russische Sichtweise dieser Schlußakte von Helsinki kennen, die in Moskau als Grundlage für umfassende Zusammenarbeit mit den westeuropäischen Staaten aufgefaßt wurde.
Hierzulande kennt man die diese Schlußakte nur als eine Art Menschenrechtserklärung, gegen die die Sowjetunion dauernd verstoßen hat, und als Berufungsinstanz von Dissidenten gegen das sowjetische „Regime“.

„Gleichzeitig baute Finnland unter Nutzung seines Status aktiv Wirtschaftsbeziehungen mit beiden Parteien“ (des Systemgegensatzes) „auf und schloss gleichzeitig zwei große Handelsabkommen ab – mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG, dem Vorgänger der EU) und dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW).
Einerseits rettete dieses »Spiel auf zwei Brettern« Finnland weitgehend vor den Folgen der Wirtschaftskrise der 70er Jahre, andererseits schickte es Finnland durch den Verlust von Märkten infolge des Zusammenbruchs der UdSSR in die tiefste Rezession seiner Geschichte.

Nach 1991 änderte sich alles. Helsinki und Stockholm begannen sich nach und nach an Partnerschaftsprogrammen (»Partnership for Peace«) und NATO-Projekten zu beteiligen. Die erste Einladung zum Bündnis erhielt Finnland bereits 1994, am Vorabend des Budapester Gipfeltreffens der KSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa).

Damals verbarg in Washington und Brüssel niemand mehr seinen Appetit auf Nordeuropa. Später gab die stellvertretende Außenministerin Victoria Nuland zu, daß mindestens fünf US-Präsidentschaftsregierungen, in denen sie tätig war, also seit der Zeit von George Bush-Vater, ihre Bereitschaft zur Aufnahme Finnlands und Schwedens zum Ausdruck gebracht hätten.

Lange vor dem offiziellen Beitritt habe Finnland in allen möglichen Bereichen aktiv mit der NATO zusammengearbeitet, bemerkt Nikolai Mezhevitsch, Präsident der Russischen Vereinigung für Baltische Studien.

Finnische Diplomaten hörten irgendwann Mitte der 90er Jahre auf, das Wort »Neutralität« zu verwenden, sie sprachen lieber vom »blockfreien Status«, aber die Zusammenarbeit mit der NATO hatte bereits mit dem Rückzug Finnlands aus dem Pariser Friedensvertrag (1947) begonnen.

In der UdSSR nahm man an, daß Helsinki angesichts seiner historischen Erfahrungen niemals wagen würde, zum Feind zu werden. Darüber hinaus habe Finnland durch seine Präsenz im Wirtschaftsraum sowohl der UdSSR als auch Rußlands offensichtliche Vorteile erhalten, meint Mezhevitsch.

Nachdem die „goldene Generation“ finnischer Politiker in den Ruhestand ging, wurde sie durch Menschen ersetzt, an deren Kompetenz objektive Zweifel bestehen. Besondere Aufmerksamkeit sollte den kürzlich bekannt gewordenen Tatsachen eines seltsamen, aber in gewisser Weise dem gleichen Stil verpflichteten Verhaltens von Mitgliedern der finnischen Regierung gewidmet werden.

Zunächst nahm der Minister für europäische Angelegenheiten und Vermögens-Steuerung,“

– ein eigenartiges Portfolio, das schon aussagt, daß man in Finnland nicht mehr jedes Eigentum respektieren will –

„Anders Adlercreutz, ein Video auf, in dem er auf dem Cello die Melodie des Liedes »Tschervona Kalina« (*2) spielt, der inoffiziellen Hymne der Kollaborateure der UPA.“

Das ist vielleicht etwas übertrieben, das Lied wurde vor dem I. Weltkrieg für ein Theaterstück verfaßt und war in der Ukraine sehr beliebt, nicht nur bei der UPA.
Der finnische Politiker wollte damit zweifelsohne seine Sympathie für die derzeitige ukrainische Führung ausdrücken.

„Dann wurde bekannt, dass die finnische Finanzministerin Riikka Purra unter einem Pseudonym rassistische Kommentare in sozialen Netzwerken verfaßte. Das Gesamtkunstwerk wurde durch den neuen Vorsitzenden der derzeit regierenden Sozialdemokratischen Partei, Antti Lindtman, vervollständigt, der auf kürzlich veröffentlichten Fotos nackt dargestellt ist, umgeben von Männern, die den Nazigruß praktizieren (und ebenfalls nackt sind).“

Man muß der Vollständigkeit halber erwähnen, daß es sich dabei um Jugendfotos handelt, die offenbar von Gegnern seiner Partei – oder innerhalb seiner Partei – in Umlauf gebracht wurden, um ihn im Inland zu diskreditieren.

