Serie „Lateinamerika heute“. Teil 13: Uruguay

DIE SCHWEIZ SÜDAMERIKAS

Anfänge: Niemandsland
Während der Kolonialzeit entbehrte das Territorium des heutigen Uruguay jeglicher Bedeutung. Es finden sich nämlich dort keine Bodenschätze oder sonst etwas, das man unter den damaligen Bedingungen zu Geld machen konnte. Es war eine Art Grenzmark des spanischen Kolonialreichs gegen das portugiesische, mit unklaren Grenzen nach Norden und Osten hin.
Hin und wieder fielen portugiesische Menschenjäger ein, aber auch diese Besuche hatten Seltenheit: Das „Ostufer“, wie die Provinz im Osten des Rio Uruguay genannt wurde, war weit entfernt von den Metropolen des damaligen Brasilien, und die Gegend war dünn besiedelt.
Die Unabhängigkeitskriege einten zunächst die beiden Ufer des Río de la Plata gegen das spanische Mutterland. Später aber entwickelten sich zentralistische und föderalistische Vorstellungen zu einem Zankapfel zwischen Buenos Aires und dem Ostufer. Diesen Streit nutzten portugiesisch-brasilianische Truppen, um ihrerseits dieses Gebiet zu beanspruchen. Im Streit um die Gegend zwischen dem Rio de la Plata und der Stadt Porto Alegre verblutete und verschuldete sich vor allem das junge Argentinien, das sich diesen Krieg nicht leisten konnte.
So wurde schließlich unter Vermittlung Großbritanniens, die einen schwachen und willigen Staat an strategisch wichtiger Stelle wollten, das heutige Uruguay 1830 als unabhängiger Staat gegründet.
Bis heute gibt es Grenzstreitigkeiten zu Brasilien, und bis ins 20. Jahrhundert galt Großbritannien als eine Art Schutz-, aber auch Kontrollmacht Uruguays. Von dieser Schutzmacht wurde Uruguay in den Krieg des Dreibunds (1864-70) gegen Paraguay getrieben, der dieses Land völlig zerstörte.

Land ohne Leute
Die Gründer Uruguays, eines Staates von fremden Gnaden, waren allesamt Militärs, die in den verschiedenen Kriegen, Revolten und gegen die brasilianische Besatzung gekämpft hatten. Als neue Herren des Landes gingen sie ans Werk und teilten das Land unter sich auf. Eingeborene wurden verfolgt, versklavt und ausgerottet.
Bis heute ist Uruguay ein Land der Latifundien. Der größte Teil der Flächen von Uruguay – die alle recht flach und fruchtbar sind – wird von Rindern und Schafen bewohnt. Der daneben auch betriebene Ackerbau wird mit modernen Geräten unter möglichst geringem Einsatz von Menschen betrieben.
Die menschliche Bevölkerung Uruguays versammelt sich in den Städten: Von den dreieinhalb Millionen Einwohnern leben fast 2 im Großraum von Montevideo. Der Rest verteilt sich auf kleinere Städte, von denen nur zwei die 100.000-Einwohner-Grenze überschreiten.

Bunte gegen Weiße
An der Stellung zur Schutzmacht und zum Grundbesitz arbeiteten sich die beiden Parteien ab, die das Land mit jahrzehntelangen Bürgerkriegen überzogen, weil sich immer eine oder die andere Seite bei der Aufteilung des Kuchens übergangen fühlte.

Diese beiden Interessensgruppen bemühten sich gar nicht um besondere Programme, und benannten sich konsequenterweise nach Farben, die sie in der Schlacht aufgezogen hatten. Ihre Führer betrachteten Uruguay als ein Schachbrett, auf dem man sich durchsetzen mußte, und gerieten sich auch untereinander in die Haare. Nach jahrzehntelangen Bürgerkriegen unter Einbeziehung der Nachbarstaaten, die auch Flüchtlingswellen auslösten, einigten sich schließlich Großgrundbesitzer und Vertreter des inzwischen erstarkten Handelskapitals und Bürgertums von Montevideo auf eine Art Verteilungsschlüssel und Zusammenarbeit. Mit dem Präsidenten Battle beginnt auch der Umbau der Bunten Partei zu einer Art Wohlfahrtsstaat-Partei, mit Sozialgesetzgebung und Arbeitsrecht.
Hier zeigt sich eine Besonderheit Uruguays: Der Gegensatz zwischen Großgrundbesitz und städtischer Bourgeoisie nahm nie die Ausmaße an wie in anderen Nachfolgestaaten des spanischen Kolonialreiches. Uruguay zeichnet sich bis heute durch rege Zusammenarbeit zwischen den Eliten aus, wo das landwirtschaftliche Kapital in Industrie und Handel investiert wird, und umgekehrt das Handelskapital an der Modernisierung der Landwirtschaft beteiligt war.

