UNKLARES KRIEGSZIEL
Putin hat in seiner Rede vom 24. Februar das Ziel seines Einmarsches angegeben:
„Russland kann sich unter der Bedrohung durch die moderne Ukraine nicht sicher fühlen. Die Umstände erfordern entschlossenes Handeln. Die Volksrepubliken Donbass baten um Hilfe. (…)
Und dafür werden wir die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine anstreben. Sowie diejenigen vor Gericht zu bringen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen Zivilisten begangen haben, darunter Bürger der Russischen Föderation. Gleichzeitig beinhalten unsere Pläne nicht die Besetzung ukrainischer Gebiete.“
Das ist im Grunde ein widersprüchliches Unterfangen. Man muß sich vor Augen halten, was die angestrebte „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ bedeuten würde, nämlich das Auswechseln der gesamten Verwaltung, des Sicherheitsapparates, der Militärführung usw. usf., was ohne Besatzung gar nicht zu machen wäre. Ein Land von der Ausdehnung der Ukraine dauerhaft zu besetzen, liegt jedoch aus verschiedenen Gründen außerhalb der Möglichkeiten Rußlands.
Als Putin diese Kriegsziele formulierte, ging er offenbar davon aus, daß die „gute“ Bevölkerung der Ukraine von einer „bösen“ Nazi-Clique beherrscht wird(*1), die sie lieber heute als morgen abschütteln würde, und deshalb die russische Armee als Befreier betrachten würde.
Da hat aber der FSB sehr schlecht gearbeitet, wenn er dem Chef dieses Bild vermittelt hat. Und einiges an Wunschdenken dürfte hier auch unterwegs gewesen sein, aber auch die realsozialistische Erziehung, die immer von einer guten, aber verführten Bevölkerung ausging, einem klassenbwußten Proletariat, das von bösen Führern fehlgeleitet wurde und wird. Und natürlich, Verrätern und 5. Kolonnen im eigenen Land, die es zu vernichten gilt.
Bald zwei Monate und gewaltige Zerstörungen und viele Tote später dürfte sich herausgestellt haben, daß dieses Kriegsziel nicht zu erreichen sein wird, weil es auf falschen Voraussetzungen beruht hat.
Seither toben offenbar Kämpfe innerhalb des Kreml, was mit dieser „Spezialoperation“ eigentlich zustande kommen soll?
Die russische Führung muß sich nämlich darüber im Klaren sein, daß erobertes Gebiet so aussehen wird wie Mariupol, d.h. einiges an Wiederaufbau nötig sein wird, falls sich die russische Macht dauerhaft dort festsetzen wird.
Sie muß sich ebenfalls darüber im Klaren sein, daß alle Gebiete, aus denen es sich zurückzieht, von den ukrainischen Streitkräften einer Säuberung unterzogen wird, wo dortige Verräter und 5. Kolonnen ausfindig gemacht, und vertrieben oder liquidiert werden.
Man erinnere sich an die Jugoslawienkriege und die bis damals größte Vertreibungsaktion seit 1945, die 200.000 Vertriebenen aus der Krajna.
Alle Gebiete, die Rußland erobert und aus denen es sich nachher wieder zurückzieht, würden also weitere Flüchtlingswellen zur Folge haben. Bereits jetzt ist nach russischen Angaben mehr als eine halbe Million Menschen nach Rußland geflüchtet, oder mußte aus zerstörten Gebieten nach Rußland evakuiert werden.
Weiters muß sich die russische Führung in Betracht ziehen, daß der Westen nie die Eroberung von Odessa zulassen würde, weil dieser Hafen das einzige Ausfallstor für die inzwischen sehr beträchtliche landwirtschaftliche Produktion der Ukraine ist. Durch Land-Grabbing und Investitionen von europäischem Agrarkapital hat sich hier eine sehr profitable Geschäftsshäre entwickelt, die die ganze Welt mit Nahrungsmitteln versorgt. Odessa hat dadurch die Rolle zurückerhalten, die es in zaristischen Zeiten gespielt hat.
Da es eine mehrheitlich russisch bewohnte Stadt ist, ist im Falle eines Verbleibes bei der Ukraine mit einer Vertreibungswelle durch die ukrainischen Behörden zu rechnen.
Putin wäre also gut beraten, bei einer Neuformulierung seiner Kriegsziele die militärischen und ökonomischen Mittel Rußlands in Betracht zu ziehen.
Bevor aber keine Entscheidung gefallen ist, was Rußland dort erreichen will und auch erreichen kann, gibt es nichts, worüber es mit der ukrainischen Führung verhandeln könnte.
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(*1) Natürlich gab und gibt es viel Unzufriedenheit in der Ukraine wegen der Armut und des Elends, die dort teilweise herrscht (=> Leihmütter) und den korrupten Eliten, die sich schamlos die Taschen füllen.
Aber diesbezüglich ist ja die Lage in Rußland nicht so viel besser, daß die russischen Truppen deshalb als Retter begrüßt werden würden.