EZB, Euro und Währungssysteme überhaupt

GRUNDSÄTZLICHES ÜBER GELD UND KREDIT IN DER EU (UND AUSSERHALB)
Wenn heute von der „Corona-Krise“ geredet wird, ist das irreführend, weil die wirtschaftlichen Verwerfungen aufgrund der Lockdowns treffen auf ein Wirtschafts- und Währungssystem, das schon vorher höchst wackelig war. Es geht also nicht um eine neue, zyklische Krise, nachdem die vorige überwunden worden wäre, sondern um die Verschärfung einer sowieso auf die Dauer unhaltbaren Lage.
Wie man auf Spanisch sagt: Llueve sobre mojado – es regnet auf nassen Grund.

1. Die Rolle der EZB

Lagarde hat gleich bei Amtsantritt angekündigt, das Aufkaufsprogramm ihres Vorgängers fortzusetzen, was ja auch schon gewaltige Geldmengen zumindest in die Bankenwelt geleert hat, indem Staats- und Firmenanleihen aufgekauft wurden. Vergessen wir dabei auch nicht die Bankanleihen, zur Vermeidung von Bankencrashes.
Dieses Programm wurde von Draghi kurz nach seiner Übernahme verkündet, nachdem Trichet die EZB mehr schlecht als recht und durch ad-hoc-Aufkäufe durch den Anfang der Euro-Krise manövriert hatte.
Draghi sagte damals sinngemäß: Wir werden alles Nötige tun, um den Euro zu retten.
Diese Maßnahme war zunächst als Überbrückungsmaßnahme gedacht, bis „die Konjunkturlokomotive wieder anspringt“, ein ordentliches Wachstum zustandekommt, usw. usf.
Was nicht eingetreten ist.
Bis zum Wechsel Draghi-Lagarde war bereits klar, daß es sich hierbei um eine Dauereinrichtung handeln wird, weil all die Jubelmeldungen um 1,5%-Wachstümer irgendwo in der EU nicht darüber hinwegtäuschen konnten, daß auch die kreditfinanziert waren und der große Sprung nach vorn nicht mehr passieren wird.
Damit war auch entschieden, daß man dieser Tatsache ins Auge sehen muß und die EZB daher in Zukunft eher mehr als weniger Geld in die Wirtschaft pumpen muß. Das war bereits vor der Coronakrise klar.
Die Klage vor dem deutschen Verfassungsgericht mit dem Anliegen, der EZB die Schuldenfinanzierung zu untersagen, war ebenfalls bereits vorher anhängig und wurde erst jetzt, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, entschieden.
(Wer sind eigentlich die Kläger?)

2. Die Rolle der Nationalbanken

Die Notenbanken in der Eurozone haben inzwischen andere Aufgaben als die außerhalb derselben.
Die Notenbanken Ungarns, Polens usw. sind darauf verpflichtet, ihren Wechselkurs zum Euro, an den sie in ausschließlicher Form gebunden sind, durch Anleihen-Emissionen auf Euro-Börsen halbwegs stabil zu halten. Dadurch, daß sie bei ihrem Beitritt die Bindung an andere Währungen in Form von Währungs-Körben aufgeben mußten, stärken sie den Euro, ohne an ihm teilzuhaben, und erweitern sein Spektrum. Sie sind dadurch weitaus abhängiger und schwächer, als es diverse westeuropäische Währungen vor der Einführung des Euro waren. Um das an einem Beispiel zu veranschaulichen: Der heutige Forint ist eine lokal begrenztere Währung als es die Drachme vor der Euro-Einführung war.
Das zeigt sich auch an den großen Unterschieden, die zwischen An- und Verkaufskurs dieser Währungen zum Euro bestehen – mit Ausnahme etwas stärkerer Währungen, wie der schwedischen, dänischen oder tschechischen Krone.
Die NB-Chefs Ungarns, Polens oder Rumäniens usw. sind deshalb im Wesentlichen mit Währungspflege beschäftigt, mit Zinsfuß hinauf und hinunter, um ihre Staatsanleihen attraktiv zu halten. Ein guter Teil ihrer Staatsschuld ist also dem Aufrechterhalten des Wechselkurses geschuldet.