Agrarwohlstand
Und siehe da, es stellte sich heraus, daß sich mit dem Export der Agrikulturprodukte – hauptsächlich Fleisch und Wolle – ein gutes Geschäft machen ließ, wenn nicht alle paar Jahre das Vieh durch marodierende Truppen dezimiert wurde. Uruguay verzeichnete in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts einen bescheidenen Wohlstand, der auch durch Einführung von Arbeitsschutzgesetzen und politischen Reformen sozialen Frieden bescherte. Im Schatten zweier Weltkriege funktionierte das Modell, und mit den Erlösen aus dem Wolle-, Leder- und Lebensmittelexport ließen sich auch die nötigen Importe finanzieren.

Uruguay stellt bis heute eine gewisse Besonderheit oder Anomalie des Weltmarkts dar. Auf Grundlage des Großgrundbesitzes und einer auf dem so organisierten Agrarsektor beruhenden Wirtschaft hat sich dieses Land ohne besondere Schuldenkrisen bis heute weitergebracht.
Die Grundherren betreiben auf Grundlage großer Flächen eine extensive Landwirtschaft, mit moderner Technologie, kommen aber mehrheitlich ohne Monsanto und ähnliche Manipulationen des Ertrages aus. Sie können ihre Produkte daher als „Bio“ verkaufen. Die hauptsächlichen Abnehmer uruguayischer Agrarprodukte sind Argentinien, Kanada und die EU.

An Uruguay kann man sehen, wie sich auf großen Flächen rationell produzieren läßt, ohne Agrarchemie aller Art ein- und den Endverbraucher diesem Zeug auszusetzen.
Obwohl einige seine Agrarproduzenten in den letzten Jahren auch auf den Chemie-Zug aufgesprungen sind, scheint dort inzwischen die Einsicht um sich zu greifen, daß man sich mit dem Ersatz von Qualität durch Masse eine wichtige Marktposition verspielt.

Handelsmetropole
Bereits in der Kolonialzeit war Montevideo ein wichtiger Hafen, unter anderem für den Sklavenhandel. Die afrikanischen Gefangenen wurden über Montevideo, den Paraná und den Rio Paraguay zu den Bergwerksdistrikten im spanischen Kolonialreich, im heutigen Peru und Bolivien transportiert. Vor allem nach der Unabhängigkeit baute Uruguay seinen Handel zwischen Großbritannien und den nunmehr unabhängigen Staaten Südamerikas aus. Es wurde zu einer Art Drehscheibe zwischen Brasilien, Argentinien, Großbritannien und dem Inneren des Kontinents. Außerdem wurde es eine wichtige Anlaufstelle für Migranten aus Europa. Gegenüber dem gegenüber am Rio de la Plata gelegenen Buenos Aires hatte Montevideo den Vorteil, weniger in die Machtkämpfe der Nach-Unabhängigkeitskriege hineingezogen zu werden.

Schließlich trug zur Entwicklung als Handelsmetropole auch die armenische Immigration bei. Bereits im 19. Jahrhundert hatten sich viele Armenier in Montevideo niedergelassen, und die armenische Immigration stieg nach dem armenischen Völkermord von 1915 sprunghaft an. Die Armenier brachten internationale Handelsverbindungen und ein eigenes Kreditwesen mit, und trugen dazu bei, daß Montevideo weit mehr fremden Reichtum an sich ziehen konnte, als es seinem eigenen Hinterland entsprach.
Uruguay war auch das erste Land der Welt, das das armenische Genozid anerkannte.
Aufgrund seiner liberaleren Gesetzgebung zog Uruguay auch viel Tourismus aus Argentinien an. Montevideo, Colonia de Sacramento und Punta del Este wurden zu Wochenend-Destinationen der argentinischen Oberschicht, die einiges an Geld in deren Vergnügungsvierteln ließen.
Mit britischem und einheimischem Kapital wurde ein Eisenbahnnetz ausgebaut. Die flache bis hügelige Landschaft und das gemäßigte Klima (in Uruguay gibt es auch im Winter keinen Frost) setzte dem Ausbau eines Eisenbahn- und Straßennetzes wenig Hindernisse entgegen, sodaß die nötige Infrastruktur zustande kam, um die Agrarprodukte zu den Häfen, und Importwaren in alle Richtungen des Landes zu bringen.

