220 Gedanken zu “Imperialismus heute, Fortsetzung, 3.10.

  1. Wiso ist die Konkurrenz jetzt auf einmal entfesselt? Ist das was Neues oder ist das nur die neue Bezeichnung der guten alten Konkurrenz, wie sie imperialistische Staaten ja schon mehr als hundert Jahre betreiben?
    Wieso soll eigentlich gleich ein ganzes Jahrhundert für einen doch relativ kleineren und auch nicht sonderlich mächtigen Staat wie die Türkei angefangen haben? Bloß, weil der in den letzten Jahren zunehmend mehr in seinen Nachbarstaaten massiv interveniert hat, jetzt eben auch im Kaukasus?
    Welche “alten” Weltmächte sind denn bisher “abgestiegen”, wer steht im Augenblick “oben” und wer will da erst hin?

  2. Dass die EU in sich reichlich zerstritten ist, wird hier u.a. auch zum Thema
    https://www.jungewelt.de/artikel/387583.selbstherrlicher-auftritt.html
    Und dass aus Wirtschaftsmacht eigentlich mehr politische Schlagkraft werden solle, bleibt dabei allenthalben zwar ein Evergreen. Dass solch politischer Einfluss aber dann wieder vornehmlich national genutzt wird, – das wissen auch europäische Politiker, wenn sie über die Wunschvorstellung einer “Europäisierung” des französischen Sitzes im Sicherheitsrat der UNO spekulieren ….
    https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/interview/alexander-stubb-die-eu-wirtschaftspolitik-als-machtinstrument-verstehen/

  3. @Neoprene
    Das “Jahrhundert der Türkei” bezieht sich auf die Hoffnung Turgut Özals, der diesen Traum hatte – Erdogan versucht ihn jetzt offenbar umzusetzen, aufgerüstet hat die Türkei im letzten Jahrzehnt ja wirklich heftig.
    (Siehe bezüglich Einfluß in der islamischen Welt hier.)
    Also ob die Türkei wirklich zur regionalen Großmacht aufsteigt, ist noch nicht heraußen, der Ehrgeiz diesbezüglich ist jedenfalls vorhanden, und auch an Mitteln fehlt es nicht.
    Dazu kommt der relativ trostlose Zustand der Nachbarstaaten, und die Uneinigkeit zwischen den alten Weltmächten.
    Bei den USA und der EU sind wir doch jeden Tag Zeugen, wie sich die gegen ihren Abstieg wehren und außenpolitisch groß auf die Pauke hauen, während sie gleichzeitig intern zerbröseln.

  4. Ja, daß anspruchsvolle Nationalisten allenthalben jeweils ihr Jahrhundert hebei sehnen, ist wohl so. Meinetwegen auch bei den türkischen Nationalisten. Aber wieso bei dir auch?
    Ob die Türkei wirklich die Mittel hat für eine Stellung als regionale Großmacht, scheint mir überhaupt nicht festzustehen. Denn die nationale Wirtschaft, die eine nationale Kriegspolitik unterfüttern muß, steht ja alles andere als solide da. Wenn die Türkei ernstlich gegen Interessen der NATO, USA und der EU vorgehen würde, könnten diese Staaten schon noch eine Schippe drauf legen an Maßnahmen gegen die Türkei.
    Daß die USA nicht mehr so dastehen wie noch in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, das will ich gar nicht bestreiten. Aber waren die EU-Staaten, eigentlich ja nur die großen EU-Staaten, wirklich nach dem zweiten Weltkrieg noch Großmächte? Liegt da der Abstieg nicht schon hinter diesen Staaten? Auch der Versuch, mit einer großen einigen EU endlich wieder mitspielen zu können, ist ja wohl vorerst gegen die Wand der nationalen Antagonismen gefahren, aller Macron- oder Maas-Sprüche zum Trotz.
    Nochmal meine Ausgangsfragen von oben:
    “Wieso ist die Konkurrenz jetzt auf einmal entfesselt? Ist das was Neues oder ist das nur die neue Bezeichnung der guten alten Konkurrenz, wie sie imperialistische Staaten ja schon mehr als hundert Jahre betreiben?”

  5. @Neoprene

    steht ja alles andere als solide da.

    Welche Ökonomie steht heute schon “solide” da? Da ist die Türkei wahrlich keine Ausnahme.

    Wenn die Türkei ernstlich gegen Interessen der NATO, USA und der EU vorgehen würde

    Wie würde das denn aussehen?
    Sie geht doch schon gegen deren Interessen vor, und kann da durchaus noch zulegen.

    könnten diese Staaten schon noch eine Schippe drauf legen an Maßnahmen gegen die Türkei.

    Die Logik der Möglichkeit ist halt immer ein schlechter Ausgangspunkt. Könnten. Wie denn? Wer denn?
    Und die ganzen “Maßnahmen”, mit denen die alten Mächte wichtig fuchteln, richten zwar Schaden an, bringen aber nicht den erwünschten System Change, das hat sich von Kuba über Syrien bis Rußland und dem Iran doch längst erwiesen.
    Was die Großmachtambitionen in Europa angeht, so ist es ganz verfehlt, bis zum 2. Weltkrieg zurückzugehen. Maastricht 1991 ist als Maßstab zu nehmen, und demgegenüber ist bei der EU die Luft draußen.

  6. Suitbert Cechura: Das „Geisterschiff“ der Flüchtlingsdebatte
    Von vollen Booten und anderen Sachzwängen, die angeblich zur nationalen Selbstgenügsamkeit verpflichten
    Wer die Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung kritisiert, fängt sich oft den Vorwurf ein, er sei ein weltfremder Moralist und Spinner, der die banale Tatsache übersieht, dass nicht alle Elenden dieser Welt nach Deutschland kommen können. Das Boot ist voll, heißt dann das einschlägige Schlagwort, mit dem die angeblichen Realisten deutlich machen wollen, dass die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen oder Migranten nicht geht, Deutschland bereits jetzt überfordert ist und daher solche Forderungen als illusionär oder verantwortungslos abzulehnen seien. Der zuständige Minister Horst Seehofer drückt den gleichen Sachverhalt etwas vornehmer aus:
    „Es muss endlich aufhören, dass der Eindruck erweckt wird, nur wer für unbegrenzte Aufnahme ist, habe ein Herz, und wer für kluges, überlegtes Handeln, für Begrenzung und Steuerung von Migration eintritt, sei ein herzloser Unmensch. Ich kann das für die gesamte Bundesregierung sagen: Wir haben ein weites Herz, aber wir haben keine unbegrenzten Möglichkeiten, Flüchtlinge aufzunehmen. Wir haben uns für eine Aufnahme einer verantwortbaren Anzahl von besonders Schutzbedürftigen, nämlich Familien mit Kindern, entschieden.“
    Horst Seehofer, Bild am Sonntag, 20.9.2020
    Das mehr oder weniger volle Boot
    Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg
    Die treiben die Mietpreise hoch
    Durch die Ausländer steigt die Kriminalität
    Die untergraben unsere Moral
    Fazit
    Gute Argumente für ihr Deutschsein und ihre Ausländerfeindschaft finden sich offenbar nicht, sonst müssten die Kritiker sie nicht an den Haaren herbeiziehen. Ihr Vorurteil kommt auch nicht daher, dass sie regelmäßig die Arbeitsmarkt- oder Kriminalstatistik studieren oder dem Sittenverfall auf den Grund gehen. Sie wiegen sich vielmehr in der Sicherheit, dass Deutschland „ihr“ Land ist.
    Ihr Traum von einer echten Volksgemeinschaft geht aber nur, wenn sie von allen bestehenden Gegensätzen und Unterschieden in der deutschen Bevölkerung absehen. Was haben die Meiers und Schmitzens denn schon mit den Aldis, Schaefflers, Quants und wie die Clans alle heißen gemeinsam? Die einen müssen zusehen, wie sie mit ihrem Einkommen durch Arbeit über die Runden kommen, während die anderen ihr Geld arbeiten lassen und in Luxus leben.
    Die Gemeinsamkeit dieser ganz verschiedenen sozialen Charaktere besteht im deutschen Pass – eine Gemeinsamkeit, die durch Gesetze, also Gewalt, geregelt ist. Und das soll die positive Grundlage für eine Gemeinschaft bilden? Wo man sich ganz heimisch fühlt und im vertrauten Umgang mit Seinesgleichen ist? Verräterisch ist da ja schon das Bild von der Gemeinschaft, die sich in einem Boot auf hoher See gegen die Widrigkeiten der Natur behaupten soll – ein Bild, das auch von den wirklichen Unterschieden auf einem Schiff absieht. Denn dort befinden sich ja einige auf der Brücke und befehlen, während die übrigen an oder unter Deck rudern bzw. arbeiten müssen. Der nationalistische Gemeinschaftstraum verlangt in der Tat dem Realitätssinn einiges ab! (Suitbert Cechura)
    https://www.heise.de/tp/features/Das-Geisterschiff-der-Fluechtlingsdebatte-4916741.html

  7. “Welche Ökonomie steht heute schon „solide“ da? Da ist die Türkei wahrlich keine Ausnahme.”

    Das ist sicherlich richtig. Aber wenn ein Staat, dessen Währung z.B. schon seit Längerem massiv unter Preisverfall leidet, sich dann nach Meinung zumindest der Finanzmärkte auch noch “zuviel” Rüstungs leistet, dann kann das das Finanzwesen dort massiv beeinträchtigen.

    “Sie geht doch schon gegen deren Interessen vor, und kann da durchaus noch zulegen.”

    Wohl wahr, aber ich habe “ernstlich” betont. Noch sind das eher nur Ärgerlichkeiten für Merkel, Macron und Trump, die offenbar als hinnehmbar angesehen werden. Wenn Erdogan aber wirklich noch “mehr” auf die nationale Tube drückt, könnte sich das schon ändern. Die Türkei ist übrigens trotz aller offensichtlichen Anstrengungen noch lange nicht autark, was ihr Kriegsgerät angeht.

    “die ganzen „Maßnahmen“, mit denen die alten Mächte wichtig fuchteln, richten zwar Schaden an, bringen aber nicht den erwünschten System Change, das hat sich von Kuba über Syrien bis Rußland und dem Iran doch längst erwiesen.”

    Nun ja, ein paar “Erfolge” gab es schon: Saddam Hussein ist weg, Gaddafi auch. Und auch unterhalb eines Regime Change haben die imperialistischen Semikriegsaktionen in vielen Staaten viel kaputt gekriegt.
    Ich halte es für völlig verfehlt, in der ganzen imperialistischen Welt nur noch Papiertiger zu sehen, denen gegenüber ein kleinerer Staat nur auf sein “Recht” pochen müßte und schon hätte er Erfolg.

    “Was die Großmachtambitionen in Europa angeht, so ist es ganz verfehlt, bis zum 2. Weltkrieg zurückzugehen. Maastricht 1991 ist als Maßstab zu nehmen.

    Das halte ich wiederum für verfehlt: das ganze Projekt der europäischen Einigungen, die schon in den 50er Jahren angefangen haben, dienten bei allen teilnehmenden größeren Staaten dem Ziel, an die imperialistische Größe vor dem zweiten Weltkrieg wieder anknüpfen zu können, die seitdem von den USA und der Sowjetunion bestritten wurden. Der Kernpunkt war schon immer die Einsicht, daß jeder größere Staat einfach mittlerweile zu klein war, um wieder wirklich groß rauszukommen.

  8. “Die Gemeinsamkeit dieser ganz verschiedenen sozialen Charaktere besteht im deutschen Pass – eine Gemeinsamkeit, die durch Gesetze, also Gewalt, geregelt ist. Und das soll die positive Grundlage für eine Gemeinschaft bilden?”

    Wer hat das behauptet, dass der Pass oder die zugrunde liegende Gewalt die positive Grundlage der nationalen Gemeinschaft ist. Bloß das implizite Argument, dass es deswegen auch keine andere positive Grundlage für eine Gemeinschaft geben kann, ist und bleibt eben verkehrt.

    “Verräterisch ist da ja schon das Bild von der Gemeinschaft, die sich in einem Boot auf hoher See gegen die Widrigkeiten der Natur behaupten soll – ein Bild, das auch von den wirklichen Unterschieden auf einem Schiff absieht.”

    Nein, leider nicht verräterisch, sondern konsequent. Verraten hat sich nur einer, nämlich der Autor, der einen Widerspruch sieht wo keiner ist. Sprechen denn die hierarchischen Unterschiede auf einem Schiff tatsächlich dafür, dass es sich um keine Bootsmannschaft handelt, die sich nicht als irgendwie zusammengehörig betrachtet. Seit wann das denn? Was ist das denn für eine seltsame Vorstellung, dass eine Gemeinschaft nur dann existiert, wenn alle gleich sind, wenn es keine Hierarchie gibt. Sind die Christen keine Gemeinschaft weil es einen Papst und Bischöfe gibt. Ist eine Fußballmannschaft keine Gemeinschaft, weil sie einen Kapitän hat, ist ein Verein keine Gemeinschaft, weil es einen Vereinsvorsitzenden gibt. Ich könnte ewig so weitermachen. Die tatsächlich existierenden Gemeinschaften belegen schlagend, dass die meisten Gemeinschaften keineswegs die Gleichheit der Mitglieder erfordern und eine Hierarchie in einer Gemeinschaft nicht existieren darf.

    “Der nationalistische Gemeinschaftstraum verlangt in der Tat dem Realitätssinn einiges ab!”

    Ganz im Gegenteil. Diese Realität mit Hierarchien ist völlig normal im kapitalistischen Alltag. Herr Cechura hat sich bloß dazu entschlossen, die nationalistische Gemeinschaft nicht zur Kenntnis zu nehmen. Deshalb sprechen die Hierarchien in der nationalen Gemeinschaft auch dafür, dass es sich keinesfalls um eine Gemeinschaft handeln kann. Dabei braucht er bloß fast jede x-beliebige Gemeinschaft betrachten, um sich eines besseren belehren zu lassen.

  9. Zu den EU-internen Streitigkeiten …
    Bezüglich des internen Streites mit Zypern wg. Türkei-Sanktionen hat die EU sich anscheinend auf eine lauwarme Kompromissformel einigen können: “Man drohe…”
    https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/eu-gipfel-einigt-sich-nach-hartem-ringen-zu-tuerkei-und-belarus/
    Bezüglich des Streites mit den USA, dass man gefälligst sich in die Front gegen China einzureihen habe, stellt die BRD sich neben die polnische Regierung und deren Ausrichtung. Zumindestens verlautbarungsgemäß …
    https://www.euractiv.de/section/digitale-agenda/news/5g-und-huawei-us-regierung-lobt-deutsche-plaene/
    Dass diese Position auch von Frankreich, Italien, Griechenland geteilt würde, scheint mir eher unwahrscheinlich. Gerade z.B. Frankreich legt m.W. Wert auf die eigene nationale Ausrichtung ihrer strategischen Interessen. Da kommt Corona anscheinend gelegen, um dies europaweit auf die lange Bank schieben zu können …
    https://www.jungewelt.de/artikel/387624.europ%C3%A4ische-union-gipfel-der-strafen.html
    [Die darin vermerkten imperialistischen Positionierungen wird vermutlich NN mit seinen entspr. Links noch detailliert ausleuchten…]

  10. Eskalation im Kaukasus
    Berg-Karabach: Gegenseitiger Raketenbeschuss. Vorwurf türkischer Beteiligung, Ankara droht mit Angriff in Nordsyrien
    Von Nick Brauns
    Der Krieg im Kaukasus ist am Wochenende weiter eskaliert. Städte in Aserbaidschan und der armenischen Exklave Berg-Karabach gerieten unter Raketenbeschuss der jeweils anderen Seite. Aserbai­dschanische Truppen hatten vor einer Woche eine Offensive zur Rückeroberung von Berg-Karabach und weiterer Anfang der 90er Jahre von Armenien eingenommener Provinzen begonnen. Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan beschuldigte am Sonnabend die Türkei, mit 150 hochrangigen Offizieren, die die Militäroperationen Aserbaidschans leiten, direkt an der »beispiellosen Offensive« beteiligt zu sein. Zum Einsatz kommen auf aserbaidschanischer Seite auch dschihadistische Söldner, die vom türkischen Militär in Nordsyrien angeworben wurden.
    Die Regierung in Baku beschuldigte die armenischen Streitkräfte am Sonntag, die zweitgrößte aserbaidschanische Stadt Gandscha bombardiert zu haben. Während das Verteidigungsministerium in Jerewan jeglichen Beschuss Aserbaidschans von armenischem Territorium aus dementierte, erklärte der Präsident der international nicht anerkannten Republik Arzach, Arajik Harutjunjan, die Verteidigungskräfte von Berg-Karabach hätten einen Militärflughafen in Gandscha zerstört. Truppenstützpunkte in aserbaidschanischen Großstädten seien nun Ziele der Verteidigungskräfte von Arzach, verkündete Harutjunjan. Dies sei eine Reaktion auf den vorangegangenen Beschuss von Zivilisten in Stepanakert, der Hauptstadt von Arzach, durch aserbaidschanische Raketenwerfer. Während Aserbaidschan Geländegewinne am strategisch wichtigen Sarsang-Stausee meldete, gaben die armenischen Streitkräfte den Abschuss aserbaidschanischer Kampfflugzeuge bekannt. Unabhängige Bestätigungen liegen jeweils nicht vor.
    Russland, das eine Militärbasis in Armenien unterhält, aber über gute Beziehungen auch zu Aserbaidschan verfügt, will Friedenstruppen nur mit Einverständnis von Jerewan und Baku in die Krisenregion entsenden. Das erklärte Regierungssprecher Dmitri Peskow am Sonnabend.
    Als »schwarze Propaganda« wies derweil der Oberkommandierende der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Murat Karayilan von türkischen Regierungsmedien verbreitete Meldungen zurück, wonach Hunderte kurdische Guerillakämpfer nach Berg-Karabach entsendet wurden. Als »Beweis« hatte der Sender CNN Türk ein Foto von PKK-Kämpfern mit einer im Rahmen einer Solidaritätsbotschaft überreichten Fahne der früheren kolumbianischen Guerilla FARC-EP präsentiert, die farblich der armenischen Nationalflagge ähnelt.
    Angesichts der militärstrategischen Bedeutung der osttürkischen Provinz Kars zielt ein am Freitag ergangener Haftbefehl gegen den früheren von der linken HDP gestellten Bürgermeister Ayhan Bilgen so auch auf die Schwächung antimilitaristischen Widerstands in dieser Grenzregion zu Armenien. Die gleichnamige Provinzhauptstadt war von Ankara einem staatlichen Zwangsverwalter unterstellt worden.
    Derweil bereitet sich die Türkei rund ein Jahr nach ihrem letzten großen Einmarsch in Nordsyrien auf einen neuen Angriff gegen die dortige Autonomieregion Rojava vor. »Sollten die Terrorgebiete nicht wie versprochen gesäubert werden, nehmen wir die Sache selbst in die Hand«, drohte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am Sonnabend an. Die kurdische Nachrichtenagentur ANF meldete schon türkische Truppenverschiebungen in den bereits besetzten syrischen Gebieten.
    Söldner im Einsatz
    Berg-Karabach: Türkei lässt syrische Kämpfer für eigene Interessen kämpfen
    Von Emre Sahin
    Der Verdacht, die Türkei rekrutiere syrische Söldner für eigene geopolitische Ziele und lasse sie in verschiedenen Ländern kämpfen – etwa in Libyen – steht schon länger im Raum. Der Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Berg-Karabach hat jedoch dazu geführt, dass westliche Politiker aussprechen, was sonst wohl eher nur in geheimen diplomatischen Treffen gesagt wird: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärte am Donnerstag im Vorfeld des EU-Gipfels, Paris habe Hinweise, dass Ankara »syrische Kämpfer von dschihadistischen Gruppen« nach Aserbaidschan verlege.
    Ähnliche Vorwürfe machte zuvor schon der armenische Präsident Nikol Paschinjan. Am Sonntag wiederholte er diese in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt. Demnach machen gefallene syrische Söldner 30 Prozent der Verluste auf aserbaidschanischer Seite aus. Die Türkei habe sie mit falschen Versprechen geködert. Ankara sei der eigentliche Hauptverantwortliche der Eskalation, so der Staatschef. Insgesamt sollen es 4.000 sein, berief sich die britische Tageszeitung Guardian am 28. September auf Paschinjans.
    Zwar leugnen türkische Offizielle den Export von Kämpfern, doch selbst in einem Papier des deutschen BND hieß es 2016, dass sich die Türkei zu einer »zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen« entwickelt habe und diese unterstütze. Auffällig ist aber auch, dass sich neben islamistischen Milizangehörigen einfache Syrer den Kämpfen anschließen. Ihre Motivation ist nicht ideologisch bedingt wie der »Dschihad« gegen christliche Armenier, sondern hat finanzielle Gründe: Zwischen 7.000 und 10.000 türkische Lira (umgerechnet etwa 770 bis 1.100 Euro) sollen sie bei Auslandseinsätzen verdienen, schrieb der Guardian. Das Kämpfen in Syrien bringe hingegen monatlich nur 450 bis 550 türkische Lira ein.
    Die Tageszeitung beruft sich in dem Artikel auf mehrere Gesprächspartner. Diese erklärten, sie hätten zudem von Kämpfen nichts gewusst. Eine türkische Sicherheitsfirma, dessen Namen sie nicht kennen würden, habe sie in der seit März 2018 von der Türkei besetzten kurdischen Stadt Afrin trainiert. Ihnen sei gesagt worden, sie würden nur »assistieren« und »patrouillieren«. Außerdem hätten sie nicht gewusst, wie lange der Einsatz dauern würde.
    Bei der besagten »Sicherheitsfirma« könnte es sich um Sadat handeln, die vom ehemaligen türkischen Brigadegeneral Adnan Tanriverdi geleitet wird. 1996 wurde er aufgrund islamistischer Ansichten in den Ruhestand zwangsversetzt. Seinen Idealen von vor knapp 25 Jahren ist er treu geblieben. Auf der englischsprachigen Homepage von Sadat ist das Ziel aufgeführt, der »islamischen Welt dabei zu helfen, den Platz in der Welt einzunehmen, der ihr zusteht«. Bis Januar 2020 war Tanriverdi lange Jahre »Militärberater« des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er musste aufgrund einer Rede, die unter anderem in der Regierungspartei AKP für viel Kritik gesorgt hatte, zurücktreten.
    Die türkische Regierung weiß die Aktivitäten des Unternehmens Sadat zu schätzen: strategische Gewinne für das Land, ohne den Verlust von türkischen Soldaten, wodurch die Regierung innenpolitisch nicht unter Druck gerät und nur schwer offiziell belangt werden kann. In Libyen haben die Söldner Ankaras den Verbündeten der »Nationalen Konsensregierung« (GNA) in Tripolis geholfen, die militärische Niederlage gegen die »Libysche Nationalarmee« (LNA) abzuwenden. Private Sicherheitsfirmen wie Sadat sind jedoch kein Einzelfall.
    Russland dürfte der Einsatz der türkischen Söldner jedenfalls nicht gefallen. Die russische Republik Dagestan hat große Probleme mit Islamisten und grenzt an Aserbaidschan. Deshalb wird zum Teil auch spekuliert, ob die Türkei nicht absichtlich einen Brandherd vor Moskaus Haustür schaffen will, um im Gegenzug Zugeständnisse Russlands in Libyen zu erhalten. Dort unterstützt Moskau die LNA.
    IS-Anhänger kommen frei
    Rojava überfordert: Zehntausende syrische Gefangene entlassen. Internationale Hilfe bleibt aus
    Von Nick Brauns
    Zehntausende syrische Anhängerinnen und Anhänger der dschihadistischen Organisation »Islamischer Staat« (IS), die teilweise seit mehreren Jahren im ostsyrischen Internierungslager Al-Hol bei Hasaka festgehalten werden, kommen frei. Das verkündete die Kovorsitzende des Exekutivausschusses vom Syrischen Demokratische Rat (SDR), Ilham Ahmed, am Montag auf einer Pressekonferenz in der Stadt Rakka. Der SDR repräsentiert die mehrheitlich kurdische Selbstverwaltungsregion von Nord- und Ostsyrien – auch Rojava genannt – nach außen und stellt faktisch das politische Gegenstück zur multiethnischen Militärallianz der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDK) dar.
    25.000 in Al-Hol internierte syrische Staatsbürger, darunter insbesondere Frauen und Minderjährige, werden von einer Generalamnestie profitieren, die die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien beschlossen hat. Hintergrund dieser überraschenden Entscheidung sind die wachsenden Schwierigkeiten der mit Zehntausenden internierten IS-Anhängern weitgehend allein gelassen Selbstverwaltung, diese weiter zu versorgen und zu bewachen. Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten im Camp und anderen Gefängnissen und Lagern für IS-Anhänger zu Revolten, Ausbruchsversuchen und auch erfolgreichen Fluchten – unter anderem mit Hilfe des türkischen Geheimdienstes.
    Vergeblich hatte die Autonomieverwaltung die Herkunftsländer der zahlreichen ausländischen Dschihadisten aufgefordert, diese zurückzunehmen und bei sich vor Gericht zu stellen. Indem die syrischen IS-Angehörigen nun freikommen, will sich die Selbstverwaltung auf die als besonders gefährlich eingestuften ausländischen Islamisten konzentrieren und in Tribunalen vor Ort aburteilen. Alleine im Lager Al-Hol befinden sich rund 10.500 ausländische IS-Frauen und deren Kinder.
    Doch mit der Freilassung von Syrern kommt die Selbstverwaltung auch einer Forderung arabischer Stämme nach, die unter anderem um Deir Al-Sor leben. Dort hatten die Dschihadisten bis März 2019 noch Territorien kontrolliert. In den vergangenen Monaten war es mehrfach zu teils militanten Protesten gegen die SDK gekommen.
    Hintergrund waren neben Klagen über die schlechte Versorgungslage und Morde unbekannter Täter an Stammesführern insbesondere die andauernden Antiterroroperationen der SDK und der mit ihnen verbündeten US-Spezialeinheiten gegen IS-Schläferzellen. Bei diesen kamen immer wieder auch unbeteiligte Stammesangehörige zu Schaden oder wurden inhaftiert. Bei Gesprächen der Militärallianz mit örtlichen Führern, die zur Beruhigung der Lage in der Region geführt hatten, war die Forderung nach Freilassung von inhaftierten Stammesangehörigen laut geworden.
    Kriegsfaktor Wirtschaft
    Im Berg-Karabach-Konflikt stehen sich das ökonomisch stärkste und schwächste Land des Südkaukasus gegenüber
    Von Reinhard Lauterbach
    Im wieder aufgeflammten Krieg um Berg-Karabach kann sich Aserbaidschan einen langen Atem leisten. Das Land ist dank seiner reichen Öl- und Gasvorkommen die bei weitem stärkste Volkswirtschaft des Südkaukasus – auch wenn die Einnahmen stark mit dem Öl- und Gaspreis schwanken. Zwar sind Pro-Kopf-Zahlen immer von begrenzter Aussagekraft, weil sie Ungleichheiten in der Einkommensverteilung ignorieren, aber die Größenordnungen sprechen für sich: In Aserbaidschan war nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 2017 mit 17.500 US-Dollar fast doppelt so hoch wie das in Armenien, wo dieselbe Kennziffer im gleichen Bezugsjahr bei nur 9.500 US-Dollar lag. Aserbaidschan kann noch aus einem anderen Grund zuversichtlich in seine finanzielle Zukunft blicken: Noch in diesem Herbst soll eine zweite Gaspipeline in die Türkei fertiggestellt werden, auf deren Gasmarkt das Land am Kaspischen Meer in diesem Jahr 23,5 Prozent des Bedarfs liefert – weit mehr als Russland mit seinen beiden Schwarzmeerpipelines »Turkish Stream« und »Blue ­Stream«. Ebenfalls kurz vor der Fertigstellung steht eine Anschlussleitung von der Türkei durch Nordgriechenland und Albanien bis nach Süditalien, die von der EU ausdrücklich gefördert wurde und die Einnahmesituation Aserbaidschans stabilisieren wird.
    Im Unterschied hierzu pfeift Armenien aus dem sprichwörtlich letzten Loch. Gleichwohl hat das Land gerade unter Ministerpräsident Nikol Paschinjan seinen Militärhaushalt innerhalb von zwei Jahren von 395 auf 680 Millionen US-Dollar erhöht. Allein für dieses Jahr hat Paschinjan die Militärausgaben um weitere 25 Prozent gesteigert. Bei einem Gesamtvolumen des armenischen Haushalts von knapp drei Milliarden US-Dollar geht also fast jeder vierte an das armenische Militär – einschließlich der Streitkräfte von Berg-Karabach, die wie die ganze Republik überwiegend von Armenien finanziert werden.
    Aktuell leiden beide Länder unter den Folgen der Pandemie. Allerdings wirken sie sich in Armenien stärker aus. Denn während in Aserbaidschan die Rückgänge durch die gesunkene internationale Nachfrage nach Öl und Gas bestimmt werden und die Nationalbank diese bisher durch den Rückgriff auf in besseren Jahren gesammelte Reservefonds ausgleichen konnte, hängt das armenische ­Budget wesentlich direkter an Faktoren, die durch die Pandemie beeinflusst werden. Die armenischen Steuereinnahmen haben die Bedürfnisse des Staatshaushaltes seit der Unabhängigkeit noch nie gedeckt. Im ersten Halbjahr dieses Jahres sind sie um zweistellige Werte eingebrochen: das Aufkommen aus der Gewinnsteuer zum Beispiel um 41 Prozent. Die Zahlungsbilanz wird regelmäßig durch private Übertragungen geschönt, die im übrigen für eine latente Überbewertung der armenischen Währung sorgen, die die Exporte verteuert. Diese Überweisungen etwa von armenischen Migranten, die in Russland arbeiten, sind allerdings in diesem Jahr bis zum August um fast 30 Prozent zurückgegangen – eine Folge der Coronakrise in Russland selbst, die die Masseneinkommen dort hat einbrechen lassen. Etwas stabiler, aber mit einem Minus von 15 Prozent seit Jahresbeginn ebenfalls im negativen Bereich, sind die Überweisungen und Spenden der armenischen Diaspora in Westeuropa und den USA. Hinzu kommen die unmittelbaren Folgen der Pandemie. Der Lockdown ist in Armenien Mitte März verkündet und erst Anfang September aufgehoben worden. Das hat den Tourismus, eine der wenigen echten Wachstumsbranchen des Landes, in diesem Jahr praktisch zum Erliegen gebracht. Dabei hatte er noch 2019 gegenüber dem Vorjahr einen Zuwachs um 19 Prozent verzeichnet.
    Unter diesen Rahmenbedingungen wird es mehr als ein Detail sein, ob der IWF Armenien im Laufe dieses Jahres frische Kredite gewährt. Denn in die kriselnde Volkswirtschaft des Landes weiter zu investieren, ist auch ein politisches Signal, dass die im IWF tonangebenden USA gewillt sind, das Land weiter ökonomisch am Leben zu halten, obwohl es nach allen nachvollziehbaren Kennziffern einen Krieg führt, den es sich nicht ansatzweise leisten kann.