Anders die Notenbanken der Euro-Staaten: Ihre Direktoren sitzen im Aufsichtsrat der EZB und bestimmen den EZB-Kurs mit. Die Staaten mit intaktem Kredit kritisieren schon seit einiger Zeit das Aufkaufsprogramm der EZB und die sich daraus ergebenden Null- und Niedrigzinsen, was auf eine gewisse Kurzsichtigkeit von deren Vertretern hinweist: Der Euro besteht nur solange, als sich auch die auf der Verliererschiene befindlichen Staaten finanzieren können, und auch Deutschlands Export funktioniert nur, indem im EU-Ausland genug Zahlungsfähigkeit existiert.
De facto kreditieren die produzierenden Staaten die konsumierenden, um ihr Zeug loszuwerden. Und das müssen sie auch, um dieses schiefe Verhältnis weiter aufrechtzuerhalten.
Die EZB will mit ihrem Programm diesen Zustand weiter aufrechterhalten und Geld ohne Ende in die Ökonomien der EU oder zumindest Eurozone hineinleeren.
Andere Staaten, so vermute ich, denken schon eine einen möglichen Crash des Euro und wollen sich für die Zeit danach mit möglichst wenigen Verbindlichkeiten belasten. Es ist übrigens auffallend, daß dieser Einwand inzwischen von Regierungschefs und nicht von Notenbankchefs verkündet wird.
——
Eine Erinnerung an einen anderen Schauplatz: Argentinien ist de facto zahlungsunfähig. Die einzige Möglichkeit, einen neuerlichen Bankrott zu verhindern, besteht darin, daß der IWF die Schulden übernimmt. Das hieße aber, daß der der IWF praktisch zu einer Stützungsinstitution für US-Banken wird, die die Haupt-Gläubiger Argentiniens sind.
Die Entscheidung darüber wird durch Fristverlängerungen hinausgeschoben, aber das geht auch nicht ewig.
Ginge Argentinien neuerlich bankrott, wäre das als Scheitern des IWF zu verbuchen, mit unabsehbaren Konsequenzen, und würde das US-Bankensystem und das weltweite Währungssystem erschüttern. Diesmal ließe es sich nämlich nicht, wie 2002, als eine kleine Störung im Getriebe handhaben und wegwischen.

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise III

HANDELSKRIEGE, GRENZSCHLIESSUNGEN, FLUGZEUGE AM BODEN – IN WELCHE RICHTUNG GEHT DIE WIRTSCHAFT?
oder: Über die Entwicklung des Spätkapitalismus in Coronavirus-Zeiten
Bisher liegt noch alles in einem gewissen Schlafmodus, alle Entscheidungen werden vertagt. Das kann aber nicht mehr lange so weitergehen.
Wie wird die Politik reagieren, wenn die geschrumpfte Zahlungsfähigkeit Pleitewellen zum Ergebnis hat?
Werden die Konkursregelungen geändert?
Was geschieht, wenn Leute ihre Mieten nicht mehr zahlen können?
Werden Tausende und Abertausende obdachlos, wie in den USA 2008 ff.?
Oder gehen die Mieten und Kreditraten hinunter?
Wenn ja, wer bedient die dadurch gekrachten oder umgeschuldeten Hypotheken?
Wenn nein, wie werden die weiterhin bezahlt, oder wie werden die Ausfälle durch Delogierungen kompensiert?
Wie geht es weiterhin mit der Mobilität der Arbeitskraft?
Wird der Schengenraum, was er einmal war?
Was wird mit den Banken, der Geldschöpfung und dem Kreditgeschäft überhaupt?

Das Coronavirus und die Altersheime

ALTES EISEN?
Das Coronavirus hat besonders in den Altersheimen gewütet und tut es immer noch. Die Erklärungen dafür fallen bisher eher dürftig aus. Erstens sind alte Leute eine „Risikogruppe“, ohne daß man genau erfährt, warum. Es wird aus der Todesrate auf die Anfälligkeit geschlossen und aus der solchermaßen konstatierten Anfälligkeit auf die erhöhte Sterblichkeit. Eine Begründung im Sinne von „weil“ oder „deshalb“ fehlt. (Generell macht die Wissenschaft im Zusammenhang mit dem Coronavirus keine gute Figur.)