Industrie und Gewerkschaften
Nach dem zweiten Weltkrieg setzte eine Industrialisierung ein. Seither wurde eine bedeutende Lebensmittelindustrie und sonstige Konsumgüterindustrie aufgebaut, die über den Inlandsbedarf hinaus auch über Exporte Devisen ins Land spült.
Eine weitere Besonderheit Uruguays ist, daß diese Industrie nicht über Kredite und Auslandsverschuldung aufgebaut wurde, sondern daß sich im Land selbst genug Kapital fand, um diese Industrialisierung zu stemmen.
Die Arbeiterklasse Uruguays ist also ein Produkt der jüngeren Geschichte. Daher haben die Gewerkschaften erst ab den 50-er Jahren nennenswerten Einfluß in Uruguay.
Die erste Gewerkschaft Uruguays, die anarchistische FORU (Regionaler Arbeiterbund Uruguays) wurde 1905 gegründet. Nach der russischen Oktoberrevolution spalteten sich kommunistisch orientierte Teile ab. Alle diese Gewerkschaften waren zwar legal, aber schwach und hatten wenig Einfluß. Erstens hatten sie wenige Mitglieder, die zweitens in verschiedensten Sektoren organisiert waren, von Landarbeitern über Handels- bis Hausangestellte oder Lehrer. Erst in den 60-er Jahren wurde die landesweite Gewerkschaft CNT (Nationaler Zusammenschluß der Arbeit) aus verschiedenen Einzelgewerkschaften gegründet, und setzte sich eine Agrarreform – also das Infragestellen des bisherigen Latifundien-Systems – und Verstaatlichung von Infrastruktur und Kühlhäusern zum Ziel.
Diese Gewerkschaft hatte also das Ziel, die bisherigen Besitzverhältnisse in Uruguay zu verändern.

Die Tupamaros und die Militärdiktatur 1973-1985

Aus dem Schoß der Gewerkschaftsbewegung formierte sich eine revolutionäre Studentenbewegung, die sich „Tupamaros“ nannte. Sie knüpften damit an eine uruguayische Guerillaarmee gegen die spanische Kolonialmacht aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts an, die sich nach dem indianischen Aufständischen Tupac Amaru (auf der Anden-Hochebene) gegen die spanische Kolonialmacht benannte. Sie waren das Vorbild der Bewegung 2. Juni, der RAF und der Roten Brigaden in Europa.
Die Tupamaros waren zunächst eine aktive Studenten- und Gewerkschaftsbewegung, bis sie sich 1968 aufgrund staatlicher Repression in einen Stadtguerilla umwandelten und zum bewaffneten Kampf übergingen. In einem Land, in dem außerhalb der Städte nur Vierbeiner leben, ist das eine logische Entwicklung. (Der Theoretiker der Stadtguerilla in Lateinamerika war der Brasilianer Carlos Marighella.) Der Höhepunkt ihrer Aktivitäten war der Überfall auf die der Kleinstadt Pando im Jahr 1969, wo einiges an Geld erbeutet wurde. Auch ein CIA-Agent wurde von ihnen entführt, verhört und die Ergebnisse dieses Verhörs der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Tupamaros beschlossen eine duale Strategie, mit einem außerparlamentarischem und einem legalen Flügel.
Es ist hier festzuhalten, daß die lateinamerikanischen Studenten-Revolutionäre, in erster Linie die Tupamaros, das Vorbild der europäischen waren.
Die Gefahr eines Wahlsieges bzw. einer Machtübernahme der linken Revolutionäre war schließlich der Grund für den Militärputsch von 1973. Die Militärregierung, die bis 1985 an der Macht war, arbeitete mit dem CIA im Rahmen der „Operation Condor“ zur Bekämpfung linker Bewegungen in Lateinamerika zusammen. Der sich zum Diktator erklärende, ursprünglich gewählte Präsident Bondaberry war erklärter Anhänger diktatorischen Regierens. Dennoch setzte ihn das Militär 1979 ab, weil er ihnen nicht die nötigen Freiheiten im Rahmen einer Verfassungsänderung zugestehen wollte.

