Serie „Lateinamerika heute“. Teil 5: Argentinien

„DIE EWIGE WIEDERKEHR DER ARGENTINISCHEN KRISE

Der Abzug von Kapital aus den Schwellenländern beeinträchtigt die Wirtschaft. Der Peso hat seit Jänner 50 % seines Wertes eingebüßt, der Zinsfuß steht bei 60 %, die Inflation wächst in einem fort und das BIP wird 2018 schrumpfen.“ (El País, 16.9. 2018)

Der Titel des Artikels gibt schon vor, wie man die Sache betrachten soll: Argentinien ist einfach ein Krisenland, nichts zu machen, das ist eine Eigenart dieses Landes. (Hat natürlich nichts mit Kapitalismus, Geld, Kredit, Weltwirtschaft und dgl. zu tun.)
Auch der Begriff des „Schwellenlandes“ (im Original heißt es: „aufstrebenden Landes“) hat es an sich, obwohl das sozusagen als Selbstverständlichkeit unterstellt wird: Es gibt einen Haufen Länder, die bemühen sich ständig, so erfolgreich zu werden wie wir hier in Europa, und das ist ja auch redlich und gut, sie schaffen es aber einfach nicht.
Niemand fragt nach, warum eigentlich diese Länder schon so lange in der Warteschlange zur erfolgreichen Kapitalakkumulation stehen, aber partout nie den Schritt über die „Schwelle“ tun.

Auch das mit der „Wiederkehr“ der Krise ist der Untersuchung wert. Wir haben ja im Verlauf der letzten 10 Jahre einen Haufen Schuldenkrisen erlebt, die EU schiebt einen riesigen Schuldenberg vor sich her, von den Maastricht-Kriterien hört man schon lange nichts mehr – und jetzt sollen die Probleme Argentiniens so betrachtet werden, als wäre das ganz was besonderes, hinter den 7 Bergen bei den 7 Zwergen, und hat mit „uns“ überhaupt nichts zu tun.

Zur argentinischen Schuldenproblematik siehe auch:

1. Die Vorgeschichte
sei hier einmal kurz zusammengefaßt: Unter dem Finanzminister der Regierung von Carlos Menem, Domingo Cavallo, schloß Argentinien mit dem IWF 1991 ein Abkommen, das als „Plan Cavallo“ in die Geschichte einging. Die argentinische Regierung privatisierte alles, was nur ging, und der IWF bescheinigte im Gegenzug, daß der Peso so viel wert sei wie der Dollar. Diese Dollar-Peso-.Parität, genannt „currency board“, galt damals als das non-plus-ultra der Inflationsbekämpfung und Geldwertstabilität, der „Plan Cavallo“ wurde als Geniestreich gelobt. Im Zuge dieser Euphorie, endlich den Stein der Weisen gefunden zu haben, führte Ecuador im Jahr 2000 gleich den Dollar ein, um es noch besser zu machen.

Macris Schwanengesang? 11.5. 2018
Argentinien schifft wieder ab 31.1. 2016
Fleundschaft! 15.8. 2015
Der Argentinien-Krimi, neueste Folge 11.7. 2014
Argentinien am Scheideweg 19.6. 2014
Aasgeier kreisen über Argentinien 24.2. 2013
Der IWF, Teil 6: Argentiniens Zahlungsunfähigkeit 2.8. 2011

Heute ist diese Politik vorbei. Auf eine kritische Betrachtung seitens der Wirtschaftswissenschaften oder gar eine Selbstkritik des IWF wartet man bisher vergeblich. Das Currency Board starb 2002.
Die Privatisierung führte zu großflächigen Betriebsschließungen, beraubte das Land eines guten Teils seiner Produktion und erhöhte den Importbedarf Argentiniens. Die USA und vor allem die EU waren die Gewinner, ihnen erschloß sich ein Markt. Und ein zahlungsfähiger, da ihre Gewinne aufgrund der Peso-Dollar-Parität problemlos transferierbar waren.