„Die frühere Kabinettsvorsitzende Sanna Marin wurde auch durch ihre Teilnahme an der Beerdigung eines der Anführer des Rechten Sektors Kotsjubailo berühmt, der für Geschichten darüber bekannt ist, wie seine »Soldaten Hunde mit den Knochen russischer Kinder füttern«.

Die beruflichen und persönlichen Qualitäten der neuen finnischen Elite lassen viel zu wünschen übrig, bemerkt Nikolai Mezhevitsch.
Wir können getrost von der Degradierung der Eliten sprechen. Sie sind kompromittiert und daher einfacher zu lenken.“

Eine Charakterisierung, die nicht nur auf die finnische Politikermannschaft zutrifft.
Die heutigen Politiker, die außer Mode, Partys und ähnlichen Zerstreuungen nicht viel im Kopf haben, sind leicht zu steuern und ebenso leicht auszuwechseln, wenn sie es zu bunt treiben oder aus irgendwelchen anderen Gründen der Staatsräson im Wege stehen.
Man zieht einfach irgendein Skandälchen aus der Schublade – Drogen, Korruption, Neonazi-Verbindungen und ähnliches – und setzt sie unter Druck oder sägt sie ab.
Kurz oder Strache sind Beispiele dafür in Österreich.

„Man muß verstehen, dass unser Gegner nicht das finnische Volk ist, sondern seine Politiker, die mit erstaunlicher Beharrlichkeit die russisch-finnischen Beziehungen zerstören, sagt Mezhevitsch.

Ostsee und Arktis

Die Präsenz Finnlands in der NATO gewährleistet die Umsetzung zweier Strategien des Bündnisses, betreffend Ostsee und Arktis.

Im ersten Fall erfolgt die direkte Beteiligung Helsinkis eher in Worten als in Taten. Helsinki wird sich nun viel mehr um die Sicherung seiner 1.100 km langen Landgrenze zu Russland kümmern als darum, die Ostsee in ein »NATO-Binnenmeer« zu verwandeln.
Gleichzeitig beginnen in Finnland angesichts der starken Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen mit der Russischen Föderation Diskussionen über einen möglichen Rückzug aus dem Vertrag von 1940, in dem es unter anderem um den entmilitarisierten Status der Ålandinseln geht.

Die Einhaltung dieser Bedingung wird von der russischen diplomatischen Vertretung in Mariehamn kontrolliert. In einem aktuellen Interview schloss Präsident Sauli Niinistö eine Schließung dieser Vertretung nicht aus.

Was die Arktis betrifft, so verfügt Finnland hier tatsächlich sowohl über eine technologische Basis als auch über eine eigene (und sehr umfangreiche) Entwicklungsstrategie in der Region. Allerdings wird jede militärische Aktivität, einschließlich der Stationierung amerikanischer Militärstützpunkte auf seinem Territorium, von seinem östlichen Nachbarn eine angemessene Reaktion erhalten. Das wird für Finnland, das 70 Jahre lang keine Ahnung hatte, wie das Gleichgewicht der Bedrohungen tatsächlich aussieht, kaum als Errungenschaft im Bereich der nationalen Sicherheit angesehen werden können.

Der NATO-Beitritt wird eine umfassende Umstrukturierung der militärischen Kapazitäten mit sich bringen, betont Nikita Beluchin, Nachwuchsforscher in der Abteilung für europäische politische Studien am IMEMO RAN (Nationales Primakov-Forschungsinstitut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen).

»Das volle Ausmaß wird in ein paar Jahren klar sein, da alle nordischen Länder planen, die Verteidigungsausgaben in gewissem Umfang zu erhöhen. Auf der praktischen Seite wird der Rückkehr zu den Waffensystemen große Aufmerksamkeit gewidmet, die in den 90er und frühen 2000er Jahren aufgegeben wurden, als Auslandseinsätze Priorität hatten.
Darüber hinaus sprechen wir über Überwachungssysteme für die Aktionen der russischen Marine in der Ostsee«, sagte Beluchin.

Obwohl die Finnen die NATO-Mitgliedschaft befürworten, besteht hinsichtlich der Anwesenheit ausländischen Militärpersonals keine Einigkeit. Im Januar durchgeführte öffentliche Meinungsumfragen zeigten, dass nur 39 % der Befragten die Einrichtung eines dauerhaften NATO-Stützpunkts befürworten.