Die uruguayische Diktatur zeichnet sich wiederum durch einige Besonderheiten aus.

Erstens gelang es den Militärs nie, die zivile Regierung völlig auszuschalten.
Während der Diktatur wurden Wahlen abgehalten, die aber von der Bevölkerung boykottiert wurden, da keine relevante Partei zugelassen war. Außerdem wurde ein Versuch gemacht, eine neue Verfassung zu erlassen, die die Militärregierung abgesegnet und als Regierungsform etabliert hätte. Diese Verfassung wurde einer Volksabstimmung ausgesetzt und von den Wahlberechtigten zurückgewiesen.
Die Militärregierung versuchte sich also durch Volksentscheid zu legitimieren und scheiterte dabei.
Zweitens führte die Übernahme durch das Militär zu einem Niedergang der uruguayischen Wirtschaft, deren größte Trumpfkarte stets Offenheit und freier Handel gewesen waren. Die Beschränkungen des Militärregimes, Kontrollen über Personen- und Warenverkehr und Unsicherheit über die weitere Entwicklung schreckten viele Handelspartner ab. Während der Militärdiktatur verzeichnete die uruguayische Wirtschaft einen Abschwung, das ausländische Kapital mied das Land.

Das war schließlich auch der Grund, die Militärherrschaft zu beenden und zum System der gewählten Regierungen zurückzukehren. Die Politiker und Militärs entschieden das frei, ohne Druck von außen, nachdem die linken Kritiker ausgeschaltet worden waren.
Während der Militärherrschaft wurden einige Hunderte Oppositionelle verhaftet, ermordet oder verschwanden spurlos. Die uruguayische Militärdiktatur erscheint dennoch, nach Zahlen und Methoden, relativ zurückhaltend im Vergleich zu anderen Staaten des Südzipfels Südamerikas.

Ihre Machthaber nutzten allerdings den Freiraum, der ihnen für den Kampf gegen die Subversion zugestanden worden war, auch für interne Machtkämpfe. Einige bürgerliche Politiker wurden von Todesschwadronen weggeräumt, auch im benachbarten Argentinien.
Die neue zivile Regierung einigte sich 1986 auf ein Gesetz der Nicht-Verfolgung der Militärs, die am Aufräumen gegen die Opposition teilgenommen hatten.
Die Unterlegenen entschieden sich für den parlamentarischen Weg und gründeten die „Breite Front“, ein Konglomerat aus linken, Umweltschutz- und sogar christlichen Gruppen, die seit 2005 in Uruguay regiert, und die beiden traditionellen Parteien Uruguays in die Opposition gedrängt hat.

Uruguay heute
Uruguay ist nach internationalen Studien der Staat Lateinamerikas mit der höchsten Alphabetisierungsrate und der geringsten Korruption Lateinamerikas. Auch in Sachen Medizin, Sozialwesen usw. kriegt Uruguay ausgezeichnete Noten.
An Uruguay bewahrheitet sich das Urteil seines bekanntesten Autors, Eduardo Galeano, über die „Armut des Menschen als Ergebnis des Reichtums der Erde“: Uruguays Glück war es, daß seine Erde keine besonderen Reichtümer verbarg, deshalb gibt es dort auch nicht die extreme Armut, die in vielen andere Staaten Lateinamerikas üblich ist.

Uruguay hat übrigens eine der liberalsten Drogengesetzgebungen der Welt – der Besitz und Konsum von Marihuana ist straffrei, und sogar Anbau und Handel sind erlaubt.
Außenpolitisch positioniert sich die heutige Regierung Uruguays vorsichtig gegen die US-Hinterhof-Politik und deren Vertreter in Lateinamerika, sehr zum Ärger des ehemaligen Parteikollegen Luis Almagro, der heute als Vorsitzender der OAS die USA hofiert und deren Einmischung in Venezuela begrüßt.
Es steht zu erwarten, daß Uruguay bald in die Turbulenzen zwischen seinen Nachbarstaaten, dem aussichtslos überschuldeten Argentinien und dem von Faschisten und Größenwahnsinnigen regierten Brasilien gerät.

