Serie „Lateinamerika heute“. Teil 19: Guatemala

DIE UNGLÜCKLICHEN ERBEN DER MAYA

Guatemala ist heute nur wegen der Flüchtlingsproblematik hin und wieder in den Medien – als Ausgangs- und als Transitland für die Flüchtlinge Lateinamerikas. Es hat eine geringe ökonomische Bedeutung, weil der größte Teil seiner ca. 18 Millionen Einwohner zu arm ist, um einen nennenswerten Markt darzustellen, und weil es auch über keine besonderen Bodenschätze, seltenen Erden usw. verfügt. Nur als Anschauung: Das BIP Guatemalas betrug 2022 umgerechnet 78 Milliarden Euro, dasjenige Österreichs 480 Milliarden.

Es hat im Unterschied zu vergangenen Zeiten auch eine relativ geringe strategische Bedeutung, da inzwischen für die imperialistischen Ambitionen der USA in der näheren Umgebung genug andere Territorien zur Verfügung standen oder stehen, wie Honduras, Puerto Rico und verschiedene kleinere Inseln der Karibik.

Der Tourismus wegen der reichlich vorhandenen Ruinen der Mayas wäre ein wichtiger Erwerbszweig, der aber auch nicht so recht in die Gänge kommt, da die Rechtssicherheit in Guatemala schlecht ist – eine Art Teufelskreis. Wegen Armut => Kriminalität, wegen Kriminalität => Unattraktivität für Investoren, Touristen und sonstige Leute mit Geld, daher => wenig Erwerbszweige => Armut => Kriminalität.

Die Landbevölkerung und die Mayas

Die Mayas sind die bestbeforschte und bekannteste der präkolumbianischen Kulturen. Der Kult um sie steht in beachtlichem Widerspruch zu der Behandlung, mit der ihre Nachfahren im Laufe der Zeit und bis heute konfrontiert sind.

41% der Bevölkerung Guatemalas sind direkte Nachkommen der Mayas, und über 50% sind Mestizen, also teilweise Nachfahren der Mayas. Der Rest teilt sich auf in Nachfahren der Europäer, Einwanderer aus dem Nahen und Fernen Osten und afrikanischer Sklaven. Weniger als 10% der Bevölkerung sind also Kreolen, Weiße, und sie besitzen fast alles, was nicht in ausländischer Hand ist. Die einheimische Landbevölkerung verteilt sich auf den Petén, den nördlichen Teil, der zu einem guten Teil nicht erschlossener Dschungel ist, und die südlichen, gebirgigen Gebiete. Sie haben keine Eigentumsrechte und können jederzeit vertrieben werden, sobald jemand im In- und Ausland Interesse an diesen Gebieten bekundet, sei es für eine Plantage oder ein Bergbauunternehmen. Sie sind in ihrem eigenen Land also nur geduldet.

In der spanischen Kolonialzeit war die Lage etwas entspannter. Die Kolonialherrschaft erstreckte sich lediglich auf den gebirgigen, leichter zugänglichen Teil im Süden, der nördliche Teil abseits der Küste blieb sich selbst überlassen. Um die Lebensmittelproduktion zu sichern, wurden den Einheimischen gewisse Konzessionen gemacht und in königlichen Dekreten Gemeindeland zugesichert.

Plantagen und Zwangsarbeit

In der postkolonialen Zeit war die Kontrolle und die Benutzung der Landbevölkerung das wichtigste Ziel verschiedener Caudillos. Da sich bei den Kämpfen der Sezession von der Mittelamerikanischen Republik ein liberaler General – mit gewissen Erfolg – der indianischen Bevölkerung bedient hatte, beschloß der guatemaltekische General und Präsident Carrera und auch einige seiner Nachfolger, die Nachfahren der Eingeborenen mit allen Mitteln niederzuhalten, um die Stellung der Kreolen, also spanischstämmigen Grundherren und katholischen Geistlichen abzusichern.

Die Eingeborenen blieben land- und rechtlos und wurden unter der Regierung des Generals Barrios 1877 mit der „Taglöhner-Regelung“ sogar zu Zwangsarbeit verpflichtet, nachdem ihnen vorher das noch aus der Kolonialzeit verbriefte Gemeindeland weggenommen worden war.

Diese Benutzung der Eingeborenen war ein Service an die neu ins Land geholten belgischen und deutschen Agrarkapitalisten, die die landwirtschaftliche Produktion im Land beleben sollten und den Kaffee als Haupt- – und praktisch einziges – Exportprodukt Guatemalas etablierten.

Unter dem Präsidenten Reina Barrios wurde dieses Gesetz aufgehoben und erstmals ein Schulsystem eingerichtet, das den Analphabetismus – von 93% der Bevölkerung – bekämpfen und auch die Beherrschung des Spanischen unter der Landbevölkerung verbreiten sollte.

Rund um den Kaffee-Boom, eine Weltausstellung, den Bau der Eisenbahn und Verschuldung bei britischen Banken kam es 1897 zu einem Staatsbankrott, der in einem Aufstand und der Ermordung des Präsidenten gipfelten, dessen Reformen den Eliten Guatemalas zu weit gegangen waren. Außerdem hatte die Verschuldung erwiesen, daß sich Guatemala so etwas wie ein modernes Staatswesen mit Schulen und Infrastruktur überhaupt nicht leisten konnte.

Das Taglöhnergesetz wurde wieder in Kraft gesetzt.

Die Periode der Bananenrepublik: Unter dem Einfluß USA und die United Fruit Company

Sein Nachfolger wandte sich hilfesuchend an die USA, um eine britische Inkasso-Intervention zu verhindern. Unter diesem Präsidenten Cabrera begann die Karriere Guatemalas als Bananenrepublik der United Fruit Company (UFC). Der Ausbau der Dominanz der USA in Guatemala und den Nachbarstaaten verlief parallel zum Bau des Panamakanals und den Kriegen gegen die Spanier in Kuba.

Für die UFC kamen die Taglöhnergesetze gerade recht, sie fand ideale Ausbeutungsbedingungen vor. Der guatemaltekische Präsident war auch Aktionär der UFC, die Interessen gingen Hand in Hand. Auch die von der UFC zu Ende gebaute Eisenbahn und der Karibikhafen von Puerto Barrios wurden von der UFC betrieben, die damit den größten Teil des Exports und Imports Guatemalas abwickelte.

Unter der Herrschaft der UFC und der USA stellte sich eine Art ökonomische Zweiteilung ein: Der Kaffee wurden von guatemaltekischen Plantagenbesitzern europäischer Herkunft angebaut und exportiert, aus dieser Ökonomie flossen magere Einnahmen in die Kassen des Staates. Die Bananen, obwohl sie auch auf guatemaltekischem Boden abgebaut und mit guatemaltekischer Arbeitskraft erzeugt und abtransportiert wurden, waren eine Art exterritoriales Produkt, deren Gewinne die UFC exklusiv für sich beanspruchte.

Unter der Diktatur des Präsidenten Cabrera wurde auch eine Geheimpolizei eingerichtet, die alle Unzufriedenheit unter der Landbevölkerung im Keim ersticken sollte, und ein Gefängnissystem, das Unzufriedene hinter hohen Mauern verschwinden ließ.

Unter diesen Bedingungen waren es vor allem Kräfte aus dem Schoß der Kirche, Studenten und städtische Arbeiter, die eine Bewegung initiierten, die 1920 den Präsidenten stürzte.

Die Weltwirtschaftskrise führte zum Sturz der volksfreundlichen Regierung und brachte den Militär Ubico an die Macht. Unter diesem Präsidenten, einem Anhänger des europäischen Faschismus, der aber dennoch den USA Tür und Tor öffnete, um sich an der Macht zu halten, wurde die Polizei zur Ermordung gefährlicher oder krimineller Personen ermächtigt. Davon machte sie auch reichlich Gebrauch.

Ubico hatte das Taglöhnergesetz zwar aufgehoben, im Gefolge der Weltwirtschaftskrise erließ er jedoch ein neues „Gesetz gegen den Müßiggang“, in dem Vagabundentum unter Strafe gestellt und die vorher aufgehobene Arbeitspflicht wiedereingeführt wurde, und ein Straßenbaugesetz, das jeden Bürger entweder zu Zahlung oder zu Arbeitsleistung für den Straßenbau verpflichtete. Die guatemaltekische Lehrerbildungsanstalt wurde militarisiert, d.h. neben der pädagogischen einer militärischen Ausbildung unterworfen.

Die bei Großbritannien aufgelaufene Schuld, die Cabrera an die Macht gebracht und Guatemala zur Bananenrepublik gemacht hatte, wurde erst unter Ubico zurückgezahlt.

Nach Streikwellen und deren Niederschlagung etablierten die USA im Rahmen des II. Weltkriegs Basen in Guatemala.

Nach wachsendem Widerstand der Eliten übergab Ubico im Juli 1944 die Macht an eine Militärjunta. Diese versuchte, weiterzumachen wie bisher, wurde jedoch ein paar Monate später durch die „Oktoberrevolution“ (ja, auch Guatemala hat eine solche!) gestürzt, die ein zivil-militärisches Trio, die „revolutionäre Junta“ an die Macht brachte.

Der „guatemaltekische Frühling“

Diese neue Regierung war mit dem Status der Bananenrepublik gründlich unzufrieden. Sie erließ eine neue Verfassung und es kam zu den ersten Wahlen in Guatemala.

Der Präsident Arévalo gilt als der erste, der demokratisch gewählt wurde. Allerdings war bei diesen Wahlen nur ungefähr ein Achtel der Bevölkerung wahlberechtigt, aufgrund eines Registrierungsverfahrens, der die analphabetische Landbevölkerung nicht erfaßte. Die Schulgründungen und die Volksbildung waren nämlich schnell wieder aufgegeben worden, als sich herausstellte, daß Schüler und Studenten sich besonders oft gegen die herrschenden Verhältnisse empörten.

Während der Regierungszeit (von 1945 bis 1951) Arévalos, der sich vor allem an F.D. Roosevelts Politik orientierte, fanden 30 Putschversuche statt. Er sah sich im In- und Ausland mit wachsendem Widerstand konfrontiert. In den USA wurden zaghafte Schritte in Richtung Demokratie zur Zeit McCarthys als Kommunismus gebrandmarkt, die UFC war empört über die Versuche der Regierung, die Eingeborenen aus dem Status der Rechtslosigkeit herauszuholen und das Bananengeschäft zumindest teilweise dem guatemaltekischen Staatssäckel zuzuführen, um ehrgeizige Projekte wie ein Schul- und Gesundheitswesen zu finanzieren.