Eine spanische Ärztin spricht in diesem Zusammenhang von „vorgezogenen“ Todesfällen. Das heißt, diese Leute wären sowieso gestorben, aber eben später. Das trifft zwar auf alle Todesfälle zu: Entweder man stirbt früher, oder man stirbt später – hat aber auch wieder den Schein einer wissenschaftlichen Untermauerung.
Was sind das eigentlich für Institutionen, in denen die Leute so massenhaft sterben?
Angesichts dessen, daß jeder selber das Problem hat oder aus seinem Freundeskreis kennt, irgendwelche Eltern oder Großeltern entweder zu Hause pflegen zu lassen – mit Pflegerinnen vom Balkan oder aus Osteuropa, auf der iberischen Halbinsel kommen die Pflegerinnen aus Lateinamerika – oder in einem Altersheim unterzubringen, so ist es angebracht, nachzudenken, um was für eine Art von Einrichtung es sich dabei handelt?
1. Über das Alter überhaupt
In vielen Gesellschaften – in Asien, Afrika und auch im vorkolumbianischen Amerika – genossen und genießen die alten Menschen eine bevorzugte Stellung.
Sie sind deswegen geachtet, weil sie über Lebenserfahrung verfügen.
Sie haben gesellschaftliche – Naturkatastrophen, Kriege, Flucht und Deportation – und individuelle Krisen erlebt und bewältigt. Zu letzteren gehören der Tod von nahestehenden Menschen, die Aufzucht von verwaisten Kindern, der Umgang mit Armut, mit psychischen Problemen, Aggressionen usw. im näheren Umfeld. Diese Menschen, so sahen das die sogenannten „primitiven“ Gesellschaften, also Stammesverbände und auf ihnen aufbauende Reiche, wissen etwas, was den Jüngeren fehlt, aber was sie zur Bewältigung der anstehenden Probleme dieser Gesellschaften brauchen. Deswegen gab es dort Ältestenrate, die in schwierigen Situationen eingesetzt wurden – und manchmal, in modernerer Form, auch immer noch werden.
2. Die gesellschaftliche Reproduktion
Einen wichtigen Anteil hatten diese alten Leute in der gesellschaftlichen Reproduktion. Die jungen Menschen machten die Kinder, dann gingen sie auf die Jagd und bestellten den Acker. Die Aufzucht der Kinder besorgten größtenteils die Alten. Sie beschäftigten sich mit ihnen, während deren Eltern mit ökonomischen Tätigkeiten beschäftigt waren, die der Versorgung der Gemeinschaft mit notwendigen Gütern dienten. Sie kochten für die Kinder und lehrten sie die Fähigkeiten, die für diese Gemeinschaft wichtig waren: Pflanzenkunde, Tierkunde, wie man ein Haus oder Tipi oder eine Jurte baut, Kleidung herstellt, Krankheiten heilt, wie man sich den Jahreszeiten anpaßt usw. usf. Das gesellschaftliche Wissen wurde auf diese Weise weitergegeben, die alten Leute waren ein Teil der gesellschaftlichen Reproduktion. Sie waren keine Belastung, und es wäre unter normalen Umständen niemandem eingefallen, sie auf die Müllkippe zu schicken – außer unter ganz tragischen Umständen, wenn der Stamm ums Überleben kämpfte und allen Ballast, also auch Kleinkinder und Kranke, zurücklassen oder umbringen mußte.
In den sozialistischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts, die auf die 2-Kinder-Familie genormt waren, stellten die Großeltern ebenfalls einen unverzichtbaren Teil der gesellschaftlichen Reproduktion dar. Die jungen Menschen beendeten ihre Lehre oder ihr Studium, heirateten und produzierten ihre 2 Kinder. Oder auch nur eines, oder mehr. Die Norm waren jedoch 2, darauf waren die Institutionen eingestellt. Sie gingen ihrem Job nach, um die Kinder kümmerten sich die Eltern bzw. Großeltern. Das Pensionsalter war niedrig angesetzt, genau deswegen: Damit die Großeltern für die Kindererziehung zur Verfügung standen. Den Sommer verbrachte die Familie dann meistens auf der Datscha, oder auf dem Dorf. Die Großeltern und Enkel den ganzen Sommer, die Eltern wochenendweise. Dazu gab es Ferienlager, wo den Kindern etwas beigebracht wurde, auch dort kamen die Pensionisten als Erzieher zum Einsatz.