Lesenswertes

LINKE PUBLIKATIONEN
Mein Internet-Gedankenaustausch rund um den Blogeintrag zum Sozialstaatsbuch von Dillmann/Schiffer-Nasserie
hat mir gezeigt, daß die Gegnerschaft zu diesem Buch lokal begrenzt ist.
Diese Erkenntnis freut mich sehr.
Das nehme ich zum Anlass, einmal alle Publikationen von Leuten aus dem Dunstkreis des GSP hier aufzulisten, damit alle Interessierten wissen, was es da so gibt.
1. Renate Dillmann / Arian Schiffer-Nasserie
Der soziale Staat
https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/der-soziale-staat/
Das China-Buch von Renate Dillmann soll wieder neu herausgegeben werden. Falls etwas daraus wird, so werden wir das allen Interessierten mitteilen.
2. Hermann Luer
Warum verhungern täglich 100.000 Menschen?
ISBN: 9781 7979 5720 3
Der Grund der Finanzkrise
ISBN-13: 978-3865827982
Kapitalismuskritik und die Frage nach der Alternative
ISBN-10: 398171380X
ISBN-13: 978-3981713800
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3. Suitbert Cechura
Unsere Gesellschaft macht krank
ISBN 978-3-8288-4149-9
Inklusion: Ideal oder realistisches Ziel?
ISBN 978-3-7841-2755-2
Kognitive Hirnforschung (vergriffen)
(vergriffen) ISBN 978-3-89965-305-2
dazu seine Website, wo man auch vergriffene Bücher als PDF herunterladen kann.
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sowie:
5. Ulrich Schulte
Herrschaftszeiten. Geschichten vom Herrn Keiner
ISBN13: 9783981522600
dazu meine Publikationen:
6. Amelie Lanier
Über Geld und Kredit: Texte zur Finanzkrise und Eurorettung
ISBN-13: 978-3200059061

und
Neue Gesichter unter alten Hüten?: Texte einer Konferenz in Budapest
ISBN-13: 9783732245376
https://www.bod.de/buchshop/neue-gesichter-unter-alten-hueteno-9783732245376

Gastkommentar: „Der soziale Staat“ von Dillmann/Schiffer-Nasserie

DER GEGENSTANDPUNKT SPIELT DIE BELEIDIGTE LEBERWURSCHT
Angesichts des kenntnisreichen und agitatorischen Werkes „Der soziale Staat“ zeigt sich der GSP beleidigt. So etwas hat er in 45 Jahren nicht hinbekommen, nicht einmal ansatzweise. Weil er es nicht hinbekommen hat, andere aber schon, muss es falsch, falscher geht es gar nicht, sein.
Diese schräge Logik bebildert er in einem – oder mehreren – Vorträgen zum Sozialstaat, wie folgt:

1. Negative Urteile und die Aufforderung, doch selber zu prüfen – Wissenschaft vom Feinsten

1a. Die Autoren verfassen keine systematische Ableitung. Darauf haben wir, der GSP, aber einen Anspruch in dem Sinne, daß wir definieren: Wissenschaft = Ableitung (was immer man darunter verstehen will, die Methode des GSP eben), deshalb ist alles, was nicht als Ableitung angelegt ist, schon einmal unwissenschaftlich und daher falsch.
So ergeht sich der GSP dann des öfteren in der öden Wiederholung des negativen Urteils, daß hier die richtige Methode nicht angewendet wurde und daher alles verkehrt sei.
1b. Die gehen doch glatt durch die einzelnen Abteilungen des Sozialstaates durch, das ist doch keine Ableitung!
1c. Dann kommt auch noch Geschichte vor, Bismarck ganz prominent, so geht doch keine Ableitung!
1d. Dann stellen sie auf Seite 27 ein „Schaubild“ ein – OMG, wie kann man denn mit einem Schaubild etwas erklären?!
Der gute Mann kennt noch nicht einmal den Unterschied zwischen einer tabellarischen, begrifflichen Zusammenfassung, die auf den Ausführungen der 7 Seiten zu „Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft“ beruht, und einem Bild, also einer Zeichnung oder so etwas, wo Gegenstände oder Leute abgebildet sind:
�Schaubild�
Es ist schon erstaunlich, mit wie wenig Substanz und welch völlig unkundigem Gerede in der Sache der GSP in der – zugegeben recht begrenzten – Öffentlichkeit auftritt.
Der Referent fordert das Publikum auf, ihm nicht einfach zu glauben, sondern die Erläuterungen selbst zu prüfen. Das muß dem p.t. Publikum einmal nahegelegt werden, weil es dazu offenbar selber gar kein Bedürfnis hat.
Man kann das als offen erklärten Offenbarungseid eines Vereins betrachten, der sich in jahrzehnterlanger Kleinarbeit eine treudoofe Hammelherde herangezüchtet hat. Stichwort (Marburger Lösung): „Wir warten erst einmal, was aus München kommt“.
Jetzt ist also der GSP mit dem Resultat eignen Treibens konfrontiert, nämlich einer Glaubensgemeinde, die sich auf das Buch angesprochen, sich bestenfalls irgendetwas zusammenstammelt nach dem Motto, da sind irgendwie Fehler drin, „ich und andere“ hätten das vielfach getestet.
Man stelle sich einmal vor, man geht zu einem wissenschaftlichen oder politischen Vortrag und der Referent bettelt, bitte glaubt mir nicht einfach, denkt selber – ist so etwas vorstellbar, nein, beim GSP aber schon – man denkt ans Mittelalter, und an seine Überwindung: Nein, nicht einfach nur mehr was glauben!
So bleibt nur noch etwas zu den
2. Idealismen
des GSP zu sagen:
2a. Das Grundeigentum und der Wohnungsmarkt
In deutschen Großstädten ist eine neue Wohnungsnot ausgebrochen. Ein Normalverdiener zahlt derzeit rund ein Drittel seines Einkommens für ein Dach über dem Kopf – und die Mieten steigen weiter. Dass diese elementare Lebensbedingung für die arbeitende Bevölkerung ein Luxus ist, den sie sich kaum leisten kann, wird hochoffiziell als „soziales Problem“ anerkannt. „Besonders vor Wahlen versprechen Politiker, sich dafür einzusetzen, dass »das Wohnen bezahlbar bleibt« – was als Diagnose und Therapie schon alles sagt: Nach 150 Jahren kapitalistischen Wachstums ist es das für viele eben nicht.“ (Gleichnamiger GSP Artikel, 2/14, s. 123)
Ach so, eigentlich hätte die Wohnungsnot nach all den Jahren schon verschwinden müssen.
Oder aber, vor 150 Jahren hatte jeder was zum Wohnen?!
Man fragt ja nur, was der Hinweis auf die 150 Jahre eigentlich soll.
2b. Das liebe Geld
„Zwar herrscht an Notlagen kein Mangel in »unserer Überflussgesellschaft«. Die davon Betroffenen haben aber noch nie ein Gesuch um die amtliche Betreuung an die Obrigkeit gerichtet. Sie haben in der Regel einen recht eindimensionalen Begriff von der Ursache ihrer Lage – dessen Richtigkeit kaum zu bestreiten ist; zu wenig Zaster.“ (Beruf Sozialarbeiter, in: Die Jobs der Elite, S.124)
Der Referent behauptet völlig herbeigelogen, dafür aber permanent, die Autoren von „Der soziale Staat“ gäben immer nur Geldmangel als Grund der Misere an.
Das hat er wohl seinen eigenen Schriften abgelauscht:
„So geht im modernen Klassenstaat Volksgesundheit. Funktionieren kann das freilich nur so, dass der Staat den Medizinbetrieb als Teil des kapitalistischen Geschäftslebens organisiert, dem er zuarbeitet … Die organisierte Volksgesundheit ist zwar für alle da, aber sie soll und kann nur in der Weise für alle dasein, dass sie gemäß den Kriterien der Konkurrenz freier Erwerbspersonen hergestellt wird, um deren Opfer sich die Medizin zu kümmern hat: Sie ist eine Geldfrage. (Broschüre Gesundheit, Gegenstandpunkt Verlag, Seite 77)