Der finnischen Gesellschaft wurde gesagt, dass sie für die neue Sicherheitsstruktur bezahlen würde, betont Nikolai Mezhevitsch.

»Nach den Informationen aus Finnland zu urteilen, können wir den Schluss ziehen, dass sie alle negativen Konsequenzen, die mit dem Abbruch der Beziehungen verbunden sind, bereits akzeptiert haben. Zuerst werden Energie und Tourismus einbrechen, dann andere Branchen«, glaubt Mezhevich. »Die Landwirtschaft konzentrierte sich hauptsächlich auf Rußland als Markt, da ihre Produkte für Europa zu teuer waren. Natürlich gibt es einen gewissen Spielraum aufgrund der hohen Qualität, aber dieser ist keineswegs unendlich.

Die finnische Gesellschaft war sich sicher, dass sie sich mit dem NATO-Beitritt auf die Seite der Gewinner stellte. Jetzt herrscht etwas Verwirrung.«

Reiner Selbstmord für Finnland

Die unglücklichste Auswirkung der Entscheidungen Helsinkis werden die wirtschaftlichen Folgen sein. Wie bereits erwähnt, wurde die UdSSR Mitte der 70er Jahre zum wichtigsten Handelspartner der Republik. Bis zu einem Viertel aller finnischen Exporte gingen in die Sowjetunion. Aber auch nach der tiefen Krise im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der UdSSR gelang es Finnland und Russland aus natürlichen Gründen bald, Handelsbeziehungen aufzubauen. Mitte der 2010er Jahre gehörte die Russische Föderation durchweg zu den Top 5 der finnischen Exporte und Importe, und Projekte in Branchen wie dem Schiffbau, dem Maschinenbau, der Metallverarbeitung und sogar der Nanoindustrie entwickelten sich aktiv.

Unterdessen entdeckte Sauli Niinistö am 7. Juli, dass der Versuch, Russland“ (als Handelspartner) „wirtschaftlich zu »stornieren«, ganz konkrete unangenehme Folgen hatte.
Absolut alle finnischen Unternehmen hätten den russischen Markt verlassen, aber das habe zu keinem Ergebnis geführt, sagte er.“

Eine rätselhafte Äußerung des finnischen Präsidenten. Er meint offenbar, zu keinem erwünschten Ergebnis betreffend die Schwächung Rußlands. Auf der finnischen Seite hatte es offenbar durchaus Resultate im Sinne eines wirtschaftlichen Einbruchs.

„»Wir sind eines der ganz wenigen Länder in dieser Situation. Leider scheint dieser Mechanismus unwirksam zu sein«, schloss Niinistö.“

Also der vollständige Rückzug aus den russischen Handelsbeziehungen hat in Rußland keine Auswirklungen. Aber in Finnland notgedrungen schon.

„Viel unangenehmer wird es sein zu erkennen, dass es in den kommenden Jahren nicht möglich sein wird, zum vorherigen Niveau der bilateralen Beziehungen, auch der wirtschaftlichen, zurückzukehren. Die Wirtschaft des Landes hat die negativen Auswirkungen politischer Entscheidungen bereits zu spüren bekommen. Laut Bloomberg geriet Finnland aufgrund der desaströsen Statistiken im vierten Quartal 2022 in eine Rezession, die vor allem auf einen starken Rückgang der Exporte zurückzuführen war.

Mit seiner Entscheidung hat Finnland tatsächlich ein neues Kapitel in der Geschichte aufgeschlagen. Sollte es sich am Ende jedoch als Fehler herausstellen, wird es deutlich schwieriger, die Situation wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen.“

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(*1) Damit sind gemeint:

1. der finnische Bürgerkrieg vom 27. 1. bis 5. 5. 1918, der mit Hilfe Deutschlands zugunsten der herrschenden Klassen entschieden wurde,
2. der Karelische Aufstand vom 6.11. 1921 bis 21.3. 1922,
3. der „Winterkrieg“ vom 30.11. 1939 bis 13.3. 1940,
4. der „Fortsetzungskrieg“ vom 22.6. 1941 bis 19.9. 1944.

(*2) Der Titel bezeichnet den Strauch „Gemeiner Schneeball“, der sowohl in der Ukraine als auch in Rußland sehr häufig ist. Es ist ein während des 1. Weltkriegs und danach populär gewordenes Volkslied, das heute wieder sehr gerne als eine Art patriotische Hymne der Ukraine gesungen wird.
(Es gibt allerdings mehrere Lieder gleichen Namens auf Russisch, mit einem ganz anderen Text, und auch einen sowjetischen Film dieses Namens.)