Die alten Leute stolzierten – zumindest in der SU – teilweise durchs Dorf mit ihren Auszeichnungen aus dem Krieg, und waren geachtet für ihre Verdienste.
Die Institution des Altersheims war in den sozialistischen Staaten ziemlich unüblich. Die Alten wurden von ihren Familienmitgliedern zuhause betreut, notfalls auch mit institutioneller Unterstützung. Es gab zwar Institutionen, die sich der unbetreuten Alten annahmen, aber sie stellten die Ausnahme dar, waren also nicht sehr zahlreich. (Sie sahen manchmal, wie in Rumänien, sehr schlimm aus, aber waren eben eine Ausnahme, weil die meisten Alten zu Hause blieben.) Diese Institutionen waren den Krankenhäusern angegliedert, stellten also einen Teil des staatlichen Gesundheitswesens dar.
Heute ist dieses System dank des Einbruchs der Marktwirtschaft auf eine absurde Weise immer noch nötig. Es kümmern sich immer noch Großeltern um Kinder, die praktisch ohne Eltern aufwachsen, weil dies im Westen irgendwelchen Berufen nachgehen, um mit dem heimgeschickten Geld die Familie zu ernähren.
Die Frauen sind oftmals selber in der Alten- oder Kinderbetreuung eingesetzt, während in ihren Herkunftsländern diesbezüglich beides im Argen liegt. Die Männer gehen handwerklichen oder landwirtschaftlichen Tätigkeiten nach, während in ihren Heimatländern Felder unbestellt bleiben und Dächer nicht mehr repariert werden.
Die gesellschaftliche Reproduktion ist dort also unterbrochen bzw. prekär geworden, während in den alten Heimatländern der Marktwirtschaft die Familie überhaupt nicht mehr als Ort der gesellschaftlichen Reproduktion angesehen werden kann. Bei den Migranten, die diesbezüglich noch engere Familienbande pflegen, fehlt oft ein Teil ihrer Familie, ist zu Hause geblieben oder umgebracht worden.
Mit den Einheimischen von Kerneuropa ist die Lage schon seit geraumer Zeit noch schlimmer. Die Generationen und Geschlechter können nicht mehr miteinander umgehen. Eltern sind unzufrieden mit ihrer Brut, Gewalt in der Familie und die Scheidungsrate steigt ständig, alleinerziehende Mütter, Patchworkfamilien und in Armut aufwachsende Kinder prägen das Landschaftsbild. Dazu kommt die ständig geforderte Mobilität der Arbeitskraft, die zur Zerrüttung der Verwandtschaftsverhältnisse beiträgt: Die Eltern sitzen da, die Kinder dort, oft sind die Eltern geschieden und die Kinder auch, wodurch die Betreuung der Enkel durch die Großeltern endgültig scheitert – und statt der zerbröselnden Familienstrukturen müssen immer öfter die Institutionen herhalten. Kindergärten und Horte, Heime und die Fürsorge, Schulspeisung und Tagesbetreuung sind immer mehr im Einsatz, um die Jugend irgendwie zu betreuen, was für beide Seiten unerfreulich und stressig ist.
Die Jungen wie die Alten stören in einer Gesellschaft, die möglichst alle ihre Mitglieder ins Juggernaut-Rad des Kapitals einspannen will, damit Profite gemacht werden und die Nation dadurch vorankommt.
So kommt am Ende heraus:
3. Die Altersheime sind Parkplätze für gesellschaftlich Überflüssige
In diesem gesellschaftlichem Rahmen sind die Altersheime Abstellplätze für alte Leute, die keiner mehr braucht, die man aber aus verschiedenen Gründen nicht sich selbst überlassen und zu Hause oder auf der Straße sterben lassen will.
Die Sorge für die Alten und Kranken wird von den staatlichen Institutionen vor allem deshalb übernommen, damit die Lohnabhängigen und Arbeitsfähigen dem Kapital zur Verfügung stehen und nicht mit Pflegetätigkeiten beschäftigt sind. Außerdem hält es die arbeitende Menschheit bei Laune, zu wissen, daß man bei Arbeitsunfähigkeit nicht gleich über die Klippe gestoßen, sondern wieder gesundgepflegt wird.
Die Altersheime sind also ein unabdingbarer Bestandteil der, und ein Instrument für das Funktionieren der kapitalistischen Klassengesellschaft.
Natürlich kommen die lieben Verwandten zum Muttertag und Geburtstag, bringen Blumen und Kuchen, und freuen sich mit der lieben Oma oder dem Opa, aber Hand aufs Herz: Die meisten sind froh, die Alten den Rest des Jahres los zu sein.
Man kann sie ja auch mit gutem Gewissen dort lassen, sie werden dort viel besser betreut, man selbst hat die Zeit ja gar nicht, – bei der inzwischen legal eingeführten 60-Stunden-Woche auch verständlich – und die Verwandtschaft zahlt zur Not auch einiges, um ihren lieben Vorfahren gut aufgehoben zu wissen.
So ist heute der Bedarf an Altenbetreuungsstätten dementsprechend groß und die Marktwirtschaft hat sich da ein neues Geschäftsfeld erschlossen: So wie es private Krankenhäuser gibt, in denen die Patienten für gutes Geld überbetreut und teilweise erst richtig krank gemacht werden, so gibt es auch private Altersheime, wo je nach Zahlungsfähigkeit von ganz grundlegenden bis zu gehobenen Bedürfnissen für die Insassen gesorgt wird.
Wenn manchmal ganz fürchterliche Mißstände in Altersheimen aufgedeckt werden, so kann man annehmen, daß es sich um solche für die unteren Einkommensklassen handelte. Dort schaut nämlich auch seltener ein Verwandter vorbei, um zu schauen, wie die Oma dort eigentlich behandelt wird.
Hierbei handelt es sich eher um staatliche Altersheime. Deren Qualität ist von Land zu Land verschieden, das hängt sowohl vom Zustand der Staatskasse als auch von den Prioritäten ab, die im betreffenden Land bezüglich der Verwendung öffentlicher Gelder gesetzt werden.
Die Altersheim-Betreiber machen, genauso wie ihre Klassenbrüder in Produktion und Handel, eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf und sparen, wo es geht, vor allem aber beim Personal. Das hat sowohl für die Betreuer als auch für die Betreuten Folgen. Viele Altersheim-Beschäftigte haben nämlich noch andere Jobs, sind überlastet und machen Fehler – geben z.B. dem einen die Medikamente, die für die andere vorgesehen sind – und sind schnell genervt mit besonders schwierigen oder pflegebedürftigen Patienten.
4. Die Altersheim-Bewohner wissen, daß sie überflüssig sind, oder: Was ist eigentlich „Demenz“?
Die meisten Leute, die diese Institutionen bewohnen, wissen, daß sie lästig und überflüssig sind. Die immer mehr um sich greifende Demenz muß auch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden.
Die beliebte Ausrede zur Erklärung dieses Phänomens ist: Die Leut werden halt immer älter!
Die gestiegene Lebenserwartung, ein Indikator für den Wohlstand eines Landes, wird hier als eine Art Problem, als Mangel besprochen. Es geht ihnen allen zu gut, sie leben zu lang! Und dann haben „wir“, die Jüngeren, das Gscher!
Daß immer mehr alte Leute dement werden, ihren Verstand aufgeben, ist überhaupt keiner wissenschaftlichen Untersuchung wert. Es wird als eine Art Naturerscheinung besprochen, obwohl es genug Erfahrungen aus Asien gibt, nicht nur von den Alten aus Okinawa, daß Menschen auch ein hohes Alter ohne Beeinträchtigung ihrer geistigen Fähigkeiten erreichen können.
Ähnlich wie mit anderen unerfreulichen Erscheinungen der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft, (wie z.B. der stetig steigenden Selbstmordrate), geht die Psychologie und andere Geisteswissenschaften der Erforschung der zunehmenden Demenz aus dem Weg. Sie wird zu einer rein körperlichen Degeneration erklärt, die mit dem Alter „halt“ irgendwie einhergeht. Und die dementen Alten werden in den Altersheimen abgestellt, wo sich dann schlecht bezahlte Pfleger(innen) mit ihnen abplagen müssen.