  11. Konfrontation zwischen Russland und Deutschland im Nawalny-Fall?
    Bundesregierung droht Russland mit neuen Sanktionen nach OPCW-Befund, Moskau könnte, da die Bundesregierung nicht auf eine offizielle Anfrage nach dem Chemiewaffenabkommen reagiert hat, eine OPCW-Inspektion in Deutschland verlangen
    “Macht die Russische Föderation verantwortlich”: Russische Journalistin starb nach Selbstverbrennung
    Einen Tag zuvor fand bei Irina Slavina eine Hausdurchsuchung statt, die russische Oppositionelle als Motiv für den Selbstmord verantwortlich machen. Wollte sie nach Nawalny mit ihrem Tod ein Fanal setzen?
    Eine Ikone des Westens
    Merkel empfängt belarussische Exil-Oppositionspolitikerin im Kanzleramt. Experten warnen vor offener Einmischung Berlins und der EU.
    BERLIN/MINSK/WARSCHAU (Eigener Bericht) – Mit einem Empfang der belarussischen Exil-Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja im Bundeskanzleramt weitet die Bundesregierung ihre Bemühungen um einen Machtwechsel in Belarus aus. Tichanowskaja hat begonnen, mit der Ernennung unter anderem eines “Beauftragten für Wirtschaftsreformen” den Kern einer Art Exilregierung zu formen. Ein Zusammentreffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am morgigen Dienstag soll die Berliner Unterstützung für sie verstärken und die Proteste in Belarus gegen die Regierung von Präsident Alexander Lukaschenko zusätzlich befeuern. Experten auch aus der EU warnen allerdings, die Maßnahme sei “ein zweischneidiges Schwert”; weil eine klare Mehrheit der belarussischen Bevölkerung eng an Russland orientiert sei, könne eine allzu offene Einmischung Berlins und der EU kontraproduktiv wirken: Tichanowskaja dürfe “keine westliche Ikone”, sie müsse “eine belarussische Ikone” sein. Eine belarussische Oppositionsanführerin hatte aus diesem Grund bereits vor EU-Sanktionen gewarnt, wie sie am Freitag beschlossen wurden.
    EU-Sanktionen
    Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten auf ihrem Gipfeltreffen am Freitag Sanktionen gegen Belarus beschlossen – mit mehrwöchiger Verzögerung, da Zypern zuvor ein Veto eingelegt hatte. Das Land verlangt Sanktionen gegen die Türkei, weil diese Forschungsschiffe in Gewässern nach Erdgas suchen lässt, die Nikosia für sich beansprucht; die zyprische Regierung kann sich dabei immerhin darauf berufen, dass die EU stets behauptet, ihre Mitglieder gegen äußere Übergriffe zu verteidigen. Neue Strafmaßnahmen gegen Ankara liefen aber den Interessen der Bundesrepublik zuwider (german-foreign-policy.com berichtete [1]); Berlin hat sie deshalb konsequent verhindert. Am Freitag sah sich Zypern genötigt, die Forderung nach Türkei-Sanktionen zum Schutz seiner territorialen Integrität zurückzustellen und sein Veto preiszugeben, um dem deutschen Interesse an Zwangsmaßnahmen gegen Belarus den Vorrang einzuräumen. Umgehend verhängte die Union Sanktionen gegen rund 40 belarussische Funktionsträger, denen vorgeworfen wird, Verantwortung für mutmaßliche Wahlfälschungen zu tragen. Präsident Alexander Lukaschenko bleibt vorläufig ausgenommen; das könne sich jedoch noch ändern, wird EU-Ratspräsident Charles Michel zitiert.
    Kern einer Exilregierung
    Im Machtkampf um Belarus geht die Bundesregierung nun den nächsten Schritt: Am morgigen Dienstag wird Bundeskanzlerin Angela Merkel Swetlana Tichanowskaja in Berlin empfangen, die im Westen prominenteste Anführerin der belarussischen Opposition, die seit August in der EU im Exil lebt. Tichanowskaja, die den Anspruch erhebt, die belarussische Präsidentschaftswahl am 9. August gewonnen zu haben, hat kürzlich begonnen, mit der Ernennung eines “Beauftragten für Wirtschaftsreformen” sowie eines “Beauftragten für Menschenrechtsfragen” einen Kern einer Art Exilregierung zu formen.[2] Bereits zuvor hatte ihr die polnische Regierung ein Haus in einem Diplomatenviertel in Warschau zur Verfügung gestellt, das von Beobachtern als infrastrukturelles Zentrum einer belarussischen Exilregierung eingestuft wird. Von Polen aus wird die prowestliche Opposition in Belarus bereits mit einem Fernseh- (Belsat TV) und einem Radiosender (Radio Racja) unterstützt; Belsat zählt die Außenministerien Polens, Litauens sowie der USA, die EU-Kommission und die regierungsfinanzierte Deutsche Welle zu seinen zentralen “Partnern”. Dem Belsat-Umfeld wird nicht zuletzt der in Polen lebende Blogger Stepan Putilo zugerechnet, der mit dem Telegram-Kanal “Nexta” als einer der bedeutendsten Organisatoren der Opposition gilt.[3] Tichanowskaja hatte sich bereits vergangenen Dienstag mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron getroffen; für Mittwoch ist ein Termin bei Außenminister Heiko Maas geplant.
    Eng an Russland orientiert
    Der öffentlichkeitswirksame Empfang für Tichanowskaja in Berlin gilt unter Experten als recht zweischneidiges Schwert. Faktisch ohne jegliche Chance, auf dem Verhandlungsweg auf Präsident Lukaschenko Einfluss zu nehmen, verstärkt die Bundesregierung nun sichtbar ihre Unterstützung für die Opposition – während in der belarussischen Gesamtbevölkerung eine Mehrheit für eine einseitige Parteinahme zugunsten der EU und gegen Russland nicht in Sicht ist. Umfragen zufolge sprachen sich im August 2019 rund zwei Drittel der Bevölkerung dafür aus, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland zu stärken; kaum ein Drittel wünschte eine engere Kooperation mit Deutschland.[4] Vor die Wahl gestellt, sich zwischen einer Union mit Russland und einer mit der EU entscheiden zu sollen, votierten lediglich 25 Prozent für die EU, 54,5 Prozent hingegen für Russland. Selbst eine Umfrage unter in Großstädten lebenden jungen Menschen zwischen 16 und 34 Jahren kam zu dem Ergebnis, dass nur eine Minderheit – 9,1 Prozent – engere Bindungen an die Bundesrepublik wünschte, während 36,8 Prozent – mit großem Abstand der Spitzenwert – sich für intensivere Beziehungen zu Russland aussprach. Im Bemühen, sich nicht zu isolieren, lehnt die Führung der belarussischen Opposition eine offene Parteinahme für die EU bislang ab.
    “Ein zweischneidiges Schwert”
    Mit Blick darauf hieß es bislang auch in Berlin offiziell stets, man wolle eine geostrategische Polarisierung in Belarus vermeiden; noch am Mittwoch forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Dialog zwischen der Minsker Regierung und der Opposition – “ohne Einmischung von Osten oder Westen”.[5] Mit dem Empfang für Tichanowskaja interveniert Berlin jetzt offener denn je in den belarussischen Machtkampf. Bereits Ende August hatte Marija Kolesnikowa, gleichfalls eine führende Regierungsgegnerin, explizit gewarnt, mit Sanktionen und anderen Formen direkter Einmischung erweise die EU der belarussischen Opposition “einen Bärendienst”.[6] Jetzt stuft eine Expertin des Pariser Institut français des relations internationales (ifri) die Entscheidung für den Tichanowskaja-Empfang als “gefährlich” ein: Derlei Zusammenkünfte bestärkten den Vorwurf, der Westen mische sich in Belarus ein, konstatiert Tatiana Kastouéva-Jean. Auch in Diplomatenkreisen heißt es, Tichanowskaja dürfe “keine westliche Ikone” werden: “Sie sollte stattdessen eine belarussische Ikone sein.”[7] Andernfalls laufe die belarussische Opposition akut Gefahr, als eine klar geostrategisch motivierte politische Kraft eingestuft zu werden – mit nachteiligen Folgen. Offene Einmischung sei “ein zweischneidiges Schwert”.
    Moskau unter Zeitdruck
    Zugleich weist die Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) in einer aktuellen Analyse darauf hin, es sei “davon auszugehen”, dass auch die russische Regierung Lukaschenko “lieber früher als später” loswerden wolle.[8] Ursache sind demnach die Bemühungen des belarussischen Präsidenten in den vergangenen Jahren – verstärkt seit Mitte 2019 -, sich immer enger an den Westen anzulehnen (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Seit die Proteste gegen Lukaschenko eskaliert seien, befinde sich Moskau “in einer vorteilhaften Position”, urteilt die Adenauer-Stiftung: “Lukaschenko hat sich außenpolitisch in die Hand Putins begeben”; auch sei Minsks “finanzielle Abhängigkeit” von Russland “deutlich gestiegen”. “Für den Moment” scheine Moskau “ein Interesse daran zu haben, die Pattsituation in Belarus zu verlängern”, um Schritt für Schritt “einen ihm genehmen Kandidaten aufzubauen”. “Die Belarussen”, heißt es weiter bei der Adenauer-Stiftung, “in überwiegender Mehrheit eher russlandfreundlich, könnten einen solchen Kandidaten wählen, wenn Russland dazu beiträgt, den Abgang Lukaschenkos und Neuwahlen zu ermöglichen.” Dies müsse allerdings eher rasch geschehen: Bleibe Lukaschenko mit Moskaus Rückendeckung allzu lange an der Macht, dann sei “damit zu rechnen, dass sich viele Menschen in Belarus von Russland abwenden”; dann könnten die Proteste der Opposition “eine geopolitische Dimension bekommen, an der zur Zeit niemand ein Interesse hat”. Die geopolitische Dimension bestünde in einer für Belarus historisch neuen Hinwendung zum Westen.
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    Covid-Hotspot Weißes Haus: Wie krank ist Donald Trump wirklich?
    Die Nachrichtenlage ist verwirrend, die Gerüchteküche kocht, Trump-Zeit also
    Rätselraten um Trump
    Nach Coronainfektion: Weißes Haus erwägt Entlassung des US-Präsidenten aus Klinik
    Der Gesundheitszustand von US-Präsident Donald Trump hat sich nach Angaben von dessen Stabschef Mark Meadows weiter verbessert. »Wir sind weiterhin optimistisch, dass er im Laufe des Tages ins Weiße Haus zurückkehren kann«, erklärte Meadows am Montag gegenüber dem Sender Fox News. Der US-Präsident sei »bereit, zu einem normalen Arbeitsplan zurückzukehren.« Mit einer Entscheidung sei aber frühestens am Nachmittag (also nach jW-Redaktionsschluss) zu rechnen, ergänzte Meadows später. Zunächst stünden Besprechungen mit den Ärzten an. Meadows sprach von einem »unglaublichen Fortschritt«, den Trump gemacht habe.
    Trump hatte seine Coronainfektion am Freitag nach Mitternacht US-Ostküstenzeit bekanntgegeben und war keine 24 Stunden später per Helikopter ins Walter-Reed-Militärkrankenhaus in Bethesda nördlich von Washington gekommen. Am Wochenende gab es widersprüchliche Angaben zu seinem Gesundheitszustand. Am Sonntag war klar: Der Zustand des Präsidenten war zwischenzeitlich ernster als zunächst dargestellt. Am Sonntag hatte ein Arzt die Möglichkeit der baldigen Entlassung aufgeworfen. Er könnte im Weißen Haus weiter behandelt werden, wo es einen Krankenhaustrakt gibt.
    Nach Trumps Infektion waren auch zahlreiche Ansteckungen in seinem persönlichen Umfeld bekannt geworden. Außer Ehefrau Melania Trump wurden unter anderem seine Beraterin Hope Hicks, sein Assistent Nicholas Luna sowie Wahlkampfchef Bill Stepien positiv auf das Virus getestet.
    Es ist nicht klar, wann Trump das letzte Mal negativ getestet worden war und wann genau er das erste Mal ein positives Testergebnis erhielt. Seine Sprecherin Kayleigh McEnany machte am Sonntag laut Journalisten im Weißen Haus keine eindeutigen Angaben dazu. Das Wall Street Journal berichtete, der US-Präsident habe das Ergebnis eines ersten positiven Schnelltests am Donnerstag für sich behalten. Schnelltests gelten gegenüber Labortests als weniger zuverlässig. (dpa/jW)

  12. @Neoprene

    sich dann nach Meinung zumindest der Finanzmärkte auch noch „zuviel“ Rüstungs leistet, dann kann das das Finanzwesen dort massiv beeinträchtigen.

    Also mein Bester: zumindest – zuviel – kann – was ist denn das für ein Eiertanz?
    Die Finanzmärkte kümmert das nicht, daß ein Staat sich “zu viel” Rüstung leistet. Das Finanzkapital ist nämlich erstens international und schaut auf sein Geschäft, und nicht darauf, wofür seine Kunden das Geld ausgeben.
    Zweitens, zuviel wofür? Zu viel Kriegsgerät hat doch die Türkei in den Augen ihrer imperialistischen Konkurrenten, nicht zufolge des Urteils des Finanzkapitals.
    Natürlich könnte das Finanzkapital der Türkei den Hahn abdrehen, wie vor ein paar Jahren Griechenland.
    Nur: Warum sollte es das tun? Türkische Staatsanleihen sind immerhin besser als argentinische oder ukrainische, und haben vermutlich einen höheren Zinssatz als EU-Negativzins-Anleihen.

    Nun ja, ein paar „Erfolge“ gab es schon: Saddam Hussein ist weg, Gaddafi auch.

    Du setzt es doch selber in Anführungszeichen: Diese “Erfolge” waren Schüsse ins Knie, an denen die EU bis heute laboriert. Dennoch wollte sie bei Assad noch einmal das Gleiche probieren. Daran merkt man: Keine Lernfähigkeit bei den EU-Fuzis.

    Ärgerlichkeiten für Merkel, Macron und Trump, die offenbar als hinnehmbar angesehen werden.

    Was sollen sie denn machen, wenn sie es nicht “hinnehmen” wollten? Einmarschieren in die Türkei?

    denen gegenüber ein kleinerer Staat nur auf sein „Recht“ pochen müßte und schon hätte er Erfolg.

    Gegen was für einen Unsinn argumentierst du denn hier?
    Die Türkei – ein “kleinerer Staat”? Laut Wikipedia hat sie 783.562 km² (Deutschland: 357.582), und über 83 Millionen Einwohner, ungefähr gleich viel wie D. Von der Rüstung ganz zu schweigen.
    Die Türkei interveniert unter verschiedenen Titeln militärisch in Libyen, im Kaukasus, in Syrien – das nennst du “auf sein Recht pochen”? So wie Chrustschow mit dem Schuh in der UNO?
    Und an was für einen “Erfolg” denkst du? Annexion von Afrin, und dann ist Schluß und die Staatsmacht ist zufrieden?
    Was für einen tantigen Schmarrn gibst du denn hier von dir?! Du kannst doch anders auch!

  13. Bei der Freilassung von Gefangenen komm ich nicht mit: Erst werden IS-Schläferzellen bei Deir-ez-Zor verfolgt, und wenn dann Stammesfürsten dort sagen: Schluß damit! – so kommen die kurdischen Milizen bzw. SDK dem nach und lassen alle frei?
    Da muß einiges mehr an Deals dahinterstecken.
    Erst haben die SDK sich beschwert, daß die Herkunftsländer die ausländischen IS-Mitglieder nicht zurücknehmen, jetzt wollen sie selber Frauen und Kinder vor Gericht stellen?
    Auch da fehlt einiges an Info.
    Zur Lage in Syrien wäre ein etwas aufklärerischer Beitrag vonnöten – wie kommt der Wiederaufbau voran? Welche Territorien sind noch strittig, was ist mit dem US-Stützpunkt in Al-Tanf? usw.

  14. “Die EU hat ein strategisches Interesse an einem stabilen und sicheren Umfeld im östlichen Mittelmeerraum, und an der Entwicklung einer kooperativen und für beide Seiten nutzbringenden Beziehung zur Türkei.”
    So die Formulierung im Ratsbeschluss der EU vom letzten Wochenende. Die entsprechende strategische Gesamt-EU-Parteilichkeit “für” die Türkei und “gegen” Russland wird hier zum Thema:
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1142747.eu-sanktionen-erdogan-hui-lukaschenko-pfui.html
    Dass die EU keine eigene eigenständige Außenpolitik hinbekommt, stimmt also nur zum Teil. Und bei dem Anschein, dass dafür, damit Polen und Co nicht von der Fahne gehen und der Flüchtlingsdeal mit der Türkei weiter zwecks Abschreckung von Flüchtlingen funktionieren soll, die EU mit allen Fingern auf Russland zeigt und dafür beide Augen bei den strategischen Unternehmungen der Türkei in ganz Europa offensiv schließt, – da könnte man fast schon auf insgeheimes Beifall Klatschen für die türkische Außenpolitik tippen …
    —-
    Einige Widersprüche prinzipiellerer Art des gesamten EU-Projektes werden hier (als Kritik gängiger populistischer Ansichten, denenzufolge Deutschlands Wohl durch die EU vergeigt würde) dargestellt:
    https://gegen-kapital-und-nation.org/media/pdfs/de/pro-und-contra-eu-nichts-als-nationalismus.pdf

  15. OPCW bestätigt Nervengift bei Nawalny
    Den Haag. Die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) hat bestätigt, dass der russische Oppositionelle Alexej Nawalny mit einem chemischen Nervengift vergiftet wurde. Spuren davon seien in Nawalnys Blut und Urin gefunden worden, teilte die OPCW am Dienstag in Den Haag mit. In der Erklärung hieß es: »Die Ergebnisse der Analyse biomedizinischer Proben, die von den von der OPCW benannten Labors durchgeführt wurde, zeigen, dass Herr Nawalny einer toxischen Chemikalie ausgesetzt war, die als Cholinesterasehemmer wirkt«. Die Biomarker des gefundenen Cholinesteraseinhibitors wiesen demnach ähnliche strukturelle Merkmale auf wie das im November 2019 in die Liste der Nervenkampfstoffe aufgenommene Nowitschok. Die OPCW übergab die Ergebnisse an die deutsche Regierung und bat darum, sie an alle Mitgliedsstaaten der Organisation weiterzuleiten und zu veröffentlichen.
    Berlin erklärte dazu: »Damit bestätigt sich erneut der zweifelsfreie Nachweis, dass Alexej Nawalny Opfer eines Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe geworden ist.« Und weiter: »Die Bundesregierung erneuert ihre Aufforderung an Russland, sich zu den Geschehnissen zu erklären.« Die Bundesregierung prüft den Angaben zufolge derzeit den Bericht der OPCW zu der Analyse. Über die nächsten Schritte werde es in den kommenden Tagen im Exekutivrat der Kontrollbehörde und im Kreis der EU-Partner einen engen Austausch geben.
    Kritik an der OPCW-Analyse kam aus Russland. Der Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten der Staatsduma, Leonid Sluzki, erklärte zu den Ergebnissen laut Nachrichtenagentur Interfax: »Sie bestätigen lediglich das, was die Organisatoren der größten russenfeindlichen Provokation, die nach Nawalny benannt ist, hören wollten.« Zuvor hatte sich der Sprecher von Präsident Wladimir Putin, Dmitri Peskow, geweigert, den Bericht der OPCW zu kommentieren, da der Kreml zu diesem Zeitpunkt keine offiziellen Dokumente erhalten hatte. (dpa/jW)
    OPCW: Nawalny wurde mit einem Cholinesterasehemmer vergiftet
    Die “toxische Chemikalie” ist zwei Nowitschok-Verbindungen ähnlich, die kürzlich auf die OPCW-Liste gesetzt wurden, aber nicht selbst dort gelistet
    OPCW ist angeblich bereit, Inspektoren nach Russland zu schicken
    Das politisch hochgeladene Untersuchungsergebnis von Nawlany wird noch zurückgehalten
    Maas droht Russland ohne Aufklärung zu Nawalny mit Sanktionen
    Außenminister Heiko Maas hat Russland mit Sanktionen im Fall Nawalny gedroht. Ein derart schwerer Bruch des Völkerrechts könne nicht ohne Konsequenzen bleiben, betonte Maas am Mittwoch bei der Regierungsbefragung im Bundestag.
    Russland übt Kritik an OPCW-Befunden: Fall Nawalny gleicht Theateraufführung
    Das russische Außenministerium hat zu den jüngsten OPCW-Befunden im Fall Nawalny Stellung genommen und auf merkwürdige Zusammenhänge hingewiesen. Demnach scheint dem ganzen Vorgang ein Verschwörungs-Szenario zugrunde zu liegen. Moskau kündigte diesbezüglich Gegenmaßnahmen an.
    „Leider übertrug Berlin seine Anklagekampagne in die OPCW“: Russland zu Fall Nawalny
    Russlands Ständiger Vertreter bei der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW), Alexander Shulgin, hat die jüngsten OPCW-Befunde zum Fall Nawalny kommentiert und Missstände in der Organisation kritisiert.
    Russlands Außenamt wirft deutschen Politikern „offenkundige Lüge“ im Fall Nawalny vor
    Das russische Außenministerium hat am Samstag die Debatte im deutschen Bundestag zum Fall Nawalny kommentiert.
    Ärzte von Berliner Charité haben in Proben von Nawalny keine Kampfgiftstoffe entdeckt – Lawrow
    Die Ärzte der Berliner Klinik Charité haben in den Proben des Bloggers und Kreml-Kritikers Alexej Nawalny keine chemischen Kampfstoffe gefunden. Dies erklärte am Montag Russlands Außenminister Sergej Lawrow beim Treffen mit Vertretern der Association of European Business.
    Russischer Politiker sagt Zukunft von Nawalny bei Rückkehr nach Russland voraus
    Alexej Nawalny wird auch weiter von westlichen „Drahtziehern bevormundet”, selbst wenn der Kreml-Kritiker nach Russland zurückkehrt. Diese Auffassung vertrat Andrej Klimow, Mitglied des russischen Föderationsrates (Parlamentsoberhaus), im Interview mit der „Parlamentskaja gaseta“.
    Sergej Lawrow: Pandemie als Anlass zur Abrechnung mit Rivalen
    Die USA und einige westeuropäische Länder nutzen die Coronavirus-Pandemie, um mit ihren geopolitischen Gegnern alte Rechnungen zu begleichen. Diese Meinung äußerte der russische Außenminister Sergej Lawrow beim Treffen mit Vertretern der Assoziation des Europäischen Business (AEB) in Moskau. Der Fall Nawalny und Nord Stream 2 waren ebenfalls Thema.
    Nawalny-Eklat und eventuelle Signale an Berlin – Experte: Putin will Merkel „kommen lassen“
    Kann das deutsch-russische Verhältnis angesichts des Falls Nawalny noch gerettet werden? Was für „Signale“ sendet da bitteschön Wladimir Putin? Ein Beitrag zur Diskussion.

  16. Premier Armeniens: Jerewan im Bergkarabach-Konflikt zu Zugeständnissen bereit, aber…
    Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan hat sich bezüglich einer Beendigung der Kämpfe in Bergkarabach zu Zugeständnissen bereit gezeigt. Ihm zufolge müsste aber auch Baku in dieser Frage entgegenkommende Schritte unternehmen.
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    Regimewechsel im Gange
    Parlamentswahl Kirgistan für ungültig erklärt. Proteste münden in Erstürmung von Amtsgebäuden
    Von Reinhard Lauterbach
    In Kirgistan haben Proteste gegen das Ergebnis der Parlamentswahl vom Sonntag dazu geführt, dass offenbar ein Machtwechsel im Gange ist. Am Dienstag morgen annullierte die Zentrale Wahlkommission das Ergebnis, das sie am Montag noch selbst verkündet hatte. Präsident Sooronbai Dscheenbekow warf den Protestierenden den Versuch eines Staatsstreichs vor, erklärte aber gleichwohl seine Bereitschaft, Neuwahlen auszuschreiben. Parallel konstituierte sich aus Vertretern der Wahlverlierer ein »Koordinationsrat für den Machtwechsel«, da die amtierende Regierung »ihre Autorität verloren« habe.
    Bei der Wahl waren vier der angetretenen acht Parteien nicht über die geltende Siebenprozenthürde gekommen. Sie riefen ihre Anhänger zu Demonstrationen auf, die in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei mündeten. Ein Mensch soll dabei ums Leben gekommen sein; knapp 600 Personen seien verletzt worden – etwa zu gleichen Teilen Polizisten und Demonstranten. Die Angreifer drangen in die Amtsgebäude von Parlament, Präsident und Regierung ein und steckten sie in Brand; anschließend stürmten sie das Untersuchungsgefängnis der Hauptstadt Bischkek und befreiten den dort angeblich wegen Korruption inhaftierten Expräsidenten Almasbek Atambajew. Der Gefängnissturm soll von einem seiner Söhne angeführt worden sein. Die als Wahlbeobachter tätige Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) teilte mit, es habe »glaubwürdige Berichte über Stimmenkauf« gegeben, andererseits sei der Wahlkampf aber weitgehend frei und fair verlaufen.
    Die Regierung wurde von den Unruhen offenkundig überrascht. In der Folge traten der Bürgermeister von Bischkek und die Verwaltungschefs der Regionen von ihren Posten zurück. Das rasche Einlenken der Staatsführung in dieser Situation dürfte dem Bestreben geschuldet sein, wenigstens einen Rest ihrer Machtpositionen zu halten.
    Ob hinter den Protesten in Kirgistan der Versuch steht, eine »Farbenrevolution« durchzuziehen, ist auf den ersten Blick schwer einzuschätzen. Dafür spricht, dass relativ schnell aktuelle Vorbilder aus Belarus wie die Gründung eines Koordinationsrats der Opposition mit dem Anspruch, eine Übergangsregierung zu bilden, übernommen wurden. Während der Straßenproteste gab es auch, ähnlich wie in Belarus, Aufrufe an die Bewohner, den Zugang zu den Treppenhäusern der Wohnblocks für Demonstranten zu öffnen und die lokalen WLAN-Verbindungen freizuschalten, damit die Blockade des Internets durch die Regierung umgangen werden konnte.
    Andererseits waren bisher die meisten Wahlen in Kirgistan seit der Unabhängigkeit 1991 von größeren oder kleineren Tumulten begleitet. Ihr Hintergrund ist, dass die kirgisische Gesellschaft in Clans mit regionalen Einzugsgebieten gegliedert ist: Der politische Prozess besteht im Kern darin, dass mal der eine, mal der andere Clan Zugriff auf die Posten und Ressourcen des Zentralstaats bekommt. Dieser Zugriff wird dann durch Jobs im Staatsdienst an Anhänger und Mitglieder des Clans weitergegeben, was die Bindungskraft nach innen stärkt. Ein Beispiel dieser Mechanismen ist, dass unter dem Eindruck der aktuellen Unruhen selbst der oberste Veterinär des Landes zurückgetreten ist.
    Grundlage dieses Systems ist, dass Kirgistan geographisch und sozial zweigeteilt ist. Der Süden, wo es überdies im fruchtbaren Ferganatal Nationalitätenkonflikte gibt, ist immer noch von Armut geprägt. Der reiche Norden, aus dem der jetzt befreite Expräsident Atambajew stammt, ist durch einen Ausläufer des Tian-Shan-Gebirges vom Rest des Landes abgetrennt.
    Insgesamt leben auf einer Fläche von gut 200.000 Quadratkilometern etwas über sechs Millionen Menschen. Das Land grenzt an Kasachstan, China, Tadschikistan und Usbekistan. Politisch hat Kirgistan unter allen bisherigen Administrationen pragmatische bis freundschaftliche Beziehungen zu Russland unterhalten.
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    Gazprom will Nord Stream 2 schnellstmöglich fertigstellen
    Der russische Gaskonzern Gazprom beabsichtigt, den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 so bald wie möglich abzuschließen.
    Ankunft russischer Schiffe in Mukran, aber Rohrverleger ist weg – Was heißt das für Nord Stream 2?
    Der eventuelle Retter von Nord Stream 2, der russische Rohrverleger „Akademik Cherskiy“, bewegt sich seit Montagabend in Richtung Kaliningrad, wo er am 7. Oktober anlegen soll. Das geht aus Angaben der Navigationsportale Marine Traffic und Myshiptracking hervor. Parallel sind am Wochenende drei russische Versorgungsschiffe in Mukran eingelaufen.