Dem GSP scheint die Kategorie Geld so eine Art Allschlüssel zu sein: Mit dem tumben Hinweis auf Geld ist auch die gesundheitliche Betreuung ursächlich geklärt.
So, so.
2c. Das Soziale und die Revolution
„Auch beim Sozialstaat ist also absolut nichts Revolutionäres in Sicht im Zuge dieser industriellen Revolution. Der zur Lohnarbeit gehörende Pauperismus war auch schon vor der »Wertschöpfung in der digitalen Welt« eine öffentliche Angelegenheit und bleibt es auch in der digitalen Zukunft.“
(Industrie 4.0., GSP 2/16, Seite 51)
Aha, was der GSP dem Sozialsstaat so für ein Potential zumisst, prinzipiell jedenfalls. Und oho, die Veränderung der Produktivkräfte könnten ggf. was Revolutionäres hervorbringen in Sachen Sozialstaat. Da fehlt es doch ein bisschen an den Grundlagen einer marxistischen Analyse.
3. Warum dieses Buch so gut ist
Bei so viel idealistischem Schwachsinn über den Sozialstaat empfehle ich dem GSP mal das Buch „Der soziale Staat“ zu lesen. Da werden solche Vorstellungen grundlegend kritisiert. Wenn gewünscht, ließe sich sogar ein Lesekreis zum Thema einrichten, da könen sich der Referent und andere Interessenten mal anmelden – kostenfrei.
Insgesamt: Was soll man schon von einem kleinbürgerlicher Eliteverein erwarten? Die wollen halt gern recht haben, egal wie, – da kommt dann so etwas raus.
Wer wirklich was zum Sozialstaat erfahren will,
1. kaufe das derart geschmähte Buch und lese es.
2. Das Internet bietet auch einen Vortrag der Autorin, und ein Interview mit beiden Autoren.
3. Es gibt im Netz einige Rezensionen: Besonders sei die von Norbert Wohlfahrt empfohlen, der zunächst einen redlichen Überblick über die Inhalte des Buches gibt und auch den historischen Abriss erläutert und dabei nicht wie der GSP-Referent schon beim Namen Bismarck das Stottern kriegt.
4. Wir dulden keinen Gott außer uns
Nachtrag: Es gibt für den GSP offensichtlich das Bedürfnis, mit großem Fleiß und Einsatz (z.B. mit einer Wochenendschulung, über die ein Audiomitschnitt vorliegt, sowie einem Protokoll, besser ein Chefpapier von Konrad Hecker, und schließlich mit öffentlichen Vorträgen) gegen dieses Werk anzutreten.
Nach außen, vor allem aber nach innen seinen Anhängern gegenüber, arbeitet sich der GSP ja an der Vorstellung ab, dass politische Arbeit, insbes. Agitation, unheimlich schwer ist. Keiner seiner Anhänger bekommt irgendetwas hin. Nach 40 Jahren Schulung stellt sich besagter Hecker vor einem Haufen Professoren und Oberstudienräten hin und sagt: Die Chronik der laufenden Ereignisse – also die 2-3 Seiten Infos zum Weltgeschehen im Vorfeld anderer Artikel im Gegenstandpunkt – müsse eingestellt werden, da es niemand mehr gäbe, der so was schreiben kann. (!!!)
Normales Deutsch ist also demzufolge beim GSP ausgestorben, nur mehr für die verschlüsselten und verdrechselten Artikel, deren Inhalt sich für Normalverbraucher gar nicht erschließt, finden sich noch Schreiber bei dieser ausgedünnten Mannschaft, die ständig jammert, es fehle ihr an „Ressourcen“!
Und jetzt kommen welche daher und zeigen, dass man ein Buch, welches den Sozialstaat darstellt bzw. erklärt, gleichwohl keine „Ableitung“ ist, enorm kleinschrittig, gut lesbar und agitatorisch verfassen kann. Zudem hat die Autorin Dillmann früher selbst einige GSP Artikel mitverfasst, ein Buch über China verfaßt, und hat in GSP Kreisen immer noch einen guten Namen. (Der Autor dieser Zeilen war selbst überrascht, wie vielen GSP-Anhängern er das Buch verkaufen konnte.)
Summa summarum: für einen kleinbürgerlichen Eliteverein, der in erster Linie in Konkurrenzkriterien reflektiert (Wir sind besser als alle anderen!), ist ein solches Werk aus den bisher genannten Gründen ein wahrer Alptraum.
Das also ist das Substrat oder die vorläufige Endstation eines Vereins, der mit dem Anspruch antritt, der einzige und wahre marxistische Analytiker zu sein.
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Renate Dillmann selbst bezieht auf ihrer Website auch Stellung zu den GSP-Anwürfen gegen ihr neues Buch (Scrollen nach unten):
Zur Kritik der Zeitschrift „Gegenstandpunkt“ am Buch „Der soziale Staat“