Man muß sich einmal in die Verfassung dieser alten Leute hineinversetzen, um die Demenz zu begreifen.
Sie haben jahrzehntelang in Betrieben gearbeitet oder Unternehmen geleitet. Entweder sind sie durch eintönige Beschäftigungen total verblödet und haben im Ruhestand den sogenannten „Pensionsschock“ erlitten: Ihre vorherige Beschäftigung ist weg, sie haben aber verlernt, ihre Zeit mit anderen Beschäftigungen auszufüllen.
Oder aber, sie hatten gesellschaftliche Ambitionen, die zuschanden geworden sind. Sie wollten ihre Unternehmen ausbauen, oder dem Betrieb dienen, mit dem sie sich als Angestellte identifiziert hatten, ihre Kinder reich oder zumindest irgendwie verheiraten, und sich über diese Erfolge selber feiern. Das ist daneben gegangen, jetzt sind sie Niemande, der Betrieb hat zugesperrt, und die Kinder sind Alkoholiker oder drogensüchtig, oder nach woanders ausgewandert, oder an ihnen, den Eltern, desinteressiert.
Die Enkelkinder befassen sich mit Internetspielen oder Kampfsportarten und haben auch kein Interesse an den Geschichten der Alten.
Die Demenz ist die einfachste oder zumindest wirkungsvollste Form, seinen Verstand an den Nagel zu hängen und sich von der unerfreulichen Wirklichkeit freizuspielen. Man entfernt sich schrittweise von den alltäglichen Notwendigkeiten, macht sich dabei nicht zu sehr unbeliebt, sondern zieht Verständnis und Mitleid auf sich, und haust sich ein in die Welt seiner Hirngespinste.
Der/die demente Alte hat sich zurückgezogen aus der realen Welt und wurde zu einer Art pflegeintensiven Pflanze, die von den Pfleger(inne)n irgendwie weitergebracht wird.
Es ist verständlich, daß auch das Pflegepersonal mit diesen Menschen überfordert ist – um so mehr, als ihre Ausbildung, sofern vorhanden, ihnen kein Rüstzeug mit dem Umgang mit diesen Aussteigern aus der Konkurrenzgesellschaft mitgibt. Wie denn, wenn das Phänomen selbst gar nicht wissenschaftlich untersucht wird.
Ähnlich wie für die anderen zwar als solche eingestuften, aber nicht begriffenen „psychischen Krankheiten“ gibt es einen Haufen Medikamente, mit denen diese dementen Leute ruhiggestellt werden. Wenn wirklich Not am Mann ist, die Alten sich aufführen und zuwenig Personal da ist, so werden sie eben zugetörnt und festgebunden – auch wenn das gegen die Menschenrechte und das ganze PiPaPo verstößt.
Wenn man sich einmal bewußt gemacht hat, was Altersheime sind und wie die funktionieren, so ist es auch begreiflich, warum sie eine erhöhte Sterblichkeitsrate aufweisen. Das liegt nämlich nicht oder nur teilweise am Alter der Patienten.
5. Sind alte Menschen per se eine erhöhte Risikogruppe, oder liegt es nicht vielmehr an den Altersheimen?
So, rekapitulieren wir einmal: Da gibt es sozusagen geschlossene Einrichtungen, wo die Alten aufbewahrt werden. Natürlich können sie theoretisch hinaus, aber praktisch gehen sie höchstens im Garten spazieren, weil die restliche Welt wenig Interesse an ihnen hat. Sie sind also wie Kreuzfahrschiffe, Gefängnisse, Internate oder auch Krankenhäuser Institutionen mit einer Anzahl von Leuten, die Tag für Tag aneinander vorbeigehen, miteinander essen, wohnen usw. Wenn eine ansteckende Krankheit dort einmal eingedrungen ist, hat sie alle Gelegenheit, sich zu verbreiten.
Dazu kommt noch ein gesteigertes Hygienebedürfnis, weil die Alten sind oft inkontinent, brauchen mehr Bettwäsche und Reinigung überhaupt, und wenn da noch Krankheiten dazukommen, so unterbleibt aufgrund der knappen Kalkulation einiges an Putz- und Waschtätigkeit, was Infektionen begünstigt.
Schließlich sind diese Menschen wirklich krank. Abgesehen von anderen Vorerkrankungen wie Diabetes, Rheuma, Arthritis usw. verschlechtert die Demenz selbst den körperlichen Zustand derer, die sie an sich hervorgebracht haben. Das Gehirn ist nämlich nicht nur der Ort, an dem geistige Tätigkeit stattfindet, wie Wahrnehmung, Vorstellung, Einbildung usw., sondern dort findet auch die Steuerung des gesamten Stoffwechsels statt. Wenn die eingehenden Informationen dort oben nicht mehr richtig verarbeitet werden und keine Befehle von dort in den Gliedmaßen und dem Verdauungsapparat mehr ankommen, so verfällt der Körper. Und das macht diese Leute noch anfälliger, weil auch das Immunsystem nicht mehr richtig funktioniert.
Die Infektionen kommen von außen auch leicht hinein in die Altersheime. Es nutzt wenig, Besuche von Verwandten zu untersagen, um die Ansteckungsgefahr hintanzuhalten. Es sind ja die Pfleger, die das Virus in die Altersheime hineingetragen haben, und aufgrund dessen, wie diese Heime funktionieren, schiebt sich da mit Abstandhalten überhaupt nichts. Um sich und ihre Betreuten vor Ansteckung zu schützen, würden sie genausolche Schutzanzüge benötigen, wie sie in Intensivstationen verwendet wurden.
Abgesehen davon, daß zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Coronavirus-Pandemie nicht einmal die einfachste Schutzkleidung da war wie Masken oder Handschuhe, also weder in den Krankenhäusern oder Sanatorien, noch in den Altersheimen in ausreichender Quantität zur Verfügung stand, gibt und gab es noch andere Gründe, die nicht anzuziehen.
Es ist nämlich nicht so, daß die Dementen nichts mitkriegen, von den Nicht-Dementen ganz zu schweigen. Wenn auf einmal die Pflegekraft mit einem Mundschutz und Handschuhen daherkommt, oder gar mit einem Schutzanzug, so entsteht bei den Alten Paranoia und Panik. Was ist los, sind die Außerirdischen eingedrungen? Verwandelt sich dieser Ort jetzt in eine endgültige Vernichtungsanstalt? Was rennt da ab? Verkleiden sich die Henker, damit man sie nicht mehr erkennt? – und sie flippen endgültig aus.
Man darf ja auch nicht vergessen, daß die Menschen, die heute um die 80 oder darüber sind, noch als Kinder und Jugendliche den Nationalsozialismus bzw. Faschismus und den Krieg miterlebt haben. Die Idee der Vernichtung „unwerten Lebens“ ist ihnen in irgendeiner Form geläufig.
Die Atemnot oder der Herzinfarkt oder der Schlaganfall entstehen dann gar nicht mehr durch die Ansteckung, die ist dafür nicht notwendig, sondern durch die psychische Übertragung der Pandemie.
Dazu kommt die Situation der Pfleger(innen). Die Leute infizieren sich selber, erkranken und bleiben entweder zu Hause oder landen im Krankenhaus. Die sowieso am personellen Limit funktionierenden Altersheime sind auf einmal wirklich unterbesetzt. Die restlichen Betreuer(innen) sind erstens überlastet, wissen aber auch, daß sie Gefahr ausgesetzt sind. Sie wissen, daß sie genauso eine „Risikogruppe“ sind, aufgrund ihres Jobs.
In einem kanadischen Altersheim blieben einfach alle Angestellten zu Hause oder tauchten unter, und überließen die Alten ihrem Schicksal. Da es ein Besuchsverbot gab, merkten Verwandte erst nach Tagen, was da ablief, da waren viele der Betreuten bereits wegen der Unterversorgung gestorben.
Es ist als nicht das biologische Alter, was ältere Menschen zu einer Risikogruppe macht, sondern die Art und Weise, wie das Altern in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft gehandhabt wird.