  17. Berlin: Tichanowskaja will mehr Sanktionen
    Berlin. Die belarussische Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja hat bei einem Besuch in Berlin zu mehr Unterstützung des Westens aufgerufen. »Wir möchten, dass Deutschland als eines der mächtigsten Länder der Welt bei Verhandlungen helfen kann«, sagte Tichanowskaja vor einem am Dienstag geplanten Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel. Sie sei dankbar, dass die EU Sanktionen gegen Personen aus dem Umfeld von Präsident Alexander Lukaschenko verhängt habe. »Die Liste muss erweitert werden«, sagte Tichanowskaja. Der BRD-Botschafter in Belarus, Manfred Huterer, hat unterdessen das Land vorübergehend verlassen. Er sei am Dienstag ausgereist, »um Gespräche in Berlin zu führen«, erfuhr dpa aus dem Auswärtigen Amt. Demnach will Berlin sich solidarisch mit Polen und Litauen zeigen, die ihre Botschafter bereits zuvor aus der belarussischen Hauptstadt Minsk abgezogen hatten. (dpa/jW)
    Einmischung willkommen
    Belarussische Oppositionelle bittet in Berlin um mehr Unterstützung. BRD ruft Botschafter zurück
    Von Reinhard Lauterbach
    Die belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja ist am Dienstag und Mittwoch in Berlin mit Vertretern der Bundesregierung und der sie stützenden Parteien zusammengetroffen. Nach einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte sie der Deutschen Presseagentur am Dienstag, sie sehe sich »jetzt gezwungen, unsere Nachbarländer darum zu bitten, dass sie als Vermittler im Dialog zwischen den Einwohnern von Belarus und dem Staat auftreten«. Tichanowskaja dankte Merkel für die Unterstützung der belarussischen »Demokratiebewegung« und bat, sie zu verstärken. Die Grünen, mit deren Parteichefin Annalena Baerbock Tichanowskaja sich ebenfalls traf, forderten, auch den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko mit EU-Strafmaßnahmen zu belegen. Nur 40 Untergebene Lukaschenkos zu sanktionieren, sei keine angemessene Antwort auf Lukaschenkos »Staatsterror«, so Baerbock. Am Mittwoch wollte Tichanowskaja Außenminister Heiko Maas und Vertreter der SPD treffen.
    In Interviews mit dem Deutschlandfunk und der FAZ präzisierte Tichanowskaja ihre außenpolitischen Ziele. Nach ihren Worten würde auch ein von der Opposition gestellter Nachfolger Lukaschenkos an freundschaftlichen und gutnachbarlichen Beziehungen zu Russland interessiert sein. Allerdings in Grenzen. Im DLF-Interview sagte sie: »Wir, also die Belarussen werden weiter mit Russland in dem Unionsstaat leben wollen, aber wir werden auch weiter keine Inte­gration haben wollen.« Sie warf Russland vor, sich durch die Unterstützung für Lukaschenko in die inneren Angelegenheiten von Belarus einzumischen.
    Unterdessen hat der Wahlkampfstab des nicht zur Kandidatur zugelassenen Exbankiers Wiktor Babariko eine Videobotschaft veröffentlicht, die seine Wahlkampfchefin Marija Kolesnikowa Anfang September aufgenommen hatte. Sie ruft darin insbesondere die Bürger auf, Produkte staatlicher Betriebe aus Belarus zu boykottieren und ihr Geld von den staatlichen Banken abzuheben und »dort zu lagern, wo sie es für sicher halten«.
    Ersteres erscheint ziemlich unrealistisch. Investitionsgüter und Produktionsmittel pflegen nicht auf dem Einkaufszettel von Privatleuten zu stehen. Gleichzeitig werden Menschen nicht auf Milch verzichten, nur weil die Kuh in einem staatlichen Stall gemolken wurde. Letzteres hingegen ist eine reale Drohung. Wegen stark gestiegener Bargeldabhebungen und Flucht aus der Inlandswährung sind an den Geldautomaten in Belarus im September insbesondere US-Dollar und Euro knapp geworden. In einem Statement machte Kolesnikowa deutlich, dass die Veröffentlichung des Videos eine Reaktion auf ihre Inhaftierung sei – der Versuch, den Staat mit »Bürgersanktionen« zu belegen.
    Unterdessen verschärft die Bundesregierung auch diplomatisch ihren Kurs gegenüber Belarus. Am Dienstag verließ BRD-Botschafter Manfred Huterer seinen Posten und reiste zu »Konsultationen« nach Berlin. Das ist laut »Politiklexikon« der Bundeszentrale für Politische Bildung der vorletzte Schritt vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen.
    Der Rückruf des Botschafters wurde damit begründet, dass Berlin sich solidarisch mit den Regierungen Polens und Litauens zeigen wolle, deren Botschafter von Minsk aufgefordert worden waren, das Land zu verlassen. Am Mittwoch folgten auch Lettland und Estland dem Beispiel der Bundesregierung. Anfang Oktober hatte das belarussische Außenministerium die EU davor gewarnt, die »Sanktionsspirale« ständig weiter zu drehen. Das könne zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen führen.
    Genau aus diesem Grund wird es die EU – deren Botschafter in Minsk übrigens auf seinem Posten blieb – bis zu diesem Punkt der Eskalation eher nicht kommen lassen. Denn erstens sind Botschaften immer auch legale Geheimdienstresidenturen, so dass auch die eigene Aufklärung und Einwirkung auf Belarus behindert würde. Zweitens bestünde die Gefahr, dass die dann zwangsläufige Anerkennung einer fiktiven Gegenregierung von Belarus mit Sitz in Litauen oder Polen zu einer ähnlichen Blamage wird, wie die Anerkennung des venezolanischen Oppositionellen Juan Guaidó als Präsident des Landes durch große Teile des »Westens« einschließlich der BRD Anfang 2019.
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    Die Armenier: Ein erneuter Kampf ums Überleben
    Hintergrund zum Konflikt zwischen Aserbeidschan und Armenien um Bergkarabach oder Arzach
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    Keine Ruhe in Kirgistan
    Verschiedene Oppositionsgruppen erheben Anspruch auf Macht. Premier tritt zurück
    In Kirgistan bleibt die Lage nach teils gewaltsamen Protesten gegen die Ergebnisse der Parlamentswahl vom Wochenende weiter unübersichtlich. Mindestens drei rivalisierende Oppositionsgruppen beanspruchen die Macht für sich. Präsident Sooronbai Scheenbekow rief am Mittwoch alle Parteien zu Verhandlungen auf und bekräftigte seine Vermittlungsbereitschaft. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte, Moskau stehe mit allen Konfliktparteien in Kontakt. Er hoffe, dass der demokratische Prozess bald wiederhergestellt werde. Das chinesische Außenministerium äußerte sich besorgt über die Situation im Nachbarland.
    Derweil versammelten sich auch am Mittwoch etwa 2.000 Demonstranten in der Hauptstadt Bischkek und forderten eine neue Regierung und den Rücktritt Scheenbekows, wie kirgisische Medien berichteten. Das Innenministerium bezeichnete die Lage als stabil. Die Polizei halte sich aber bereit. Zu neuen Ausschreitungen war es demnach nicht gekommen.
    Am Dienstag hatte Ministerpräsident Kubatbek Boronow nach den Protesten seinen Rücktritt eingereicht, wie der parlamentarische Pressedienst mitteilte. Die Wahlkommission hatte Medienberichten zufolge das Ergebnis der Abstimmung vom Sonntag annulliert, laut dem Parteien, die dem Staatschef Scheenbekow nahestehen, gewonnen hatten.
    Unterdessen hat die rechte Partei Ata Schurt am Dienstag abend das Parlament dazu gebracht, ihren Kandidaten Sadyr Schaparow für das Amt des Regierungschefs zu nominieren. Schaparow war erst wenige Stunden zuvor von Demonstranten aus dem Gefängnis befreit worden. Eine neue Gruppe, die sich selbst als »Volks­koordinierungsrat« bezeichnet und fünf weniger bekannte Oppositionsparteien vereint, beansprucht ebenfalls die Führung im Land für sich.
    Die Oppositionsgruppen hatten am Dienstag erklärt, sie hätten die Kontrolle über wichtige Regierungsgebäude in Bischkek übernommen. Auch der frühere Präsident Almasbek Atambajew sei aus der Haft befreit worden. Staatschef Scheenbekow sprach von einem Putschversuch. (Reuters/dpa/jW)
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    Allen zum Schaden
    EU-Ukraine-Gipfel
    Von Jörg Kronauer
    Nein, es läuft nicht wirklich rund für Berlin und die EU in der Ukraine. Gut sechseinhalb Jahre ist es her, dass der Westen nach dem Sturz von Präsident Janukowitsch das Ruder in Kiew übernahm und das Zeitalter von »Freiheit und Demokratie« in dem Land ausrief. Das war natürlich nichts anderes als die übliche laute, blechern scheppernde Propaganda. Dennoch: Dass auf dem EU-Ukraine-Gipfel am Dienstag wieder einmal Rückschritte im Kampf gegen die Korruption beklagt werden mussten, gegen fiese oligarchische Netzwerke, die dem Durchmarsch westeuropäischer Unternehmen im Wege stehen; dass wieder einmal teure Hilfsmittel für die Ukraine auf dem Programm standen, Kredite in Höhe von 1,2 Milliarden Euro, die zugesagt, wenn auch noch nicht abschließend bewilligt sind; und dass man also nicht wie gewünscht vom Fleck kommt: Das hätte sich die Bundesregierung im Frühjahr 2014 sicherlich anders vorgestellt.
    Vor allem trifft dies auf die Tatsache zu, dass es partout nicht gelingen will, die Gebietsverluste wenigstens teilweise rückgängig zu machen, die der Westen der Ukraine 2014 eingebrockt hat: die wohl unabänderliche Sezession der Krim und die Abspaltung der Volksrepubliken im Donbass. Um zumindest letztere halbwegs für Kiew zu retten, hatte die Bundesregierung vor mehr als sechs Jahren die Verhandlungen gestartet, die schließlich in das Minsker Abkommen mündeten. Auch dabei hapert es freilich an der Umsetzung. Da mögen die Waffen vielleicht auch mal schweigen – gelöst ist nichts. Das ist kein Empfehlungsschreiben für einen Staat wie Deutschland, der gern Weltmacht wäre und dessen Politeliten seit Jahren bekunden, im »Krisengürtel« rings um die EU, also auch in der Ukraine, »Ordnung« schaffen zu wollen. Welche Oppositionskräfte wo auch immer damit liebäugeln sollten, sich von Berlin und der EU per Umsturz an die Macht bringen zu lassen, wissen nun: Dabei kann man eine Menge verlieren, und die Bundesrepublik kann das nicht verhindern; dazu reicht ihre Kraft nicht aus.
    Den Versuch, den Spieß doch noch irgendwie umzudrehen, haben Berlin und die EU mit ihren Russland-Sanktionen unternommen. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij berichtete am Dienstag nach dem EU-Ukraine-Gipfel, man habe ihm zugesichert, die Sanktionen blieben in Kraft, bis die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt sei. Mit Blick auf die Krim hieße das faktisch, die Sanktionen bleiben auf Dauer. Davon abgesehen: Angesichts der Entwicklung im »Fall Nawalny« wird auch in Moskau nicht die geringste Neigung mehr vorhanden sein, Berlin und der EU im Austausch gegen was auch immer einen gesichtswahrenden Ausweg wenigstens im Donbass zu bahnen. Der dortige Konflikt droht also in der heraufziehenden Eiszeit zwischen der EU und Russland endgültig einzufrieren – ein Ergebnis des jüngsten deutschen Walkürenritts gen Osten, zum Schaden aller.

  18. „Business as usual“ mit Berlin vorbei: Moskau reagiert auf Statement zu Fall Nawalny
    Nachdem Frankreich und Deutschland im Fall Nawalny Sanktionen gegen Russland angekündigt haben, spricht Moskau von Erpressung und droht beiden Ländern mit Konsequenzen. Das Moskauer Außenamt wirft Berlin und Paris vor, eine „anti-russische Koalition“ zu schmieden.
    Nawalny bittet Vereinte Nationen um Hilfe – Medien
    Der russische Blogger und Kremlkritiker Alexej Nawalny hat die Vereinten Nationen um Mithilfe bei der Untersuchung des angeblichen Giftanschlags gegen ihn gebeten. Dies teilte „Der Spiegel” am Mittwoch mit.
    Mysteriöse Nawalny-Zeugin: Pewtschich arbeitete nie in seinem FBK-Fonds – Russlands Innenministerium
    Laut dem russischen Innenministerium gibt es keine offizielle Bestätigung, dass Maria Pewtschich, die den russischen Blogger und Kreml-Kritiker Alexej Nawalny in Sibirien begleitet hatte, offiziell in Nawalnys Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) tätig war.
    Tag von Nawalnys Hospitalisierung: Bombendrohung gegen Flughafen Omsk kam aus Deutschland
    Die Meldung über die Bombendrohung in einigen Objekten der Stadt Omsk, wegen der angeblich das Flugzeug mit dem russischen Blogger Alexej Nawalny an Bord nicht landen konnte, ist mittels Server in Deutschland geschickt worden. Das geht aus einer offiziellen Mitteilung des russischen Innenministeriums in Sibirien hervor.
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    Nord-Stream-2: Polnische Wettbewerbsbehörde fordert 6,52 Milliarden €
    Außer gegen Gazprom hat die UOKiK auch gegen Shell, Engie, Uniper und OMV Bußgelder verhängt
    Strafe gegen Gazprom: „Quasijuristischer Dauerbeschuss vonseiten Warschaus“
    Gut sechseinhalb Milliarden Euro fordern polnische Kartellwächter vom russischen Energiekonzern Gazprom und erwarten, dass Firmen, die den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 finanzieren, aus ihren vertraglichen Pflichten innerhalb weniger Wochen aussteigen. Experten kommentieren im Sputnik-Gespräch.
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    “Tiergartenmord”: Putins “Killer” war’s. War er’s?
    Morgen beginnt der Mordprozess gegen Vadim K. in Berlin, der im Kleinen Tiergarten angeblich im Auftrag der russischen Regierung den einstigen islamistischen Kämpfer Changoshwili getötet haben soll
    Blutrache unter Tschetschenen oder noch ein Geheimdienstattentat?
    Am 23. August 2019 wurde der georgische Staatsbürger tschetschenischer Abstammung Zelimkhan Khangoshvili in der Parkanlage “Kleiner Tiergarten” in Berlin-Moabit durch Kopfschüsse ermordet

  19. Normalbetrieb aufgekündigt
    Scharfe Reaktion Russlands auf neue Sanktionsdrohungen von BRD und Frankreich. Nawalny plädiert für gezieltere Strafmaßnahmen
    Von Reinhard Lauterbach
    Russland hat die neuen Sanktionsdrohungen der BRD und Frankreichs wegen des Falls Nawalny in scharfer Form zurückgewiesen. In einer am Mittwoch abend veröffentlichten Erklärung verwahrt sich das russische Außenministerium gegen die »in Ton und Inhalt unangemessenen« Vorwürfe. Nicht Moskau sei es, das die Zusammenarbeit verweigere, sondern umgekehrt die deutschen Behörden. Diese hätten mehrfache Rechtshilfeersuchen der russischen Seite über Wochen ignoriert und bis heute nicht inhaltlich beantwortet. Statt dessen greife Berlin zu »Verschwörungstheorien« und »Hinterzimmerintrigen«.
    Soweit die Rhetorik. Entscheidend sind aber die beiden letzten Absätze: Offenbar hätten sich die BRD und Frankreich an die Spitze einer in der EU entstehenden antirussischen Koalition gestellt, obwohl sie stets ihre Verbundenheit und Partnerschaft gegenüber Russland im Munde führten. Dies nehme Moskau ihnen nicht mehr ab. Ein »Business as usual« gegenüber Paris und Berlin sei nicht möglich, solange beide Länder versuchten, Russland sein Handeln zu »diktieren«. Sollten die beiden EU-Führungsmächte jedoch von ihrem konfrontativen Ansatz ablassen, sei auch Moskau bereit, den Dialog unter Gleichen wieder aufzunehmen.
    Bundesaußenminister Heiko Maas hatte am Mittwoch erklärt, nach allen Berlin und Paris vorliegenden Indizien gebe es keine andere plausible Erklärung für die Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny, als dass es eine »russische Beteiligung und Verantwortung« gebe. Moskau habe bisher »keine glaubhafte Erklärung geliefert«, hieß es in der auf den Seiten des Auswärtigen Amtes veröffentlichten Erklärung von Maas und seinem französischen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian.
    Worin die neuen Sanktionen bestehen sollen, die Paris und Berlin der EU demnach zum Beschluss vorlegen wollen, war zunächst nicht klar. Maas ließ laut FAZ erkennen, dass ein Baustopp für die Gaspipeline »Nord Stream 2« nicht im Vordergrund der Erwägungen stehe. Vielmehr sollten Personen, die für die Entwicklung des Nowitschok-Programms in Russland verantwortlich seien, von der Einreise in die EU und der Nutzung ihrer dort vorhandenen Vermögenswerte ausgeschlossen werden. Auch eine Herstellerfirma des Gifts könne sanktioniert werden – die wird allerdings wohl keinen größeren Geschäftsbetrieb mit Westeuropa unterhalten. Russische Medien spekulierten, die neuen Strafmaßnahmen könnten Mitarbeiter des russischen Militärspionagedienstes GRU treffen. Das wäre allerdings eine zweischneidige Angelegenheit, weil eine Ausweisung von GRU-Agenten entsprechende Gegenmaßnahmen nach sich ziehen würde.
    Einen Beitrag zur Sanktionsdebatte leistete auch der inzwischen von den Folgen seiner Vergiftung offenbar weitgehend genesene Nawalny. Er stand der Bild Rede und Antwort und sagte, Strafmaßnahmen gegen ganz Russland bewirkten nichts weiter, als das Volk hinter der Regierung zu einen. Vielmehr sollten sich Sanktionen gezielt gegen den Umkreis von Staatschef Wladimir Putin und die Nutznießer seiner Herrschaft richten. Als solche nannte er neben Oligarchen, die unter der Woche das Geld des russischen Volkes stählen und »am Wochenende in den Cafés von London und Berlin« säßen, auch russische Kulturschaffende mit Verträgen im westlichen Ausland. Als ein Beispiel nannte Nawalny den Dirigenten der Münchener Sinfoniker, Waleri Gergijew. Dieser sei zweifellos ein talentierter Musiker, aber er müsse sich entscheiden, ob er weiter Putin unterstützen oder seinen Job in München machen wolle.
    Strafmaßnahmen gegen einen Musiker, von dem Nawalny selbst einräumte, er werde »nicht versuchen, mich mit Nowitschok zu vergiften« – dieser Vorschlag erweckt den Eindruck, dass den Sanktionsbefürwortern langsam nichts mehr einfällt. Anlass zur Beruhigung gibt das nicht. Weil auch in Berlin inzwischen zuviel Prestige an den – weitgehend wirkungslosen – Maßnahmen hängt, als dass man sie in aller Stille auslaufen lassen könnte, birgt die Dynamik des Sanktionsbetriebs ein erhebliches Potential für wirkliche Eskalationen.

  20. Zum jour fix Protokoll:

    “— Im Text wird mehrmals darauf hingewiesen, dass es Leute gibt, die untauglich für die amerikanische Ordnung und deshalb eine Gefahr für sie sind. Mir ist nicht klar, warum diese Identität zwingend ist.”

    Ich habe mir beim Lesen die selbe Frage gestellt. Dazu dann die Antwort im Jour fix Protokoll:

    “Es gehört zur politischen Moral, das Bild von der Großartigkeit Amerikas zu pflegen: Jeder hat die Chance, etwas aus sich zu machen und es kommt darauf an, sich in der Konkurrenz zu bewähren. Wenn dann etliche in den unteren Rängen der sozialen Hierarchie landen, wird das
    als Versagen gekennzeichnet, und gleich identifiziert damit, dass bei denen mit Aufmüpfigkeit und Kriminalität zu rechnen ist. Diese Gleichsetzung ist hier gemeint. Der Kampf gegen
    Kriminalität ist dann immer ein Kampf gegen die Leute, die, weil sie eben “loser“ sind, verdächtigt werden, dass sie sich nicht in die Ordnung einfügen und ihr nicht entsprechen, erst
    mal egal welcher Hautfarbe.
    Diese Gleichsetzung ist nicht das Ergebnis einer Untersuchung. Es handelt sich eben nicht um
    eine „ungerechte Verallgemeinerung“, wie es an einer Stelle im Artikel heißt, wo von Einzeltätern auf eine Gesamtheit geschlossen wird. Es geht vielmehr andersherum. Das feststehende Urteil lautet: Wer in dieser Gesellschaft nicht zurechtkommt, der hat kein Problem, der ist ein
    Problem. Von diesem Diktum ausgehend werden die Minderbemittelten verachtet und als Kriminelle verdächtigt. Einzelfälle werden unter dieses feststehende Urteil subsumiert und als Beleg für seine Richtigkeit genommen.”

    Diese Antwort ist etwas unbefriedigend weil es bloß als Beschreibung des Rassismus daherkommt: “als Versagen gekennzeichnet, und gleich identifiziert damit” Warum wird Versagen mit Aufmüpfigkeit und Kriminalität identifiziert? Der Fragesteller will den Grund (Notwendigkeit, warum zwingend) wissen, dieser wird aber nicht genannt, sondern einfach nochmal erzählt was offensichtlich ist, dass eben Versagen mit Gegnerschaft gegen die Konkurrenzordnung gleichgesetzt wird. Im nächsten Absatz wird von einem Diktum (einer feststehenden Aussage) gesprochen, als hätte das mehr Erklärungskraft.
    Hier meine Erklärung: Die Gleichsetzung von Versagen und Aufmüpfigkeit oder Kriminalität leitet sich aus der ideologischen Rechtfertigung der Konkurrenz ab. Man kann auch sagen, dass es sich um die moralische Überhöhung der Konkurrenz handelt. Die Konkurrenz wird also nicht als ökonomisches Prinzip verstanden, das Gewinner und Verlierer produziert und dadurch den Verlierern ihre Unterordnung bzw. ökonomische Schädigung z.B. in Form von Ausbeutung aufhalst, sondern als tatsächlich moralisches Prinzip, das praktisch die Gewinner von den Verlierern oder die Guten von den Schlechten schlechten scheidet. Es wird so getan als sei der wahre Zweck der Konkurrenz ein ideologisch moralischer, der die Guten von den Schlechten trennt. Sozusagen himmlische Gerechtigkeit (Sortieren der Seelen nach Himmel und Hölle)schon auf der Erde. So gesehen müssen die Gewinner, die Tüchtigen und Guten sein, während der Versager in der Konkurrenz die untauglichen und Schlechten sind. Das wäre meine Erklärungsidee: Die Konkurrenz wird umdefiniert in ein moralischen Veranstaltung, in der sich der Charakter des Menschen erweist.

  21. Die neue Russlandstrategie (08.10.2020)
    Berlin fordert neue Sanktionen gegen Moskau. Hintergrund: Debatte über deutsche Russlandpolitik. Neue Militäreinsätze im Gespräch.
    BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) – Die Bundesregierung verlangt neue EU-Sanktionen gegen Russland. Man werde in Brüssel “Vorschläge” für Zwangsmaßnahmen gegen Personen unterbreiten, die “aufgrund ihrer offiziellen Funktion als verantwortlich” für “die Vergiftung von Alexej Nawalny … gelten”, heißt es in einer Erklärung, die Außenminister Heiko Maas gestern gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Jean-Yves Le Drian veröffentlicht hat. Man habe bislang “von Russland keine glaubhafte Erklärung” für das Geschehen erhalten, heißt es weiter; für Berlin, das seinerseits keine Beweise für Nawalnys Vergiftung durch russische Staatsstellen hat, genügt das zur Begründung von Sanktionen. Hintergrund der Maßnahmen sind heftige Auseinandersetzungen in Berlin, die sich um Kursänderungen in der deutschen Russlandpolitik drehen. Ursache dafür ist wiederum, dass die Bundesregierung in ihren Machtkämpfen gegen Moskau seit einiger Zeit keinen Erfolg erzielt. Forderungen nach neuen militärischen Schritten, etwa einem EU-Einsatz in Libyen, werden laut. Pikant ist, dass kürzlich US-Pläne zur Vergiftung von Julian Assange bestätigt wurden.
    Sanktionen auf Verdacht
    Die Bundesregierung dringt auf neue Sanktionen gegen Moskau. Anlass ist der Vorwurf, der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sei in Russland mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden. Beweise, wie dies geschehen und wer der Täter sein soll, liegen bisher nicht vor; erst kürzlich hat Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder in Erinnerung gerufen, es handle sich im Wesentlichen um reine “Spekulationen”.[1] Am Wochenende haben russische Regierungsstellen zum wiederholten Mal darauf hingewiesen, dass Berlin mehrere Rechtshilfeersuchen sowie Bitten um Auskünfte verweigert hat.[2] In einer Erklärung, die Außenminister Heiko Maas und sein französischer Amtskollege Jean-Yves Le Drian gestern veröffentlicht haben, heißt es jetzt, es sei bislang “von Russland keine glaubhafte Erklärung” zu den Berliner Vorwürfen geliefert worden. Man sei deshalb “der Ansicht, dass es keine andere plausible Erklärung für die Vergiftung von Herrn Nawalny gibt als eine russische Beteiligung und Verantwortung”.[3] Man werde jetzt “die notwendigen Schlüsse aus diesen Tatsachen” ziehen – Beweise, wie erwähnt, gibt es bisher nicht – und der EU “Vorschläge für zusätzliche Sanktionen unterbreiten”. Mit Zwangsmaßnahmen belegt werden sollen “Einzelpersonen …, die aufgrund ihrer offiziellen Funktion als verantwortlich für dieses Verbrechen und den Bruch internationaler Rechtsnormen gelten”. Die Formulierung (“gelten”) bestätigt erneut, dass Berlin Sanktionen auf Verdacht verhängen will.
    Bislang kein Durchbruch
    Hintergrund der Sanktionspläne sind Kursänderungen in der deutschen Russlandpolitik, um die derzeit in Berlin heftig gerungen wird. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Berlin dort, wo es in konkreten Machtkämpfen mit Moskau steht, keinen Durchbruch erzielt, gleichzeitig aber auch auf den Konfliktfeldern, auf denen es aus einer Kooperation mit Russland Nutzen ziehen könnte, nicht von der Stelle kommt. So verweist eine aktuelle Analyse nicht nur auf die Ostukraine, deren Befriedung nach ihren eigenen Vorstellungen die Bundesregierung bislang nicht erzwingen kann, sondern auch auf Syrien, wo Berlin vergeblich die Entmachtung von Präsident Bashar al Assad verlangt, während Moskau “sich als Gewinner” sehe und erwarte, “dass Deutschland und die EU” Assad “beim Wiederaufbau finanziell unterstützen”.[4] Auch in Libyen verfolgten beide Seiten gegensätzliche Ziele, heißt es: Die Bundesrepublik suche eine Verhandlungslösung, während Russland weiter den ostlibyschen Warlord Khalifa Haftar fördere. Die Konflikte zurückzustellen, um gemeinsam beispielsweise das Atomabkommen mit Iran gegen die USA durchzusetzen, lohne nicht: Dazu seien, wie sich inzwischen gezeigt habe, “Moskau und Berlin zu schwach”.
    “Robuste EU-Mission in der Ostukraine”
    Um zumindest in einzelnen Konflikten Fortschritte zu erzielen, dringen manche nun auf eine massive Verschärfung der Aggressionen gegen Russland. So erklärt etwa Stefan Meister, bis März 2019 Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), seit Juli 2019 Leiter des Südkaukasus-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung (Bündnis 90/Die Grünen) im georgischen Tbilisi, das EU-Sanktionsregime gegen Russland sei “zu unflexibel und zu schwach, um echten Druck auf die russische Regierung aufzubauen” und Zugeständnisse etwa “mit Blick auf die Umsetzung der Minsker Abkommen zum Donbas” zu erzwingen.[5] “Deutschland und die EU” hätten deshalb “eine schwache Verhandlungsposition”. Meister schlägt mehrere Maßnahmen vor, um den Druck auf Moskau zu erhöhen. So müsse etwa “die Abhängigkeit von russischen Rohstofflieferungen … sinken”; dazu solle “Nord Stream 2 … auf den Prüfstand gestellt und bei fehlender Kooperationsbereitschaft der russischen Seite gestoppt” werden. Darüber hinaus sollten Sanktionen gegen Russen verhängt werden, die sich der “Korruption” oder “Desinformation” schuldig gemacht hätten. Es sei “notwendig”, mit russischen Künstlern und Intellektuellen im EU-Exil zu kooperieren, um “den russischen innenpolitischen Diskurs, u.a. über soziale Medien, [zu] beeinflussen”. Schließlich werde es “ohne militärischen Druck … nicht möglich sein, Konflikte, in die Russland involviert ist, auf Augenhöhe zu verhandeln”; zu erwägen seien daher etwa ein EU- oder NATO-Einsatz in Libyen, die Erzwingung von “Schutzzonen für Zivilisten” in Syrien und “eine robuste EU-Mission unter deutscher Beteiligung” in der Ostukraine.
    Mit Moskau gegen Beijing?
    Andere raten von einem unmittelbaren Übergang zu solch scharfen Aggressionen ab. Zwar müsse man mit Blick auf die “Ukraine, Syrien, Libyen” tatsächlich fragen: “Kann Moskau noch Partner sein, oder müssen sich Deutschland und Europa gegenüber Moskau abschotten?”, urteilt etwa Botschafter a.D. Rolf Nikel, Vizepräsident der DGAP.[6] Allerdings seien übergeordnete Faktoren zu berücksichtigen. Mit Blick auf den Machtkampf des Westens gegen Beijing etwa dürfe man “eine strategische Einbindung Russlands gegen China” nicht ausschließen: “Je tiefer” die Volksrepublik mit ihrer Neuen Seidenstraße “in Russlands Nachbarschaft eindringt, desto eher” werde Moskau bereit sein, “Kooperationsangebote” des Westens anzunehmen. Ein Ausstieg aus Nord Stream 2 sei darüber hinaus nicht nur teuer; er werde russische Gegenmaßnahmen zur Folge haben sowie das Vertrauen in die Verlässlichkeit von Investitionen in Deutschland untergraben. Nikel warnt daher: “Eine fundamentale Überarbeitung der europäischen Strategie gegenüber Russland wäre verfrüht.” Man solle “mindestens den Ausgang der Wahlen in den USA abwarten”. Auch “über einen eventuellen Baustopp der Pipeline Nord Stream 2” solle “erst im Rahmen der europäischen Gesamtstrategie entschieden werden”. Quasi als Kompromiss plädiert der DGAP-Vizepräsident für “EU-Sanktionen gegen den Personenkreis”, der “für den Einsatz des Nervengifts [Nowitschok, d. Red.] die Verantwortung trägt”. Freilich müssten dafür “gerichtsfeste Beweise für eine Verwicklung der jeweiligen Person in den Anschlag vorliegen”.
    “Assange vergiften”
    Pikant ist, dass erst wenige Tage vor Maas’ Sanktionsforderung US-Pläne zur Vergiftung von Julian Assange bestätigt wurden. Wie Zeugen im Londoner Auslieferungsverfahren gegen den WikiLeaks-Aktivisten am Mittwoch vergangener Woche berichteten, mussten sie als Mitarbeiter einer spanischen Security-Firma im Auftrag von US-Stellen nicht nur gesetzwidrige Abhöranlagen in der Botschaft Ecuadors in der britischen Hauptstadt installieren, um Assange, der sieben Jahre in dem Gebäude verbrachte, auszuspionieren. Ihre US-Auftraggeber hätten auch “extremere Maßnahmen” vorgeschlagen: So hätten sie angeregt, die Botschaftstür offen zu lassen, um es nicht näher beschriebenen Personen zu ermöglichen, einzudringen und Assange zu entführen oder zu vergiften.[7] Weshalb der in Betracht gezogene Giftmord letztlich nicht zur Ausführung kam, ist unbekannt.
    Die “Koalition der Entschlossenen” (II) (07.10.2020)
    Berliner Strategen fordern mehr deutsche Führung in der EU, “Kerneuropa” in der EU-Außenpolitik und größere Aggressionsbereitschaft.
    BERLIN (Eigener Bericht) – Mit wachsender Unruhe fordern deutsche Polit-Strategen eine entschlossenere globale Machtpolitik, eine Straffung der EU-Entscheidungsstrukturen und neue Schritte zur Stärkung weltpolitischer Aggressionsbereitschaft in der Bevölkerung. Berlin müsse “dafür sorgen, dass Europa handlungsfähig wird” und “sich auch durch den Einsatz von Machtmitteln gegenüber den Großmächten behauptet”, verlangt Wolfgang Ischinger, Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz. Ein neues Strategiepapier der Sicherheitskonferenz dringt auf eine klare “deutsche Führungsrolle” in der EU. Sollte sich das bisher mögliche Veto einzelner Mitglieder in der EU-Außen- und Militärpolitik nicht mit Mehrheitsentscheidungen unterbinden lassen, solle in weltpolitischen Fragen künftig eine “Koalition der Entschlossenen” voranschreiten, fordert der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS). Darüber hinaus fehle in der Bundesrepublik eine “gesellschaftliche Unbefangenheit des Umgangs mit den Streitkräften”. Das müsse sich ändern.
    Der “Münchner Konsens”
    Die wachsende Unruhe unter deutschen Polit-Strategen resultiert daraus, dass die bisherigen Anstrengungen zur Stärkung der Außen- und Militärpolitik aus ihrer Sicht nicht genügen, um den Anspruch auf eine eigene Weltmachtstellung umfassend zu realisieren. Bezug genommen wird immer wieder auf die Berliner Weltpolitik-Kampagne des Jahres 2014, die mit drei Reden auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 begann; damals machten sich Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in einer konzertierten Aktion und mit beachtlichem Medienecho für eine aggressivere deutsche Weltpolitik stark (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Unter Experten ist seitdem von einem “Münchner Konsens” die Rede. In der Tat hat die Bundesregierung seit 2014 allerlei Schritte in Richtung auf eine ausgreifendere Weltpolitik eingeleitet; nicht zuletzt hat sie den Militäretat, wie Wolfgang Ischinger, Leiter der Sicherheitskonferenz, vergangene Woche festhielt, um bislang rund 40 Prozent erhöht und will ihn in Zukunft weiter steigern. Milliardenschwere Rüstungsprojekte sind auf dem Weg.[2]
    “Europas Schicksal”
    Dies sei jedoch zu wenig, heißt es exemplarisch in einem aktuellen Strategiepapier der Münchner Sicherheitskonferenz. Um die Organisatoren der Konferenz herum hat sich inzwischen ein Apparat gebildet, der zunehmend als außen- und militärpolitischer Think-Tank auftritt. Deutschland stehe mit Blick auf die Zuspitzung der globalen Machtkämpfe “vor einer schicksalhaften Entscheidung”, schreiben die Autoren des Papiers: Setze es seine Außen- und Militärpolitik einfach fort, dann werde es mit der EU “zu einem ‘Anhängsel Eurasiens’ mutier[en]”, das “von anderen Mächten dominiert wird”.[3] Die aktuelle “weltpolitische Zeitenwende” – der Aufstieg Chinas und der damit verbundene Abstieg der USA sowie der erbitterte Machtkampf zwischen ihnen – verlange, dass “Europa sein Schicksal in die eigene Hand” nehme und seine Weltpolitik nun energisch verstärke. Hinzu kommt, dass Berlin und die EU bei ihrem Plan, den Staatengürtel rings um die EU – von Nordafrika über den Nahen Osten bis hin zur Ukraine – unter Kontrolle zu bekommen, weitgehend gescheitert sind. “Unsere Nachbarschaft von Libyen bis Belarus” sei im Laufe dieses Jahres “in Flammen versunken”, konstatierte kürzlich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.[4] Auch dies verlange eine Verstärkung der weltpolitischen Anstrengungen der EU.
    Deutsche Führung
    Die Münchner Sicherheitskonferenz schlägt dazu ein planvolles, systematisches Vorgehen vor. So müsse Deutschland, “um Europa handlungsfähig zu machen”, “zunächst auf nationaler Ebene seine strategischen Interessen definieren”. Dann solle es seine “Führungsrolle” in der EU festigen: “Nur wenn Deutschland sich der Führungsrolle stellt, die ihm als größtem Mitgliedstaat der Union zukommt, wird Europa in der Lage sein, souverän zu handeln”.[5] “Eine deutsche Führungsrolle” sei die “Voraussetzung für Europas Handlungsfähigkeit in allen Bereichen der Außen- und Sicherheitspolitik”. Das gelte “für den Umgang mit globalen Gefährdungen wie Erderwärmung, Migration oder Pandemien”, aber “auch für den Wettbewerb im Bereich der Künstlichen Intelligenz und anderer strategischer Technologien”.
    “Ein handlungsfähiges Kerneuropa”
    Ergänzend werden Forderungen nach einer Straffung der EU-Entscheidungsstrukturen laut – noch stärker als zuvor, seit Zypern die am Freitag beschlossenen EU-Sanktionen gegen Belarus mehrere Wochen lang verzögert hatte, um – letztlich vergeblich – die Berücksichtigung seiner Interessen in den Auseinandersetzungen mit der Türkei zu erzwingen. Die Union müsse in der “Außen- und Sicherheitspolitik zu Mehrheitsentscheidungen” übergehen, forderte der europapolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Florian Hahn, Ende vergangener Woche: “Das Prinzip der Einstimmigkeit stößt an seine Grenzen und zeigt die Schwäche der Europäischen Union, wenn es darum geht, sich weltpolitisch und geostrategisch als ernstzunehmender Akteur zu profilieren.”[6] Identisch argumentiert die Bundesregierung schon seit langem.[7] Für den Fall, dass sich der Übergang zu außen- und militärpolitischen Mehrheitsentscheidungen in Brüssel nicht durchsetzen lassen sollte, werden Rufe nach alternativen Lösungen lauter. So bekräftigt der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), Ekkehard Brose, seine Forderung, es müsse “von Fall zu Fall” bei außenpolitischen Themen eine “Koalition der Entschlossenen” innerhalb der EU voranpreschen – “ein handlungsfähiges Kerneuropa”.[8] Dies verlangt auch der ehemalige Planungstabschef im Verteidigungsministerium und langjährige Chefredakteur sowie Herausgeber der Wochenzeitung “Die Zeit”, Theo Sommer: “Notfalls müsste ein Kerneuropa vorangehen, wie dies bei der Schaffung der Eurozone und des Schengengebiets der Fall war.”[9]
    An einem Strang
    Ergänzend werden zweierlei Forderungen laut. Zum einen heißt es, die Bundesregierung solle sich schlagkräftiger aufstellen als bisher. Es gebe “zu viele Reibungsverluste zwischen den Ministerien”, urteilt BAKS-Präsident Brose: “Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungsministerium” sollten künftig “für alle sichtbar an einem Strang ziehen”.[10] Sicherheitskonferenz-Chef Ischinger spricht sich dafür aus, den Bundessicherheitsrat nach Vorschlägen von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer aufzuwerten.[11] Kramp-Karrenbauer hatte vergangenes Jahr verlangt, das zur Zeit unter anderem für die Genehmigung von Rüstungsexporten zuständige Gremium in einen “Nationalen Sicherheitsrat” zu transformieren sowie ihm die “Entwicklung strategischer Leitlinien” zu übertragen.[12]
    Jenseits des traditionellen Handlungsspektrums
    Darüber hinaus konstatiert das aktuelle Strategiepapier der Münchner Sicherheitskonferenz, “politische Handlungsfähigkeit” in der Außen- und Militärpolitik sei stets eng “an innenpolitische Zustimmung geknüpft”: Schließlich stehe die Wirksamkeit militärischer Maßnahmen in Frage, sofern “ein potentieller Gegner darauf spekulieren könnte, dass Deutschland im Zweifel vor einer militärischen Reaktion zurückschrecken würde”.[13] “Demokratische Außenpolitik braucht den Rückhalt der Bevölkerung”, schreiben die Autoren des Papiers: “Politik und Gesellschaft werden nicht umhinkommen, noch regelmäßiger, intensiver und ehrlicher über Außen- und Sicherheitspolitik zu diskutieren.” Dies gelte insbesondere, wo “unterschiedliche außenpolitische Grundorientierungen der Deutschen … aufeinanderprallen” – etwa “Multilateralismus und Anti-Militarismus”. “Die meisten Deutschen präferieren zivile Instrumente”, heißt es weiter: Dennoch werde man die Bevölkerung “mit guten Argumenten auch von Entscheidungen überzeugen” können, “die über das traditionelle Handlungsspektrum Deutschlands hinausgehen”.