Um den ständig wachsenden Importbedarf zu finanzieren, begab Argentinien jede Menge Anleihen auf den Börsen von New York und Frankfurt. Sie waren lange Zeit sehr begehrt, aber mit der Zeit mußte Argentinien immer höhere Zinsen anbieten, um sie loszuwerden. Zum gestiegenen Importbedarf gesellte sich ein ständig wachsender Schuldendienst.
Als sich bereits dunkle Wolken über Argentinien zusammenzogen, verhandelte es mit dem IWF einen neuen Beistandskredit. Der Devisenschatz war aber bereits so geschrumpft, daß der Wunderknabe Cavallo (heute unterrichtet er wieder Wirtschaftswissenschaften in Harvard) die Sperre der Bankguthaben verfügte. Im darauf folgenden Volksaufstand trat die Regierung De La Rúa zurück, Argentinien war 2 Wochen ohne Regierung, der IWF hatte keinen Verhandlungspartner mehr, und Argentinien war zahlungsunfähig.

Unter dem 2003 gewählten Präsidenten Néstor Kirchner wurden mit über 90 % der Gläubiger Argentiniens Vergleiche geschlossen, denen zufolge sie auf einen guten Teil ihrer Forderungen verzichteten, um überhaupt etwas von ihrem Geld zu sehen.
Argentinien konnte sich allerdings seit dem Bankrott Anfang 2002 nicht mehr auf den internationalen Finanzmärkten verschulden. Obwohl man an diesem Fall schön studieren kann, wer bei den Krediten an Argentinien gut gefahren ist und wie sehr sie Argentinien geschadet haben, war die Sehnsucht groß, wieder in den Schoß des Finanzkapitals zurückzukehren. Nur mit Hilfe Venezuelas und Chinas kamen die Regierungen von Néstor und Christina Fernandez de Kirchner an Kredit. Auf eine Zusammenarbeit mit dem IWF war niemand neugierig.

2. Macri verspricht die Lösung aller Probleme
Der zum Jahresende 2015 gewählte Präsident Mauricio Macri versprach, mit allen angeblichen Fehlern seiner Vorgängerregierungen aufzuräumen. Er verhandelte offensichtlich im Vorfeld seiner Wahl mit Gläubigern und Banken, dem Gericht in New York, den „Geierfonds“ usw. und versprach jede Kooperation. Auch zu Hause gelang es offenbar, die Unternehmerschaft und die politische Klasse davon zu überzeugen, daß sich unter ihm alles zum Guten wenden würde. Über das auch in Argentinien vorhandene Klientelwesen reichte das dann für einen Wahlsieg, der von der internationalen Presse euphorisch begrüßt wurde. Mit unglaublicher Idiotie und Verdrehung der Tatsachen wurde das Notprogramm, das unter den Kirchners die argentinische Ökonomie in Gang hielt, als „Mißwirtschaft“ abgetan. Der Bankrott 2001/2002 war keiner Erwähnung wert, und soziale Programme wie die Stützung von Energie- und Lebensmittelpreisen und rudimentäre Zuwendungen an die Ärmsten der Armen wurden als Geldverschwendung, unterlassene infrastrukturelle Reparaturen als Korruption und Schlendrian verurteilt. Auch die chinesischen Investitionen wurden heruntergemacht, sie brächten „eigentlich“ Argentinien nichts.

Zum Unterschied von den Reformen, die Macri vorhätte, da würden natürlich blühende Landschaften entstehen. Denn eigentlich sei Argentinien ja

3. „Ein reiches Land“

Diese Phrase erklingt mit schöner Regelmäßigkeit in den Medien, wenn irgendwo eine mißliebige Regierung angeschwärzt werden soll. Da werden auf einmal Möglichkeiten des Wohlstands entdeckt, und auf seltsame Art und Weise der Unterschied bzw. Gegensatz zwischen abstraktem und konkretem Reichtum dingfest gemacht.

Argentinien verfügt über große, sehr fruchtbare und klimatisch begünstigte landwirtschaftliche Flächen. Während die Pampas im 19. Jahrhundert zwar als Viehweide dienten, aber hauptsächlich das Leder auf dem Weltmarkt nachgefragt wurde, wurde Argentinien im 20. Jahrhundert ein großer Agrarproduzent. Nach beiden Weltkriegen versorgte Argentinien das zerstörte Europa sehr günstig mit Getreide und Fleisch. Dem Präsidenten Juan Domingo Perón war diese Rolle jedoch nicht genug, er wollte zusätzlich eine eigene Industrie aufbauen, um die Hemdlosen mit heimischen Produkten zu bekleiden und auf dem Weltmarkt als gleichberechtigter Partner und nicht bloß als Rohstofflieferant auftreten zu können.
Die unter Perón aufgebaute Industrie wurde mit dem Menem-Cavallo-IWF-Privatisierungsprogramm größtenteils stillgelegt. Unter Cristina Fernandez de Kirchner kam es zu Wiederverstaatlichungen – ein Versuch, wieder etwas wie eine eigene Produktion aufzubauen.

Damit machte sich die argentinische Regierung nicht beliebt, weder beim IWF, noch bei den Politikern von EU und USA, noch bei Medien und „Experten“. Ein Land wie Argentinien soll sich gefälligst verschulden, um uns dann unser Zeug abkaufen zu können!
Was die agrarische Produktion angeht, so kam Argentinien auch am Höhepunkt des Rinderwahnsinns nicht zum Zug – die junge EU war 1992-3 nicht bereit, die Quoten für garantiert BSE-freies argentinisches Rindfleisch zu erhöhen, da sie ihren Agrarmarkt schützen wollte.

Bereits zu Zeiten der Dollarparität waren beträchtliche Teile der Bevölkerung der Nordprovinzen mangelernährt, da die Produkte der fetten Weiden und Äcker bei ihnen nur spärlich ankamen. Auch innerhalb Argentiniens muß man nämlich für Lebensmittel Geld hinlegen, und genau davon hatten viele Bürger Argentiniens einfach zu wenig.
Nach dem Bankrott 2002 verhungerten in den nördlichen Provinzen jede Menge Kleinkinder, und auch heute ist es nicht so, daß der angebliche „Reichtum“ dieses Landes der Mehrheit seiner Bewohner zu Gute käme. Inzwischen sind nämlich weite Flächen des Landes auf Cash Crops, Produkte für den Devisenexport reserviert. Vor allem Soja, mit jeder Menge Monsanto-Chemie aufgeblasen, wächst heute in Argentinien, der Haupt-Abnehmer dieses Produktes ist China.
Was Argentiniens fette Böden angeht, so trifft Eduardo Galeanos Überschrift von der „Armut des Menschen als Ergebnis des Reichtums der Erde“ zu. Er charakterisierte damit die Kolonialzeit, aber die Marktwirtschaft hat hier ein möglicherweise noch durchschlagenderes Ergebnis: Alles, was sich in Argentinien zu Geld machen läßt, soll als Geschäftsmittel dienen, damit soll Argentinien seine Schulden zahlen, so die ultimative Weisheit von IWF, Wirtschaftsexperten und G 20-Gipfeln. Wenn die Bevölkerung hungert oder massenhaft auswandert, so ist das eben Pech. Schicksal, hat jedoch mit Geschäft, Gewinn und Kredit nichts zu tun.

Macri wurde beklatscht, weil er das genauso sieht.

4. Argentinien und die Drogen
Argentinien war lange Zeit für den internationalen Drogenhandel ziemlich unwichtig. Die Kokainproduktion wurde nach Norden oder Osten verschifft, ausgeflogen oder sonstwie transportiert. Die Märkte waren in den USA und Europa.

Seit dem Zusammenbruch der Ökonomie nach dem Bankrott 2002 wurde Argentinien jedoch immer wichtiger für den Handel, sowohl als Abnehmer-, als auch als Transitland. Der soziale Abstieg und das Elend ließen den Konsum an harten Drogen ansteigen. Die Kämpfe der USA-Drogenbehörde DEA gegen den Drogenanbau und -handel in Kolumbien und Mexiko brachten die Drogenkartelle darauf, andere Vertriebsrouten zu suchen. Und sie entdeckten Argentinien als Land guter Straßen und Häfen, wo aufgrund der unerfreulichen wirtschaftlichen Umstände nicht so genau darauf geachtet wurde, was da so durch das Land fuhr und über die Häfen verschifft wurde.
Schließlich entdeckte der Drogenhandel auch Argentinien als Möglichkeit zur Geldwäsche. Der Anlagebedarf der Kartelle verschaffte Argentinien einen Immobilienboom und brachte Devisen ins Land.
Schließlich haben sich in Argentinien auch Labors für synthetische Drogen etabliert. Es ist also auch selbst zu einem Drogenproduzenten geworden.

Alle diese Sphären bringen Argentinien die dringend benötigten Devisen und wurden deshalb weder von den Kirchner-Regierungen noch von ihren Nachfolgern besonders bedrängt.

5. Die Entwicklung der Schuld

Als die Regierung Macri sich mit denjenigen Gläubigern einigte, die den Kirchnerschen Vergleichen nicht zugestimmt und Argentinien verklagt hatten, und ihnen die Schuld vollständig zurückzahlte, erkannte Argentinien damit de facto die gesamte Altschuld an. Mit dieser Einigung wuchs also die Schuld Argentiniens gewaltig an. Dafür erhielt Argentinien wieder Kredit, sodaß auch die Neuverschuldung rasant zunahm.
Es ist anzunehmen, daß Macri bei seinen Verhandlungen mit den großen US-Banken Versprechungen gemacht wurden, die dann nicht eingehalten wurden. Ihnen ging es um die Anerkennung der Altschuld.

„Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld. … Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. Und mit dem Entstehen der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der Treubruch an der Staatsschuld.“ (Marx, Kapital I, Kap. 24/6)

Es ging also nur darum, einen Blöden – oder Agenten – zu finden, der diese Schuld wieder dem argentinischen Staat bzw. der argentinischen Bevölkerung umhängt. Macri hat in diesem Sinne seine Schuld getan und kann gehen. Er kann sich als Verdienst anrechnen, die argentinische Schuld gewaltig erhöht zu haben – es ist noch nicht genau heraußen, auf wieviel, die Rede ist von 200 bis 300 Milliarden Dollar, es kann aber auch mehr sein.
Die Sache ist damit aber noch nicht durchgestanden. Der Peso hat in diesem Jahr die Hälfte seines Wertes verloren, der Schuldendienst ist gewaltig, da teilweise zu 40 % verzinste Anleihen ausgegeben wurden. Inzwischen ist der Zinsfuß auf 60 % angelangt, der IWF verhandelt in einem fort, auf ein Stützungsprogramm folgt das nächste.

Einen neuerlichen Bankrott kann sich Argentinien und vor allem das Weltfinanzsystem nicht leisten.
Ob es gelingt, ihn zu verhindern, und wie, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen.

siehe dazu auch:

Radiosendung zu Argentinien in 2 Teilen: Schmutziger Krieg, Militärdiktatur, Falkland-Krieg, Staatsbankrott (März 2019)
https://cba.fro.at/399234
https://cba.fro.at/399254

Pressespiegel El País, 22.6., kommentiert:

„Die Eurogruppe setzt den Schlußpunkt unter eine Ära von Rettungspaketen für Griechenland“
VERHATSCHTE EURO-PROPAGANDA
„Die Wirtschaftsminister einigen sich auf Erleichterungen bei der griechischen Staatsschuld, um seine“ (d.h. Griechenlands) „Rückkehr an die Märkte zu ermöglichen.“ (El País, 22.6.)
Schon an der ganzen Wortwahl merkt man, daß etwas faul ist an der Angelegenheit. Wer sind die „Wirtschaftsminister“? Die meisten Mitglieder der Eurozone haben dieses Amt nicht. Erwähnt werden in dem ganzen Artikel der griechische Finanzminister, Efklidis Tsakalotos, der Wirtschafts- und Währungskommissar der EU-Kommission Pierre Moscovici und der neue Kommissionspräsident Mario Centeno. Später heißt es: „Die Finanzminister“ Alle? Ansonsten gibt es noch Hinweise auf „Paris“ und „Berlin“ und die angebliche Zustimmung von EZB und IWF. Wer alles genau bei dieser Übereinkunft zugegen war, bleibt im Dunkeln.
„Als Quintessenz der Krise des Euro beginnt Griechenland sich nach einer großen Depression wieder zu zeigen.“
Die Wortwahl und das Bild machen deutlich, daß dem Autor nicht ganz wohl ist bei seinem Schönwetter-Artikel. Es war ja nicht so, daß man Griechenland bzw. seine politischen Repräsentanten in den letzten Jahren nicht gesehen bzw. nichts von ihnen gehört hätte. Im Gegenteil, nur waren die Meldungen eher unerfreulich.
Jetzt hingegen soll es aufwärts gehen, nach einer „Depression“. Ist eigentlich die Situation Griechenlands mit diesem Begriff richtig beschrieben?
„Die Vereinbarung wurde bereits verkündet,“ (von wem?) „man mußte aber länger als erwartet darauf warten. (!!) Mitternacht war bereits vorbei, die Minister tagten bereits seit 9 Stunden, es gab – wieder einmal – einen ziemlichen Wirbel zwischen den Ministern Deutschlands und anderer Länder, die mehr Großzügigkeit gegenüber Griechenland forderten.“
Der Einigung war also holprig. Was es mit der „Großzügigkeit“ auf sich hat, erfahren wir etwas weiter unten.
„»Die griechische Krise endet diese Nacht hier in Luxemburg,« verkündete der Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici in einer Fernsehansprache, die Geschichte machen will. Aber da es um Griechenland geht, hat sogar das Happy End einen Hauch von Tragikkomödie.“
Man fragt sich, woraus denn dieses Happy End besteht? Und die „Komödie“? Die Beschreibung des Treffens weist auf Disharmonie hin:
„Das Treffen verwandelte sich manchmal in einen genauen Ausdruck des verdeckt geführten Krieges zwischen dem Norden und dem Süden Europas, zwischen Gläubigern und Schuldnern, zwischen Deutschland und Frankreich. … Deutschland wollte wie immer weniger großzügige Bedingungen für die Umstrukturierung der griechischen Schuld (180% des BIP, absolut unbezahlbar nach dem Urteil des IWF).“
Aha. Jetzt wird klar, was hier „Großzügigkeit“ heißt: Es geht eine Umstrukturierung, nicht um einen Schuldenerlaß.
„Berlin war immer gegen eine Streichung von Schulden, schlug aber eine Verlängerung von Fristen auf 10 Jahre vor, ohne weitere Liquiditätspolster.“
Fristen für was?
„Paris setzte auf 15 Jahre, und Zugeständnisse in Sachen Liquidität. Griechenland ersuchte um weitere 20 Milliarden, und erhielt 15.
Die schlußendliche Einigung, ein Mittelweg zwischen den Vorstellungen Deutschlands und Frankreichs, eröffnet einen neuen Horizont für Griechenland.“
Bei all den euphorischen und übertriebenen Formulierungen, von denen dieser Artikel strotzt, ist einmal darauf hinzuweisen, daß damit Griechenland erst einmal diejenigen Konditionen zugestanden wurden, die Irland und Portugal seinerzeit und mit weniger Getöse erhalten hatten, um das Thema vom Tisch zu kriegen. Beiden wurde eine Schuldenstundung zugestanden, als die Troika ihnen Botmäßigkeit bescheinigte und sie aus der Budgetkontrolle entließ. Es war also das Pech Griechenlands, daß es bisher eine Sonderbehandlung erfuhr.
Einer der Gründe mag gewesen sein, daß es das erste Land der Eurozone war, das seine öffentliche Schuld nicht mehr bedienen konnte, und deswegen eine Art Versuchskaninchen darstellte, an dem man die Euro-Rettung ausprobierte.
Der Haupt-Grund für die Sonderbehandlung und dem deutschen Beharren auf Kontrolle Griechenlands war jedoch die seinerzeitige Ankündigung von Syriza, aus dem Sparkurs ausscheren und mit der Staatsverschuldung munter weitermachen zu wollen. Deshalb stand die Regierung von Alexis Tsipras eine Zeitlang unter dem Verdacht, durch unverantwortliches Festhalten am Credo von vorgestern – Kredit schafft Wachstum! – die ohnehin wacklige Euro-Rettung zu gefährden.
Inzwischen ist die Syriza-geführte griechische Regierung ganz brav geworden, hat alles unterschrieben, was ihr vorgelegt wurde, alles privatisiert, wofür sich ein Käufer gefunden hat, allen Bedingungen zugestimmt, die Pensionen x-mal gekürzt und auch jede Menge Flüchtlinge bei sich gelagert, die keiner wollte und will.
Die Euro-Häuptlinge hingegen sind draufgekommen, wie gut sie es doch mit dieser Regierung getroffen haben, die inzwischen allem zustimmt und dennoch das Land irgendwie im Griff hat. Möglicherweise hat auch das Nachgeben im Namensstreit mit Mazedonien endgültig den Ausschlag gegeben, diese derzeitige griechische Politikermannschaft zu schätzen. Vor allem, da es weit und breit keine Opposition gibt, die in der Lage wäre, das ziemlich perspektivenlose Land zu übernehmen und im Sinne der EU zu regieren.
Außerdem tritt eine ähnliche Situation wie vor einigen Jahren ein, als Portugal bescheinigt wurde, alles richtig gemacht zu haben und es aus derm Troika-Regime entlassen wurde, um Griechenland zu zeigen, wie „großzügig“ die Eurogruppe doch sein könne, wenn man ihr gegenüber den richtigen Ton anschlägt.
Jetzt steht mit Italien ein weitaus größerer Brocken an und wieder soll es erst mit dem Zuckerbrot versucht werden: seht her, auch Griechenland haben wir jetzt ein Teil-Moratorium zugestanden, weil sie gefügig waren, nehmt euch an Tsipras ein Beispiel!
In diesem Falle präsentiert sich jedoch die Lage für die Euro-Hüter ungleich schwieriger, weil Italien ein weitaus wichtigerer volkswirtschaftlicher Faktor ist als es Griechenland war und ist.
Also ist jetzt wieder einmal der Versuch fällig, ein gutes Beispiel zu präsentieren, um die jungen Wilden aus Italien zu mehr Unterwürfigkeit zu bewegen. Ob das klappt, wird man sehen. Bei der Eurogruppe ist die Absicht jedenfalls da.
Das ist der politische Hintergrund des jetzt erzielten Abkommens an Griechenland.
Was die ökonomische Seite angeht, so ist der Deal etwas schwammig:
„Athen wird die Kredite des Rettungspaketes erst ab 2032 – betreffend sowohl die Zinsen als auch das Kapital – abzahlen.“
Wurde bisher nichts gezahlt? Was man so las, mußte Griechenland die bisher zumindest bedienen, also die Zinsen darauf zahlen. Die werden ab jetzt also bis 2032 gestundet.
Weiters ist anzumerken: nur diejenigen Zinsen werden gestundet, die für die Kredite des Rettungspaketes anfallen. Die Altkredite – bei privaten Banken und anderen Gläubigern aus der Schuld vor 2012 bzw. 2015 –, die Athen weiterhin bedienen und tilgen muß, sind davon nicht berührt. Die machen aber, ungeachtet dessen, was man den Medien entnehmen oder nicht entnehmen kann, immer noch den weitaus bedeutenderen Teil von Griechenlands Schulden aus.
„Ebenso wird die Frist für die Rückzahlung (die bisher schon 32 Jahre betrug), um 10 Jahre verlängert.“
Das steht im Widerspruch zum obigen, demzufolge Griechenland ab 2032, also in 14 Jahren „sowohl betreffend die Zinsen als auch das Kapital abzahlen“ wird. Es kann höchstens gemeint sein: die endgültige Tilgung, also die Zahlung der letzten Rate.
„Und schließlich, die Eurogruppe verpflichtet sich zur Zahlung der letzten Tranche des Rettungspaketes in der Höhe von 15 Milliarden … erweiterbar bis auf 24,1 Milliarden, um den Investoren mehr Vertrauen einzuflößen, wenn Griechenland sich ab August wieder frei auf den Finanzmärkten bewegen wird.“
Darauf läuft es also hinaus: Griechenland soll wieder fähig gemacht werden, selber Anleihen zu begeben und sich auf den Kapitalmärkten neu zu verschulden. Dafür wird ein Teil seiner Schuld vorläufig auf Eis gelegt, vermutlich um den Preis höherer Zinsen ab 2032. Griechenland soll also fähig gemacht werden, seine 180%ige Staatsschuld weiter zu erhöhen.
Argentinien läßt grüßen. In knapp zwei Jahren verdoppelte es seine Staatsschuld, teilweise durch Zinsversprechen von 40%. Dann mußte wieder einmal der IWF für seine Zahlungsfähigkeit garantieren.