Die Ermordung Darja Duginas, Teil 3

DIE REAKTION IN DEN WESTLICHEN MEDIEN: ZWISCHEN HOHN UND SCHADENFREUDE

Das Attentat hat nirgends in westlichen Medien und Stellungnahmen die Verurteilung hervorgerufen wie andere Attentate der letzten Jahre. Die Textbausteine „unfaßbar“, „unmenschlich“, „schrecklich“ usw., mit denen School-Shootings, islamistische Attentate oder Amokläufe normalerweise bedacht werden, wurden in der Schublade gelassen.
Von ukrainischer Seite erfolgten sehr unglaubwürdige Erklärungen der Art: „Wir machen so etwas nicht! Wir sind kein Terrorstaat!“ – die natürlich den westlichen Medien eine Art Befehl waren, andere Verursacher ausfindig zu machen.
Als jedoch Papst Franziskus bei seinem Gebet die Ermordete einschloß, kam sofort eine Rüge des ukrainischen Vertreters beim Vatikan, daß solche Leute wie Darja Dugina keine Opfer, sondern Täter seien und daher kirchlicher Segen hier unangemessen sei.

Die Artikel in verschiedenen Medien sind daher sehr bemüht, nachzuweisen, daß es

1. schon die Richtige erwischt habe, und
2. „Wir“, also die Guten, auf keinen Fall etwas damit zu tun haben.

Die beiden Beweiszwecke widersprechen einander, aber dergleichen stört die Medienvertreter heutzutage nicht.

Für den ersten Beweiszweck wird Darja Dugina, die sich öffentlich sehr patriotisch auf die Ukraine-Invasion bezog – wie übrigens viele andere Personen des öffentlichen Lebens in Rußland – als eine Furie dargestellt, die sich im Schafspelz der hübschen Blondine versteckte, aber in Wirklichkeit mehr oder weniger im Blut unschuldiger Kinder baden würde.
Damit wird einerseits einem Terroropfer der Opferstatus abgesprochen. Die Fakten werden so verdreht, als wäre sie im Kampf gefallen – und wo gehobelt wird, da fliegen eben Späne. Dazu paßt auch gut, daß ihr posthum von Putin ein Orden verliehen wurde – da sieht man es doch, was die für eine war!
Zweitens wird aber damit so getan, als sei sie sozusagen eine Einzeltäterin, eine Ausnahme gewesen – die russische Bevölkerung sei ja unterdrückt, traue sich nichts zu sagen, sei eigentlich gegen die Führung und diese bediene sich nur einiger Propagandisten wie DD, um ihrem Volk Sand in die Augen zu streuen. Damit ist dann die Ermordung dieser jungen Frau eine Art Befreiungsakt im Interesse der Russen selbst.

Damit tritt dann der zweite Beweiszweck auf den Plan: Nachdem „wir“ das nicht waren, müssen es „sie“ gewesen sein.

Im New Yorker wird sehr plump dafür argumentiert, daß es „möglicherweise“ der FSB selber gewesen sei, der die eigene Propagandistin beseitigt hätte. Und zwar, weil einige „Outlets“ – also Websites, die von irgendwelchen Zwerg Bumstis betrieben werden – diese „Verwörungstheorie“ in die Welt gesetzt hätten.
Man merkt, das angesehene New Yorker Intellektuellenblatt möchte gleichzeitig die Behauptung verbreiten und sich davon distanzieren.
Warum der russische Geheimdienst so etwas machen sollte? Um die Bevölkerung für die Ukraine-Invasion zu gewinnen! Damit wird natürlich unterstellt, daß in Rußland enorm viel Kritik an diesem Krieg besteht, obwohl davon wenig zu merken ist.
Was für diese komische Theorie spricht? Der Umstand, daß der FSB den Fall so schnell gelöst hat! (Das würde der FSB gar nicht behaupten, bisher gibt es nur eine bekannte Verdächtige und einige unbekannte Hintermänner.) Aber natürlich, der FSB besteht ja aus lauter Idioten und korrupten auch noch dazu und bringt nichts zusammen – da ist es schon verdächtig, wenn er schnell zu Ergebnissen kommt, nicht wahr?

Die zweite Theorie ist von dem in die Ukraine übersiedelten ehemaligen Duma-Abgeordneten Ilja Ponomarjow in die Welt gesetzt und von vielen westlichen Medien begierig aufgegriffen worden. Diese Lichtgestalt, die ziemlich sicher auf der Payroll von US-Institutionen steht, verkündete, daß es „Partisanen“, eine Art Anti-Putin-Organisation namens „Nationale Republikanische Armee“ in Rußland gäbe, die in Zukunft auch mit derartigen Attentaten Angst und Schrecken verbreiten würden, bis zum endgültigen Sieg gegen Putin & Co.
Mit solchen absurden Behauptungen sichert sich dieses Subjekt vermutlich weiter das regelmäßige Eintreffen von Schecks durch Leute, die genau so etwas glauben und hören wollen.

Der New Yorker – stellvertretend für die gesamte westliche Qualitätspresse – will dergleichen auch glauben:

„In jedem Fall – ob die Nationale Republikanische Armee real oder fiktiv ist – kommt diese Version der Wahrheit wahrscheinlich näher. Dugina starb wahrscheinlich durch nichtstaatliche Akteure, wahrscheinlich eine neu gegründete Gruppe oder eine neu radikalisierte Person. Es ist nicht verwunderlich, dass eine solche Gruppe oder Einzelperson fast sechs Monate nach Beginn des Krieges auftaucht, nachdem Zehntausende von Kriegsverbrechen, die von russischen Truppen begangen wurden, dokumentiert wurden. Für denjenigen, der Darja Dugina getötet hat, mag der Angriff auf einen Propagandisten wie eine betont milde Reaktion auf den Tod von Hunderten von Kindern und die Auslöschung ganzer Städte wie Mariupol erscheinen.“ (New Yorker, 26.8.)

Was zu beweisen war: Es traf die Richtige, und hoffen wir auf einen baldigen Aufstand in Rußland!

Ausführlicheres hier.

Die Ermordung Darja Duginas, Teil 2

DAS ATTENTAT SELBST: SELTSAME ZIELSETZUNG VERSCHIEDENER GEHEIMDIENSTE

Darja Dugina war ein einfaches Ziel für ein Attentat. Niemand nahm an, daß dieser jungen Frau eine gewaltsame Auslöschung drohen könnte. Auch sie selbst nicht. Sie traf daher auch keinerlei Sicherheitsvorkehrungen.

1. Das Setting

Wie die Nachforschungen der „Komsomolskaja Pravda“ (KP) und anderer Zeitungen ergaben, lebte sie in einem Haus mit 33(!) Stockwerken am südwestlichen Stadtrand Moskaus. Diese Gegend war in den letzten Jahrzehnten durch viel Neubautätigkeit vor allem für junge Leute attraktiv geworden, weil sich viele Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen dort angesiedelt hatten.
Das Haus war vom Standpunkt der Bewohner ein richtiges Vogelhaus. In einem fort zogen Leute ein oder aus. Die meisten Leute hatte keine Ahnung, wer ober oder neben ihnen wohnte. Genausowenig interessierte es irgendjemanden, ob der- oder diejenige, die dort aus- und eingingen, auch tatsächlich dort wohnten oder zu einem tatsächlichen Bewohner unterwegs waren.
Es war also praktisch überhaupt nicht überwacht, und auch sehr schwer überwachbar. Niemand nahm an, daß dort jemand aus- und eingehen könnte, der Böses im Schilde führte. Gegen Einbruch waren die Wohnungstüren halbwegs abgesichert, und auch die Garage wurde offenbar noch nie für Raubüberfälle genutzt, sonst hätte das alles anders ausgesehen.
Ähnlich ideal für das Verüben von Attentaten war das Festival im Westen Moskaus, von wo aus Darja Dugina die Reise in den Tod antrat. Jede Menge Leute, aufgrund der Menge praktisch nicht zu kontrollieren, ein überfüllter Parkplatz, auf dem es auch keine oder nicht funktionierende Überwachungskameras gab, und eine eigentlich überraschende Sorglosigkeit der Veranstalter in einem Land, das sich immerhin seit 6 Monaten im Krieg befindet, auch wenn man den offiziell nicht so nennen darf.

2. Die Täter

Die Hauptverdächtige, Natalja Wowk, stammt aus Mariupol. Den Recherchen der KP zufolge hatte sie eine unglückliche Ehe hinter sich, mit einem Mann, der sie beinahe totprügelte. Nach der Trennung von ihm hatte sie das Problem, wie sie in der Ukraine in einer höchst trostlosen wirtschaftlichen Situation ihre beiden Kinder ernähren sollte. Sie schrieb sich daher bei der Nationalgarde ein und wurde Soldatin der ukrainischen Streitkräfte. Die Vermutung liegt nahe, daß sie dort vom SBU, dem ukrainischen Geheimdienst angeworben wurde, für den sie aufgrund ihrer prekären Situation eine willige Mitarbeiterin wurde.
Sie reiste gegen Ende Juli mit ihrer 12-jährigen Tochter aus dem russisch besetzten Teil des Donbass in einem Auto mit ukrainischer Nummer nach Rußland ein. Die Tochter diente sozusagen als Mittel, um jeden Verdacht von sich zu lenken. So entging es den Grenzkontrolloren, daß diese Frau ursprünglich bei der ukrainischen Nationalgarde gedient hatte, angeblich sogar beim Azov-Batallion.
Sie mietete sich dann in dem bewußten Haus mit den 33 Stockwerken in Moskau ein, und zwar so, daß sie von ihrem Fenster aus in ein oder mehrere Fenster der Dugina-Wohnung hineinschauen konnte, möglicherweise unter Zuhilfenahme eines Fernglases. Sie wußte also um deren Lebensgewohnheiten – wann sie heimkam, wann sie das Haus verließ, usw.
In der Tiefgarage besaß sie einen Stellplatz relativ nahe dem von Darja Dugina. Die Tiefgarage ist schlecht beleuchtet, sie verfügte über wenige Überwachungskameras und diese deckten nur einen kleinen Teil des gesamten Raumes ab.
Natalja Wowk verwendete auf dem gleichen Auto, mit dem sie eingereist war – einem Mini-Cooper – während ihres einmontigen Aufenthalts in Moskau ein kasachisches Kennzeichen und reiste am Tag nach dem Attentat mit dem gleichen Auto, diemal mit russischem Kennzeichen und wieder in Begleitung ihrer Tochter über die Grenze nach Estland aus. Am gleichen Tag bot ihr – bereits erwachsener – Sohn in der Ukraine das Auto bereits im Internet zum Verkauf an.

Die Anwesenheit von Natalja Wowk ist durch Videoaufnahmen gut dokumentiert. Es ist klar, daß sie nur der sichtbare Teil einer Organisation zur Abwicklung des Attentats war. Man weiß derzeit nicht, ob sie selbst die Autobombe im Auto ihres Opfers plaziert hat, und ob das in der Tiefgarage oder auf dem Parkplatz des Festivals geschah.
Es ist ziemlich sicher, daß der ukrainische Geheimdiens SBU das Attentat organisiert hat. Wowk hatte auf jeden Fall einige weniger sichtbare Mittäter. Immerhin besaß sie 3 Autokennzeichen mitsamt der nötigen Dokumentation für den Fall einer Kontrolle. Auch die Wohnung wurde vermutlich von jemandem anderen angemietet. Moskau hat sie bereits vor dem Attentat verlassen, um es rechtzeitig über eine EU-Grenze zu schaffen.
Die russischen Behörden halten es auch nicht für ausgeschlossen, daß der SBU mit dem CIA und MI6 zusammengearbeitet hat.

3. Das Opfer

Darja Dugina war 29 Jahre alt. Wie ihr Vater hatte sie Philosophie studiert. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über die Neo-Platoniker. Sie betrieb ein Doktoratsstudium zu einem verwandten Thema. Außerdem sprach sie Französisch.
Sie war seit Jahren aktiv als Rednerin, Journalistin, wurde zu Talkshows eingeladen und hielt Vorträge zu verschiedenen Gegenständen – von der Innenpolitik Frankreichs über griechische Philosophie bis zu Themen, die mit der eurasischen Bewegung zusammenhingen, deren Vorsitzender ihr Vater ist. Sie machte auch kein Geheimnis daraus, daß sie den russischen Einmarsch in die Ukraine unterstützte.
Dennoch, die Wahl fiel wahrscheinlich auf sie, weil sie die Tochter Alexander Dugins war. Es ist auch ziemlich sicher, daß die Zielperson des Attentats er war und der Tod der Tochter als Kollateralschaden in Kauf genommen worden wäre.
Aber Dugin, der ebenfalls dieses Festival besuchte und auch ursprünglich mit seiner Tochter zusammen nach Moskau zurückfahren wollte, entschied sich im letzten Augenblick dazu, mit einem Freund die Heimreise anzutreten, weil er während der Autofahrt noch etwas mit ihm besprechen wollte.

Als die Täter den Zeitzünder aktivierten, wußten sie vermutlich, daß sie nur die Tochter erwischen würden und dachten sich, besser als gar nichts. Immerhin war die Bombe am Auto befestigt. Sie zu entfernen, wäre schwierig und riskant gewesen, und eine zufällige Detonation irgendwo hätte keinerlei erwünschten Effekt gehabt.

4. Warum dieses Attentat?

Ausgehend von der Überzeugung, daß das Attentat eigentlich Alexander Dugin gegolten hat, erhebt sich die Frage, was der SBU und andere Geheimdienste eigentlich mit einem solchen Attentat bezwecken?

Erstens überschätzen sie die Rolle von Ideologen auf die russische und überhaupt jede Gesellschaft. Abgesehen davon, daß diese Leute nicht die Entscheidungsträger sind, so ist Dugin eben nur der Vorsitzende der Eurasischen Bewegung. Diese Bewegung existiert auch ohne ihn, weil die Gründe für das Aufkommen dieser Art von Gedankengut nicht in seiner Person liegen.
Zweitens werden solche Personen wie die Dugins ausgewählt, weil die wirklich wichtigen Akteure in Rußland natürlich gut bewacht sind. An Putin, Schoigu, Medwedjew usw. kommen solche Bombenattentäter nicht heran. Selbst wenn diese Personen einmal ein Bad in der Menge nehmen, sind dort die höchsten Sicherheitsvorkehrungen angesagt.

Die Idee war also, eine bekannte Persönlichkeit umzubringen, um zu zeigen, daß die Unterstützer der russischen Politik ihres Lebens nicht sicher sind.
Sogar wenn das gelingen würde, so hätte das nur eine Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen für solchermaßen gefährdete Personen zur Folge.
Die Wahnvorstellung westlicher Geheimdienste ist jedoch, daß nach einem solchen Mord in Rußland Zittern und Bangen losgeht, und sich alle von dem Diktator abwenden.
Das ist eine völlig verkehrte Vorstellung gegenüber der Bevölkerung Rußlands – oder irgendeines anderen Staates. Das Gegenteil ist nämlich der Fall – wie man es bei islamistisch inspirierten Attentaten in ganz Europa sehen konnte: Ein solches Attentat schweißt die Bevölkerung und ihre Herrschaft zusammen.

Um so mehr, als das Opfer eine junge Frau war, die niemandem etwas zuleide getan hat.

Zusatzinfo: Die Eurasier

Ausführlicheres hier.

Die Ermordung Darja Duginas, Teil 1

DER EURASISCHE GEDANKE

Darja Dugina mußte sterben, weil sie die Tochter eines Mannes war, der als Einflüsterer Putins gilt und diesen zu Großmachtplänen für Rußland inspiriert haben soll.

Abgesehen davon, daß es sowieso eine dümmliche Konstruktion ist, jemanden zum Anstifter von Politik zu erklären, der dann die tatsächlichen Machthaber zu Verführten und ferngesteuerten Ausführenden erklärt, so sei hier einmal kurz vorgestellt, was eigentlich dieses Weltbild Dugins auszeichnet.

Vorläufer: Die Heartland-Theorie Mackinders
Der britische Geograph Halford Mackinder entwickelte in seiner Schrift „Die geographische Kernfrage der Geschichte“ 1904 die Theorie, daß, wer Europa und Asien beherrsche, sich die ganze Welt untertan machen könne. Die Verbindung dieser beiden Kontinente sei sozusagen eine Basis, die nicht mehr übertroffen werden könne.
Diese Theorie wurde zur Zeit des „Great Game“ entwickelt, als das Zarenreich und das British Empire in Zentralasien – und nicht nur dort – ihre Claims absteckten. Damals wurde Afghanistan als Pufferstaat zwischen diesen beiden Großmächten gequetscht, seine Bevölkerung malträtiert.
In dieser Zeit (1899-1907) entstand auch die Haager Landkriegsordnung, die heute die rechtliche Grundlage für Kriegsverbrecherprozesse darstellt. Rußland verlangte nach einem Regelwerk, um die Aufteilung der Welt nach formellen Kriterien abwickeln zu können. Aufgrund des Widerstandes Großbritanniens kam es zu keiner Seekriegsordnung: Das britische Reich wollte sich im Seekrieg überhaupt keine Schranken anlegen lassen.
Mackinders Theorie ist also als eine Art Warnung zu verstehen: Die britischen Eliten müßten alles unternehmen, um diesen Zusammenschluß der beiden Kontinente zu verhindern, weil das würde den Untergang der britischen Weltmacht bedeuten.
Diese Bemühung ist bis heute in der britischen Außenpolitik zu erkennen.

Die historischen Eurasier
Das Buch, das die eurasische Bewegung lostrat, „Exodus nach Osten“, erschien 1921 in Sofia. Darin machten sich russische Emigranten Gedanken darüber, wie es nach der Oktoberrevolution und dem russischen Bürgerkrieg mit Rußland weitergehen sollte. Damals, das muß man bedenken, war die Sowjetmacht noch nicht so lange in Amt und Würden. Viele Emigranten machten sich Hoffnungen auf ihren Sturz und die Rückkehr in die Heimat.
Diese Intellektuellen, von denen viele ukrainischer Abstammung waren, sahen die Möglichkeit einer Erneuerung Rußlands in der Abwendung vom Westen und einer Hinwendung zu den Kulturen Asiens. Die geballte Feindschaft der europäischen Mächte gegenüber den Bolschewiki nahmen sie als Chance wahr, sich von dem schädlichen Einfluß Europas zu befreien. Gerade diejenigen verschiedenen Einflüsse, die die Ukraine geformt hatten – die Steppenvölker, die katholischen und orthodoxen Kirchen und der Islam vom Süden – erschienen ihnen als eine stabile Basis zur Formung eines Staatenbündnisses von großen Dimensionen. Ihr historisches Vorbild war Dschingis Khan.
Gegenüber der traditionellen russischen Geschichtsschreibung, die die mongolische Eroberung als „Joch“ betrachtete, sahen sie die mögliche Symbiose von slawischer Kultur und asiatischen Einflüssen.
Im Laufe der Zeit zerbröselte diese Bewegung – die einen nahmen eine ablehnende, andere eine zustimmende Haltung zur Sowjetmacht ein, aber sie alle hatten keinen Einfluß auf die tatsächliche Politik.
Für antikommunistische, antisowjetische Propaganda und Tätigkeit eigneten sie sich auch nicht, da sie die westliche Zivilisation ablehnten. Deshalb blieben sie in Europa relativ unbekannt, – in der Sowjetunion übrigens auch.

Eurasismus heute
Die Wiederentdeckung bzw. Wiederauferstehung dieses Gedankengutes oder Modells ging langsam vonstatten. Der Eurasismus ist in erster Linie ein Ergebnis der Enttäuschung über den Westen, die Demokratie, die Marktwirtschaft.
Viele Anhänger des Eurasismus, so auch Dugin, waren glühende Antikommunisten, Gegner der Sowjetmacht oder Dissidenten. Den Zerfall der Sowjetunion sahen sie als Chance, Rußland mit westlichem Know-How zu gebührender Größe zu verhelfen.
Es ging immer darum, um Glanz und Glorie der Nation, nicht um so Kleinigkeiten wie Lebensstandard, holländischen Käse oder spanischen Schinken und technischen Fortschritt in Form von Smartphones usw.
Sowohl die zerstörerischen Folgen der Westöffnung für die russische Gesellschaft als auch die Behandlung durch den Westen, der erst auf den weiteren Zerfall Rußlands hoffte und dann, mit Obamas Worten, Rußland auf den Status einer Regionalmacht reduzieren wollte, führten zu Zorn und Abwendung vom Westen unter vielen dieser russischen Patrioten.
Es begann ein zäher Kampf zwischen nach Osten Orientierten und den Anhängern westlicher Kultur und Politik, wobei Erstere das Handicap hatten, daß aus den Tiefen des asiatischen Raums auch das Echo der Marktwirtschaft und westlicher Herrschaftspraktiken erschallten.
So entstand eine sehr widersprüchliche Bewegung von Denkern und Ökonomen, die in den eigenen und fernöstlichen Traditionen nach Rezepten suchten, was man eigentlich der westlichen Dekadenz und Gschaftlmacherei entgegensetzen könnte. Dieses Prozeß ist übrigens noch nicht abgeschlossen, die Eurasier eint nur die Abneigung gegenüber Europa und den USA, was immer man jetzt unter diesen Staaten und Konzepten verstehen will.

Zu den Anhängern des eurasischen Gedankens gehört der Ökonom Glasjew, der durchaus Einfluß hat und der in den späten 80-er Jahren und nach dem Zerfall der Sowjetunion zu den Reformern, den eifrigen Anhängern der Marktwirtschaft gehörte – in großer Einigkeit mit Jegor Gaidar, Tschubais und anderen westorientierten Wirtschaftsfuzis.
Zu der eurasischen Bewegung gehörte lange auch der jetzige Berater von Selenskij, Arestowitsch, der offenbar dort nicht so richtig zum Zug kam und dann ein besseres Angebot der Gegenseite annahm.

Für die Eurasier sind die jetzigen Sanktionen des Westens ein wahrer Segen, weil sie ihre Sicht der Dinge bestätigen und Rußland zum Gang nach Osten nötigen.

Die Eurasier haben viele Verbindungen zur Türkei und den dortigen Anhängern des Turanismus. Alle diese Ideologien haben vom Gehalt her etwas Schwammiges und gleichzeitig Mythisches an sich. Sie ziehen deshalb viele Menschen an, die sich mit unterschiedlichen Formen von Unzufriedenheit von diesen Heilslehren eine Verbesserung ihrer Lage erwarten.
Mit allen Heilslehren und Religionen hat der Eurasismus gemeinsam, daß er für das praktische Handeln nicht viel hergibt. Konkrete politische Schritte oder ökonomische Maßnahmen lassen sich daraus nicht herleiten, die müssen aus anderen Überlegungen folgen. Nachher läßt sich allerdings viel mit solchen Heilslehren rechtfertigen.

Die eurasische Bewegung ist daher nicht Stichwortgeber, sondern Beweihräucherer der tatsächlichen Politik. Als solche sind ihre Anhänger in Rußland heute geschätzt und gefordert. Das betraf auch die Tochter Dugins, die sich dieser Aufgabe mit vollem Herzen verschrieb.

Fortsetzung: Das Attentat

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