  22. Wie die Krise derzeit die Finanzierungsmöglichkeiten jener Staatshaushalte (be)trifft, die früher mal eher als Entwicklungs- oder Schwellenländer gelabelt wurden, das erläutert Stephan Kaufmann, u.a. an den ‘Dilemmata’ der Staatsverschuldung der Türkei. Kaufmann berichtet, dass daher eine weltweite Schuldenstreichung vom IWF gefordert werde:
    “Die Forderung des Fonds vor der Herbsttagung von IWF und Weltbank in der kommenden Woche ist daher glasklar: Es braucht Erleichterungen wie die Streckung oder den Erlass von Schulden. Und zwar nicht mehr nur, wie bisher, von staatlicher Seite, sondern auch vom Privatsektor. Davon, so Georgieva, würden nicht nur die überschuldeten Staaten profitieren, sondern das System als Ganzes. Die Schuldenerleichterung aufzuschieben „macht die Situation nur noch schlimmer“, sprich: Die Gläubiger sollen auf die Einnahmen verzichten, die ohnehin uneinbringbar sind. (…)
    Ein gravierendes Problem ist laut der IWF-Chefin, dass der größte Teil der staatlichen Kreditgeber mittlerweile aus Ländern bestehe, die nicht dem Pariser Club staatlicher Gläubiger angehören – allen voran dürfte es sich dabei um China handeln. Dies, so Georgieva, mache Schuldenrestrukturierungen im Rahmen des Pariser Clubs schwierig. Insgesamt, so mahnt der IWF, müssten die Schulden der Entwicklungsländer transparenter werden und die staatlichen Gläubiger müssten sich auf ein gemeinsames Vorgehen bei Schuldenrestrukturierungen einigen. „Die Alternative dazu wären Pleiten in großem Maßstab, die die Erholung auf Jahre hinaus verzögern würden.“
    https://www.fr.de/wirtschaft/entwicklungslaendern-droht-der-absturz-90065830.html

    [Übrigens: Sowohl zu den diversen staatlichen Aktivitäten der Türkei als auch zu den globalen Beweggründen des IWF schweigt dieser Artikel in einer bürgerlichen Zeitung sich leider allzu vornehm aus. Er nimmt sie schlicht als gegeben hin …]

  23. Die Deutung der Resultate der Konkurrenz in ihr moralisches Weltbild sollen Schwarze und Hispanics bei den kommenden US-Wahlen um das von oben gelieferte Feindbild erweitern: Der Chinese ist schuld an ‘der schlechten Lage’. Dagegen braucht es den mächtigen Führer. Das wird aktuell in jedem Trump-Satz heruntergeleiert …
    Wie die derzeitige Krise die Klassen der USA unterschiedlich trifft, erläutert Stephan Kaufmann https://www.neues-deutschland.de/artikel/1142917.millionen-vor-dem-ruin.html?sstr=Stephan%20Kaufmann

  24. Die große Intrige
    Verschärfter antirussischer Kurs Berlins
    Von Reinhard Lauterbach
    Um das Leben von Menschen wie den im vergangenen Jahr im Kleinen Tiergarten in Berlin erschossenen Tschetschenen, machen sich Staaten wie die BRD normalerweise keine großen Gedanken: Ein Islamist mit Blut an den Händen, den selbst das Berliner Landeskriminalamt anfangs als »Gefährder« beobachtet hatte. Dann wurde er offenbar zur Quelle, und der Bundesverfassungsschutz wies seine Kollegen in Berlin und Brandenburg an, ihn in Ruhe zu lassen. Also ein »Böser« auf der »guten« Seite. Soll im Geheimdienstwesen öfter vorkommen.
    Natürlich verletzt die Ermordung des Mannes in Berlin das Gewaltmonopol des deutschen Staates. Aber dass die USA das Handy der Bundeskanzlerin Angela Merkel abhören, ist auch nicht von Respekt für die Souveränität der BRD gekennzeichnet. Berlin hat also im Umgang mit solchen Themen einen Ermessensspielraum. Im Fall des Tschetschenen wird der von den deutschen Behörden im Sinne maximaler Skandalisierung des Vorgangs genutzt. Am Mittwoch schrieb die Süddeutsche Zeitung (SZ), ein Drittel der Anklageschrift beruhe auf Erkenntnissen des britischen »Recherchekollektivs« »Bellingcat«. Es habe in Russland durch Korruption jede Menge Datensätze von Steuer- und Meldebehörden erbeutet und den Verdächtigen so ermittelt. Super rechtsstaatlich gewonnene Beweise also, vor Gericht wäre ihre Verwendung mehr als fragwürdig.
    Dass »Bellingcat«, wie es die SZ kolportiert, aus privaten Spenden finanziert wird, kann das Blatt aus dem Pullacher Vorort München unter dem Weihnachtsbaum erzählen. Privat ist daran allenfalls, dass jeder Geheimdienst Leute an der Hand hat, die bei Bedarf als Spender auftreten. Wir haben also eine Bundesanwaltschaft, die sich von einer Frontorganisation ausländischer Dienste auf eine Spur heben lässt und diesen – somit deren – Ansatz verfolgt. Die SZ glaubt, der »Tiergartenmord« sei das geeignete Mittel, der »rechtsfixierten deutschen Außenpolitik« klarzumachen, dass es mit Russland keine Zusammenarbeit mehr geben könne. Interessant an diesem Gedanken ist, dass es also so eine Agenda zu geben scheint. Wo? Dreimal darf man raten.
    Und jetzt stellen wir uns mal dumm und fragen, warum die Kanzlerin bewusst entschieden hat, den Fall Alexej Nawalny ins eigene Land zu holen, obwohl Juristen kritisierten, es fehle an einem »Anknüpfungstatbestand«: Schließlich sei Nawalny russischer Staatsbürger und die mutmaßliche Vergiftung in Russland geschehen. Ist es so weit hergeholt, zu vermuten, dass das Ganze die Funktion hat, erstens der BRD einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Projekt »Nord Stream 2« zu ermöglichen, das gegen die Sabotage der USA und den Widerstand eines Teils der EU wohl politisch nicht mehr durchsetzbar ist? Und zweitens auf diese Weise den durch den Streit um die Pipeline angegriffenen Führungsanspruch Berlins in der EU auf ­neuer – strikt antirussischer – Grundlage aufrechtzuerhalten?
    Informationskrieg über mutmaßliche Nawalny-Vergiftung
    Eigentlich müssten nur die in Russland und Deutschland entnommenen Blut- und Urinproben unabhängig geprüft werden. Derweil versinkt die Flaschen-Hypothese des Nawalny-Teams in Fake-News-Dimensionen, während der OPCW-Befund wohl gezielt vage blieb
    TP-Artikel zum “Fall Magnitsky”:
    Hinter den Kulissen des politisch instrumentalisierten Falls Magnitsky (12. Juni 2018)
    Aufklärung über den Magnitski-Fall (18. Juni 2018)
    Helsinki: Putin, Rechtshilfe und Bill Browder (18. Juli 2018)
    Browder und das Magnitski-Narrativ: Ende einer Desinformationskampagne? (24. November 2019)
    Gangsterstück mit Habeck
    Von Arnold Schölzel
    Im Berliner Politvarieté purzeln die Kanzlerkandidaten aus dem Zylinder. Bei »Maischberger. Die Woche« in der ARD durfte der Grünen-Kovorsitzende Robert Habeck am Mittwoch öffentlich ausbreiten, dass er antreten will. Das hörte sich im Grünen-Schwurbel so an: Man müsse »sich selbst überprüfen, ob man glaubt, man hat das moralische Rüstzeug und innere Ruhe, man hat einen Plan, was man will. Diesen Plan habe ich, und deshalb ist die Antwort: Ja, diese Prüfung würde ich für mich bestehen.« Frau Maischberger garnierte ihre Wahlkampf-PR mit einer rührseligen Homestory: Habeck, der zu Hause alles mit seiner Frau teilt – Romane schreiben, Kinder erziehen. Nur Politik macht er allein. Habeck ist wie das, was als Backware hierzulande durchgeht: außer Billigzucker kein Inhalt, aber krosse Kruste.
    Die stylen Großredaktionen seit Jahren. Mitte 2019 hievte z. B. der Stern den Flensburger auf den Titel – sorgfältig gewuscheltes Haar, sorgfältig bearbeitete Bartstoppeln, fester Blick in die Ferne und Wetterjacke mit offenem Kragen. Der Stern titelte: »Unser nächster Kanzler?« und meldete: »Robert Habeck und Annalena Baerbock führen die Partei mit einem revolutionären Konzept: Vertrauen«. Mehr Pose plus Inhaltsleere gehen nicht. Im November 2019 kam folgerichtig die Einsegnung von oberster Stelle. Transportunternehmer und HSV-Sponsor Klaus-Michael Kühne traf sich mit dem Auserwählten privat und verkündete anschließend: »Ich kann mir Herrn Habeck als Bundeskanzler einer grün-schwarzen Koalition vorstellen. Wenn man sich die Parteien in Deutschland anschaut, dann sind die Grünen der einzige Hoffnungsträger.« Jedenfalls für Kühne und andere deutsche Milliardäre. Danach lieferte Habeck pflichtgemäß: Attacke auf Trump (Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2020), Treffen mit ­Emmanuel Macron (Sicherheitskonferenz München im Februar 2020) und antirussische Anfeindungen.
    Die sind für deutsche Grüne generell eine leichte Übung – vom linken Antikommunismus der Gründerjahre zum antirussischen Furor heute herrscht Kontinuität. Habeck hat in dieser Hinsicht gegen einen Norbert Röttgen (CDU) längst die Nase vorn. Bereits im September 2016 sagte er, damals noch Minister in Kiel, Spiegel online: »Wladimir Putin bombardiert in Syrien Zivilisten, treibt damit noch mehr Menschen in Flucht, Elend und Tod. Und wir ermöglichen das über unsere Gas- und Öleinkäufe in Russland.« Diese Partnerschaft mit dschihadistischen Kopfabschneidern führte Habeck folgerichtig zu der Forderung, den Bau der Gasleitung Nord Stream 2 zu stoppen: »Mindestens muss der geplante Ausbau der Nord-­Stream-Pipeline gestoppt werden. Sonst helfen wir Russland, noch mehr Gas nach Deutschland und Europa zu transportieren und seine Einnahmen zu erhöhen.« Damals hatte die NATO gerade die Rückkehr zur atomaren Erstschlagsdoktrin des Kalten Krieges und die Erneuerung des Atomwaffenarsenals beschlossen.
    Auf NATO-Kurs blieb Habeck verlässlich auch 2020. Anfang September zitierte ihn die Süddeutsche Zeitung zu Nord ­Stream 2: »Diese Pipeline spaltete Europa. Sie ist ökologisch unsinnig und überdimensioniert. Und sie ist sicherheitspolitisch falsch.« Wenn die Bundesregierung sich jetzt nicht in der EU für einen Baustopp einsetze, sende sie das Signal an die russische Regierung: »Ihr könnt internationale Verträge brechen, wie ihr wollt, ihr könnt Menschen vergiften, ihr könnt euch benehmen wie die Axt im Walde, wirtschaftliche Interessen gehen immer vor.« Für Habeck geht jede Konfrontation mit Russland vor Frieden. Willige Helfer in den Großmedien stehen bereit. Das Gangsterstück heißt frei nach Brecht: Sowas will fast die Welt regieren.
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    Moskau lädt ein
    Außenminister Armeniens und Aserbaidschans zu Gesprächen in Russland
    Von Nick Brauns
    Knapp zwei Wochen nach Beginn des Krieges um die armenische Exklave Berg-Karabach sind die Außenminister Aserbaidschans und Armeniens am Freitag zu Waffenstillstandsgesprächen nach Moskau aufgebrochen. Das erklärte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa. Vorangegangen war ein Aufruf von Russlands Präsident Wladimir Putin zu einer Waffenruhe aus »humanitären Gründen zum Austausch von Gefallenen und Gefangenen«. Russland gilt als Schutzmacht Armeniens, wo sich ein russischer Truppenstützpunkt befindet, unterhält aber zugleich gute Beziehungen zu Aserbaidschan.
    Noch am Donnerstag hatte das Verteidigungsministerium in Baku Forderungen nach einem Waffenstillstand zurückgewiesen und dabei Rückendeckung durch die türkische Regierung erhalten. Die Türkei unterstützt die Offensive mit Beratern in der Führung der aserbaidschanischen Streitkräfte und dschihadistischen Söldnern aus Syrien. Bevor über einen Waffenstillstand gesprochen werden könne, müsse sich Armenien aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten zurückziehen, forderte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar.
    Seit ihrer Einnahme durch armenische Truppen Anfang der neunziger Jahre wurde die Bergregion Karabach zur Festung ausgebaut. Zudem halten armenische Truppen sieben weitere aserbaidschanische Provinzen, deren aserische Bewohner vertrieben wurden, als Pufferzone besetzt. Da die befestigten Verteidigungslinien an den Außengrenzen der international nicht anerkannten Republik Arzach für Bodentruppen schwer zu überwinden sind, setzt die aserbaidschanische Seite auf die Zermürbung der Zivilbevölkerung durch Luft- und Artillerieangriffe im Hinterland. So wurden Wohngebiete der Hauptstadt von Arzach, Stepanakert, mit Streubomben beschossen. Auch die als Symbol der armenischen Herrschaft über Berg-Karabach geltende historische Kathedrale von Schuscha wurde am Donnerstag durch Raketenbeschuss schwer beschädigt. Mindestens 400 Soldaten und Zivilisten sind im Zuge der seit dem 27. September laufenden aserbaidschanischen Offensive getötet worden.
    Auf den ersten Blick erinnert die militärische Lage an den türkischen Angriff auf den syrisch-kurdischen Kanton Afrin Anfang 2018. Auch dort kam die mit schweren Waffen angreifende Armee gegen die in den Hügeln eingegrabenen kurdischen Verteidigungskräfte wochenlang kaum voran. Den Ausschlag für die türkische Einnahme des Kantons gaben Luftangriffe auf zivile Infrastruktur. Doch anders als die Kurden, die dem nichts entgegensetzen konnten, verfügen die Verteidigungskräfte von Arzach über ZSE-23-4 Schilka Luftabwehrsysteme aus sowjetischen Beständen, mit denen Flugkörper in einer Höhe bis zu 1.500 Meter zerstört werden können.
    Ob es auf Moskauer Initiative zu einem dauerhaften Waffenstillstand kommt, hängt weniger von der militärischen Lage als von äußeren politischen Entwicklungen ab. »Aserbaidschan entscheidet nicht mehr selbst über sein Schicksal, das macht die Türkei«, hatte der armenische Präsident Nikol Paschinjan am Donnerstag gegenüber dem Spiegel erklärt. Doch für Ankara dient das Engagement in Russlands kaukasischem Hinterhof primär als Druckmittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen in Syrien und Libyen. Sollte die Türkei für Zugeständnisse des Kreml, wie etwa die Erlaubnis zu einem weiteren Einmarsch in das kurdische Selbstverwaltungsgebiet in Nordsyrien, ihre Unterstützung für das aserbaidschanische Militär zurückziehen, würde Bakus Offensive schnell ins Stocken geraten.

  25. Politisch motiviert: Moskau hält Prozess um Khangoshvili für Inszenierung
    Der Prozess um den sogenannten Tiergartenmord an dem Georgier Zelimkhan Khangoshvili hat kürzlich begonnen. Das russische Außenministerium hat die Bereitschaft, bei der Aufklärung des Falls mitzuwirken, signalisiert – aber auch auf die Voreingenommenheit der deutschen Justiz verwiesen.
    Tiergarten-Mord: Georgier Changoschwili war an Geiselnahme von Beslan beteiligt
    Dem georgischen Bürger Selimchan Changoschwili, dessen Mordfall derzeit in Deutschland verhandelt wird, wirft man in Russland vor, an einer Reihe von Terroranschlägen beteiligt gewesen zu sein.

  26. Der Artikel “Die Neue Russlandstrategie” bringt etwas Licht ins Dunkel der Nawalny Affäre.

    “Hintergrund der Sanktionspläne sind Kursänderungen in der deutschen Russlandpolitik, um die derzeit in Berlin heftig gerungen wird. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Berlin dort, wo es in konkreten Machtkämpfen mit Moskau steht, keinen Durchbruch erzielt, gleichzeitig aber auch auf den Konfliktfeldern, auf denen es aus einer Kooperation mit Russland Nutzen ziehen könnte, nicht von der Stelle kommt.”

    Mit anderen Worten: Die BRD stellt bei ihren imperialistischen Vorhaben und Projekten hauptsächlich Mißerfolge fest und will daraus Konsequenzen ziehen um diesen Zustand zu beenden. Der wichtigste Satz ist:

    “Schließlich werde es „ohne militärischen Druck … nicht möglich sein, Konflikte, in die Russland involviert ist, auf Augenhöhe zu verhandeln“”

    Das geht aber nicht ohne Europa, also muss Europa eine neue antirussische Ausrichtung erhalten, was aber die Unterordnung der gesamte EU unter dieses Ziel erfordert bzw. eine Befreiung von denjenien, die dabei nicht mitmachen wollen. Das nennt sich dann die „Koalition der (zum Krieg) Entschlossenen“. Die Eu muss also zu einem Kriegsbündnis ausgebaut werden bzw. innerhalb der EU muss eine antirussische Kriegskoalition geschmiedet werden. Dies sehen die Imperialisten in Berlin so, weil Europa ansonsten zwischen Russland/China und den USA zerquetscht wird und diese Einschätzung ist noch nicht mal aus der Luft gegriffen. Wer Imperialist sein will, für den sind diese Schlüsse folgerichtig.

    ” Deutschland stehe mit Blick auf die Zuspitzung der globalen Machtkämpfe „vor einer schicksalhaften Entscheidung“, schreiben die Autoren des Papiers: Setze es seine Außen- und Militärpolitik einfach fort, dann werde es mit der EU „zu einem ‚Anhängsel Eurasiens‘ mutier[en]“, das „von anderen Mächten dominiert wird“.[3] Die aktuelle „weltpolitische Zeitenwende“ – der Aufstieg Chinas und der damit verbundene Abstieg der USA sowie der erbitterte Machtkampf zwischen ihnen – verlange, dass „Europa sein Schicksal in die eigene Hand“ nehme und seine Weltpolitik nun energisch verstärke.”

    Die Nawalny Affäre taugt also in erster Linie dazu, eine europäische Willensbildung in Richtung einer militärischen Ausrichtung der EU in Gang zu setzen, notfalls nur als “Kerneuropa”. Sanktionen gegen Russland sind also nicht auf Erfolg gegen die russische Seite ausgelegt. Denn Sanktionen haben den bekannten Mangel, dass sich die russische Seite davon nicht beeindrucken lässt. Deshalb ist es durchaus möglich, dass die neue außenpolitische Linie sich nicht auf NordStream2 auswirkt. Denn der Ausstieg bringt der BRD nichts oder schadet sogar. Kann aber genauso sein, dass man des Prinzips wegen, auf NS2 pfeift. Jedenfalls geht es um größeres als eine Erdgasleitung.

  27. Die Unzufriedenheit damit, dass Frankreich die Lage durch seine nationale Brille sieht (und nicht durch die Brille der BRD oder Polens) wird in der FAZ zusammengefasst. “Realistisch” sei es, Macron würde die Deutung Berlins übernehmen:
    https://www.faz.net/aktuell/politik/macrons-illusion-mit-putin-frieden-schaffen-zu-koennen-16977734.html
    Realistisch ist aber hingegen, dass Frankreich nicht nur wegen des allgemeinen Einstimmigkeitsprinzips in der EU, sondern auch wegen der besonderen Dt.-Frz. Führung in der EU eine wichtige Rolle dabei mitspielt, wenn die EU sich strategisch neu ausrichtet. Und dabei müssen a l l e Mitglieder Ja und Amen sagen. Und das sind eben nicht nur die BRD und Polen. Sondern auch z.B. Zypern, Griechenland, Italien, Österreich etc. Möglich wäre natürlich, dass sich einzele getrennt vom Resthaufen stärker zusammentun, wie schon beim Euro-Geld. Aber auch das würde ja übrigens einen Haufen Konflikte auf die Tagesordnung stellen. Schon deswegen werden jetzt schon diverse EU-Staaten sich nur mit Vorbehalt hinter irgendwelche Russland-Sanktionen stellen, – falls es denn überhaupt dazu kommt. Oder man sich auf irgendwelchen Symbol-Schnickschnack einigt: nur der notdürftigen Einigung überhaupt wegen. Den nächsten “Brexit” möchten schließlich alle erst einmal tunlichst vermeiden. Und ‘nur’: damit die EU weiterhin für ihre je nationalen gegensätzlichen Interessen zukünftig tauglich bleibt.

  28. Frankreich mag vielleicht nicht die antirussische Ausrichtung, aber dass sich Europa außenpolitisch auf eine imperialistische Strategie einigt und sich das zugehörige militärische Potential dafür zulegt, das dürfte auch in Frankreichs Interesse sein. Mit der gesamten EU geht das nicht, aber mit einem Kerneuropa der Entschlossenen würde das schon gehen. So wird auch die Verlaufsform sein. Wer sich nicht hinter der Deutsch-Französischen Führung einreihen will, der wird aus dem neu zu gründenden militärisch ausgerichteten Bündnis eben draußen bleiben müssen.

  29. Die Frage ist nur, was die angestrebte antirussische Front sonst für den Zusammenhalt und das Prosperieren der EU hergibt. Wahrscheinlich nichts.
    Es ist ein Versuch, durch Deuten auf einen äußeren Feind Einheit zu schmieden und den Führungsanspruch zu bekräftigen, aber es ist nicht heraußen, warum Staaten wie Frankreich und auch andere dabei mitmachen sollten.
    Was schaut für sie denn dabei heraus?

  30. “Die Frage ist nur, was die angestrebte antirussische Front sonst für den Zusammenhalt und das Prosperieren der EU hergibt. Wahrscheinlich nichts.” Na aber klar bringt das was. Der Mangel, dass die EU militärisch nichts putzt wird behoben. Bisher konnte sie ja mit der Militärmacht der USA im Rücken imperialistisches Erpressungspotential entfalten. Das fällt jetzt weg, würde aber mit einem europäischen Kriegsbündnis wieder vorhanden sein. Und auf dieses Kriegsbündnis können sich auch die anderen EU-Staaten stützen, wenn sie zum EU Einflussbereich gehören. Noch nicht mal der EURO stiftet mehr Zusammenhalt als solch ein Kriegsbündnis.
    “durch Deuten auf einen äußeren Feind Einheit zu schmieden” Leider ist es ja nicht nur Deuten oder nur ein Mittel für den eigentlichen Zweck Zusammenhalt. Der EU-Imperialismus ist schon der eigentliche Zweck. Die Härte dieser deutschen Absichtserklärung muss man schon zur Kenntnis nehmen. Da kommen äußerst ungemütliche Zeiten auf uns zu.
    Macron macht mit, weil er von sich aus die selbe Diagnose der Weltlage hat. Auf die USA kann er nicht mehr zählen und Macron hat schon lange den Schluss gezogen, dass dann eben Europa selbst seine militärischen Erfordernisse bewältigen muss. Und Frankreich weiß genauso wie Deutschland, dass es europäische Zusammenarbeit unabdingbar braucht, wenn dieses Kriegsbündnis was gegen die Großmächte ausrichten können will. Die Franzosen können das auch nicht alleine. Es mag unterschiedliche nationale Interessen geben. Da muss man sich dann eben zusammenraufen und es muss ein Mix aus nationalen Interessensdefinitionen geben. Mit der Nato ging das ja schließlich auch und da sind die Unterschiede bis Gegensätze noch größer.

  31. PESCO ist das europäische Militärprojekt
    https://de.wikipedia.org/wiki/PESCO#Ziele_und_Verpflichtungen
    Drei Jahre alt ist diese Darstellung von PESCO und europäischer Rüstungskooperation:
    https://www.euractiv.de/section/europakompakt/news/eu-militaer-kooperation-wie-wird-europa-verteidigt/
    Ob aktuell mehr draus wird, – dafür dürfte die deutsche Ratspräsidentschaft ein Prüfstein sein.

    Das Gegenargument dagegen ist nach wie vor, dass Staaten ihre Außen- und Militärpolitik vergemeinschaften und einer Einheitlichkeit unterstellen müssten, wenn mehr draus werden soll als kooperative Erleichterungen beim Rüsten.
    Und allein schon die Vorbereitung des Einsammelns eines Kerneuropas der Entschlossenen würde die EU – vermutlich – derart auseinander spalten, dass der Brexit dagegen ein Kinderspiel war…
    Wenig begeistert ist man in Frankreich übrigens auch von deutschen Vorstellungen, die Franzosen sollten ihren permanenten Sitz im Sicherheitsrat der UNO “europäisieren”. Auch das spricht Bände.
    Pläne und Vorhaben – die gab es auch schon zu Zeiten der WEU …
    Die derzeitige Minimalstrategie der BRD scheint zu sein, dass man Sanktionen gegen Weißrussland und gegen Russland durchsetzen bzw. erneuern bzw. erweitern will. Selbst das scheint innerhalb der unterschiedlichen Interessen in der EU eine eher schwierige Gemengelage zu sein. (Das gilt ja übrigens auch bzw. erst recht für die BRD selbst. Nicht nur bei Nord Stream.)
    (Noch…) Weiteres sich vorstellen zu wollen, – das sei zwar unbenommen. Aber ob der Fall Nawalny aktuell für das Ausmalen einer naionalen Notstandslage incl. Neusortierung nationaler Essentials tauglich gemacht werden kann? Auch dazu hat man von Frankreich eher ein Abwinken gehört.

  32. “Und allein schon die Vorbereitung des Einsammelns eines Kerneuropas der Entschlossenen würde die EU – vermutlich – derart auseinander spalten, dass der Brexit dagegen ein Kinderspiel war…” Das muss aber nicht so sein. Das spaltet nur dann, wenn man das als Teil der EU machen will. Wenn das unabhängig von EU Strukturen verwirklicht wird, sind eben die Unentschlossenen draußen,ohne dass sie dagegen etwas tun könnten. Richtig ist natürlich, dass es wirklich eine gemeinsame Außen und Verteidigungspolitik braucht innerhalb der Entschlossenen. Da kann man dann nicht mehr so hin- und hereiern wie in der EU, wo jeder am gemeinsamen Feuer seine Extrawurscht brät. Ob das letztendlich was wird muss einen jetzt nicht kümmern. Wichtig sind doch jetzt erstmal die neuen Absichtserklärungen der außenpolitischen Vordenker.

  33. @Kehrer

    Der EU-Imperialismus ist schon der eigentliche Zweck. Die Härte dieser deutschen Absichtserklärung muss man schon zur Kenntnis nehmen.

    Meine Einwände gehen dahin, doch nicht immer gleich den Willen fürs Werk zu nehmen. Da wird aufgerüstet – für welche Art von Auseinandersetzung eigentlich? Welche Waffengattungen, wo einsetzbar?
    Dann zweitens, der Einsatz gegen Rußland – wie steht eigentlich die Südschiene dazu? Italien, Spanien, Portugal? Auch Frankreich macht Mandln.
    Tschechien und Ungarn sind ebenso eher desinteressiert an einer solchen Gefolgschaft.
    So Leute wie du glauben letztlich immer an die Vormacht Deutschlands und seine Fähigkeit, andere hinter sich zu versammeln.
    Es ist aber keineswegs heraußen, ob das so laufen wird. Im Gegenteil.
    Ich sehe das so, daß nach dem Scheitern in der Flüchtlingsverteilung jetzt von der deutschen Führung ein Versuch gemacht wird, über die Rußlandfeindschaft Einigkeit zu erzeugen – und dafür das ehrgeizige Energieprojekt zu opfern, das ja auch Deutschland als Hub eine Vormacht sichern sollte.
    Dazu kommt noch die Frage der Stellung der EU zu China, die sich nicht ganz von der Rußland-Gegnerschaft trennen lassen wird.
    Ein Bruch mit China würde die EU wirtschaftlich enorm schwächen und endgültig in die zweite Reihe der Großmächte verweisen.

  34. “Meine Einwände gehen dahin, doch nicht immer gleich den Willen fürs Werk zu nehmen.” Im letzten Satz meines vorigen Beitrags steht eigentlich, schon, dass es mir nicht drum geht den Willen für Werk zu nehmen, sondern den Willen zur Kenntnis zu nehmen.
    Und ich finde es auch verkehrt, dagegen immer einzuwenden: Ja die anderen EU Staaten wollen das vielleicht nicht und das spaltet die EU noch mehr und das versuchen sie eh schon immer, aber es klappt nicht und überhaupt bröselt die EU sowieso auseinander. Das halte ich für überflüssig und spekulativ. Was aus dem Willen wird oder nicht wird, das wird man dann schon sehen. Jetzt geht es doch erstmal darum, diese seltsame Nawalny Affäre zu beurteilen und da leuchtet mir eben am ehesten ein, dass die BRD mit den Erfolgen ihrer imperialistischen Vorhaben unzufrieden ist und sie deshalb Europa neu strategisch- militärisch ausrichten will.
    Wenn imperialistische Staaten ihre Absichten erklären, Pläne schmieden, Projekte entwickeln und Vorhaben beschließen, dann sollte man das ernst nehmen, besonders wenn es um Krieg und Frieden geht. Es wäre ja schön, wenn es nur Absichten wären die nicht umgesetzt werden, aber nach Murphys Gesetzt, kommt es erstens schlimmer und zweitens als man denkt.

  35. Den Einwand gegen nestor, andere beherrschen den Gedanken auch, dass man Pläne nicht durch den Hinweis darauf, dass es bloße Pläne seien, kritisieren kann, finde ich richtig.
    Und aus der Nawalny-Affäre kann man, das sei noch einmal unterstrichen, die Absicht herauslesen, dass die BRD der EU mehr Außen- und Militärpolitik verleihen will, was ihrer Ansicht nach, wegen ihrer eigenen Aufstellung und wegen z.B. Polens, nur als gemeinsame Frontaufstellung gegen Russland gehen würde. Bis dahin sehe ich einige Gemeinsamkeiten mit Krim.
    Dass aus gemeinsamer europäischer Außen- und Militärpolitik dann mehr wird, das ist allerdings die Frage nach der Einschätzung erstens des europäischen Hauptverbündeten, und zweitens der 26 anderen (Mit-)Macher-Staaten. [Wie die USA sich dazu stellen, das ist auch nicht nur wegen Nord-Stream wichtig. Sondern auch wegen der EU selbst, dort haben sie nämlich dicke Verbündete.|
    Und da hakt es meines Erachtens weniger daran, dass man die anderen europäischen Nationen nicht auch mal zur Übernahme einer temporären Feindschaftserklärung gegenüber Russland nötigen könnte [die einen müssen da stärker drangsaliert werden, die anderen, z.B. die Polen, sind sogar sowieso die noch größeren Scharfmacher.)
    Aber etliche Staaten machen Geschäfte mit Deutschland u n d a u c h mit Russland und sehen gar nicht ein, ihre nationalen Zwecke neu sortieren zu sollen, das betrifft darunter Frankreich mit seiner geostrategischen eigenen Ausrichtung noch einmal besonders. Aber auch etliche andere Staaten.
    Militär ist übrigens ein Mittel der Außenpolitik. Ggf. gemeinsamer Außenpolitiken verschiedener Staaten. Nicht aber ist Militär ein Hauptzweck, und demzufolge legen sich Staaten dann eine andere Außenpolitik zu. Nur weil sie eine gemeinsame Militärkonstellation hinbasteln wollen. Das mag kurzfristig auch mal als gemeinsame Russland-Verurteilung auf den Weg gebracht werden können. Scheitert dann aber an den gegensätzlichen Inhalten der nationalen Außenpolitiken.
    NN und nestor orientieren sich anscheinend gerne an den Gedankengängen des think-tanks “german foreign policy”. Dieser think-tank ist ein eher linkes Projekt, welches prinzipiell hinter Deutscher Außenpolitik die alte Weltmachtgeltung entlarven will. Das ist schön und gut. Ob es als Gewährsmann für die wirklichen aktuellen Vorhaben deutscher Politiker aber taugt? Ob es also überhaupt so ist, dass deutsche Außenpolitiker in german foreign policy ihre Absichten erklären, das ist m.E, so sicher nicht. Erklären tun sich da erst einmal die linken Herausgeber dieses Projektes. Das gilt so auch für Lauterbach aus der jw. Oder, noch anders, die sputnik-news.
    Mir scheint eher auffällig zu sein, dass die deutsche Außenpolitik auf Deubel komm raus nicht davon lassen will, dass die Amis die Weltordnungsfragen doch bitte im deutschen Interese weiterhin erledigen sollen, bitte lieber durch Herrn Biden. Der Kandidat Röttgen von der CDU buchstabiert es jeden Tag, dass er seine Russland-Hetze in irgeneine erhoffte transatlantische Erneuerung überführen will.
    Einen Aufbruch dahin, dass man europäische Außenpolitik hochhalten oder militärische europäische Strukturen errichten wolle, den sehe ich weit und breit in Deutschland nicht. In dieser großen Koalition zumindestens nicht. Bei Regierenden im europäischen Ausland übrigens auch nicht. Entsprechende französisch gemeinte Vorschläge von vor zwei Jahren wurden und werden 2020 sogar noch offensiv brüskiert. Und daher ist die neue EU-Formation PESCO (s.o.) anscheinend auch lediglich eine Variation der uralten Idee einer “Westeuropäischen Verteidigung Union” (WEU), die schon damals zwischen BRD und Frankreich umstritten war.
    (Ein etwas regierungsnäher deutscher think-tank namens “Internationale Politik” veröffentlicht seine Einschätzungen leider meist gegen Cash. Das ist auch gerecht, meist geht es nämlich dort [in Außenminister Maas’scher Diktion] um “Werte” und internationales Werte-Geschwurbel, – die USA reden über die UNO bekanntlich etwas anders… IP ist kein linkes antifaschistisches Entlarvungsprojekt. Auch die FAZ ist m.E. immer ziemlich nah dran an den Überlegungen der Regierenden.) Dass einem nach Lektüre in solchen Blättern eher speiübel wird, wesewegen man sich dgl. freiwillig meist nicht unbedingt so gerne antut, mag schon sein. Als linkes Unterhaltungsprogramm taugt FAZ-Lektüre meist eher weniger…
    Insgesamt fehlt eine linke Einschätzung der Europa-Politik, die nicht davon angetrieben würde, darin die Wiederauferstehung des alten deutschen Faschismus vermuten zu wollen. Deutsche Europa-Politik ist nicht einfach eine andere Variante des rechten “Flügels” der AFD.
    Ich empfehle da eher diese Darstellungen:
    https://www.contradictio.de/blog/archives/7437
    https://www.contradictio.de/blog/wp-content/uploads/2018-05-17-Die-EU-in-Zeiten-von-America-first-Marburg.pdf
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/nachschlagen/lander-abkommen/europa

  36. EU will russisches Gas
    Außenminister der Europäischen Union kündigen wegen des Falls Nawalny Sanktionen gegen Personen in Russland an. Nord Stream 2 bleibt
    Von Arnold Schölzel
    Die 27 Außenminister der EU-Staaten einigten sich am Montag bei einem Treffen in Luxemburg einstimmig darauf, wegen des Falls Alexej Nawalny mit den Vorbereitungen für Sanktionen gegen Russland zu beginnen. Das bestätigte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach den Beratungen.
    Deutschland und Frankreich hatten zuvor EU-Strafmaßnahmen vorgeschlagen. Sie begründeten den Schritt damit, dass Russland dem Vorwurf der Verantwortlichkeit für den von Berlin und Paris behaupteten Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen nichts Glaubhaftes entgegensetze. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) und sein französischer Kollege Jean-Yves Le Drian hatten in einer gemeinsamen Erklärung geschrieben, »dass es keine andere plausible Erklärung für die Vergiftung von Herrn Nawalny gibt als eine russische Beteiligung und Verantwortung«. Auf Beweise verzichteten sie.
    Die Strafmaßnahmen sollen auf Einzelpersonen abzielen, »die aufgrund ihrer offiziellen Funktion als verantwortlich für dieses Verbrechen und den Bruch internationaler Rechtsnormen gelten, sowie auf eine Einrichtung, die in das Nowitschok-Programm eingebunden ist«. Maas behauptete am Montag in Luxemburg erneut, die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) habe bestätigt, dass es sich bei der Vergiftung Nawalnys um einen Verstoß gegen das Chemiewaffenübereinkommen handele. In ihrem Bericht hatte die OPCW die Vokabel »Kampfstoff« allerdings nicht verwendet.
    Die Einigung auf »Vorbereitung« von Sanktionen markiert das vorläufige Ende einer von Berlin geschürten EU-weiten antirussischen Kampagne. Die Nachrichtenagentur dpa kommentierte das vergleichsweise magere Ergebnis mit den Worten: »Die geplanten EU-Sanktionen könnten nun auch den Druck auf die Bundesregierung mindern, einen Baustopp für die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 zu verfügen«.
    Nawalny war am 20. August während eines Inlandsflugs in Russland zusammengebrochen. Nach einer Notlandung in der sibirischen Stadt Omsk wurde er auf Drängen seiner Familie in die Berliner Charité verlegt. Der 44jährige hat das Krankenhaus mittlerweile verlassen und unterzieht sich in der deutschen Hauptstadt einer Rehamaßnahme.
    Am 2. September hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erklärt, ein Speziallabor der Bundeswehr habe »einen klaren Befund« geliefert, dass Nawalny »Opfer eines Angriffs mit einem chemischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe« geworden sei. Außenminister Maas brachte am 6. September die im Bau befindliche Gasleitung Nord Stream 2 ins Spiel: »Ich hoffe nicht, dass die Russen uns zwingen, unsere Haltung zu Nord Stream 2 zu ändern«. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU), und vor allem Grünen-Politiker verlangen seitdem den Stopp des Pipelinebaus. Spiegel und Bild gaben kürzlich Nawalny Gelegenheit, in Interviews den russischen Präsidenten Wladimir Putin als Drahtzieher der angeblichen Giftattacke zu beschimpfen und Exbundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) als dessen »Laufburschen«. Schröder hatte in seinem Podcast gesagt, »gesicherte Fakten« gebe es zur Verantwortung für den Anschlag nicht.
    Am Freitag wies der russische Außenminister Sergej Lawrow in Moskau darauf hin, dass Deutschland und die OPCW keine Beweise übermittelt haben, sondern nach dem Auskunftsersuchen Moskaus jeweils aufeinander verwiesen. Er erwarte aus Berlin keine Beweise mehr, zumal vier Rechtshilfeanträge Russlands nicht beantwortet worden seien.
    __________________
    Nachbarschaft in Flammen (II) (13.10.2020)
    EU ohne Einfluss auf den Krieg um Berg-Karabach; Kooperation mit Russland nach den jüngsten Sanktionsbeschlüssen kaum noch möglich.
    BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Mit hilflosen Appellen fordert die EU Armenien und Aserbaidschan zu einem Waffenstillstand auf. Die Kämpfe um Berg-Karabach müssten umgehend beendet werden, hieß es gestern bei einem Treffen der EU-Außenminister. Konkrete Maßnahmen wurden nicht bekannt. Berliner Außenpolitik-Experten raten, mangelnden eigenen Einfluss auf die Konfliktparteien durch koordinierte EU-Aktivitäten sowie durch Absprachen mit Russland wettzumachen. Mit Unterstützung durch Moskau hatte Berlin zu Jahresbeginn in ähnlicher Lage Fortschritte im Bemühen um einen Waffenstillstand in Libyen erreichen können. Im aktuellen Fall ist diese Option nicht in Sicht: Die EU-Außenminister haben gestern auf deutsch-französische Forderung hin Sanktionen gegen Russland beschlossen. Experten urteilen, Moskau erwarte jetzt “nichts mehr von Europa”; es fühle sich “nicht mehr verpflichtet, dessen Meinung oder Interessen zu berücksichtigen”. Einfluss auf die Türkei zu nehmen, die Aserbaidschan unterstützt, gelingt der EU wegen innerer Differenzen nicht: Ankara spielt Berlin und Paris gegeneinander aus.
    Fäusteschwingen im Parlament
    Bereits vor dem gestrigen Treffen der EU-Außenminister hatte die Bundesregierung versucht, sich in die internationalen Vermittlungsbemühungen im armenisch-aserbaidschanischen Krieg um Berg-Karabach einzuschalten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte Ende September, kurz nach dem Beginn der Kämpfe, erstmals mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew sowie Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan telefoniert und auf einen Waffenstillstand sowie die Aufnahme von Verhandlungen gedrungen. [1]Am Sonntag sprach sie erneut mit Paschinjan, um sich für die Beendigung der Kämpfe stark zu machen.[2] Außenminister Heiko Maas hat inzwischen mehrfach mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu konferiert, um nach Lösungen für den Konflikt zu suchen. Erfolge sind bislang ausgeblieben. Das trifft auch auf die Bemühungen der EU zu, Möglichkeiten zur Einflussnahme zu finden. Zwar forderten vergangene Woche zahlreiche Europaabgeordnete die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen; Berichterstatter sprachen von einem “kollektiven Fäusteschwingen im Parlament”.[3] Am Ende der Debatte bekräftigte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, er werde tun, was “auf diplomatischer Ebene” machbar sei. Seine Handlungsoptionen seien jedoch begrenzt, da die EU-Staats- und Regierungschefs soeben erst beschlossen hätten, über etwaige Sanktionen gegen die Türkei nicht vor Dezember zu entscheiden: “Daran müssen wir uns halten”, konstatierte Borrell.
    Mächte mit Einfluss
    Auch die EU-Außenminister konnten bei ihrer gestrigen Zusammenkunft keine Fortschritte in der Sache erzielen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hatte sich anlässlich des Treffens “besorgt” über den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gezeigt; Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, Gastgeber des Treffens, hatte gefordert, einen dauerhaften Waffenstillstand “möglichst schnell hinzukriegen”.[4] Es blieb allerdings bei wirkungslosen Appellen. Die einzigen beiden Staaten, die zur Zeit über tatsächlichen Einfluss auf Baku bzw. Eriwan verfügen, sind Russland und die Türkei. Während Ankara das mit ihm verbündete Aserbaidschan umfassend unterstützt (german-foreign-policy.com berichtete [5]), unterhält Moskau enge Beziehungen zu Armenien, das seinen wirtschaftlichen (Eurasische Wirtschaftsunion) und militärischen (OVKS) Bündnissen angehört. Es hat allerdings auch Aserbaidschan Waffen geliefert und unterhält tragfähige Beziehungen zu dem Land. Am Samstag war es der russischen Regierung gelungen, zumindest zeitweise eine humanitäre Waffenruhe zu erreichen. Auch wenn beide Seiten längst gegen diese verstoßen, hat Moskau damit einen ersten Durchbruch im Rahmen der internationalen Vermittlungsbemühungen erzielt.
    “Ein Schatz”
    Ratschläge von Berliner Experten, die fehlenden eigenen Einflussoptionen durch gemeinsame, mit Frankreich koordinierte EU-Aktivitäten und, “soweit nötig”, durch Absprachen mit Russland zu ersetzen [6], laufen bislang ins Leere – wegen außenpolitischer Entscheidungen, die Berlin in den vergangenen Wochen und Monaten getroffen hat. Absprachen mit Moskau hatten noch Anfang des Jahres in einem ganz anderen Konflikt gewisse Fortschritte ermöglicht: bei der Vorbereitung der Berliner Libyen-Konferenz. In Vorbereitung der Konferenz hatte Kanzlerin Merkel, auch dies in Ermangelung eigener Einflusshebel, in Moskau Gespräche mit Präsident Putin geführt, um sich russische Rückendeckung für die Vermittlungsbemühungen im Libyen-Krieg zu sichern. Dazu ließ sich damals der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Bijan Djir-Sarai, mit der Äußerung zitieren, “früher” sei es bei der Lösung von Konflikten “üblich” gewesen, in Washington vorzusprechen: “Heute müssen Sie in Moskau anrufen.” (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Alexander Graf Lambsdorff, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion und ebenfalls zuständig für Äußeres, urteilte seinerseits mit Blick auf die Unterstützung durch Russland, die deutsch-russischen Beziehungen seien “ein Schatz”. Tatsächlich gelang es Berlin damals mit Moskaus Hilfe, zumindest einen offenen Eklat seiner Libyen-Vermittlungsbemühungen zu verhindern.
    Keine Erwartungen mehr
    Vergleichbare Absprachen mit Russland sind heute nicht in Sicht. Ursache ist insbesondere das Vorgehen der Bundesregierung im Fall Nawalny. Bereits Mitte September hatte Dmitri Trenin, ein Experte von Carnegie Moscow, gewarnt, der Fall sei zum “Wendepunkt in den russisch-deutschen Beziehungen” geworden.[8] Als Präsident Putin die Erlaubnis gegeben habe, Nawalny zur Behandlung nach Berlin auszufliegen, habe er kaum mit den darauf folgenden Vorwürfen der Bundesregierung gerechnet, urteilt Trenin: Diese seien für ihn “ein Stich in den Rücken” gewesen. Moskau werde “ein neues Kapitel” im Umgang mit Berlin aufschlagen und die Bundesregierung von nun an “als unter US-Kontrolle stehend” einstufen. Die Lage werde “zugleich einfacher und risikoreicher”: “Russland erwartet nichts mehr von Europa, und es fühlt sich daher nicht mehr verpflichtet, dessen Meinung oder Interessen zu berücksichtigen.” Dies gilt umso mehr, als Berlin und Paris vergangene Woche neue Sanktionen gegen Russland forderten [9] und am gestrigen Montag die EU-Außenminister solche Sanktionen prinzipiell beschlossen haben. Damit wird jede Zusammenarbeit noch weiter erschwert – auch dort, wo Berlin Vorteile daraus ziehen könnte. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte schon vor dem gestrigen Sanktionsbeschluss offen gewarnt: “Mit den Beziehungen zwischen Russland und der EU geht es rapide bergab.”[10]
    Innere Differenzen
    Auch die Option, gemeinsam mit Frankreich eine schlagkräftige EU-Politik gegenüber Armenien und Aserbaidschan zu entwickeln, ist nicht in Sicht. Ursache sind anhaltende Differenzen zwischen Berlin und Paris in der Türkeipolitik. Paris ist bemüht, seinen Einfluss im östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten, etwa im Libanon, zu stärken und kollidiert dabei mit der Türkei, die ebenfalls expansive Strategien verfolgt (“Neo-Osmanismus”, “Blaue Heimat” – german-foreign-policy.com berichtete [11]). Berlin hingegen setzt – aus geostrategischen Gründen und zur Flüchtlingsabwehr – auf eine gewisse Kooperation mit Ankara; Kanzlerin Merkel hat auf dem jüngsten EU-Gipfel die Verhängung neuer Sanktionen gegen die Türkei abgewehrt und anschließend bekräftigt, weil es ein Interesse an “strukturell guten Beziehungen mit der Türkei” gebe, gelte es, sich “in Sachpunkten zusammenzuraufen”.[12] Am 6. Oktober stellte sie dem türkischen Präsidenten Erdoğan eine “Weiterentwicklung der EU-Türkei-Beziehungen” in Aussicht.[13] Ankara wiederum, weit davon entfernt, seine Unterstützung für Baku unter etwaigem Druck der EU zu reduzieren, macht sich die Differenzen zwischen Berlin und Paris zum wiederholten Male zunutze und hat gestern mitgeteilt, das Forschungsschiff Oruç Reis jetzt erneut in von Griechenland beanspruchte Gewässer vor der griechischen Insel Kastellorizo zu entsenden. Damit düpiert es Berlin und stachelt Paris zu neuen Sanktionsforderungen und damit zugleich zum Opponieren gegen Deutschland auf.

  37. “Aber etliche Staaten machen Geschäfte mit Deutschland u n d a u c h mit Russland und sehen gar nicht ein, ihre nationalen Zwecke neu sortieren zu sollen, ”

    Seit es Sanktionen wegen der Annexion der Krim gibt, haben sie das doch schon eingesehen.

    ” Nicht aber ist Militär ein Hauptzweck, und demzufolge legen sich Staaten dann eine andere Außenpolitik zu. “

    Wie immer geht es umgekehrt. Das Militär ist Mittel der Außenpolitik, weswegen Russland mit Nawalny ja auch zu einem Staat erklärt wird, der demokratische Werte im Umgang mit seiner Bevölkerung nicht befolgt. Untertanen vergiften ist ein Zeichen eines Unterdrückungsstaates. Darin steckt eine Feindschaftserkläung.

    “Scheitert dann aber an den gegensätzlichen Inhalten der nationalen Außenpolitiken.”

    Ohne Russland dauerhaft zum Feind zu erklären und das auch ernst zu meinen geht das natürlich nicht. In diesem Punkt wären die Inhalte dann nicht mehr gegensätzlich.

    “Einen Aufbruch dahin, dass man europäische Außenpolitik hochhalten oder militärische europäische Strukturen errichten wolle, den sehe ich weit und breit in Deutschland nicht.”

    Gut. Aber wieso dann die Nawalnyaffäre produzieren? Ist das bloß ein Ausdruck dessen, dass die BRD mit ihren imperialistischen Vorhaben auf der Stelle tritt und nicht recht weiß was zu tun ist? Sanktionsforderungen kontert Russland jetzt damit, dass EU Interessen im Berg-Karabachkonflikt nicht mehr berücksichtigt werden.
    (Wurden sie denn bisher berücksichtigt). Es ist ja auch irgendwie blamabel, wenn die Kanzlerin sich einzumischen versucht und von allen Beteiligten links liegen gelassen wird.

  38. @Kehrer

    Jetzt geht es doch erstmal darum, diese seltsame Nawalny Affäre zu beurteilen und da leuchtet mir eben am ehesten ein, dass die BRD mit den Erfolgen ihrer imperialistischen Vorhaben unzufrieden ist und sie deshalb Europa neu strategisch-militärisch ausrichten will.

    Ich glaube, da wird dir auch niemand widersprechen.
    Nur wie diese militärische Ausrichtung aussehen und wer dabei mitgehen will, wird sich erst noch weisen.
    Ich könnte mir vorstellen, daß es in Deutschland Leute – “Transatlantiker” – gibt, die lieber Frankreich im Regen stehen lassen und Polen zum neuen Partner machen würden, aber das wäre eben ein Bruch mit der bisherigen Politik.
    @Leser

    NN und nestor orientieren sich anscheinend gerne an den Gedankengängen des think-tanks

    Eine seltsame Beobachtung.
    NN “orientiert” sich nicht daran, er postet sie, weil er sie für informativ und gut recherchiert hält.
    Ich hingegen kommentiere sie hin und wieder, was man auch nicht gut mit “Orientierung” beschreiben kann.
    Ich stelle bei Deutschland den Vesuch fest, die Großmachtstellung zu wünschen und die EU als ihr diesbezügliches Vehikel zu verwenden, und das haut halt nicht hin.

  39. Russland ist einerseits für Deutschland ein Nachfrager deutscher Waren, Lieferant von Rohstoffen, also Teil des weltweiten Geschäfts deutscher Kapitalisten, für dessen Wachstum sich ja im Regelfall der Staat stark macht. Dementsprechend rennen auch diverse Lobbyisten durch das Ländle, auch ehemalige Großkopferten, die für “normale Geschäfte” mit Russland werben. Genauso wie ehemalige Bürgermeister oder Landtagsabgeordnete Honorarkonsuln sein mögen für Algerien, Marokko oder in den Aufsichtsräten diverser globaler Firmen sitzen mögen.
    Getrennt davon gibt es einen Einspruch aus Deutschland als europäische Führungsmacht. Russland sei nicht schlichtweg irgendeine kapitalistische Partnernation für deutsche Geschäfte. Sondern es sei ein ziemlich prinzipielles Hindernis und Feind darin, dass es selbst Regeln setzt, Schranken aufstellt…
    … für a) deutsches Kapital, also fürs Geschäft – insofern als Russland als riesiger staatlicher Souverän eigene Interessen bei den Geschäften machtvoll durchsetzen kann, so ein Gigant lässt sich nicht ratzfatz bei Geschäften abzocken.
    … für b) europäische Expansion im Gebiet des ehemaligen Ostblocks, welches Russland als sein nahes Ausland, und als sein Einflussgebiet definiert hat. Obendrein versucht Russland, so die Deutung der EU, die Entwicklung der Europäischen Union zu stören, lustigerweise bereits schon durch seine bloße (zu) machtvolle Existenz. Und es nimmt sich sowieso immerzu viel zu viel selbst heraus, was d i e s e m Staat nicht zustehe. Ob Krim, ob Syrien, ob sonstwas…
    So definiert die BRD eine eigene neue antirussische Feindschaftserklärung gegen Russland, die sich daraus speist, dass die EU selber sich als machtvoller Konkurrent zu USA, Russland und China aufzustellen bestrebt ist.
    Und d a f ü r definiert die EU Russland als Hindernis.
    Sooo kommt m.E. die neue antirussische Ausrichtung zustande. Und nicht deswegen, weil insgeheim immer noch alte Nazis einen alten Revanchismus verbreiten würden.
    Diese Feindschaftserklärung, die als solche von der deutschen Ratspräsidentschaft für ganz Europa angemeldet worden ist, muss allerdings in Europa erst noch durchgesetzt werden. Ob der Fall Nawalny dafür taugt? Man habe Verhandlungen über Schritte gemeinsam in Gang gebracht. Ein “Durchregieren” unter deutscher Präsidentschaft würde sich aber anders anhören….

  40. Lawrow warnt vor Ende des Dialogs mit EU
    Moskau. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat mit Blick auf die derzeitige Kampagne der EU gegen Moskau vor einer zeitweiligen Beendigung des Dialogs gewarnt. Die für die Außenpolitik in der EU verantwortlichen Politiker verstünden nicht die Notwendigkeit eines von gegenseitiger Wertschätzung geprägten Gesprächs, sagte Lawrow nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge am Dienstag bei einem Expertenforum.
    »Vielleicht sollten wir für eine Zeit einfach aufhören, mit ihnen zu sprechen – vor allem, wenn (EU-Kommissionspräsidentin) Ursula von der Leyen mitteilt, dass mit dem gegenwärtigen russischen Apparat eine geopolitische Partnerschaft nicht gelinge«, sagte Lawrow.
    Laut Außenministerium in Moskau sprach Lawrow am Dienstag auch mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. »Die russische Seite unterstrich, dass die Eskalation antirussischer Gefühle in der EU, die Schaffung neuer Irritationen unter erfundenen Vorwänden eine Normalisierung in Europa nicht erleichtern«, hieß es dazu im Anschluss aus dem russischen Außenministerium laut der Nachrichtenagentur TASS. Unter anderem seien in dem Gespräch drängende internationale Fragen erörtert worden, darunter die Umsetzung der Minsker Abkommen über die Beilegung des Konflikts in der Ukraine, die Beilegung des Konflikts in Berg-Karabach in Übereinstimmung mit der gemeinsamen Erklärung der ausländischen Minister Armeniens, Aserbaidschans und Russlands sowie die Lage in Belarus.
    Außerdem gab Borrel das Ergebnis der Sitzung des EU-Außenministerrates vom 12. Oktober bekannt. Das Telefongespräch fand laut TASS auf Initiative der EU statt. (dpa/jW)
    ________________
    Wettlauf um Rohstoffe
    Planungen für die Zeit nach dem Erdöl: EU will sich unabhängig von Importwaren aus Drittstaaten machen
    Von Jörg Kronauer
    Sind Spezialmetalle das neue Öl? Maros Sefcovic, Vizepräsident der EU-Kommission und seinerzeit noch EU-Energiekommissar, machte sich im November 2018 durchaus Sorgen. Die Kommission richte ihre Aufmerksamkeit stark darauf, die Abhängigkeit der Union von fossilen Brennstoffen zu verringern, äußerte er damals im Interview mit dem Onlineportal Euractiv. Gelinge das, dann werde man künftig andere Rohstoffe benötigen – solche, die für die ökologisch-digitale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft notwendig seien, für den Bau von Windrädern, E-Autos und einigem mehr. »Wir müssen sehr gut aufpassen«, warnte Sefcovic, »dass die heutige Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wie Öl und Gas nicht durch eine Abhängigkeit von Lithium, Kobalt, Kupfer und anderen Rohstoffen ersetzt wird.« Geschehe das, dann würden Spezialmetalle tatsächlich »das neue Öl«.
    Knapp zwei Jahre später, am 29. September 2020, hat Sefcovic, inzwischen als Kommissions-Vizepräsident für interinstitutionelle Beziehungen zuständig, offiziell die neue EU-Rohstoffallianz vorgestellt. Ihre Aufgabe ist es, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Rohstoffe, die die EU-Industrie für die Energie- und die Digitalwende braucht, stets in ausreichendem Umfang vorhanden sind. Klar scheint, dass neue industrielle Abhängigkeiten entstehen werden: Elektroautos brauchen kein Benzin mehr, dafür aber Lithiumbatterien; Windräder mögen Kohlekraftwerke ersetzen, für ihre Herstellung benötigt man allerdings seltene Erden. Da die kritischen Rohstoffe, Spezialmetalle etwa, überwiegend importiert werden, drohen aus den industriellen Abhängigkeiten politische zu werden – dies jedenfalls, wenn sich die globalen Konflikte verschärfen und die Beziehungen zu den Lieferländern leiden. Das aber ist bekanntlich der Fall.
    Einen Überblick über die Lage sowie mögliche Handlungsoptionen hat die EU-Kommission in einem am 3. September vorgelegten »Aktionsplan« skizziert. Darin listet sie zunächst »kritische Rohstoffe« auf – diejenigen, die für die Industrie unverzichtbar sind, bei denen aber Versorgungsrisiken bestehen oder entstehen können. Beispiele: Kobalt wird zu 68 Prozent aus der Demokratischen Republik Kongo eingeführt, die seit vielen Jahren von Krisen und Bürgerkriegen erschüttert wird. Seltene Erden kommen zu 98 Prozent aus China; Bor, das die Halbleiterindustrie benötigt, wird zu 98 Prozent aus der Türkei eingeführt. Die Spannungen zwischen der EU und beiden Ländern nehmen zu, wenn auch aus vollkommen unterschiedlichen Gründen. Die aktuelle Liste der »kritischen Rohstoffe«, die man dem EU-Aktionsplan entnehmen kann, umfasst 30 Materialien: mehr als doppelt soviel wie im Jahr 2011, als Brüssel erstmals eine solche Liste mit damals 14 Materialien publizierte. Diese rasch steigende Zahl ist vielleicht weniger ein Indikator für Sensibilitäten des industriellen Bedarfs als vielmehr für die stark eskalierende globale Rivalität.
    Die EU-Rohstoffallianz (European Raw Materials Alliance, ERMA), die die Versorgung sichern soll, ist bei EIT Raw Materials angesiedelt. Das wiederum ist der – in Berlin ansässige – Rohstoffableger des European Institute of Innovation and Technology (EIT), einer EU-Einrichtung, die nach dem Vorbild des berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) als Innovationsmotor konzipiert wurde. Der EU-Rohstoffallianz anschließen können sich Unternehmen, Verbände, Forschungseinrichtungen und staatliche Stellen; bereits jetzt hat dies eine gut dreistellige Zahl an Organisationen getan. Aus Deutschland nehmen unter anderem der Kupferproduzent Aurubis, Siemens, Heraeus, einige kleinere Firmen, die Wirtschaftsvereinigung Metalle und das Fraunhofer-Institut für solare Energiesysteme an ERMA teil. Aus Frankreich sind Renault sowie das Wirtschafts- und Finanzministerium involviert, aus Italien Fiat-Chrysler. Mit Hyundai (Südkorea), dem US-Chemiekonzern Albemarle und einigen anderen sind auch außereuropäische Unternehmen dabei.
    Konkret soll die ERMA Hindernisse in der Rohstoffversorgung identifizieren, Chancen für die Beschaffung entdecken sowie neue Investitionsmöglichkeiten eruieren. Als optimal gilt es dabei, Bodenschätze in der EU zu erschließen, weil dies Abhängigkeiten von außereuropäischen Ländern reduziert. Sofern sich Abhängigkeiten nicht vermeiden lassen, sollen Staaten der westlichen Welt als Lieferanten genutzt werden; explizit genannt werden im EU-»Aktionsplan« Australien und Kanada. »Strategische Partnerschaften« beim Rohstoffbezug sollen außerdem mit einigen Ländern Afrikas und Lateinamerikas geschlossen werden; manche von ihnen – Chile, Brasilien und Guinea beispielsweise – sind traditionell bedeutende Lieferanten der EU. Interesse gibt es in der Union übrigens plötzlich auch an Ländern Südosteuropas, die dem Staatenkartell nicht angehören: Serbien etwa verfügt über ansehnliche Borlagerstätten, Albanien über attraktive Vorräte an Platin. Zugriff auf sie hätte die Union selbstverständlich auch ohne eine serbische oder albanische EU-Mitgliedschaft gern.
    Im ersten Schritt wird sich die EU-Rohstoffallianz allerdings vorrangig den seltenen Erden und Magneten widmen. Dabei geht es nicht nur um die Rohstoffversorgung an sich, sondern auch um die Weiterverarbeitung: Die Wertschöpfungskette soll in Zukunft soweit wie möglich in der EU angesiedelt sein. Seltene Erden werden freilich nicht nur für den Bau von Windrädern benötigt, sondern auch für die Rüstungsproduktion. Ist bei den seltenen Erden ein Höchstmaß an »strategischer Autonomie« erreicht, dann wird sich die Rohstoffallianz auch anderen »kritischen Rohstoffen« zuwenden. Die Nachfrage nach seltenen Erden wird bis 2050 mutmaßlich auf das Zehnfache steigen, die Nachfrage nach Kobalt auf das 15- sowie nach Lithium auf das 60fache. Der Bedarf der Industrie an »kritischen Rohstoffen« wächst enorm.
    Hintergrund: Lithium, Nickel und Schrott
    Rohstoffe wieder stärker in der EU abzubauen, anstatt sie zu importieren: Das ist eines der Ziele, die die neue EU-Rohstoffallianz verfolgt. Ein Beispiel ist Lithium. Das Leichtmetall findet sich in nicht unerheblichen Mengen in der Bundesrepublik, vor allem im Erzgebirge sowie am Oberrhein (vgl. jW vom 10. Oktober). Über große Vorräte verfügen aber auch Portugal, Spanien, Österreich (in Wolfsberg südwestlich von Graz) und Tschechien (bei Cinovec im Norden des Landes). Auch in Serbien werden große Mengen an Lithium vermutet; einige sprechen sogar von den größten Vorkommen in Europa. EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton hat für Lithium überaus ehrgeizige Ziele gesteckt: Der europäische Kontinent verfüge über so umfangreiche Vorräte, dass man wohl schon »im Jahr 2025 bei Lithium für Batterien nahezu autark sein« könne, sagte Breton vor kurzem voraus.
    Neues Eldorado
    Wissenschaftler haben Lithiumvorkommen in BRD entdeckt. Projekte zur Förderung bereits geplant
    Von Jörg Kronauer
    Steht Deutschland vor einem Rohstoffboom? Die Frage ist mit Blick auf das Leichtmetall Lithium in den vergangenen Wochen und Monaten zuweilen gestellt worden, seit Wissenschaftler vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Sommer von umfangreichen, sogar umweltschonend abbaubaren Vorkommen mitten in der Bundesrepublik berichteten. Ausgerechnet Lithium: Das Element ist unverzichtbar zur Herstellung von Lithiumionenakkus, die etwa in Smartphones, Digitalkameras und Notebooks stecken und aus dem modernen digitalen Alltag nicht mehr wegzudenken sind. Es wird außerdem in beachtlichen Mengen für die Produktion von Lithiumionenbatterien benötigt, mit denen Elektroautos angetrieben werden. Wegen der strategischen Bedeutung der Akkus wollen die Bundesregierung und die Europäische Union (EU) mit Hilfe einer neuen »Batterieallianz« eine europäische Batterieproduktion schaffen; dazu braucht man heute: Lithium. Und nun könnte die deutsche Industrie den unverzichtbaren Rohstoff womöglich ganz bequem vor der eigenen Haustür fördern? Welche Perspektive für das Kapital!
    Bislang spielen Deutschland und das übrige Europa bei der Versorgung der Industrie mit Lithium faktisch keine Rolle. Die weltweit größten nachgewiesenen und gewinnbringend ausbeutbaren Lagerstätten befinden sich in Chile; mit Importen von dort deckt die Bundesrepublik den Großteil ihres Bedarfs. Bedeutende Förderstaaten sind zudem Argentinien, China und vor allem Australien, das wie wild abbaut und aktuell der größte Lithiumexporteur überhaupt ist. Der Markt boomt: Im vergangenen Jahrzehnt ist die Lithiumförderung durchschnittlich um 13,5 Prozent pro Jahr gestiegen. Laut Maros Sefcovic, einem der Vizepräsidenten der EU-Kommission, wird der Lithiumbedarf der Union bis 2030 auf das 18fache, bis 2050 gar auf das 60fache ihres aktuellen Verbrauchs steigen. Die Bundesregierung hatte eine Zeitlang vor allem Bolivien als neuen Lieferanten im Blick; dort liegen im andinen Hochland unter der weltgrößten Salzwüste, dem Salar de Uyuni, noch weitestgehend unerschlossene Vorräte, deren Volumen vermutlich dasjenige der chilenischen Vorkommen um mehr als das Doppelte übersteigt. Im Jahr 2018 hatte sich das deutsche Unternehmen ACISA durch ein Joint Venture mit der staatlichen bolivianischen YLB Zugriff auf den Rohstoff verschafft; wegen der Unruhen nach der Präsidentenwahl wurde das Projekt allerdings vorläufig gestoppt. Unter dem Putschregime von Jeanine Añez liegt es weiterhin auf Eis.
    Förderoptionen im eigenen Land kämen der Bundesregierung und der Industrie da sicherlich recht. Laut Auskunft der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) sind in Deutschland drei Lithiumvorkommen bekannt. Zwei davon liegen im Erzgebirge südlich von Dresden, bei Zinnwald und bei Sadisdorf. Bei Zinnwald hat sich bislang die Deutsche Lithium GmbH um einen Einstieg in die Förderung bemüht; das Unternehmen, das zur Hälfte immer noch der insolventen Solarworld AG gehört, soll nun aber an die britische Erris Resources verkauft werden, die bislang vor allem Goldlagerstätten erkundet. Die Zukunft ist unklar. Schon zuvor hatten wegen der niedrigen Lithiumkonzentration im Zinnwalder Gestein erhebliche Zweifel bestanden, ob sich die Vorräte überhaupt gewinnbringend abbauen ließen.
    Schlagzeilen hat zuletzt das dritte deutsche Vorkommen im Oberrheingraben gemacht, mit dem sich Wissenschaftler vom KIT jüngst ausführlich beschäftigt haben. In der Region findet sich Lithium in mehr als 3.000 Meter tief liegendem Thermalwasser, das für Geothermiekraftwerke angezapft wird. Eines davon, das Geothermiekraftwerk in Insheim bei Landau in der Pfalz, plant bereits erste Pilotversuche: Aus dem an die Erdoberfläche beförderten Thermalwasser soll – quasi als Nebenprodukt – das Lithium mit einem am KIT entwickelten Verfahren herausgefiltert und konzentriert werden. Allein in Insheim könne man jährlich bis zu 1.200 Tonnen Lithiumkarbonat gewinnen, heißt es; und: Es könnten noch diverse weitere Kraftwerke folgen. Befürworter des Projekts sagen bereits die Förderung von mehreren tausend Tonnen Lithium pro Jahr voraus. Zum Vergleich: Die Bundesregierung zitierte kürzlich in ihrer Antwort auf eine Anfrage im Bundestag Schätzungen, die den künftigen deutschen Bedarf – je nach Entwicklung vor allem der Batterieproduktion – auf 9.000 bis 30.000 Tonnen pro Jahr beziffern.
    Der Vorteil des Oberrhein-Projekts: Größere Umweltschäden dürften, wenn das Thermalwasser lediglich gefiltert und dann wieder unter die Erde geleitet wird, unterbleiben. Solche Schäden sind etwa in Chile zu beklagen, wo der Lithiumabbau Wassermangel verursacht. Der Nachteil: Eine Förderung zu Preisen, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind, ist auch mit der neuen KIT-Technologie wohl nicht gesichert. Scheitert das Projekt, dann wäre die deutsche Wirtschaft erneut auf Importe zurückgeworfen, von wo auch immer.

  41. Die EU hat im Etatentwurf die Ausgaben für ihre “Verteidigungsprojekte” (PESCO u.a.) radikal gekürzt. So ist es jedenfalls geplant. Bezeichnend für den Anschein (und für die Realität?) eines Hü und Hotts sind auch solche teilweise verlogenen “Kalamitäten”, für die das Hin und Her zwischen div. staatlichen Instanzen produktiv gemacht werden kann. Eine klare Ausrichtung ist dem aber wohl noch nicht zu entnehmen. Der Konflikt zwischen Frankreich und der BRD ist ja auch nicht der einzige inner-europäische. Auch andere Staaten haben eigene Rüstungsvorhaben, die sich z.T. an ganz anderen nationalen Kriegsszenarien ausrichten.
    “US-Beamte setzen sich seit Monaten für eine integrative Politik ein, die den größtmöglichen Zugang von Drittländern sowohl zu PESCO als auch zum EDF für Auftragnehmer im Rüstungsbereich ermöglicht. Auch in anderen Formen der PESCO-Kooperation könnten Drittstaaten – neben den Vereinigten Staaten beispielsweise auch das Vereinigte Königreich nach dem Brexit – einbezogen werden.
    Deutschlands Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte in dieser Hinsicht deutlich gemacht, die Bundesregierung werde sich während ihrer aktuellen EU-Ratspräsidentschaft „nachdrücklich dafür einsetzen, auch Drittstaaten an PESCO- Projekten zu beteiligen“.
    Bisher haben die europäischen Staats- und Regierungschefs jedoch darauf verwiesen, man wolle sich zunächst vor allem auf die Stärkung der innereuropäischen Zusammenarbeit konzentrieren – und die fragmentierte europäische Rüstungsindustrie unterstützen – bevor man sich dem breiteren Wettbewerb öffne.
    „Die offene Frage der Regeln für die Beteiligung Dritter muss so schnell wie möglich geklärt werden,“ forderten dennoch die vier Verteidigungsministerinnen und -minister Frankreichs, Deutschlands, Spaniens und Italiens Ende Mai in einem Brief an den EU-Chefdiplomaten Josep Borrell. Allerdings deuteten auch sie einen Vorschlag zur Beschränkung der Zugänglichkeit zu Finanzmitteln für Dritte an.”
    https://www.euractiv.de/section/europakompakt/news/verteidigungs-und-sicherheitspolitik-im-herbst-neue-initiativen-und-zankende-verbuendete/
    An anderen Stellen erfolgen Klarstellungen, dass die EU sich inhaltlich auf ein Kampfprogramm gegen Russland verpflichten wolle – nicht nur in der Titulierung des ehemaligen Bundeskanzlers als Laufbursche Putins, die Nawalny mittels BILD ins Land hinausposaunen konnte, sondern offiziell auch bei Fragen der Verleihung europäischer Staatsbürgerschaften
    https://www.dw.com/de/zypern-stellt-keine-goldenen-p%C3%A4sse-mehr-aus/a-55261754

    WTO erlaubt EU hohe Strafzölle auf US-Produkte
    Kurz vor der US-Wahl hat die EU im Streit um Subventionen in der Luftfahrtbranche grünes Licht für Strafzölle auf amerikanische Waren in Milliardenhöhe erhalten. Das erklärte die Welthandelsorganisation.
    https://www.dw.com/de/wto-erlaubt-eu-hohe-strafz%C3%B6lle-auf-us-produkte/a-55261041
    Dass die EU Weltmacht zu werden bestrebt ist, hat also schon seine eigene inner-imperialistische Logik.
    Der Fall Nawalny soll ganz Europa auf die Feindschaftserklärung gegenüber Russland einschwören. (Siehe mein Post über NN).

  42. Atlantiker des Tages: Stefan Liebich
    Reinhard Lauterbach
    In der Öffentlichkeit grassiert ein sich beharrlich haltendes Vorurteil: Die Partei Die Linke sei prorussisch. Dieser Verleumdung soll hier einmal mit allem Nachdruck entgegengetreten werden. Die Linke hat nicht nur den unsäglichen Richard Grenell auf ihren Neujahrsempfang eingeladen, als der noch US-Botschafter in Berlin war und nicht Geheimdienstchef – sie stellt auch einen stellvertretenden Vorsitzenden der »Parlamentariergruppe USA« im Bundestag namens Stefan Liebich. Dieser hat gegenüber dem Magazin Spiegel zu Methoden im US-Präsidentschaftswahlkampf geraten, die ansonsten Moskau unterstellt werden: Berlin solle sich eindeutig zugunsten von Donald Trumps Herausforderer Joseph Biden aussprechen.
    Und warum? »Trump lügt sechzehnmal am Tag«, zitierte Liebich die Washington Post, die das stichprobenartig nachgezählt hatte. Das mag einen Abgeordneten beeindrucken, der normalerweise keine Gelegenheiten bekommt, öffentlich zu lügen – die werden ja hier nicht mitgezählt. Als gehörte es nicht zur Grundausstattung des erfolgreichen Politikers, lügen zu können – mit der dem jeweiligen Publikum angemessenen Eleganz oder Plumpheit. Trump zeige »immer mehr Anzeichen eines Diktators«, so Liebich. Damit ist er zwar bei weitem nicht der einzige, aber hier müsse laut Liebich die Bundesregierung den US-Demokraten zeigen, dass »ein wichtiger Verbündeter an ihrer Seite« stehe. Aha. Kein Einwand gegen dieses »Bündnis« von seiten Liebichs. Nur ein bisschen Einbildung.
    Die Sache mit der Einmischung könne doch nach hinten losgehen, wenn Trump gewinne, fragte der Spiegel nach. Antwort: »Auch Auseinandersetzungen mit China und Russland … erschweren die internationale Zusammenarbeit. Sie werden trotzdem geführt, wenn sie geboten sind«. Wundert sich noch jemand, dass sich Russland im Zweifel lieber an die AfD hält?

  43. @Leser
    Das mit den alten Nazis hat hier niemand ernsthaft vertreten, also der Hinweis auf die sind leere Kilometer.
    Aber bei der Feindschaftserklärung bleibt eben der Widerspruch aufrecht, zwischen politischen Interessen, die die EU, Deutschland und auch noch andere Mitgliedsstaaten haben oder haben mögen, und den ökonomischen Interessen, die Rußland gegenüber in der EU zugegen sind.
    Das hat sich bei der Verhängung der Sanktionen gezeigt, als große Aufregung in der Geschäftswelt Deutschlands und Österreichs herrschte. Auch in Tschechien und Ungarn, sogar in Polen wurde sehr gemurrt über diesen Schritt.
    Geeinigt hat man sich dann darauf, die Sanktionen immer wieder zu bestätigen, aber unter der Hand alles mögliche an Geschäften mit Rußland weiterlaufen zu lassen und alle Augen zuzudrücken.
    Aber am schlagendsten ist dieser Widerspruch bei dem Northstream II-Projekt.
    Es ist einfach die Quadratur des Kreises, Rußland zum Hauptfeind zu erklären und gleichzeitig auf Teufel-komm-raus von ihm Gas beziehen zu wollen.

  44. Russland sollte Orientierung auf den Westen aufgeben – Lawrow
    Für Russland wäre es nach Worten von Außenminister Sergej Lawrow an der Zeit, sich nicht mehr auf EU-Partner zu orientieren und auf ihre Einschätzungen zu hören. „Wir sollten unsere westlichen Kollegen, darunter auch in der EU, nicht mehr als Quelle von Einschätzungen unseres Verhaltens ansehen“, sagte Lawrow am Dienstag in Moskau.
    Sich vor der EU zu erniedrigen ist unter Würde Russlands – Lawrow
    Die wirtschaftlichen Interessen Russlands und der EU müssen erhalten bleiben. Es ist aber laut dem russischen Außenminister Sergej Lawrow unter der Würde Russlands, sich vor der EU zu erniedrigen.
    Westen missbraucht Chemiewaffen-Konvention – Lawrow
    Der Westen hat laut dem russischen Außenminister Sergej Lawrow die Chemiewaffen-Konvention missbraucht, indem er sein technisches Sekretariat praktisch mit den Funktionen des UN-Sicherheitsrates ausgestattet hat.
    EU einigt sich auf Ziele der Russland-Sanktionen im Fall Nawalny
    Die EU wird im Zusammenhang mit dem Fall des russischen Bloggers und Kreml-Kritikers Alexej Nawalny sechs Personen und eine Organisation aus Russland mit Sanktionen belegen. Darauf einigten sich Vertreter der EU-Staaten am Mittwoch in Brüssel, wie die Deutsche Presse-Agentur von Diplomaten erfuhr.
    Brüssel blocken
    Neue EU-Sanktionen gegen Russland
    Von Reinhard Lauterbach
    In der Welt der elektronischen Kommunikation gibt es ein einfaches Mittel, wenn einen jemand mit unerwünschten Nachrichten, Anrufen und dergleichen zuschüttet: Man blockt dessen Nummer oder Account. Und hat seine Ruhe, bis sich derjenige, der einen belästigt, eine andere Nummer oder ein neues Konto zulegt. Dann kann der Zirkus erneut losgehen.
    Die Drohung des russischen Außenministers Sergej Lawrow, die Gespräche mit der EU für eine Weile einzustellen, ist die diplomatische Entsprechung dieses Verhaltens. Schon die Erklärung seiner Sprecherin Marija Sacharowa vor einigen Tagen, die die EU-Sanktionsdrohungen wegen der Causa Nawalny als »in Ton und Inhalt unangemessen« zurückwies, deutete in diese Richtung. Damals hieß es noch, Russland sei jederzeit bereit, auf der Grundlage gegenseitigen Respekts den Dialog mit der EU und ihren Mitgliedstaaten fortzusetzen. Jetzt zieht Lawrow die aus seiner Sicht zwangsläufige Konsequenz und droht mit Funkstille.
    Moskau ist offenbar zuversichtlich, dass die EU letztlich mehr mit Russland zu besprechen hat, als Russland mit ihr. Lawrow zitierte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit der Aussage, mit »dem gegenwärtigen russischen Apparat« gelinge keine geopolitische Partnerschaft. Geopolitische Partnerschaft, das ist die Ambition der EU, auf Augenhöhe mit den Supermächten zu kommen. Und wie zur Bestätigung rief der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Dienstag bei Lawrow an und äußerte neben der Ankündigung von Sanktionen routinemäßige Aufforderungen an Russland – nicht etwa die Ukraine – zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen sowie den Wunsch, die Kommunikationskanäle zwischen Brüssel und Moskau offenzuhalten. Aber wen interessiert es, dass Borrell die jüngsten russischen Bemühungen um einen Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbai­dschan »würdigte«? Im Südkaukasus stehen sich russische und türkische Hegemonialansprüche gegenüber, die EU ist an dieser Stelle ein drittrangiger Zaungast.
    Freilich: Ewig wird sich auch Moskau diese Funkstille nicht leisten können. Nach wie vor ist die EU der größte Handelspartner Russlands, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Hier kommt China ins Spiel: Dessen wachsender Anteil am russischen Außenhandel liegt nach Angaben der deutschen Außenhandelsagentur GTAI mit 22 Prozent inzwischen doppelt so hoch wie der deutsche. Spätestens im Streit um die ab 2021 geplante EU-Klimaschutzsteuer, die auch russische Rohstofflieferungen treffen würde, müssen sich beide Seiten früher oder später doch wieder an einen Tisch setzen. Weil ihre langfristigen Interessen sie dazu zwingen. Die EU, die ihre sogenannten Werte nicht einmal im eigenen Staatenbund durchzusetzen weiß – siehe Polen, Ungarn und die »Rechtsstaatlichkeit« – , wäre gut beraten, sich nicht gegenüber Russland als die Großmacht aufzuspielen, die sie nicht ist.
    Osteuropas geostrategische Drift (15.10.2020)
    Berliner Regierungsberater sorgen sich über US-Einflussarbeit in Ost- und Südosteuropa mit Hilfe der “Drei-Meere-Initiative”.
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Mit Sorge beobachten Berliner Regierungsberater zunehmende US-Aktivitäten in Ost- und Südosteuropa. Im Rahmen der sogenannten Drei-Meere-Initiative baut Washington seit einigen Jahren seinen Einfluss in zwölf Ländern vom Baltikum bis zur Adria und zum Schwarzen Meer systematisch aus. Zentrales Instrument ist die Energiepolitik. Ziel ist es zum einen, Russlands Einfluss auf dem Erdgasmarkt zu schwächen; dazu fördert die Trump-Administration den Bau von Flüssiggasterminals und Erdgaspipelines und den Absatz von US-Frackinggas. Zum anderen ist Washington bemüht, China abzudrängen, das im Rahmen der Neuen Seidenstraße zunehmend mit der Region kooperiert. Vergangene Woche hat Rumänien den Bau zweier Atomreaktoren, den es zuvor mit der Volksrepublik vereinbart hatte, den Vereinigten Staaten übertragen. Bei alledem bleibt Berlin, das Ost- und Südosteuropa als sein exklusives Einflussgebiet betrachtet, außen vor. Es gelte, erklären Regierungsberater, einer “geostrategischen Drift” der Drei-Meere-Initiative entgegenzuwirken und die EU “gegenüber externen Akteuren zu stärken”.
    Die Drei-Meere-Initiative
    Die Drei-Meere-Initiative (Three Seas Initiative) ist im Jahr 2015 von Polens Präsident Andrzej Duda und Kroatiens Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović lanciert worden und am 25./26. August 2016 im kroatischen Dubrovnik zu ihrem ersten Gipfel zusammengekommen. Es handelt sich um eine Plattform, der zwölf überwiegend östliche EU-Staaten angehören – vom Baltikum (Estland, Lettland, Litauen) über die Visegrad-Länder (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) und Österreich bis nach Slowenien und Kroatien bzw. Rumänien und Bulgarien. Ihren Namen bezieht sie daraus, dass ihre Mitglieder drei Meere verbinden: die Ostsee, das Mittelmeer und das Schwarze Meer. Ein zentrales Motiv bei der Gründung der Initiative ist gewesen, dass ein gutes Jahrzehnt nach der EU-Osterweiterung ein klares Ost-West-Wohlstandsgefälle fortbesteht; die zwölf Länder standen im Jahr 2018 – die Daten schließen Großbritannien noch ein – für 28 Prozent des EU-Territoriums und 22 Prozent der EU-Bevölkerung, aber lediglich für 10 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts.[1] Hinzu kommt, dass heute – 30 Jahre nach dem Systemwechsel in Osteuropa – die Verkehrswege immer noch von Ost-West-Verbindungen dominiert werden; diese sind seit 1990 systematisch im Interesse der deutschen Industrie ausgebaut worden, die ihre Produktion zu guten Teilen in Länder mit niedrigen Löhnen im Osten des Kontinents verlegt hat.[2] Nord-Süd-Verbindungen, die den Aufbau von Wirtschaftsbeziehungen zwischen den östlichen Ländern begünstigen und Alternativen zur einseitigen ökonomischen Abhängigkeit vor allem von Deutschland bieten könnten, sind bis heute relativ schwach entwickelt. Die Drei-Meere-Initiative soll Abhilfe schaffen.
    Das “Intermarium”
    Ein maßgeblicher Anstoß zur Gründung der Drei-Meere-Initiative ist allerdings von außerhalb gekommen – aus den USA. Strategen dort diskutierten, als der Ukraine-Konflikt in den Jahren 2013 und 2014 eskalierte, ein altes außenpolitisches Konzept aus dem Polen der Zwischenkriegszeit – die Pläne des Staatsgründers Józef Piłsudski, die Länder Osteuropas vom Baltikum bis Jugoslawien bzw. Rumänien zu einem antisowjetischen bzw. antirussischen Staatengürtel zusammenzuschließen (“Intermarium”).[3] Im November 2014 publizierte der Washingtoner Atlantic Council gemeinsam mit Central Europe Energy Partners (CEEP), einer Lobbyorganisation polnischer, litauischer und rumänischer Energieunternehmen, eine ausführliche Analyse, die unter dem Titel “Completing Europe” die Schaffung eines “Nord-Süd-Korridors … von der Ostsee zur Adria und zum Schwarzen Meer” unter die Lupe nahm.[4] Vor dem Hintergrund des anschwellenden Machtkampfs gegen Russland stellt sich die Analyse als Wiederaufnahme der alten Pläne zur Bildung eines Gürtels antirussisch ausgerichteter Staaten dar. Die Drei-Meere-Initiative weist in einer Selbstdarstellung explizit auf die auslösende Funktion des Washingtoner Papiers für ihre Gründung hin.[5] Für Polen spielen die Kontinuitäten zu Piłsudskis “Intermarium”-Plänen eine zusätzlich motivierende Rolle, zumal das Land – als größter und stärkster Staat des Zusammenschlusses – tendenziell auf eine gewisse Hegemonie hoffen kann. Das allerdings birgt für die Initiative Sprengstoff.
    Gegen Russland
    Washington hat die Drei-Meere-Initiative von Anfang an systematisch unterstützt. Ihrem zweiten Gipfel am 6./7. Juli 2017 in Warschau sicherte US-Präsident Donald Trump mit seiner persönlichen Teilnahme besondere Aufmerksamkeit. Im Februar 2020 sagte US-Außenminister Mike Pompeo auf der Münchner Sicherheitskonferenz der Initiative finanzielle US-Unterstützung von bis zu einer Milliarde US-Dollar zu.[6] Die Vereinigten Staaten profitieren beim Bemühen, einen antirussischen Staatengürtel zu formieren, nicht nur von der antirussischen Ausrichtung der Eliten diverser beteiligter Länder – insbesondere Polens und der baltischen Staaten -, sondern auch davon, dass die EU unter deutscher Führung die Interessen Ost- und Südosteuropas etwa in Sachen Infrastruktur nicht hinlänglich berücksichtigt hat. Weil Projekte wie die Via Carpathia, die die Häfen in Klaipeda (Litauen) und in Thessaloniki (Griechenland) verbinden soll, von Brüssel nicht genug unterstützt wurden, findet Washington eine Lücke, in die es mit der Drei-Meere-Initiative vorstoßen kann. Dabei handelt es ökonomisch durchaus eigennützig. So dringt die Trump-Administration parallel zum Ausbau der Verkehrs- auf den Ausbau auch der Energieinfrastruktur. Im Rahmen der Drei-Meere-Initiative soll beispielsweise eine Erdgaspipeline aus Litauen nach Polen gebaut werden: Im litauischen Hafen Klaipeda wird regelmäßig US-amerikanisches Flüssiggas antransportiert. Zudem sollen der Bau eines Flüssiggasterminals auf der kroatischen Insel Krk sowie einer Pipeline von dort aus nach Ungarn und in die Slowakei forciert werden.[7] Ziel ist es jeweils, russisches Erdgas aus dem Markt zu drängen und US-amerikanisches Flüssiggas abzusetzen, das teurer ist und deshalb politischer Verkaufsunterstützung bedarf.
    Gegen China
    Neben dem Machtkampf gegen Russland tragen die Vereinigten Staaten mittlerweile auch ihren Machtkampf gegen China in den Ländern der Drei-Meere-Initiative aus. Hintergrund ist, dass die Volksrepublik im Rahmen ihrer Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI) immer enger mit den Ländern der Region kooperiert. Seit einem ersten Gipfeltreffen im April 2012 in Warschau hält Beijing regelmäßig Zusammenkünfte im “16+1”- bzw. – nach dem Beitritt Griechenlands – “17+1”-Format ab; einbezogen sind dabei die Länder der Drei-Meere-Initiative – außer Österreich – sowie die fünf Nicht-EU-Staaten Südosteuropas (Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien).[8] Washington ist bemüht, ihre Kooperation mit China zu sabotieren. Im August etwa reiste US-Außenminister Pompeo nach Slowenien, Österreich, Tschechien und Polen, um die dortigen Regierungen zum Verzicht auf die Nutzung von 5G-Technologie des chinesischen Konzerns Huawei zu nötigen. Jüngstes Beispiel ist der Konflikt um den Bau von zwei neuen Reaktoren im rumänischen Kernkraftwerk Cernavodă. Hatten die zuständigen rumänischen Stellen dazu zunächst eine Absichtserklärung mit der China General Nuclear Power Corporation (CGN) unterzeichnet, so zog Bukarest im vergangenen Herbst wegen massiver US-Pressalien seine Zustimmung zurück; am 9. Oktober unterzeichneten nun die Energieminister Rumäniens und der USA eine Vereinbarung, die den Bau der Reaktoren unter US-Leitung vorsieht.[9] In dem Machtkampf spielt Deutschland keine Rolle.
    “Ein geopolitischer Faktor”
    Dass dies den Ambitionen der deutschen Eliten diametral zuwiderläuft, zeigt eine Analyse, die die vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bereits im März publizierte. Darin heißt es, die Drei-Meere-Initiative sei “zumindest potentiell … ein geopolitischer Faktor in Europa”.[10] Es sei vorteilhaft, wenn die Bundesrepublik der Initiative beitrete – nicht zuletzt, um “einer künftigen geostrategischen Drift des Zusammenschlusses entgegenzuwirken”. Es gehe darum, zukünftig “die EU strategisch und vor allem geoökonomisch gegenüber externen Akteuren zu stärken und keine neuen Abhängigkeiten durch Infrastrukturen entstehen zu lassen”.

  45. „Auftauchen eines neuen Hitlers“ verhindern: Armeniens Premier verschärft den Ton
    Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan hat mit Blick auf eine friedliche Lösung im Bergkarabach-Konflikt Gebietsabtretungen ausgeschlossen. Laut Paschinjan ist das gängige Prinzip „Territorium im Tausch für Frieden“ nicht hinnehmbar. Diesbezüglich warnte er auch vor verheerenden Folgen.
    Mit Ankara verbündete Hunderte syrische Kämpfer werden nach Bergkarabach verlegt- WSJ
    Hunderte Kämpfer aus Syrien, die mit der Türkei verbündet sind, haben sich den Kampfhandlungen zwischen Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabach angeschlossen. Weitere Hunderte bereiten sich auf ihre Entsendung vor. Das teilte die Zeitung „Wall Street Journal“ unter Verwies auf zwei syrische Insider mit.
    Türkei dementiert Entsendung syrischer Kämpfer nach Karabach
    Die Türkei hat die Informationen über die Verlegung syrischer Kämpfer zur Teilnahme am militärischen Konflikt in Bergkarabach zurückgewiesen.
    Lawrow: Friedenstruppen sollen in Bergkarabach zur Kontrolle der Waffenruhe stationiert werden
    Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat sich in einem Interview mit russischen Journalisten zur aktuellen Situation um Bergkarabach geäußert. Eine politische Regelung in der Region ist laut seinen Worten möglich.
    _______________________
    Verlängerung von START-III-Vertrag noch vor US-Wahlen möglich? – Militärexperten zweifeln
    US-Präsident Donald Trump will laut dem Nachrichtenportal Axios, das mit den Abrüstungsverhandlungen zwischen Washington und Moskau vertraut ist, noch in den letzten Tagen vor den Wahlen am 3. November einen Atomwaffenvertrag mit Russland abschließen. Zuvor hatte das Wall Street Journal eine ähnliche Meldung veröffentlicht.
    Lawrow nennt US-Aussagen über Einfrieren von Atomarsenalen „unsauber“
    Die Aussagen des Abrüstungsbevollmächtigten des US-Präsidenten Donald Trump, Marshall Billingslea, über die angebliche russisch-amerikanische Einigung und die Bereitschaft der beiden Länder, die Atomarsenale einzufrieren, sind laut dem russischen Außenminister Sergej Lawrow unsauber.
    Lawrow sieht keine Aussichten für Verlängerung von New-START-Vertrag
    Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat die Aussichten einer möglichen Verlängerung des New-START-Vertrages kommentiert. Zudem ist er auf die damit verbundene US-Forderung eingegangen, auch taktische Atomwaffen in die neue Fassung des Vertrages aufzunehmen.
    Die Atomkriegsübung der Bundeswehr (14.10.2020)
    Die Bundeswehr führt diese Woche ihr jährliches Nuklearmanöver durch. US-Umstellung auf “Mini-Nukes” erhöht Atomkriegsgefahr.
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Die Bundeswehr hat laut Berichten ihre diesjährige Atomkriegsübung begonnen. Demnach trainiert in dieser Woche die Luftwaffe im Rahmen des Manövers “Steadfast Noon” die Abläufe, die durchgeführt werden müssen, wenn deutsche Piloten im Rahmen der sogenannten Nuklearen Teilhabe US-Atombomben abwerfen. “Steadfast Noon” findet jedes Jahr im Herbst statt. Dieses Jahr ist unter anderem der Fliegerhorst Nörvenich unweit Köln eingebunden, der als Ausweichstandort für die 20 auf dem Fliegerhorst Büchel (Eifel) eingelagerten US-Atombomben vorgesehen ist. In Büchel findet gleichzeitig ein zweites Manöver statt, bei dem es darum geht, “wichtige Infrastruktur vor Bedrohungen aus der Luft zu schützen”. Sowohl die dortigen Kernwaffen wie auch die Kampfjets, die sie abwerfen können, sollen für Milliardensummen modernisiert werden; die neuen Atombomben vom Typ B61-12 können zudem mit geringerer Sprengkraft eingesetzt werden, was die Hemmschwelle zum Nuklearkrieg senkt. Berichten zufolge ist in NATO-Dokumenten von “nuklearen Erstschlägen” die Rede.
    Steadfast Noon
    Manöver der Serie “Steadfast Noon” werden jedes Jahr üblicherweise im Oktober durchgeführt. Ziel ist es, die sogenannte “nukleare Teilhabe” zu trainieren. Diese sieht vor, dass deutsche Piloten mit deutschen Kampfjets bei Bedarf US-Atombomben an ihr Einsatzziel transportieren und sie dort abwerfen. Dazu sind rund 20 US-Atombomben auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel stationiert. Im Rahmen von “Steadfast Noon” übt die Bundeswehr regelmäßig den Transport der Bomben aus den unterirdischen Lagern zu den Kampfjets und ihre Anbringung an diesen. Manöverflüge werden freilich ohne die Bomben realisiert. Die Manöver werden offiziell strikt geheimgehalten; allerdings wird die Tatsache, dass sie stattfinden, zuweilen nach Beginn gezielt an die Medienöffentlichkeit durchgestochen. Dies war auch gestern der Fall, als berichtet wurde, “in dieser Woche” habe “‘Steadfast Noon’ begonnen”. Demnach ist dieses Jahr auch der Fliegerhorst Nörvenich südwestlich von Köln Schauplatz des Manövers.[1] In Nörvenich ist ein Lagerungssystem für die US-Bomben vorhanden; es ist, soweit bekannt, gegenwärtig nicht bestückt, dient aber für den Ernstfall als Ausweichstandort für die Bomben aus Büchel.
    Die Nukleare Teilhabe
    Dem Bericht zufolge sind an “Steadfast Noon” in diesem Jahr auch belgische, niederländische und italienische Kampfjets beteiligt.[2] Laut Angaben der Bundeswehr ist seit dem 28. September “die italienische Luftwaffe mit zehn Luftfahrzeugen” in Nörvenich präsent und wird das noch bis zum morgigen Donnerstag sein.[3] Die internationale Beteiligung ist auch insofern von Interesse, als je 20 US-Atombomben, wie es in Fachkreisen heißt, außer in Büchel auch auf Militärflugplätzen in Belgien (Kleine Brogel), in den Niederlanden (Volkel) und in Italien (Ghedi, Aviano) stationiert sind.[4] 50 US-Atombomben sollen zudem auf der Luftwaffenbasis İncirlik in der Türkei gelagert sein; dies führt seit geraumer Zeit aufgrund der Spannungen mit Ankara zu heftigen Diskussionen. Im vergangenen Jahr wurde “Steadfast Noon” vom 14. bis zum 18. Oktober an den Standorten Büchel und Kleine Brogel durchgeführt. In Büchel findet dieses Jahr parallel zu “Steadfast Noon” das Manöver “Resilient Guard 2020” statt. Dabei trainieren zwei Flugabwehrraketengruppen der Bundeswehr, “wichtige Infrastruktur vor Bedrohungen aus der Luft zu schützen” – ein Hinweis darauf, dass die US-Bombenlager im Kriegsfall ein mögliches Ziel feindlicher Streitkräfte sind.[5] Bei “Resilient Guard” wird unter anderem mit dem Luftabwehrsystem Patriot geübt.
    Milliardenschwere Modernisierung
    Weit davon entfernt, nukleare Abrüstung anzustreben, bereiten die Regierungen in Berlin und in Washington seit geraumer Zeit die Modernisierung des in Büchel eingelagerten Atomarsenals vor. Das gilt nicht nur für die deutschen Kampfjets, die die Bomben transportieren und abwerfen sollen. Die “Tornados”, die in Büchel bereitgehalten werden, veralten zusehends und müssen, soll die Nukleare Teilhabe weiter aufrechterhalten werden, durch neue Kampfjets ersetzt werden. Dazu ist die Beschaffung von US-amerikanischen F-18 (Boeing) geplant.[6] Experten beziffern die Kosten “selbst nach einer konservativen Schätzung” auf “zwischen 7,7 und 8,8 Milliarden Euro”.[7] Darüber hinaus will Washington die alten Atombomben des Typs B61 durch neue vom Typ B61-12 ersetzen. Diese sind nicht nur – angeblich präzise – lenkbar; man kann außerdem ihre Sprengkraft variieren. Das bedeutet, dass sie mit vergleichsweise niedriger Sprengwirkung eingesetzt werden können – beispielsweise, um tiefliegende Bunker zu zerstören. Das Argument, sie hätten einen vergleichsweise geringen nuklearen Fallout, droht die Hemmschwelle zum Nuklearkrieg erheblich zu senken.
    Die US-Nuklearstrategie
    Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil die aktuelle, am 2. Februar 2018 veröffentlichte US-Nuklearstrategie (“Nuclear Posture Review”) die Fähigkeit zum Führen eines angeblich begrenzten Nuklearkriegs mit Atombomben von vergleichsweise niedriger Sprengkraft verlangt. Dabei geht es darum, Kernwaffen auf regionalen Schlachtfeldern einzusetzen, aber nicht zu einem umfassenden Vernichtungsschlag auszuholen. Offiziell soll diese Fähigkeit lediglich der Abschreckung dienen: Man wolle etwa Russland oder China den Verzicht auf einen “begrenzten” Atomschlag nahelegen, heißt es. Dafür, dass sich die USA ihrerseits im Kriegsfall lediglich auf Abschreckung beschränken würde, gibt es allerdings – das betonen Kritiker [8] – keinerlei Gewähr.
    “Nukleare Erstschläge”
    Wie es heißt, hat die NATO ihre Vorbereitungen auf einen möglichen Atomkrieg ebenfalls jüngst intensiviert. Das hat im Juni ein deutscher Auslandskorrespondent berichtet, der in Brüssel tätig ist und als dort bestens vernetzt gelten kann. Demnach hätten die NATO-Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel im Juli 2018 ein “als geheim eingestuftes Dokument” zur Kenntnis genommen, das “erstmals” konstatiert habe, “konventionelle Verteidigung und nukleare Abschreckung” seien nicht mehr, “wie bisher in der Nato üblich”, voneinander zu trennen; man müsse künftig “beides gemeinsam” bedenken.[9] Weiter heißt es, die NATO-Verteidigungsminister hätten auf ihrem Treffen Mitte Juni 2020 einem weiteren “streng geheim[en]” Papier zugestimmt, das vom NATO-Oberbefehlshaber in Europa (Supreme Allied Commander Europe, Saceur), US-General Tod D. Walters, erstellt worden sei und sich gegen Bedrohungen im gesamten Operationsraum – zu Lande, zu Wasser, in der Luft, im Cyber- und im Weltraum – wende: mit allen “defensiven und offensiven Fähigkeiten” der NATO “von der Raketenabwehr bis zu nuklearen Erstschlägen”. Zudem behalte sich das Bündnis vor, konventionell bestückte Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren; sie könnten bei Bedarf jederzeit “nuklear aufgerüstet werden”.

  46. Der US-geförderte Riegel vom Baltikum bis ans Schwarze und Mittelmeer ist ja wahrlich nichts Neues und schon unter Obama in Angriff genommen worden. Daß er seither ausgebaut wurde, braucht niemanden wundern.
    Nach wie vor gilt: Dieser Staaten-Gürtel kann nicht nur gegen Rußland eingesetzt werden, sondern genauso gegen die Rest-EU. Er ist eine Art Schutzwall für US-Interessen in Europa.
    Natürlich gefällt das manchen anderen EU-Mitgliedern nicht, die sehen diesebeidseitige Ausrichtung ja auch.

    Friedenstruppen sollen in Bergkarabach zur Kontrolle der Waffenruhe stationiert werden

    – was ist denn das für eine schwachsinnige Überschrift?
    Es gibt doch überhaupt keine Waffenruhe.
    Aserbaidschan will Berg-Karabach heimholen ins Reich, Armenien will es nicht hergeben.
    Wie soll da eine Waffenruhe zustandekommen?!

  47. Suitbert Cechura: Der Verbraucher: König Kunde oder der Kaiser ohne Kleider?
    Von der trostlosen Rolle des Konsums und der Konsumenten in der Marktwirtschaft
    Kaum ein Bericht oder Kommentar über Umweltverschmutzung, Klimawandel, Vermüllung der Meere (vgl. Von der German Energiewende), über unhaltbare Zustände in der Fleischindustrie (vgl. Die seuchenbedingte Neuauflage des alten Fleischskandals), über Kinderarbeit in der Dritten Welt oder tote Näherinnen in asiatischen Sweatshops endet ohne den Verweis auf die Verantwortung des Verbrauchers. Als „König Kunde“ soll er durch seine Entscheidungen, bestimmte Produkte zu kaufen, für dies alles – zumindest – mit-verantwortlich sein.
    Dabei könnte doch als Erstes die Merkwürdigkeit auffallen, dass die auf diese Weise verantwortlich Gemachten immer erst noch darüber aufgeklärt werden müssen, was sie anrichten. Offenbar sind sie verantwortlich für Zustände, die sie gar nicht kennen. Wenn das so ist, können sie diese aber auch nicht in Auftrag gegeben haben! Um etwas zu verantworten, muss man schon Kenntnis von den Folgen seines Tuns haben, weswegen es Politiker und sonstige Führungskräfte bekanntlich in kritischen Fällen immer vorziehen, nichts gewusst zu haben.
    Die öffentlichen Kommentatoren erschüttert bei ihren konsumkritischen Vorwürfen genau so wenig die Tatsache, dass es für die so in die Verantwortung Genommenen jede Menge Institutionen und Gesetze gibt, die sie davor schützen sollen, ständig über den Tisch gezogen oder zu Fehlkäufen verführt zu werden: Ministerien und Behörden, die für den Verbraucherschutz zuständig sind; Gesetze und Verordnungen zum Schutz von Verbrauchern auf den verschiedensten Warenmärkten; daneben dann zahlreiche NGOs von der Initiative „foodwatch“, die jede Woche einen neuen Lebensmittelskandal aufdeckt, bis hin zum Verein „Xertifix“, der mit seinem Gütesiegel Kinder- und Sklavenarbeit verhindern will.
    Alles in allem, schon ein seltsam konträres Bild, das da durch die Medien geistert!
    Der Verkäufer: Auf die Rendite kommt es an
    Der Verbraucher: personifizierte Zahlungsfähigkeit
    Der Verbraucherschutz: eine Dauerbaustelle
    Fazit: Alles steht Kopf
    Die Mär von der Verbrauchersouveränität und der betreffenden Verantwortung stellt die Welt also auf den Kopf.
    Diejenigen, die irgendwie mit ihrem schmalen Geldbeutel auskommen müssen und bei denen jede Entscheidung für den Kauf eines Produktes auch immer heißt, sich an anderer Stelle etwas zu versagen, werden für eine Produktion verantwortlich gemacht, für die sie überhaupt nicht zuständig sind. Und sie sollen nicht nur für einzelne Produkte bzw. Produktionsabteilungen verantwortlich sein, sondern für die Katastrophen und Krisen, die die globalisierte Marktwirtschaft den Menschen beschert. (…)
    Die aber, die die Produktion und den Handel zu ihrer Reichtumsvermehrung eingerichtet haben, die wegen ihrer Kalkulation keine Rücksicht auf die Lebensgrundlagen der Menschheit kennen und mittels Werbung und Verpackung auch noch der Menschheit jeden Dreck verkaufen, werden zu Opfern ihres Tuns deklariert. Und diese Ideologie hat selbst bei Protestlern in Sachen Umwelt und bei vielen Verbrauchern verfangen, die zwar jetzt nicht viel anders, aber sich aus jedem Kauf oder Vergnügen ein Gewissen machen.
    https://www.heise.de/tp/features/Der-Verbraucher-Koenig-Kunde-oder-der-Kaiser-ohne-Kleider-4928622.html?seite=all

  48. Der neue EU-Kredit – tauge nicht nur als Erpressungsmittel gegenüber den Ostländern (so geht hierzulande ja die gewöhnliche Denke…), sondern auch gegenüber Spanien, das zu unfreundlich gegenüber Separatisten, zu freundlich gegenüber Korruption sei. Kurzgefasst handele es sich nahezu um einen “failed state”, so überschlägt sich geradezu ein Kommentator bei Heise/Telepolis und wünscht sich, dass “… Brüssel endlich aufhört, über gravierende Demokratiedefizite geflissentlich hinwegzuschauen. Corona-Hilfsgelder müssen an die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzip gebunden werden, um Reformen zu befördern. Und damit Gelder nicht in korrupten Strukturen verschwinden, muss auch deren Einsatz auch kontrolliert und die Projekte evaluiert werden.”
    https://www.heise.de/tp/features/Ist-Spanien-ein-gescheiterter-Staat-4930186.html?seite=all
    Eine Troika soll die EU-Kommission vermutlich einsetzen, damit deutsche Demokratieidealisten katalonische Freiheit feiern können sollen.
    Übrigens: dass auch in mancher westdeutschen mittleren Großstadt Funktionsstellen in Gesundheitsämtern 2019 nicht neu besetzt worden sind (‘weggespart wurden’), galt damals nicht als Merkmale eines failed state. Sondern ganz im Gegentum als solche einer reform-orientierten vernünftigen ‘Schwarze-Null-Schuldenabbau’-Politik. Eben hierzulande.

  49. Verlust der Peilung
    Von Arnold Schölzel
    Im Leitartikel des FAZ-Wirtschaftsteils fragt Alexander Armbruster, Leiter der Onlineredaktion des Ressorts, am Donnerstag, warum sich die wichtigsten Wirtschaftsräume der Welt »gerade jetzt« voneinander abwenden. In der Druckausgabe hat sein Artikel den Titel »Kommunikation und Kontrolle«, im Internet »Von der Kommunikation zur Kontrolle«. Im Druck steht in einem Kasten: »Die Globalisierung ändert sich. Das liegt auch daran, dass sich das Internet ändert.« Über dem Text im Netz: »Die Globalisierung ändert sich dramatisch. Zunehmend geht es um Souveränität und darum, wer neue technische Standards setzt. Deutschland muss mitbestimmen.« Das klingt fast nach AfD-Untergangsfanfare.
    Armbruster macht die »veränderte Globalisierung« Sorgen. Damit steht er nicht allein. Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing erfand neulich die »fragmentierte Globalisierung« und forderte eine stär­kere EU mit einem stärkeren Deutschland. Sein Motto: »Im Zweifel geht Atlantikbrücke vor Seidenstraße«. Von Krise oder Kapitalismus reden aber weder Sewing noch Armbruster, obwohl z. B. der FAZ-Aufmacher zum Herbstgutachten der »Wirtschaftsweisen« neben dessen Text die Schlagzeile hat: »Die Krise frisst sich fest« (im Internet geändert in: »Corona legt die Wirtschaft lahm«). Krise und Kapitalismus in einem Atemzug zu nennen, hat immer noch verheerende Wirkung auf Marktgläubige. Von Überproduktion ­redet gleich gar keiner.
    Also warum gerade jetzt das Auseinanderdriften? Armbrusters Antwort: »Einerseits vermutlich schlicht wegen des schon lange andauernden außergewöhnlichen Aufstiegs Chinas, der das ökonomische und infolgedessen auch das politische (und militärische) Kräfteverhältnis auf der Welt gravierend verändert hat.« Damit hätte er es bewenden lassen können, fügt aber zweitens hinzu: Der Zusammenhalt des Westens sei »seinerseits brüchiger geworden«. Dann wird es diffus. Laut Armbruster befördert nämlich »der technische Fortschritt die gegenwärtige Abgrenzungstendenz«. Das Internet sei nämlich nicht mehr nur »Medium für allgegenwärtige Allzweckkommunikation«, sondern habe sich »zu einem brauchbaren Instrument der Kontrolle gewandelt«. Überraschung. Dafür war es von Anfang an gedacht: eine elektronische Fußfessel der USA für die Weltbevölkerung. Hat im Detail spätestens Edward Snowden 2013 nachgewiesen.
    Armbrusters Analyse endet in diffusem Unbehagen. Das scheint repräsentiv für die höheren Etagen: Dort breitet sich ein Krisenbewusstsein aus, die Auffassung, dass die Peilung verloren geht. Attribute zur »Globalisierung« wie »verändert« oder »fragmentiert« sind vor allem ein Eingeständnis, dass statt der »einzigen Weltmacht« (der damalige US-Präsident George Bush senior) nach dem Ende der Sowjetunion in historisch kurzer Frist jetzt der Niedergang des Westens zu beobachten ist, der mit Demokratieabbau, Hochrüstung und Krieg einhergeht, klassisch imperialistisch mit Expansion, Aggression, Krise und nationalistischem Größenwahn.
    Und sie endet mit dem Aufprall auf die Realität. Am Freitag zitierte die FAZ auf Seite eins des Wirtschaftsteils den Düsseldorfer Ökonomen Jens Südekum: »›Im Moment ist China die Konjunkturlokomotive der Welt. Dort ist die Lage offenbar unter Kontrolle, die Menschen kaufen wieder mehr Produkte. Das hilft der deutschen Industrie extrem.‹ Schön würden die kommenden Monate für die deutsche Wirtschaft aber nicht. Schließlich lägen zwei Drittel der Absatzmärkte in Europa.« Armbruster wird also bald wieder Gelegenheit haben, Ursachen für Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis, sprich: fürs Hinterherhinken des Westens, zu suchen. Kleiner Tipp: Studieren der Produktions- und Eigentumsverhältnisse hilft.
    Neues Wundermittel
    Im Oktober 1990 beschloss der Oberste Sowjet der UdSSR die Einführung der Marktwirtschaft
    Von Reinhard Lauterbach
    Nach fünf Jahren »Umbau«-Politik des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow, befand sich die UdSSR 1990 in einer verzweifelten wirtschaftlichen Lage. Schon 1989 hatte das Politbüro anerkennen müssen, dass von den 1.200 Konsumgütern, die in den statistischen Warenkorb von »Iwan Normalverbraucher« eingingen, 1.000 im staatlichen Einzelhandel nicht mehr angeboten wurden. Das sowjetische Fernsehen rief die Leute auf, Leergut von ihren Datschen in die Stadt zurückzubringen und abzugeben, weil sonst keine Getränke mehr abgefüllt werden könnten. Sogar in Moskau wurde das Brot knapp.
    Perestroika gescheitert
    Die »Perestroika«, 1985 eingeleitet als Programm zur »Beschleunigung« der wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion, war unübersehbar gescheitert. Die als Start einer Investitionsoffensive in Gang gesetzten Vorhaben wurden reihenweise nicht fertiggestellt: Zwischen 1986 und 1988 wurde der Bau von 24.600 Industrieobjekten abgebrochen, gleichzeitig wurden aber 146.000 neue Investitionen gestartet. Die 19. Parteikonferenz im Sommer 1988, die eine Bilanz der ersten dreieinhalb Jahre des neuen Kurses ziehen sollte, verlief nach dem Urteil des damaligen Ministerpräsidenten Nikolai Ryschkow in einer gereizten und »masochistischen« Atmosphäre. Politisch gesagt: Die KPdSU wusste nicht mehr weiter.
    Kostspielige Katastrophen wie die Reaktorexplosion in Tschernobyl 1986 und das Erdbeben in Armenien Ende 1988 trugen sicherlich ihren Teil zu dieser Situation bei. Aber sie können sie ebensowenig ganz erklären wie verschlechterte Rahmenbedingungen, etwa der Preisverfall für Öl auf dem Weltmarkt, von dem sich die UdSSR schon unter Leonid Breschnew finanziell abhängig gemacht hatte, oder der Hinweis auf die beginnenden Autonomiebestrebungen einzelner Unionsrepubliken und Nationalitätenkonflikte, die sich auch auf die Ökonomie auswirkten. Die Schwächung der Planungsbehörde ­Gosplan, der die »Reformer« die Trägheit der sowjetischen Ökonomie anlasteten, führte nicht etwa dazu, die »Initiative der Werktätigen« zu beleben – das geschah allenfalls in dem Sinne, dass der Diebstahl in den Betrieben ungeahnte Ausmaße annahm. Die in ihrer Entscheidungskompetenz aufgewerteten Betriebsdirektoren entwickelten Ressortegoismus: Sie verlangten vom Staat garantierte niedrige Einkaufspreise für Vorprodukte, lehnten aber selbst unrentable Aufträge ab und nutzten – »nicht anders als ihre kapitalistischen Kollegen«, wie es in einer damals erschienenen Studie des »Bundesinstituts für ostwissenschaftliche Studien« nicht ohne Häme hieß – die Preiserhöhungsspielräume aus, die ihnen ihre häufig genossene Monopolstellung verschaffte. Was in der Planwirtschaft aus dem Drang nach Skaleneffekten heraus eingeführt worden war, dass bestimmte Produkte nur an einer oder wenigen Stellen in der ganzen Sowjetunion hergestellt wurden, trug zu deren Zerrüttung bei, als dieser Wirtschaft das genommen wurde, was sie zu einem produktiven Zusammenhang machte: der Plan.
    Das war der Boden, auf dem so­wjetische Ökonomen auf neuem Gebiet zu planen begannen: mit dem »Markt« als alternativem »Regulierungsmechanismus«. Akademische Diskussionen darüber hatte es schon seit den sechziger Jahren gegeben; nun, 1990, gingen mehrere Kommissionen ans Werk. Eine gebar einen Plan, den Kapitalismus innerhalb von 500 Tagen einzuführen, ein von Unionsministerpräsident Ryschkow eingesetzter Ausschuss setzte drei Jahre dafür an. Sie waren nicht die einzigen. Ein Autor der »Friedrich-Ebert-Stiftung« schrieb 1991, unter Gorbatschow sei das Ausarbeiten von immer neuen Wirtschaftsprogrammen »eine Art Volkssport« geworden.
    Was der Oberste Sowjet der Sowjetunion am 19. Oktober 1990 unter dem Titel »Hauptrichtungen der Stabilisierung der Volkswirtschaft und des Übergangs zur Marktwirtschaft« beschloss, war eine 108.000 Zeichen lange Absichtserklärung, in der Sprache noch völlig der sowjetischen Propagandarhetorik und ihrem chronischen Eigenlob verhaftet: »Der Kurs in Richtung Perestroika, den das sowjetische Volk nach vielen Entbehrungen gebilligt hat, hat starke Kräfte für eine Erneuerung der Gesellschaft freigesetzt. Seine Verwirklichung hat das Land aus Winterstarre und Stagnation herausgerissen. (…) All dies schafft die Bedingungen für den Aufschwung unserer ganzen Gesellschaft, vor allem ihrer Wirtschaft.«
    Der Hauptinhalt des Dokuments ist ein Gemisch aus Verhältniszahlen für die Übergabe der Unternehmen in private Hände, Sanierung der Staatsfinanzen aus den erhofften Verkaufserlösen und dergleichen mehr. Die Geschichte ist darüber hinweggegangen, Einzelheiten brauchen heute niemanden mehr zu interessieren. Den Text des Beschlusses findet man nur noch bei einer auf die sowjetische Gesetzgebung spezialisierten Fachseite.
    Peinliche Parteitagslyrik
    Michail Gorbatschow war es nicht zu peinlich, die Aufgabe des Sozialismus in der Sowjetunion öffentlich als Erfüllung des Erbes der Bolschewiki zu feiern: »So wie ich gearbeitet habe, so lebe ich, und dabei fühle ich mich als Mensch. (…) Damit der Mensch sich frei fühlt, (…) sind die Leute bereit, auf alles einzugehen und alles zu ertragen. (…) Das hatten wir ganz vergessen (…). Genau dadurch lösen wir die Aufgabe, die die Bolschewiki vor dem Oktober gestellt haben: die Entfremdung des Menschen von der Macht, vom Boden, vom Eigentum, von der Kultur und den Produktionsmitteln zu überwinden, die Eigenschaften eines Menschen wiederzuerwecken, der die Führung übernimmt, Verantwortung trägt, das Risiko übernimmt und aktiv wird.«
    Diese Parteitagslyrik, die im Original über Stunden dahinplätscherte, als inhaltlich bodenlos zu kennzeichnen, tut ihr noch zuviel der Ehre an. Nur in einem lag Gorbatschow nicht ganz daneben: Auch die Bolschewiki hatten einmal versucht, den Kapitalismus zu zähmen – mit der »Neuen Ökonomischen Politik«, die Lenin während des Bürgerkrieges konzipiert und 1921 proklamiert hatte. Damals hatte er gegen verbreitete Skepsis in der Partei, ob man dafür die Revolution gemacht habe, nun wieder Kapitalisten und Geschäftemacher zuzulassen, einerseits mit der praktischen Not argumentiert, die keinen anderen Ausweg lasse. Soweit folgte Gorbatschow mit seiner Apologie des Marktes tatsächlich ein Stück weit dem späten Lenin. Der aber hatte auch gesagt, dieser zeitweise Rückzug sei vertretbar, solange die Partei die politische Macht fest in der Hand behalte. So ganz stimmte das auch damals schon nicht: Die NÖP brachte zwar die Gebrauchsgüterproduktion in Russland schnell wieder auf den Vorkriegsstand, aber diese Mittel fehlten für die Industrialisierung und Modernisierung des Landes. Aus dieser Klemme trat die Parteiführung ab 1928 die Flucht nach vorn an: in Kollektivierung und forcierte Industrialisierung. Genau diesen Schritt machte Gorbatschow rückgängig. Weil er aber gleichzeitig das zerstörte, was man in Russland heute »Machtvertikale« nennt, ging dabei auch der Staat vor die Hunde, scheiterte an den freigesetzten inneren Gegensätzen. Lenins NÖP fand anderswo Nachfolger – im China Deng Xiaopings. Sage niemand, es wäre nicht gegangen.
    Grundrichtungen (…) des Übergangs zur Marktwirtschaft. Beschlossen vom Obersten Sowjet der UdSSR am 19. Oktober 1990
    Es gibt keine Alternative zum Übergang zum Markt. Weltweit ist die Lebensfähigkeit und Effizienz der Marktwirtschaft erwiesen. Der Übergang zu ihr wird in unserer Gesellschaft (…) von den Interessen des Menschen diktiert; sein Ziel ist die Schaffung einer sozial orientierten Ökonomie, die Orientierung der gesamten Produktion an den Bedürfnissen der Verbraucher, die Überwindung von Mangelwirtschaft und Warteschlangen. Wir wollen praktisch die wirtschaftliche Freiheit der Bürger sichern sowie Bedingungen dafür schaffen, dass sich Fleiß, Kreativität, Initiative und hohe Produktivität lohnen.
    Der Übergang zum Markt steht nicht in Widerspruch zur sozialistischen Grundentscheidung unseres Volkes. Nur der Markt kann gemeinsam mit der humanistischen Grundeinstellung der ganzen Gesellschaft die Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse und eine gerechte Verteilung des Reichtums, soziale Rechte und Absicherungen der Bürger sowie die Steigerung von Freiheit und Demokratie gewährleisten. (…)
    Der schwierige, aber für das Schicksal des Landes unumgängliche Durchbruch, der heute ansteht, besteht darin, dass an die Stelle staatlicher Fürsorge, des ständigen Vertrauens auf andere, der Gleichmacherei, Apathie und Wurstigkeit, wie sie das administrative Kommandosystem hervorgebracht hat, die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung und die Verantwortung der Arbeitskollektive und jedes einzelnen Bürgers für den eigenen Wohlstand (…) treten muss.

  50. Der beschlossene Euro-Kredit ist innereuropäisch nach wie vor umstritten. Einerseits wg Mitsprache- und -sonstigen Befugnissen zwischen den EU-Instanzen, vornehmlich dem Rat der Regierungschefs und dem Parlament. Sowie zwischen Ländern und Ländergruppen, die daran retriktive(re) Bedingungen (u.a. ‘Rechtsstaatsprinzipien’ und deren Unterordnung unter EU-Prinzipien) knüpfen wollen, die dem einen zu eng, dem anderen zu weit gefasst sind. Da ist noch Raum für Erpressungen der diversesten Art. Beschlossen ist es erst, wenn auch alles beschlossen ist. Und wenn es in 27 Staaten national ratifiziert worden ist.
    Und so haben die Südstaaten bisher noch keinen Cent abgekriegt. [Man hört nämlich von dort gerade gar nichts mehr…]
    https://www.tagesspiegel.de/plus/kann-merkel-diesen-eu-streit-noch-schlichten-750-corona-milliarden-sind-zwar-da-und-doch-erhaelt-italien-noch-keinen-cent/26232586.html

  51. Peter Schadt über Widersprüche der Strategie der EU-Kommission, die EU in der Konkurrenz um Digitalformate auf Vordermann zu bringen:
    “(…) Soll die Digitalisierung Europas erfolgreich sein, dann braucht es Standards. Rein technisch ist das zunächst wenig überraschend, bedeutet ein Standard erstmal nicht mehr als eine gemeinsame Sprache der Maschinen, welche als »Internet der Dinge« zusammengeschlossen werden sollen. Ein für Endnutzer bereits bekannter Standard bei der Digitalisierung ist zum Beispiel der USB-Anschluss. Bei Ladesteckern für E-Autos hingegen herrscht noch eine Pluralität verschiedener Anschlüsse.
    Von dieser Seite betrachtet sind verschiedene Sprachen und Normen für jedes einzelne Unternehmen eine Schranke seines Geschäfts und damit für die Staaten eine Beschränkung ihrer Kapitale, auf deren Wachstum sie abzielen. Kann ein E-Auto nicht an jeder Ladestation geladen werden, ist das ein Argument gegen E-Autos, und begrenzt das Geschäft für die Anbieter der Ladestationen. Also muss ein Standard her.
    Um diesen Standard wird allerdings konkurriert. Einerseits von Unternehmen, welche versuchen, ihre jeweilige Sprache zur Norm auch für die anderen zu machen. In dieser Situation ist die Durchsetzung des eigenen Standards das Mittel des Unternehmens, die Konkurrenten durch »Log-in-Effekte« aus dem Markt zu drängen. Nutzer greifen dann bei Neuanschaffungen auf Produkte zurück, welche kompatibel sind mit denjenigen, welche sie bereits haben. So wird etwa der Nutzer eines I-Phones von Apple eher zum Mac-Book des gleichen Herstellers greifen, weil die Geräte gut miteinander kommunizieren.
    Dass Produkte eben keinen allgemeinen Standard haben, wird so zum Mittel in der Konkurrenz der Unternehmen. Doch bleiben die Wirkungen widersprüchlich: Zum einen schützt ein eigener Standard das Unternehmen zwar vor den Wettbewerbern. Gleichzeitig aber bleiben die Absatzmöglichkeiten begrenzt, wenn das eigene Produkt nicht mit allen anderen kompatibel ist. Eine dritte Möglichkeit in dieser Konkurrenz um den Standard ist die Lizenzierung: Unternehmen versuchen, die eigene Technik für alle zur Norm zu machen, indem sie deren Benutzung prinzipiell erlauben – gegen Entgelt versteht sich.
    Der Widerspruch der Unternehmen wiederholt sich auf staatlicher Ebene. So setzt sich die Bundesregierung zum Beispiel seit Jahren dafür ein, dass der europäische Binnenmarkt gemeinsame Regeln für den Datenschutz hat. Davon profitieren Europas großen Kapitale, welche nun ihre Produkte und Dienstleistungen europaweit ohne Änderungen anbieten können. So wird ganz Europa zu einem riesigen, einheitlichen Absatzmarkt, auf welchem sich die größten – und damit vor allem die deutschen – Kapitale durchsetzen.(…)”
    … Umgekehrt (…) Forts.:
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1143245.technologie-macht-der-technik.html
    Nichttarifäre Handelshemmnisse und Wettbewerbsregularien durch staatliche Aufsichtsbehörden waren hier bereits Thema – die eine Seite ist also das Bestreben, technische eigene Standards zu zementieren; die andere Seite das Niederreißen solcher Schranken – beim Konkurrenten…
    http://NestorMachno.blogsport.de/2020/02/18/die-entwicklung-chinas-zur-weltmacht/#comment-40395

  52. Na ja, der Artikel zu Spanien ist offensichtlich von der katalanischen Unabhängigkeitspartei finanziert.
    Was die EU betrifft, so hat sie aus anderen Gründen ein mulmiges Gefühl gegenüber Spanien: Sie ist froh, daß dieses Land überhaupt eine Regierung hat.
    Die letzten beiden Parlamentswahlen brachten keine stabilen Mehrheiten zustand, auch die jetzige (sehr wacklige) Koalitionsregierung ist eine Minderheitsregierung, die nur auf der Duldung von Ciudadanos beruht.
    Die katalanischen Separatisten sind inzwischen auch gespalten, und es gilt in der spanischen Parteienlandschaft: Jeder gegen jeden.
    Die EU-Granden werden sich hüten, dieses labile Gleichgewicht zu kippen.

  53. Die Bemühungen der USA, sich auf dem Balkan als strategische Ordnungsmacht gegen die Dominanz der EU festzusetzen, wird von der BRD auch damit gekontert, dass die Ausbeutbarkeit der dortigen Bevölkerung für hiesige Unternehmer verlängert wird.
    https://www.heise.de/tp/features/Verlaengerung-der-Westbalkanregelung-4923828.html

    Weiteres zu der Region
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-balkan-deal-mit-folgen
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/trump-bestellt-frieden-auf-balkan

    Da die Obst- und Gemüse-Ernten in der BRD derzeit weitgehend eingebracht sind, der Bedarf an ausländischen Tagelöhnern und Erntehelfern also aktuell nicht mehr so groß ist, und sowohl im Balkan als auch in Spanien Covid grassiert, ist anscheinend aktuell der strategische Nutzen diverser Staaten für EU-Vorhaben etwas eingeschränkt. Und damit auch für prinzipiellere außenpolitische Schwerpunkte der EU (Kontakt zu Lateinamerika bzw. Stützpunkte gegen Russland).
    Was die EU im Balkan ermuntert hat: mehr Nationalismus und Separatismus bis fast hin zu ethnischer Rassifizierung – fürchtet sie bzw. der spanische Zentralstaat nicht nur in Katalonien. Sondern aktuell auch wieder in Galizien und im Baskenland.
    https://www.heise.de/tp/features/Wir-sind-ein-Praezedenzfall-alle-koennten-als-kriminelle-Vereinigungen-verfolgt-werden-4931129.html?seite=all

  54. Der Autor bei Telepolis hat anscheinend eine starke Sympathie für regionale Autonomie.
    Ceivar als Bewegung sozialen Unbehagens entstand als Reaktion auf den Prestige-Unfall 2002, als die spanische Regierung das Schiff vor der Küste Galiziens kentern ließ, anstatt es in einen Hafen schleppen zu lassen, und damit die Umwelt, den Fischfang und den Tourismus Galiziens schwer schädigte. (Die Industrie dort war sowieso schon den Bach hinuntergegangen, dadurch waren diese beiden Erwerbszweige sehr wichtig.)
    Die Operation Jaro wurde 2015, noch unter der Rajoy-Regierung in die Wege geleitet, um jegliche Gefahr für die PP-Alleinregierung in der traditionellen PP-Bastion Galizien zu bannen.
    Eigentlich wurde also unter geschobenen Terrorismus-Vorwürfen indirekt die PSOE ins Visier genommen, um sich ja nicht durch eine Graswurzelbewegung eine Basis zu schaffen. Wehret den Anfängen!
    Es ist also keineswegs eine Initiative der derzeitigen Regierung, weshalb diese galizischen Angeklagten jetzt vor dem Gericht für politische Vergehen stehen. (Es ist übrigens das gleiche Gericht, vor dem Pinochet angeklagt wurde, also von wegen, es sei ein quasi franqistisches Überbleibsel.)
    Der Vergleich mit Katalonien, wo sich ein Teil der nationalen Bourgeoisie für die Abspaltung von Spanien stark macht, ist also ganz verfehlt. In Galizien steht die Elite klar hinter Madrid und der PP, und auch die Angeklagten haben nichts mit Separatismus im Sinn.
    Vom Baskenland hört man übrigens gar nichts, die Erwähnung von angeblichem baskischem Separatismus ist unangebracht. Soweit ich es mitkriege, ist die Unabhängigkeitsbewegung dort seinerzeit mit der Wahlniederlage Ibarretxes 2005 erloschen.

  55. PS: Es ist eben dieser Autor, Ralf Streck, der die beiden Bewegungen vergleicht, um die katalanischen Separatisten als unschuldige Opfer post-franquistischer Umtriebe darzustellen.

  56. Je nachdem, wer wo dicke Mauern und hohe Zäune gegen den Nachbarstaat ausbaut, – dem wird das hierzulande ggf. auch mal offiziell beklatscht…
    “EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bedankte sich bei den Griechen dafür, der »europäische Schild« zu sein. (…)
    Griechenland baut seine Grenzzäune entlang des Flusses Evros (türkisch: Meric) an der Grenze zur Türkei aus. Der Bau sei notwendig, »damit die griechischen Bürger sich sicher fühlen«, erklärte Regierungschef Kyriakos Mitsotakis (…)”
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1143263.griechisch-tuerkische-grenze-athen-will-grenze-zur-tuerkei-am-fluss-evros-weiter-verstaerken.html
    Das Abschreckungsregime gegenüber den Flüchtlingen enthält eben nicht nur deren möglichst grässliche Internierung auf griechischen Inseln. Aber auch darin hat die griechische Regierung sich den Respekt Europas erarbeitet und die abgebrannten Hütten durch noch löchrigere Zelte flugs ersetzt.
    vgl.: http://nestormachno.blogsport.de/2020/10/03/imperialismus-heute-fortsetzung-3-10/#comment-40428
    http://nestormachno.blogsport.de/2020/06/25/imperialismus-heute-fortsetzung-20202/#comment-40376
    “Es ist moralisch-dümmlich, wenn die Flüchtlingspolitik der EU an den Ideologien festgemacht wird, die über sie in Umlauf sind.
    Alle EU-Regierungen würden die auf ihrem Territorium befindlichen Flüchtlinge am liebsten morgen ins Meer kippen, – wenn das so einfach ginge.
    Dann gibts auch noch ein Asylrecht, das sich jahrzehntelang als Einmischungstitel im Ausland bewährt hat und auch nicht so einfach in den Mistkübel geworfen werden kann.”
    (Nestor, s.o.)
    Die Türkei für EU-Zwecke benutzbar halten zu wollen (z.B. das Flüchtlingsabkommen), denn von dort kommen etliche Flüchtlinge ja über die Grenze, legt den Griechen andererseits den Standpunkt nahe, ihre sonstigen und eigenen Konflikte mit der Türkei (z.B. Zypern, Gas etc.) durch die Brille der EU betrachten zu sollen, denn in der Brauchbarkeit für EU-Zwecke liege doch angeblich die eigentliche Staatsmoral Griechenlands. Diesen Standpunkt sieht die jetzige Regierung anscheinend sehr ähnlich, – und das ganz ohne Troika und EU-Aufsichtskommissare.
    P.S. Dass der neue EU-Kredit ganz neu für Unterordnung unter das Regime von Brüssel taugt, um also, in ganz neuer Weise, europäische “Geschlossenheit” von oben verordnen zu können – darauf scheint der Hauptnutznießer der EU, die BRD, zu vertrauen, also dass die zeitweilige und zunächst bedingte Umkonstruktion in Euro-Bonds sich in europäische Gefolgsamkeit auszahlt.
    Dass der Kredit Insolvenzen verhindere, ist aber ja nicht mal die halbe Wahrheit über ihn. Stattdessen soll er nämlich europäisches Wachstum ermöglichen – und das für die fortgeschrittensten europäischen Kapitale. Und die haben ihre Standorte meist nicht am Ätna oder auf griechischen Inseln…
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1143243.wirtschaft-coronakrise-phase-iii.html?sstr=Stephan%20Kaufmann

  57. Selbstmörderisch
    USA gegen »New START«-Verlängerung
    Von Arnold Schölzel
    Das war ein Schlag ins Wahlkampfkontor. Gut drei Wochen vor der US-Präsidentenwahl hat Russlands Staatschef Wladimir Putin am Freitag den USA eine bedingungslose Verlängerung des »New START«-Abkommens »um mindestens ein Jahr« vorgeschlagen. Der Vertrag sieht vor, die Zahl der Trägersysteme für Atomwaffen auf jeweils 800 und die der einsatzbereiten Atomsprengköpfe auf jeweils 1.550 zu begrenzen. Das Nein Washingtons kam in Rumpelmanier: Putins Angebot sei ein »Rohrkrepierer«. Der nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, Robert O’Brien, stammelte am Freitag auf Twitter außerdem, die USA hätten doch Russland bereits ein Angebot für eine einjährige Verlängerung gemacht. Er vergaß zu erwähnen: Trump und seine Leute wollten Bedingungen diktieren. »America Great Again« frisst Realitätssinn.
    Moskau wollte dagegen in den Verhandlungen über die Verlängerung des Vertrages, die seit Juni in Wien stattfanden, über »strategische Stabilität« sprechen. So legte es Außenminister Sergej Lawrow am Freitag diplomatisch höflich im russischen Sicherheitsrat dar. Am Sonnabend folgte Klartext des russischen Botschafters in den USA, Anatoli Antonow: Washington versuche, die Ursachen für die Ablehnung seiner Ultimaten durch Moskau auf den Kopf zu stellen. Zu denen gehörten u. a. freie Hand für die Modernisierung von Atomwaffen auf NATO-Seite einschließlich Atomtests, Verbot aber für Russland und die Drohung, nach den US-Wahlen den »Eintrittspreis« für eine Vertragsverlängerung zu erhöhen. Die US-Seite, so Antonow nun, habe zudem angekündigt, in der Region Asien-Pazifischer Ozean Atomraketen mittlerer und kürzerer Reichweite aufzustellen, die Russland erreichen können. Der Diplomat erinnerte daran, dass Putin im Februar 2019 angekündigt hatte, solche Raketen nicht zu stationieren, solange auch die USA davon absehen. Die US-Amerikaner, so Antonow, seien aber überzeugt, ein Wettrüsten gewinnen und die russische Wirtschaft »in Stücke reißen zu können«.
    Für Trump fällt der Wahlkampfschlager »Besserer Vertrag als Obama« oder gar »Diktat für Moskau« aus. Putin hatte zudem Anfang Oktober hervorgehoben, dass der demokratische Präsidentschaftskandidat Joseph Biden zu einer Verlängerung von »New START« bereit sei. Mit dem Angebot vom Freitag schlug Putin die Tür für Trump nicht zu, öffnete sie aber für einen möglichen Präsidenten Biden.
    Das Problem ist, das wissen Moskau und die Welt nach 75jähriger Erfahrung, nicht ein US-Präsident und sein Wahlzirkus, sondern das, was US-Politik charakterisiert: Irrationalität im Umgang mit Atomwaffen. Die Aufkündigung aller Abrüstungs- und Kontrollverträge durch die USA in den vergangenen 20 Jahren ist nur ein Beleg von vielen. Vernunft ist von dort nicht zu erwarten. Man arbeitet seit 1945 unentwegt an strategischer Vernichtung und am Selbstmord.
    Weltall-Verteidigung: Nato will in Ramstein Space Center aufbauen
    Das Atlantische Bündnis will ein Space Center in Ramstein zwecks der Verteidigung im Weltraum aufbauen. Der entsprechende Plan soll nach Angaben der dpa und der „Süddeutschen Zeitung“ an diesem Donnerstag angekündigt werden.
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    Neue Machtverhältnisse in Kirgistan
    Nach Protesten in Bischkek tritt Präsident zurück. Neuer Regierungschef baut Einfluss aus
    Von Reinhard Lauterbach
    Knapp zwei Wochen nach Beginn der Proteste gegen die Regierung in Kirgistan ist Präsident Sooronbai Dscheenbekow zurückgetreten. Er wolle nicht in die Geschichte als jemand eingehen, der auf sein eigenes Volk habe schießen lassen, erklärte er am Donnerstag. Vorher hatten Anhänger der neuen Regierung unter Sadyr Schaparow – die seit vergangenen Montag im Amt ist – gedroht, den Präsidentenpalast zu stürmen. Die Vollmachten Dscheenbekows übernahm der auf einer Parlamentssitzung mit zweifelhafter Legitimität nominierte Schaparow. Parlamentspräsident Kanat Issajew, dem die Verfassung die Rolle des Übergangspräsidenten zuschreibt, hatte abgelehnt, das Amt anzunehmen. Anhänger Schaparows hatten zuvor auch die Verhaftung Issajews verlangt. In der gegenwärtigen Situation passiert also vieles weitgehend außerhalb aller in der Verfassung festgelegten Regeln.
    Offenbar – im Gegenzug für seine Bereitschaft zum Rücktritt – gewährte die Regierung Dscheenbekow den Status eines »ehemaligen Präsidenten«, der mit verschiedenen Privilegien, insbesondere aber der Immunität vor Strafverfolgung, verbunden ist. Letztere kann allerdings vom Parlament wieder aufgehoben werden.
    Mit dem Rücktritt Dscheenbekows steht das politische System von Kirgistan vor einer kompletten Neuformierung. Anlass für die Unruhen waren unterstellte Fälschungen bei der Parlamentswahl vom 4. Oktober gewesen. Auch die Amtszeit des Präsidenten hätte normalerweise noch zwei Jahre gedauert. Am Freitag kündigte Schaparow nun Parlamentswahlen für den 20. Dezember und vorgezogene Präsidentenwahlen für den 17. Januar an. Er versprach – oder drohte, wie man es nimmt – er werde diese Wahlen »überwachen«.
    Russische Medien berichteten über Moskauer Zentralasienexperten, diese seien wegen einer möglicherweise länger dauernden Instabilität in Kirgistan »besorgt«. Außerdem vertrete Schaparow nur seinen »Clan«, und seine Gegner hätten durchaus die Ressourcen, ihn anzugreifen. Der Rücktritt Dscheenbekows macht eine – vor knapp zwei Wochen – unter russischer Vermittlung ausgehandelte Kompromisslösung gegenstandslos, die mehrere »Clans« zufriedenstellen sollte. Schaparow stützt sich nach Darstellung des an der Columbia-Universität in den USA angesiedelten Internetportals Eurasianet vor allem auf gewaltbereite Trupps seiner Anhänger, die die Straßen der Hauptstadt Bischkek unsicher machten.
    Russland stornierte inzwischen seine gesamte Finanzhilfe für Kirgistan, bis sich die Lage »stabilisiert« habe. Moskau hat dem Land in der Vergangenheit Schulden im Gesamtumfang von 700 Millionen US-Dollar erlassen und zuletzt 2019 einen Zuschuss von 30 Millionen US-Dollar gewährt.
    Die US-Botschaft in Bischkek distanzierte sich ebenfalls von den Vorgängen. Sie kritisierte den Machtwechsel als »Versuch krimineller Gruppen, sich Einfluss auf Politik und Wirtschaft zu verschaffen«. Wahr daran ist jedenfalls, dass zumindest Schaparow eine kriminelle Vergangenheit hat. Bis zum 6. Oktober saß er noch in Haft, weil er 2017 als Anführer eines regionalen Protests den dortigen Gouverneur als Geisel genommen hatte. Früher galt er als Gefolgsmann des vorvorletzten Präsidenten Kurmanbek Bakijew, der 2010 bei ähnlichen Unruhen gestürzt und in Abwesenheit zu 24 Jahren Haft verurteilt worden war. Bakijew lebt inzwischen in Belarus im Exil.

  58. Die EU ist allerdings in verschiedenen dieser „Zukunftsindustrien“ gegenüber ihren Weltmarktkonkurrenten schon so weit hinten, daß das Aufholen, noch dazu unter den Bedingungen der innereuropäischen Konkurrenz, nicht gelingen wird.
    Außerdem ist es vom Standpunkt der EU als Staatenbündnis nicht schlau, die Zombie-Firmen alle krachen zu lassen, weil das die Anzahl der Pleitestaaten erhöht, die dann am EU-Kredit hängen, und die EU als Ganzes weiter schwächt.
    Vom Standpunkt Deutschlands mag das Verfahren attraktiv sein, weil es sich damit weitere Märkte sichert, die es allerdings mit der anderen Hand kreditieren muß.

  59. PROTOKOLL zum Jour fixe vom 12.10.2020 –
    1. Z.B. George Floyd – Vom Rassismus einer freiheitlichen, egalitären Staatsgewalt (Fortsetzung der Diskussion) und
    2. Macrons Ansage: Die Nato ist „hirntod“ (GS 3-20)
    https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/jf-protokolle/jf201012-rassismususa-fortsetzung-macron.pdf

    Dieses Jourfixe-Protokoll bezieht sich auf die folgenden Artikel:
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/vom-rassismus-einer-freiheitlichen-egalitaeren-staatsgewalt
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/macrons-ansage-nato-ist-hirntot
    – und davon eine frei verfügbare Version ist diese:
    https://www.jungewelt.de/artikel/386336.frankreich-hirntote-nato.html?sstr=Wentzke

  60. Ankara gegen Moskau
    Konflikt um Berg-Karabach: Geopolitische Dimensionen werden deutlicher
    Von Reinhard Lauterbach
    Frankreich, Russland und USA, die den Vorsitz führen in der »Minsker Gruppe« der OSZE – sie bemüht sich seit 1992 um eine Lösung des Konflikts um Berg-Karabach –, haben Armenien und Aserbaidschan zu einer neuerlichen Waffenruhe aufgefordert. Die Vereinbarung wurde auch unterzeichnet und sollte am Sonnabend in Kraft treten, sie wird aber zumindest nicht durchgängig eingehalten. Beide Seiten berichteten über den Beschuss ziviler und militärischer Ziele. Aserbaidschan meldete die »Befreiung« von 13 Dörfern, Armenien die Rekrutierung eines Frauenbataillons zur Verteidigung von Berg-Karabach. Bisher hätten sich etwa 100 Freiwillige gemeldet.
    Gleichzeitig wird die russisch-türkische Konkurrenz in dem Krieg immer deutlicher sichtbar. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan warf Russland und Frankreich am Sonnabend vor, Waffen an Armenien zu liefern. Die Beschuldigung ist politisch ziemlich grotesk, solange die Türkei unverhohlen Militärhilfe für Aserbaidschan leistet. Sie zeigt aber die gewachsenen politischen Ansprüche Ankaras. Erdogan kritisierte bei der Gelegenheit auch die Führung des Irans, die Russland für die Waffenlieferungen einen Luftkorridor zur Verfügung gestellt habe. Teheran bestreitet dies und hat sich für neutral erklärt.
    In Russland ruft die Expansion der Türkei in Richtung Osten inzwischen zumindest in der Öffentlichkeit wachsende Besorgnis hervor. Die Regierung spielt den heranreifenden Konflikt einstweilen eher herunter. Außenminister Sergej Lawrow nannte die Türkei in einer Erklärung zwar nicht mehr den »strategischen Partner« Russlands, als den Moskau das Land eine Zeitlang gerühmt hatte, ein »enger Partner« sei Ankara aber immer noch.
    In den Medien wird dagegen Alarm geschlagen über einen angeblich Ende Oktober in Baku geplanten »Gipfel der Turkvölker«. Der 2009 gegründete »Türkische Rat«, der dieses Treffen veranstalten soll, besteht aus der Türkei, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan und Usbekistan und dient Ankara dazu, geopolitischen Einfluss in Zentralasien geltend zu machen. Auch wenn, wie es einige Medien aus dieser Region berichteten, das Treffen aktuell wegen der Pandemie nicht stattfinden sollte, bleibt es eine Herausforderung für Russland, das die asiatischen und transkaukasischen Exsowjetrepubliken nach wie vor als »nahes Ausland« und Sphäre besonderer Interessen betrachtet.
    Konkurrenten sind Russland und die Türkei im Nahen Osten im Grunde seit Jahrhunderten. In den vergangenen Jahren wurde dieser Konflikt von der gemeinsamen Gegnerschaft gegenüber Washington überdeckt: Beide Länder sind daran interessiert, die USA aus der Region herauszuhalten. Allerdings geraten die Interessen beider Seiten genau mit ihren – relativen – Erfolgen zunehmend in Widerspruch: In Syrien unterstützt die Türkei die Islamisten in deren letzten Bastionen, Russland dagegen die Regierung. In Libyen beliefert Ankara die UN-gestützte Regierung in Tripolis mit Waffen, Moskau den General Khalifa Haftar. Im Kaukasus ist Russland an der Beibehaltung des Status quo zwischen Armenien und Aserbaidschan interessiert, nicht am Sieg einer der beiden Seiten. Die Schwierigkeit aus Moskauer Perspektive besteht darin, den dem Status quo zugrunde liegenden Konflikt am Leben zu halten und als Schiedsrichter im Spiel zu bleiben. Diese Kalkulation hat Erdogan mit seiner offenen Parteinahme und militärischen Unterstützung für Aserbaidschan angegriffen.
    Russlands offizielle Neutralitätspolitik hat auch noch ein zweites Ziel: dem armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan die strategische Abhängigkeit seines Landes von guten Beziehungen zu Russland deutlich zu machen. Russland misstraut Paschinjan, der 2018 durch eine »Farbenrevolution« an die Macht kam und sich mit Leuten aus dem Spektrum der westlich finanzierten Nichtregierungsorganisationen umgeben hat. Der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew spielte darauf an, als er vor den Waffenstillstandsverhandlungen Armeniens gegenwärtige Regierung als »Kreatur von George Soros« bezeichnete. Eine zu offene und intensive Unterstützung Armeniens – für das in Russland wegen der gemeinsamen orthodoxen Konfession eine gewisse Sympathie besteht – könnte allerdings den türkischen Ambitionen im Südkaukasus eher Vorschub leisten.
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    Am Rande des Aufstands
    Trump stachelt sie an, Polizei und Spezialeinheiten lassen sie gewähren: In den USA treten faschistische Milizen immer offener auf. Der gemeinsame Feind ist die »Black Lives Matter«-Bewegung
    Von Jürgen Heiser
    Ende August 2020 schrieb Anne Branigin auf der afroamerikanischen Onlineplattform The Root, es gebe »bestimmte Zahlen, die einem aus dem einen oder anderen Grund ins Gedächtnis eingebrannt« seien. Dazu gehörten beispielsweise die »acht Minuten und 46 Sekunden«, die der inzwischen entlassene und unter Anklage gestellte weiße Polizeibeamte Derek Chauvin aus Minneapolis auf dem Nacken des Schwarzen George Floyd kniete, bis dieser erstickte. Eine weitere Ziffer, »eine einfache, die man sich leicht merken« könne, sei »die Zahl drei« – in dem Vierteljahr seit dem Tod George Floyds am 25. Mai 2020 habe es ganze drei Tage gegeben, an denen keine Opfer tödlicher Polizeigewalt in den USA zu beklagen waren. An jedem anderen Tag gab es im Schnitt drei Todesopfer bei gewaltsamen Polizeiaktionen. Dies hatte der Aktivist und politische Analyst Samuel Sinyangwe am 24. August getwittert. An den bis zu diesem Datum vergangenen 235 Tagen des Jahres 2020 waren bereits 751 Todesopfer durch Polizeigewalt registriert worden. Inzwischen ist die Zahl nach der Statistik des von Sinyangwe 2013 mitbegründeten »Mapping Police Violence« (MPV), einer Initiative zur Beobachtung von Polizeigewalt, bis zum 30. September auf insgesamt 839 Tote angestiegen.
    Attacken auf Protestierende
    Doch das Land ist weit davon entfernt, das Problem rassistisch und sozialdarwinistisch motivierter Polizeigewalt zu lösen. Im Gegenteil verfestigen sich durch die Innenpolitik der Regierung Donald Trumps die Konfrontationslinien in der Gesellschaft. Soziale und politische Konflikte werden mit Gewalt ausgetragen. Gegen die nach dem Mord an George Floyd erneut erstarkende antirassistische »Black Lives Matter«-Bewegung (BLM) mobilisierte Scharfmacher Trump durch seine Hassreden nicht nur den rassistischen Mob unter seiner Anhängerschaft, sondern neben der Nationalgarde auch militärisch ausgerüstete maskierte Spezialeinheiten unterschiedlichster Bundespolizeitruppen. Sie sollten die über Wochen und Monate andauernden Demonstrationen in der Hauptstadt Washington und in Zentren des Widerstands wie Minneapolis, Portland, Seattle, Los Angeles und New York City zerschlagen. Als Tausende Demonstranten das Weiße Haus belagerten und Trump gegen sie die aus US-Armee und Sicherheitsorganen rekrutierten anonymen »grünen Männer« auffahren ließ, nannte das Newsportal Struggle for Socialism (SfS) dieses Ereignis »Trumps 1. Juni-Putsch«.
    Noch während der wachsenden Proteste schoss der weiße Polizist Rusten Sheskey am 23. August 2020 dem Afroamerikaner Jacob Blake in Kenosha (Wisconsin) im Beisein seiner drei Kinder mehrfach in den Rücken. Wie durch ein Wunder überlebte der 29jährige, er wird aber querschnittsgelähmt bleiben. In der Folge dieser erneuten brutalen Polizeigewalt gingen in vielen US-Städten noch mehr Menschen empört auf die Straße. