Pressespiegel El País, 12.7.: Post-Brexit-UK – ein Papiertiger?

HONGKONG ZEIGT DIE GRENZEN EINES AUF SICH SELBST GESTELLTEN VEREINIGTEN KÖNIGREICHS AUF
Die Krise in der ehemaligen Kolonie zeigt die außenpolitischen Schwierigkeiten einer mittelmäßigen Macht im 21. Jahrhundert
Rafa de Miguel, London

Der britische Löwe, der mit Gebrüll das »Gefängnis« der Europäischen Union verließ, läuft Gefahr, vom Rest der Welt als »Papiertiger« wahrgenommen zu werden. Es ist der chinesische Ausdruck, eine scheinbare Bedrohung zu definieren, die sich im Weiteren als harmlos herausstellt. Die Kampagne der Regierung Boris Johnson gegen Peking zur Einschränkung der Freiheiten in Hongkong mittels des neuen Sicherheitsgesetzes hat die Grenzen des Bestrebens Großbritanniens aufgezeigt, in der Zeit nach dem Brexit mit dem Gütesiegel »Global Großbritannien« eine machtvolle Stimme auf internationaler Ebene zu sein.
Die chinesische Regierung hat ihre Verärgerung über das Angebot Großbritanniens zum Ausdruck gebracht, drei Millionen Bürgern der ehemaligen Kolonie die Türen zu öffnen, und betrachtet es als »grobe Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten«, ist aber weder überrascht noch beunruhigt. Es gibt keine Angst mehr, wie in den 90er Jahren, vor dem möglichen Abzug der Bewohner eines unglaublichen Wirtschafts- und Finanzmotors. Peking verfügt nach Ansicht von Experten über genügend qualifiziertes Personal, um Personen, die von dem Angebot Gebrauch machen, zu ersetzen.
„Es ist wichtig, die Reaktion des Vereinigten Königreichs im Kontext des Brexit zu betrachten, wo die Regierung zusätzlich durch das Management der Coronavirus-Krise geschwächt ist und immer noch versucht, ihre Rolle in der Welt neu zu definieren“, erklärt Tim Summers, Berater des Asien-Pazifik-Programms der britischen Ideenschmiede »Chatham House«.
„Einige sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Idee von Global Britain in ihrem Ansatz ziemlich imperialistisch ist. Hongkong war eine Kolonie, und irgendwie scheint London seine früheren Untertanen schützen zu wollen. Deshalb war die Maßnahme so emotional und nicht strategisch, noch war sie sorgfältig kalkuliert. Vielleicht ist es ein Zeichen für die Fragilität dieser neuen Politik“, schließt Summers.
Eine hübsche Wendung, die Sehnsucht nach vergangener imperialer Größe als „emotional“ zu bezeichnen.
Bei strategischer oder sorgfältig kalkulierter Überlegung käme auch nichts anderes heraus, als daß das UK heute eben keine Mittel hat, China irgendetwas vorzuschreiben.

Johnson schwankt hin und her – im besten Fall auf der Suche nach einem komplizierten Gleichgewicht oder im schlimmsten Fall ohne klares Ziel zwischen zwei widersprüchlichen Faktoren. Es muss in einer Zeit, in der es gezwungen ist, starke Handelspartner zu suchen, um die EU zu ersetzen, gute Beziehungen zu China aufrechterhalten. Er muss gleichzeitig der Forderung Washingtons und eines mächtigen Sektors der Konservativen Partei nachkommen, eine festere und aggressivere Haltung gegenüber dem asiatischen Riesen zu zeigen. Es besteht die Gefahr, dass niemand zufrieden gestellt wird.
„Die Idee für Global Britain basierte größtenteils auf einer Ausweitung des Handels mit China. Was in Hongkong passiert ist, sowie die Haltung der Regierung von Xi Jinping hat es sehr viel schwieriger gemacht, eine positive Beziehung herzustellen “, erklärt Gideon Rachman, der Chefkolumnist für Außenpolitik der »Financial Times«. „Was die Reaktion Londons betrifft, so erwartet niemand, dass sie für sich allein eine Änderung der chinesischen Politik bewirken wird. Das Vereinigte Königreich wird nur dann etwas erreichen, wenn es Allianzen mit anderen Ländern wie den Vereinigten Staaten oder Australien aufbaut“, sagt er.
Da sind wir bei den Vorstellungen von Medienmagnaten wie Murdoch oder Black, daß sich die englischsprachigen Mächte vereinigen sollten, um die Welt zu beherrschen – ein feuchter Traum, der aufgrund der vorhandenen Bündnisse und Rivalitäten nie so richtig vorangekommen ist.

Johnson – oft mehr der ehemalige Journalist als der derzeitige Politiker – bietet den Vorteil, daß er seine Widersprüche sichtbar macht. „Großbritannien versucht nicht, Chinas Aufstieg zu verhindern. Im Gegenteil, wir werden Seite an Seite an all den Themen arbeiten, in denen unsere Interessen zusammenfallen, vom Handel bis zum Kampf gegen den Klimawandel. Wir wollen eine moderne und reife Beziehung, die auf gegenseitigem Respekt und der Anerkennung der Rolle Chinas in der Welt beruht“, schrieb der Premierminister auf den Seiten der Zeitung »The Times«, als die Krise in Hongkong losging. Schwarz auf weiß definierte er die Bedingungen, auf denen die neue Außenpolitik zu beruhen scheint, deren Ziele noch vage sind: Die Welt ist ein wohlmeinender Ort voller guter Absichten, und das Vereinigte Königreich genießt strategische Autonomie, um zu entscheiden, welche Interessen es in dieser Welt geltend machen will.
Mit diesen kontrafaktischen „Bedingungen“ wird die britische Außenpolitik wahrscheinlich nicht so recht vorankommen.
Wenn die alte Kolonie die Bewährungsprobe des realen Gewichts von Downing Street darstellt, war der Huawei-Fall ein Wechselbad, mit dem Johnson zu verstehen begann, wie die Rolling Stones sagten, dass „you can’t always get what you want“. Seine Vorgängerin in dieser Position, Theresa May, schien ihm das Problem abgenommen zu haben, indem sie die Entscheidung traf, dass der asiatische Riese an der Entwicklung neuer 5G-Kommunikations-Infrastrukturen im Vereinigten Königreich teilnehmen würde. Ohne vergleichbare eigene Technologie war das chinesische Unternehmen von grundlegender Bedeutung für die großen Pläne zum Wiederaufbau des Landes, die im Wahlkampf der Konservativen Partei versprochen wurden.
Johnson glaubte, dass ein paar Änderungen ausreichen würden, um den amerikanischen Verbündeten in einem erklärten Krieg gegen Huawei und den harten Flügel seiner eigenen politischen Formation zu beruhigen. Falken wie Iain Duncan Smith oder Tom Tugendhat (der Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Parlaments) hatten die China Research Group gegründet, einen Druckapparat, um die Haltung Großbritanniens zur asiatischen Macht zu verschärfen, nach Jahren der Annäherung und der Zusammenarbeit seit David Camerons Amtszeit.
China ist auf dem Weg, der neue Brexit der Tories zu werden, immer bereit für Probleme, an denen man sich intern abarbeiten und zerfleischen kann.
Es ist für die große alte Partei der britischen Eliten eben schwer, die Zurückstutzung auf eine mittelmäßige Macht zu ertragen und in ihrer Politik nachzuvollziehen.
Downing Street beschränkte die Beteiligung von Huawei an dem Projekt (des Netzausbaus) auf 35% und legte ein Veto gegen den Zugang zu strategischen und Sicherheitseinrichtungen ein. Damit waren weder Donald Trump noch konservative Kritiker zufrieden. Vierzig von ihnen rebellierten in einer Parlamentsabstimmung, die Johnson auf die Spaltung hinwies, die seine scheinbar bequeme Mehrheit untergraben könnte. Die spätere Entscheidung Washingtons, dem Technologieunternehmen neue Sanktionen aufzuerlegen, hat laut einem Bericht des britischen National Cybersecurity Centre „sehr ernsthafte Zweifel“ geweckt, dass Huawei dennoch die erforderlichen Kapazitäten aufbringen würde, um bei der Entwicklung des 5G-Netzwerks mitzuarbeiten. Man kann davon ausgehen, dass die Regierung in den nächsten Tagen schließlich ein Veto gegen die Teilnahme Huaweis einlegen wird. „Sie können kein goldenes Zeitalter einläuten, wenn Sie China als Feind behandeln“, warnte der chinesische Botschafter Liu Xiaoming den Premier.

Wohlmeinender Ort, gute Absichten, große Pläne, Wiederaufbau, goldenes Zeitalter – je trostloser die Perspektiven, um so blumiger die Sprache.

Alle Probleme gehen von demselben Mangel an klaren Vorgaben und Unsicherheit aus. London möchte die Vorteile, die sich aus der Zugehörigkeit zur EU in fast einem halben Jahrhundert ergeben haben, beibehalten, ohne einer seiner Regeln zu unterliegen. Es versucht, seine kommerziellen und strategischen Beziehungen zu Washington zu stärken, ohne irgendeine Unterwürfigkeit zu zeigen, „gegenüber einer US-Regierung, die nach wie vor eine der historisch unbeliebtesten in Großbritannien ist“, wie Summers erinnert. Oder es beabsichtigt, seine Soft Power (die „Sanfte Gewalt“ oder die historische Einflussfähigkeit des Vereinigten Königreichs) gegenüber Peking einzusetzen, um China in Sachen Demokratie und Menschenrechte Mores zu lehren, und gleichzeitig die notwendigen wirtschaftlichen Investitionen Chinas in GB aufrecht zu erhalten.
Die „Sanfte Gewalt“ ist eine Sprachschöpfung, die die kolonialen Abhängigkeiten beschönigt und als unabhängig von der imperialen Gewalt, die sie geschaffen hat, darstellt.
Die Wochenzeitung »The Spectator«, ein Muss für jeden sich selbst respektierenden britischen Konservativen, feierte das Verlassen der EU mit einem berühmten Cover, das einen Schmetterling in den Farben des Union Jack (der Flagge des Vereinigten Königreichs) zeigt, der aus dem EU-Käfig flieht. „Raus und rein in die Welt“ (frei, um in die Welt einzutauchen), proklamierte die Zeitschrift.
Johnson findet jetzt heraus, dass er nicht in die Luft, sondern ins Wasser geraten ist, und daß das Wasser kalt ist, viel kälter, wenn er alleine und ziellos schwimmt und mehr Haie als Delfine um sich hat.

Ein seltsames Bild, um ein anderes seltsames zu widerlegen.

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Zusatzinfo: DAS ABSCHIFFEN DER ENTWICKLUNGSHILFE
Johnsons angekündigte Entscheidung, das Ministerium für Entwicklungshilfe mit dem Außenministerium zusammenzulegen, hat in seinem Protest ehemalige Premierminister wie den konservativen David Cameron oder Tony Blair und Gordon Brown von Labour, sowie zahlreiche Abgeordnete und humanitäre Hilfsorganisationen zusammengebracht.
Die Schaffung dieser Abteilung mit einem Jahresbudget von mehr als 16 Milliarden Euro und der Möglichkeit, autonom über ihre Projekte und Ziele zu entscheiden, hatte bisher dazu beigetragen, die Soft Power Großbritanniens erheblich zu stärken.
Sie wurde 1997 von einer Labour-Regierung gegründet und macht 0,7% des Staatshaushalts aus. Sie war ein grundlegender Akteur im Kampf gegen Armut, Gewalt gegen den Tod oder den Schutz der Menschenrechte. „Es wurde lange Zeit als frei verfügbarer riesiger Geldautomat am Himmel angesehen“, argumentierte Johnson, um die Logik der Zusammenlegung zu verteidigen. Bei seiner Neugestaltung der Regierungsstrukturen möchte der Premierminister, dass die Auslandshilfe ein weiteres Element ist, das in sein globales Großbritannien in der neuen internationalen Politik einbezogen wird. Und dass es jederzeit auf die verfolgten Ziele abgestimmt wird. Die Entscheidung, warnte sein Vorgänger Cameron, werde „weniger Spezialisierung, weniger Stimmen zur Verteidigung der Entwicklung bei Regierungsentscheidungen, und letztendlich weniger Respekt für das Vereinigte Königreich im Ausland“ hervorrufen.
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EZB, Euro und Währungssysteme überhaupt

GRUNDSÄTZLICHES ÜBER GELD UND KREDIT IN DER EU (UND AUSSERHALB)
Wenn heute von der „Corona-Krise“ geredet wird, ist das irreführend, weil die wirtschaftlichen Verwerfungen aufgrund der Lockdowns treffen auf ein Wirtschafts- und Währungssystem, das schon vorher höchst wackelig war. Es geht also nicht um eine neue, zyklische Krise, nachdem die vorige überwunden worden wäre, sondern um die Verschärfung einer sowieso auf die Dauer unhaltbaren Lage.
Wie man auf Spanisch sagt: Llueve sobre mojado – es regnet auf nassen Grund.

1. Die Rolle der EZB

Lagarde hat gleich bei Amtsantritt angekündigt, das Aufkaufsprogramm ihres Vorgängers fortzusetzen, was ja auch schon gewaltige Geldmengen zumindest in die Bankenwelt geleert hat, indem Staats- und Firmenanleihen aufgekauft wurden. Vergessen wir dabei auch nicht die Bankanleihen, zur Vermeidung von Bankencrashes.
Dieses Programm wurde von Draghi kurz nach seiner Übernahme verkündet, nachdem Trichet die EZB mehr schlecht als recht und durch ad-hoc-Aufkäufe durch den Anfang der Euro-Krise manövriert hatte.
Draghi sagte damals sinngemäß: Wir werden alles Nötige tun, um den Euro zu retten.
Diese Maßnahme war zunächst als Überbrückungsmaßnahme gedacht, bis „die Konjunkturlokomotive wieder anspringt“, ein ordentliches Wachstum zustandekommt, usw. usf.
Was nicht eingetreten ist.
Bis zum Wechsel Draghi-Lagarde war bereits klar, daß es sich hierbei um eine Dauereinrichtung handeln wird, weil all die Jubelmeldungen um 1,5%-Wachstümer irgendwo in der EU nicht darüber hinwegtäuschen konnten, daß auch die kreditfinanziert waren und der große Sprung nach vorn nicht mehr passieren wird.
Damit war auch entschieden, daß man dieser Tatsache ins Auge sehen muß und die EZB daher in Zukunft eher mehr als weniger Geld in die Wirtschaft pumpen muß. Das war bereits vor der Coronakrise klar.
Die Klage vor dem deutschen Verfassungsgericht mit dem Anliegen, der EZB die Schuldenfinanzierung zu untersagen, war ebenfalls bereits vorher anhängig und wurde erst jetzt, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, entschieden.
(Wer sind eigentlich die Kläger?)

2. Die Rolle der Nationalbanken

Die Notenbanken in der Eurozone haben inzwischen andere Aufgaben als die außerhalb derselben.
Die Notenbanken Ungarns, Polens usw. sind darauf verpflichtet, ihren Wechselkurs zum Euro, an den sie in ausschließlicher Form gebunden sind, durch Anleihen-Emissionen auf Euro-Börsen halbwegs stabil zu halten. Dadurch, daß sie bei ihrem Beitritt die Bindung an andere Währungen in Form von Währungs-Körben aufgeben mußten, stärken sie den Euro, ohne an ihm teilzuhaben, und erweitern sein Spektrum. Sie sind dadurch weitaus abhängiger und schwächer, als es diverse westeuropäische Währungen vor der Einführung des Euro waren. Um das an einem Beispiel zu veranschaulichen: Der heutige Forint ist eine lokal begrenztere Währung als es die Drachme vor der Euro-Einführung war.
Das zeigt sich auch an den großen Unterschieden, die zwischen An- und Verkaufskurs dieser Währungen zum Euro bestehen – mit Ausnahme etwas stärkerer Währungen, wie der schwedischen, dänischen oder tschechischen Krone.
Die NB-Chefs Ungarns, Polens oder Rumäniens usw. sind deshalb im Wesentlichen mit Währungspflege beschäftigt, mit Zinsfuß hinauf und hinunter, um ihre Staatsanleihen attraktiv zu halten. Ein guter Teil ihrer Staatsschuld ist also dem Aufrechterhalten des Wechselkurses geschuldet.
Anders die Notenbanken der Euro-Staaten: Ihre Direktoren sitzen im Aufsichtsrat der EZB und bestimmen den EZB-Kurs mit. Die Staaten mit intaktem Kredit kritisieren schon seit einiger Zeit das Aufkaufsprogramm der EZB und die sich daraus ergebenden Null- und Niedrigzinsen, was auf eine gewisse Kurzsichtigkeit von deren Vertretern hinweist: Der Euro besteht nur solange, als sich auch die auf der Verliererschiene befindlichen Staaten finanzieren können, und auch Deutschlands Export funktioniert nur, indem im EU-Ausland genug Zahlungsfähigkeit existiert.
De facto kreditieren die produzierenden Staaten die konsumierenden, um ihr Zeug loszuwerden. Und das müssen sie auch, um dieses schiefe Verhältnis weiter aufrechtzuerhalten.
Die EZB will mit ihrem Programm diesen Zustand weiter aufrechterhalten und Geld ohne Ende in die Ökonomien der EU oder zumindest Eurozone hineinleeren.
Andere Staaten, so vermute ich, denken schon eine einen möglichen Crash des Euro und wollen sich für die Zeit danach mit möglichst wenigen Verbindlichkeiten belasten. Es ist übrigens auffallend, daß dieser Einwand inzwischen von Regierungschefs und nicht von Notenbankchefs verkündet wird.
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Eine Erinnerung an einen anderen Schauplatz: Argentinien ist de facto zahlungsunfähig. Die einzige Möglichkeit, einen neuerlichen Bankrott zu verhindern, besteht darin, daß der IWF die Schulden übernimmt. Das hieße aber, daß der der IWF praktisch zu einer Stützungsinstitution für US-Banken wird, die die Haupt-Gläubiger Argentiniens sind.
Die Entscheidung darüber wird durch Fristverlängerungen hinausgeschoben, aber das geht auch nicht ewig.
Ginge Argentinien neuerlich bankrott, wäre das als Scheitern des IWF zu verbuchen, mit unabsehbaren Konsequenzen, und würde das US-Bankensystem und das weltweite Währungssystem erschüttern. Diesmal ließe es sich nämlich nicht, wie 2002, als eine kleine Störung im Getriebe handhaben und wegwischen.