Arévalo konnte sich gegen die ganzen Putschversuche nur deshalb halten, weil er einen Verteidigungsminister hatte, der die Fäden im Militär in der Hand hielt und diese ganzen Versuche vereiteln konnte. Als dieser Mann schließlich mit einem Erdrutschsieg die nächsten Wahlen gewann – inzwischen durfte schon rund ein Sechstel der Guatemalteken wählen – war für USA-Regierung, den CIA und die United Fruit endgültig klar, daß hier grundlegende Maßnahmen notwendig werden, um einen Präzedenzfall im Hinterhof und womöglich ein Kippen ganz Mittelamerikas zu verhindern.

Um so mehr, als der neue Mann, Jacobo Arbenz, sich eine Reform des Rechtswesens und eine Landreform vornahm, die zu Lasten der UFC gegangen wäre. Und nicht nur das: Er setzte auch Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur, die das Monopol der UFC in Fragen Transport brechen sollten, wie einen Hafen und eine Straße zum Atlantik.

Da er sich auch von Mitgliedern der Arbeiterpartei Guatemalas beraten ließ, war klar, daß hier der Kommunismus bekämpft werden mußte, um nicht den ganzen Kontinent zu erfassen.

Der Sturz von Arbenz und der Bürgerkrieg

Um die Regierung von Arbenz zu stürzen, wurde alles aufgeboten, was nur gut und teuer war. Ein Botschafter, der vorher erfolgreich in Griechenland den Kommunismus bekämpft hatte, machte sich in Guatemala ans Werk. Bestechungsgelder flossen reichlich. Eine – allerdings recht jämmerlich ausgestattete – Invasionsarmee wurde von Honduras aus losgeschickt.

Vor allem aber wurde medial alles aufgeboten, was damals möglich war. Die Kampagnen neuerer Zeiten wurden damals auch bereits durchgespielt. Sowohl in den US-Medien als auch in der internationalen Presse wurde Arbenz als Steigbügelhalter der Sowjetunion dargestellt, der dem Kommunismus auf dem amerikanischen Kontinent Tür und Tor öffnen würde, und alle so enteignen, wie er es mit der UFC vorhatte. Die UFC wurde sozusagen mit dem ehrbaren Bürger gleichgesetzt, dem man seine Scholle und sein Erspartes wegnehmen würde.

In Guatemala selbst wurde mit einem CIA-gesponserten Radiosender gegen das Böse in Form von Arbenz und der mit ihm verbündeten Arbeiterpartei gehetzt. Auch die katholische Kirche legte sich propagandistisch ins Zeug. Der Erzbischof von Guatemala schuf eine eigene Christusfigur für Wallfahrten, in denen für die Erlösung vom Kommunismus gebetet wurde.

All das führte dazu, daß Arbenz schließlich Ende Juni 1954 abdankte und das Land verließ, weil er eine Intervention der US-Armee fürchtete, wenn er die interne Rebellion erfolgreich unterdrücken würde.

Arbenz und seine Familie wurden von der Propaganda und dem CIA weiter verfolgt, und scheiterten bei Asylansuchen in verschiedenen Staaten. Arbenz selbst verfiel dem Alkohol und starb im Alter von 57 Jahren Jahren unter ungeklärten Umständen in Mexiko. All das sollte verhindern, daß er jemals wieder Anteil an der Politik Guatemalas nahm.

In Guatemala selbst setzte unter dem von den USA unterstützten Putschisten Castillo Armas und seinen Nachfolgern eine Hexenjagd gegen alle Unterstützer und Anhänger von Arbenz ein. Die Landreform wurde zurückgenommen. Die katholische Kirche krallte sich einen guten Teil des Schulsystems. Wer konnte, flüchtete ins Ausland.

Der Präsident Ydigoras genehmigte das Training der späteren Schweinebucht-Invasoren auf einer guatemaltekischen US-Basis. Das führte 1963 zu seinem Sturz – er wurde von den USA für die Invasion verantwortlich gemacht, um das eigene Scheitern zu bemänteln.

Mitte der 60-er Jahre begannen die Repression und der Widerstand sich zu einem regelrechten Bürgerkrieg auszuwachsen. Der allmähliche Abstieg der United Fruit Company auf dem Weltmarkt trug dazu bei, daß Guatemala für die USA und die Kommunismusbekämpfung zweitrangig wurde. Die Unterstützungsgelder für die Militärregierungen flossen spärlicher.

Die extrajudikalen Morde durch die Polizei und das Militär wurden wieder aufgenommen. Das System des „schmutzigen Krieges“, das später in Argentinien seine theoretische Grundlage fand und seinen Höhepunkt erreichte – die Entführung und Ermordung von Verdächtigen, oft unter Verschwindenlassen der Leichen – wurde zunächst in Guatemala ausprobiert und ging in Serie. Internationale Aufmerksamkeit erregte der Falle einer 1967 auf diese Art ermordeten ehemaligen „Miss Guatemala“.

Einen neuen Schwung erhielt der Bürgerkrieg durch den Sieg der Sandinisten in Nicaragua und der Finanzierung der Contras in Honduras. Die Militärs in Guatemala wurden außer von den USA von Israel unterstützt.

Im Zuge dieses Bürgerkrieges kam es zur Erstürmung der spanischen Botschaft in Guatemala City im Jänner 1980 durch die guatemaltekische Polizei, bei der 39 Personen ums Leben kamen und das Gebäude von der Polizei in Brand gesetzt wurde. Der spanische Botschafter hatte versucht, im Bürgerkrieg zu vermitteln und deshalb Mitglieder der Guerilla und ehemalige guatemaltekische Politiker in die Botschaft gelassen, auf den exterritorialen Status derselben vertrauend.

Die Tochter eines der in der Botschaft Ermordeten thematisierte die Verhältnisse in Guatemala. Sie erhielt 1992 den Nobelpreis.

Der zentrale Teil Guatemalas wurde in diesem Bürgerkrieg ziemlich verwüstet, da das guatemaltekische Militär bei der Guerillabekämpfung Methoden eingesetzt hatte, die der US-Kriegsführung in Vietnam entnommen und nach Guatemala transferiert worden waren. Außerdem war Guatemala eine Art großes Ausbildungslager für die Aufstandsbekämpfung, in dem diverse in der „School of the Americas“ ausgebildete Militärs im Gelände üben konnten.

Der Bürgerkrieg wurde 1996 formell beendet. Bis dahin wurden die Opfer auf 200.000 Tote, 100.000 Vertriebene und 45.000 Verschwundene geschätzt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges: Außer Spesen nichts gewesen.

Daß unter solchen Bedingungen die Nationalökonomie nicht so richtig vorankam, ist nachvollziehbar. Dazu kamen noch ein schweres Erdbeben im Jahr 1976.

Der Friedensschluß 1996 wurde möglich, weil die Kommunismusgefahr nach dem Ende der SU vorbei war. Ähnlich wie in El Salvador endete der Krieg mit einer völligen Niederlage der Guerilla.

Ein Bischof, der Material für die von der UNO und der Regierung gemeinsam eingerichtete Kommission zur „Historischen Aufklärung“ über die Morde und das Vorgehen der Streitkräfte gesammelt hatte, wurde 1998 ermordet. Die katholische Kirche muß die Sorge um das Seelenheil der Bewohner inzwischen mit evangelikalen Kirchen teilen, die als eine Art fundamentalistische Vorposten der US-Interessen zahlreich in Guatemala anzutreffen sind.

Der Hurrikan Mitch 1998 und ein weiterer 2005 trugen weiter dazu bei, daß in Guatemala mehr oder weniger alles beim alten Elend blieb. Einzig die UFC bzw. ihre Nachfolgerin Chiquita wurde durch andere Agrarunternehmen in den Hintergrund gedrängt. Der Grundbesitz ist nach wie vor in den Händen weniger In- und Ausländer. Der Rest der Bevölkerung hält sich hauptsächlich mit Subsistenz, Lohnarbeit und kriminellen Aktivitäten über Wasser.

Der Kaffee und die Bananen sind nach wie vor die wichtigsten Exportprodukte, neben anderen, neueren, rein für den Export angebauten Cash Crops wie Broccoli und Kardamom.

Es ist nicht klar, wer heute die tatsächliche Macht in Guatemala in der Hand hat. Vermutlich ist es nach wie vor das Militär, das sämtliche Regierungen seither davon abhält, zu sehr an den etablierten Verhältnissen zu rühren oder die Rolle von Polizei und Militär bei der Bekämpfung der Guerilla zu untersuchen. Dafür dürfen die Politiker sich bereichern, so gut sie können. Der vorige Präsident Morales war ein Komiker, der jetzige Giammattei ist ein ehemaliger Gefängnisdirektor.

Unter Morales unterzeichnete Guatemala ein Schubabkommen mit den USA, in dem es sich bereit erklärte, nicht nur guatemaltekische Bürger zurückzunehmen, sondern auch solche aus anderen Staaten, sobald nachgewiesen ist, daß sie über das Territorium Guatemalas in die USA gekommen sind.

Bei den 39 Toten, die im März 2023 in Ciudad Juarez in Mexiko in einem Gefängnis für illegale Migranten verbrannten, weil sie sich gegen die Abschiebung in ihre Heimatländer zur Wehr setzen wollten, stammten 18 aus Guatemala.

Eine ausführlichere Version dieses Artikels findet sich hier.

Pressespiegel El País, 2.4.: Ukrainische Offensive

DIE UKRAINE SENKT DIE ERWARTUNGEN EINER UNMITTELBAR BEVORSTEHENDEN GROSSEN GEGENOFFENSIVE,

die eine Wende im Krieg bringen soll.

Mitglieder der Selenskij-Regierung, der Streitkräfte und Analysten warnen davor, dass die Bedingungen für einen endgültigen Gegenangriff der Kiewer Truppen noch nicht gegeben sind.

Die ukrainischen Behörden befürchten, dass das Fell des Bären verkauft wird, bevor er erlegt ist. Das Problem sind die Erwartungen, die rund um die Gegenoffensive geweckt werden, die die Streitkräfte der Ukraine vorbereiten. Analysten und Medien gehen davon aus, dass es in diesem Frühjahr zu einem großangelegten Angriff auf russische Truppen kommen wird, der sogar unmittelbar bevorsteht, aber die Außen- und Verteidigungsminister haben bereits begonnen, die Gemüter abzukühlen. „Wir müssen der Wahrnehmung, dass diese Gegenoffensive die entscheidende Schlacht des Krieges sein wird, auf jede erdenkliche Weise entgegenwirken“, sagte der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba am Mittwoch in einem Interview mit der Financial Times.

Oleksij Reznikov, der ukrainischerVerteidigungsminister, betonte am 27. März im estnischen Fernsehen ERR den Druck, den er bei der öffentlichen Meinung und den Sicherheits-Analysezentren hinsichtlich der bevorstehenden Gegenoffensive feststellt.
Reznikov merkte an, dass die Operation eher im Mai beginnen werde, obwohl dies von den Wetterbedingungen und davon abhänge, ob die Truppen über genügend Waffen für die Durchführung verfügen werden. Der Präsident, Volodímir Zelenski, äußerte sich vergangene Woche mit ähnlichen Worten. Der Frühling ist die schlechteste Jahreszeit für die Bewegung von Bataillonen, weil die starken Regenfälle das Land und die unbefestigten Straßen in einen Sumpf verwandeln, in dem die gepanzerten Fahrzeuge stecken bleiben.

Reznikov betonte auch, dass seine Armee noch britische Leopard- und Challenger-Panzereinheiten, neue Artilleriegeschütze und gepanzerte Infanterieträger erhalten muss, die ihren westlichen Verbündeten zur Verfügung gestellt werden sollen.
Zudem wollen die USA die Auslieferung ihrer Abrams-Panzer beschleunigen. Insgesamt werden neun europäische Länder in einer ersten Phase 150 Leopard-Panzer entsenden – Spanien hat sich zu 10 verpflichtet –, wie Mitte März vom US-Verteidigungsminister Lloyd Austin angegeben; Washington hat zugesagt, 31 Abrams und das Vereinigte Königreich 14 Challenger 2 zu liefern. Die ukrainische Armee gibt nicht bekannt, wie viele dieser gepanzerten Fahrzeuge bereits im Land sind, aber es ist immer noch eine geringe Anzahl. Das Training auf dem Challenger 2 sei abgeschlossen, aber es gebe noch Panzereinheiten, die im Umgang mit dem Leopard, dem Hauptstück der ukrainischen Offensive, trainieren.

Die Entsendung von rund 700 gepanzerten Infanteriefahrzeugen wurde zwischen der Ukraine und ihrer Koalition von Verbündeten, angeführt von Deutschland und den USA, vereinbart. Die Zahl kommt dem Bedarf nahe, den der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Valerij Zaluzhnij, Ende 2022 in Bezug auf die Ressourcen erhoben hat, die zur Befreiung aller von Russland bei der aktuellen Invasion besetzten Gebiete erforderlich sind: 700 gepanzerte Infanterie Fahrzeuge und 300 schwere Panzer.
Hinzu kommt eine neue Bedingung, wie der Sprecher der Luftwaffe, Juri Ihnat, am 17. März erklärte: Die Ukraine müsse Nato-Kampfflugzeuge erhalten, »um eine erfolgreiche Gegenoffensive zu starten, die Kontrolle über den Luftraum zu haben«. Sowohl die USA als auch die wichtigsten EU-Mächte haben sich aus Angst vor einer Eskalation der Spannungen mit Russland bisher geweigert, diese Flieger bereitzustellen.

Der Juni wird ein Schlüsselmonat sein

Mikola Bjelieskov, einer der führenden Experten des Nationalen Instituts für Strategische Studien, einer Einrichtung der ukrainischen Präsidentschaft, erklärte am 28. März im Sender »Nastojaschtschije Vremia«,“

– ein von Radio Free Europe aus Prag betrieber russischsprachiger Sender –

warum die Gegenoffensive Ende des Frühjahres stattfinden wird. »Eine Offensive dieser Art erfordert eine sehr ernsthafte Vorbereitung. Es dauerte bis letzten Januar, bis [die Verbündeten] sich verpflichteten, der Ukraine Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Artilleriesysteme zu schicken. Außerdem brauchen wir Munition von ihnen«, sagte Bielieskov und fügte den Zeitrahmen hinzu, den er sich vorstellt: »Realistischerweise wird die Gegenoffensive spät im zweiten Quartal oder früh im dritten [zwischen Juni und Juli] stattfinden.«

Bjelieskov hob ebenfalls die Bedingungen des Geländes im Frühjahr als hindernden Umstand hervor und kam zu dem Schluß, dass sich zwischen Juni und Juli, der Zeit vor der Eingliederung der neuen Soldaten, die von den Invasoren mobilisiert werden, »ein Fenster der Gelegenheit« öffnen werde.
Der russische Präsident Putin hat diese Woche nämlich ein Dekret zur Rekrutierung von 145.000 Männern unterzeichnet, die zwischen April und Juli in die Armee eintreten werden.

Die meisten westlichen militärischen Analysezentren sind sich einig, dass die russische Offensive, die im Winter begann, ihren Höhepunkt erreicht hat und die Angriffe an den Fronten von Lugansk und Donezk aufgrund des Mangels an materiellen Ressourcen und der erlittenen Tausenden von Opfern im Kampf um die Kontrolle der Stadt Bachmut an Intensität verlieren.
Das American Institute for the Study of War, eines der am häufigsten zitierten Forschungszentren zur Überwachung des Konflikts in der Ukraine, berichtete am 20. März, dass die russische Offensive bereits ihre maximale Intensität erreicht habe, mit geringen Fortschritten, und dass sich die Invasoren nun auf die Verstärkung ihrer Verteidigungspositionen konzentrieren würden.

Diese Meinung wird von Luke Coffey, Experte am Hudson Institute und pensionierter US-Militär, geteilt. »Ich denke, die russische Offensive hat begonnen und wird bald enden. In diesem Moment werden wir eine russische Verlagerung hin zu Verteidigungsoperationen sehen«, erklärt Coffey gegenüber EL PAÍS.
Dara Massicot, eine Forscherin bei RAND, einer kalifornischen Organisation für Sicherheits- und soziologische Studien, erklärte im vergangenen Februar in einem Dokument, was das Schlachtfeld bestätigt hat: »Russland scheint sich auf begrenzte Offensiven zu konzentrieren.«

Coffey ist wie Bjelieskov davon überzeugt, dass die ukrainische Gegenoffensive noch in weiter Ferne liegt: »Ich glaube nicht, dass die ukrainische Gegenoffensive starten wird, solange die Situation in Bachmut nicht stabil ist, der Schlamm nicht trocknet und westliche Panzer und gepanzerte Fahrzeuge mit ihren ausgebildeten Besatzungen nicht einsatzbereit sind.

Das Ziel ist Melitopol

Da Russland im Frühjahr nicht in der Lage ist, große Fortschritte zu erzielen,“

– ist das so sicher? Man wird sehen.

„welche wesentlichen Änderungen können am kriegerischen Schachbrett vorgenommen werden? Coffey zweifelt nicht daran, dass der eigentliche Schachzug, die Zurückdrängung der Invasoren, darin bestehen würde, von der Südfront, von Saporischschja, in die von den Russen seit einem Jahr besetzte Stadt Melitopol und an die Küste des Asowschen Meeres vorzudringen.
Die US-amerikanischen und britischen Geheimdienste beharren seit letztem Januar darauf, dass sich die ukrainische Gegenoffensive auf einen Angriff auf Melitopol konzentrieren sollte, um feindliche militärische Nachschubrouten abzuschneiden, die von der russischen Provinz Rostow entlang der Küste des Asowschen Meeres bis zur Krim verlaufen.

Während eines Besuchs dieser Zeitung im Februar an der Zaporoschje-Front versicherten mehrere ukrainische Militäreinheiten, dass die Einnahme von Melitopol ein Vorher und Nachher im Krieg bedeuten würde.
Männer der 65. motorisierten Brigade räumten ein, dass die Belagerung dieser Stadt – mit 160.000 Einwohnern vor dem Krieg – und die Rückeroberung der 80 Kilometer bis Melitopol eine gewaltige Herausforderung wären.
Es wäre schon ein Erfolg, weit genug vorzurücken, um das gesamte von Russland besetzte Gebiet an der Küste des Asowschen Meeres und in der Provinz Cherson in Reichweite von Artillerie und Himars-Präzisionsraketen mit einer Reichweite von 80 Kilometern zu bringen.

Bjelieskov betonte, dass die ukrainische Gegenoffensive Ablenkungsoperationen des Feindes erfordern werde, sodass jeder Plan mehr Vorbereitungszeit erfordere, da er seine Rückseite haben müsse. Dies geschah im September 2022, als die ukrainische Armee den Feind täuschte, indem sie eine Großoffensive in der Provinz Cherson im Süden des Landes ankündigte, während sie eine geheime Operation zur Befreiung der Provinz Charkow im Osten abschloss.“

Die Offensive bei Cherson gab es damals ja tatsächlich, sie wurde nicht vorgetäuscht, und da ist auch ein Haufen ukrainische Soldaten draufgegangen.
Es ist fraglich, ob die Ukraine für so eine Ablenkungsoffensive genug Leute zusammenkriegen würde, da das Militär schon für die Haupt-Offensive Personalprobleme hat.
Außerdem werden sich die Russen ein zweites Mal nicht so einfach überrumpeln lassen.

Serie „Lateinamerika heute“. Teil 17: Brasilien und der Weltmarkt

DER TEUFELSKREIS DER SCHULDEN

Der Versuch, über die Schwelle zu schreiten und eine ordentliche Kapitalakkumulation hinzulegen, anstatt sich lediglich Rohstofflieferant für die Industrien der USA und der ehemaligen Kolonialmächte zu bleiben, zeichnet nicht nur Brasilien aus, sondern auch andere Staaten Lateinamerikas.

In Argentinien versuchte Perón eine eigene Industrie aufzubauen, in Mexiko verschiedene Präsidenten der Einheitspartei, die das Land bis 2000 regierte. Auch in Brasilien tat sich diesbezüglich einiges.

Der IWF und seine Schuldner

Neben dem Kapital, das nach 1945 in diese Richtung nördliche Vorbilder aufstrebenden Staaten wie Brasilien strömte – allerdings vor allem, um angesichts des eher schwachen inneren Marktes in Sparten zu investieren, die für den Export wichtig waren –, gesellten sich zunächst beim IWF und dann auch bei privaten Banken aufgenommene Kredite.
Die Verschuldung der Staaten Lateinamerikas, Afrikas und des fernen Ostens nahm Anfang der 70-er Jahre zu, als die Umstellung des IWF von der Goldbindung auf Sonderziehungsrechte die Kreditvergabe des IWF anspornte und die Banken der USA und vor allem Europas aus verschiedenen Gründen zuviel Geld hatten und nicht wußten, wohin damit. Da erschien u.a. Lateinamerika als perspektivenreicher Kunde.

Der IWF wurde mit der Zeit und den Schuldenproblemen als Gläubiger deshalb so wichtig für einen Kreditnehmer, weil der IWF-Kredit eine Art Bürgschaft darstellt: Wenn der IWF ein Land für kreditwürdig hält, so geben die kommerziellen Banken ihm auch Kredit. Wenn also ein Staat auf dem Finanzmarkt Geld aufnehmen will, so muß er sich erst beim IWF verschulden.
Das Geld, das mit dem IWF garantiert und von der kommerziellen Finanzwelt verliehen wird, ist Weltgeld und verschafft demjenigen, der den Kredit erhält, Zugriff auf Waren der ganzen Welt. Das heißt: sowohl auf Konsumgüter als auch auf Produktionsgüter wie Maschinen oder Industrieanlagen.
Außerdem ermöglicht ein IWF-Kredit das Anlegen bzw. die Pflege eines Devisen-, also Weltgeld-Schatzes, mit dessen Hilfe ein Staat die Konvertibilität seiner Währung garantieren kann. Das ist unbedingt notwendig, wenn dieser Staat bzw. seine Regierung ausländisches Kapital anziehen will. Mit der Konvertibilität kann er diesen Kapitalbesitzern garantieren, daß sie ihre Gewinne auch wieder in Weltgeld umwandeln und woanders hin verschieben können.

Der IWF war damals wichtig für Staaten, bei denen wenig Kapital akkumuliert worden war. Diejenigen Staaten, wo das Kapital sozusagen zu Hause ist, brauchten lange Zeit den IWF nicht als Kreditgeber – eher als Türöffner in andere Weltgegenden. Ihre Unternehmen exportierten selber genug Waren, um sich über den Welthandel die nötigen Devisen beschaffen zu können.

Diejenigen, die erst in diesen illustren Klub aufsteigen wollten, hatten vor, über Kredit eine Kapitalakkumulation in die Wege zu leiten. Sie waren von dem Willen getrieben, aus den Gewinnen der mit Kredit geschaffenen Unternehmen den Kredit zu bedienen bzw. auch irgendwann zu tilgen. Und das ist ja auch der Gedanke, der dem Begriff „Entwicklungsland“ zugrundeliegt. Hier geht es darum, den Weg der Entwicklung Richtung Westeuropa oder USA oder auch Australien zu beschreiten.
Wenn das nicht gelingt, so wächst die Verschuldung, und irgendwann einmal ist nicht genug da, um die regelmäßig fälligen Zinsen zu zahlen – geschweige denn, den Kredit zurückzuzahlen und sich damit aus dem Schuldendienst zu befreien.

Zu dieser mißlichen Lage tragen oftmals auch die Rohstoffpreise bei, die den Konjunkturen des Weltmarktes gemäß fallen oder ansteigen. Wenn sie fallen, so verringern sie damit die Einnahmen des Schuldnerstaates, der solche Rohstoffe oder Agrarprodukte liefert, und damit auch seine Fähigkeit zur Bedienung der Schulden – und erinnern ihn damit daran, daß er von seinen Plänen zur Erreichung eines kompletten Kapitalstandortes noch weit entfernt ist.

„Importsubstitution“

In der Literatur zu den Bemühungen der großen Staaten Lateinamerikas, sich in den Kreis derjenigen Nationen einzureihen, deren Währungen auch ohne die Hilfe des IWF konvertibel sind, weil sie auch außerhalb der eigenen Landesgrenzen nachgefragt werden, wird diese Politik oftmals als das Streben nach „Importsubstitution“ bezeichnet.
Dieser Begriff hat von vornherein etwas Mißbilligendes an sich. Irgendetwas soll „ersetzt“ werden. Und dieses Irgendetwas, der Import, wird sozusagen als die natürliche, sozusagen prästabilisierte Harmonie aufgefaßt. Damit ist gesagt, daß diese Staaten eigentlich importieren sollen, damit die „entwickelten“ Staaten, die mit dem richtigen, dem Weltgeld, ihren Krempel irgendwohin verkaufen können. Wenn Deutschland – und inzwischen auch China – Exportweltmeister sind, so muß es ja auch Staaten geben, die Import-, hmmm, -Champions sind.

Eine Sache ist, Dinge zu produzieren oder nicht zu produzieren. Man denkt zunächst einmal an Konsumgüter. Wenn es keine Fabriken für Waschmaschinen oder Staubsauger gibt, so muß man diese Güter eben aus dem Ausland beziehen.
Das zweite ist aber die Zahlungsfähigkeit. Für diese ganzen Importe muß Weltgeld an Land gezogen werden, d.h., irgendetwas muß aus diesem Land auch hinausgehen. Und wenn ein Staat über wenig Bodenschätze verfügt, oder wenig fruchtbare Erde hat, – was die Handelsbilanz negativ beeinflußt – so bleiben noch Tourismus und Arbeitsemigration, um Devisen an Land zu ziehen.
Und wenn mit all diesen Wirtschaftszweigen immer zuwenig hereinkommt, so bleibt auch nur der Weg der Verschuldung – die sich in diesem Fall nicht aus Ambitionen Richtung wirtschaftliche Entwicklung ergibt, sondern aus einer negativen Zahlungsbilanz.

Diese negative Zahlungsbilanz zu überwinden, ist das, was mit gerunzelter Stirn als „Importsubstitution“ bezeichnet und auch oftmals als gescheiterte Wirtschaftspolitik verbucht wird, – mit dem Verweis auf Schuldenkrisen und natürlich die immer und überall vorhandene und daher auch problemlos als Ursache aller Übel verwertbare Korruption.
Vom IWF wurde daher seit dem Anfang der Schuldenkrisen in Lateinamerika immer wieder empfohlen, die eigene Bevölkerung zu verbilligen und sich im Sinne der „internationalen Arbeitsteilung“ wieder zum Exporteur von Agrarprodukten und Rohstoffen und zum Importeur von Konsumgütern herzurichten und sich in dieser Rolle zu bescheiden.

Die erste Schuldenkrise Brasiliens

„In den 1960er und 1970er Jahren hatten sich viele lateinamerikanische Staaten, insbesondere Brasilien, Argentinien und Mexiko, große Summen an Kapital von internationalen Gläubigern geliehen, um ihre Industrialisierung voranzubringen. … Zwischen 1975 und 1982 ist die Gesamtsumme der Forderungen kommerzieller Banken gegenüber Lateinamerika jährlich um 20,4 % gestiegen. Dieser Umstand führte zu einer Vervierfachung der lateinamerikanischen Auslandsschulden von 75 Milliarden US-Dollar (1975) auf mehr als 315 Milliarden US-Dollar im Jahr 1983, mithin 50% des Bruttoinlandsprodukts der gesamten Region. Der jährliche Schuldendienst (d. h. Tilgungs- und Zinszahlungen) stieg noch rasanter an und erreichte 1982 einen Betrag von 66 Mrd. US-Dollar (nach nur 12 Mrd. US-Dollar im Jahr 1975).
Als … der Ölpreis (in den 70-er Jahren) in die Höhe zu schießen begann, bedeutete dies für viele Länder der lateinamerikanischen Region einen Wendepunkt. Viele Entwicklungsländer befanden sich plötzlich in einem extremen Liquiditätsengpass, weil sie durch die steigenden Rohstoff-“ (will heißen: Energie-)„preise in Zahlungsnot gerieten. Erdölexportierende Länder wurden hingegen mit Finanzmitteln aufgrund der gestiegenen Erdölpreise überschwemmt und investierten das Geld bei internationalen Banken, die dieses wiederum in Form von Krediten in Lateinamerika anlegten (sogenanntes Petrodollar-Recycling). Dadurch akkumulierten sich die Auslandsschulden dieser Staaten über die Jahre gefährlich. Im Anschluss begann die Schuldenkrise, als die internationalen Kapitalmärkte gewahr wurden, dass Lateinamerika seine Schulden nicht mehr zurückzahlen können wird.“ (Wikipedia, Lateinamerikanische Schuldenkrise)

Dazu muß man erwähnen, daß die Rückzahlung von Schulden inzwischen mehr oder weniger als unschicklich betrachtet wird. Der Schuldner soll seine Schulden bedienen und daher den Banken als ständige und verläßlich sprudelnde Geldquelle dienen.
Bei Staaten als Schuldnern heißt das, daß an bestimmten Terminen umgeschuldet wird: Sie nehmen neue Kredite auf, mit denen sie ihre alten zurückzahlen. Formell ist somit die Altschuld getilgt. An diesen Terminen beweist der Staat, daß er über Kredit verfügt und daher des weiteren Kredites würdig ist.

„Dies geschah im August 1982, als Mexikos Finanzminister Jesus Silva-Herzog öffentlich bekannt gab, dass Mexiko seinen Schuldendienst einstellt und den teilweisen Staatsbankrott erklärte.“ (ebd.)

Brasilien geriet also gar nicht in erster Linie deshalb in die Schuldenkrise, weil sich Einnahmen und Ausgaben nicht mehr im vorgesehenen Rahmen hielten, sondern weil sich am Kreditmarkt Mißtrauen gegenüber den lateinamerikanischen Schuldnern breit machte und die Gläubiger Brasilien den Kredit abdrehten.

Wie sich später herausstellte, gab es aber noch andere Faktoren.

Aus dem Vertrag, den Brasilien 1983 mit dem IWF schloß, geht hervor, daß Brasilien mit seiner Industrialisierungspolitik relativ erfolgreich gewesen war. Von einem reinen Agrarexporteur hatte sich Brasilien in eine Ökonomie verwandelt, deren Export zu mehr als der Hälfte aus industriell hergestellten Waren bestand. Der Import bestand neben Produktionsgütern vor allem in Energieträgern, vor allem Erdöl. Und darin lag der eine Grund seiner Schuldenproblematik: Das Erdöl hatte sich sehr verteuert, dadurch flossen Devisen für Energie ab. Zweitens verteuerte sich der Kredit und damit stiegen auch die Schulden. Drittens fielen die Preise der Exportprodukte und sie trafen auf weniger Nachfrage aufgrund von Rezession in den Käuferländern. Das führte zu einem Kursverfall der brasilianischen Währung und zu galoppierender Inflation.

Im Gegenzug zu einem Stützungskredit in nicht genau festgelegter Höhe verpflichtete sich Brasilien, die Inflationsrate und das Budgetdefizit zu reduzieren. Die weiteren Punkte stellen eine Art Wunschzettel dar: Steigerung der Agrarproduktion zum Zwecke des Exports; Stimulierung der unternehmerischen Tätigkeit; maßvolle Lohnpolitik, um „den Arbeitsmarkt zu erweitern“, „Preise, die die Produktion stimulieren sollen“, und in Folge überhaupt eine Freigabe der Preise, also auch für bis zu diesem Zeitpunkt offenbar subventionierte Lebensmittel und Treibstoff. Gleichzeitig sollten die Steuern und Abgaben erhöht und dadurch die Staatseinnahmen erhöht werden.
Dieses und die folgenden Abkommen wurden nie erfüllt – all das konnte sich nicht ausgehen – und der Kredit floß stockend. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Probleme führten zum Ende der Militärregierung, und so – demokratisch und verschuldet – kam Brasilien in den globalisierten 90-er Jahren an.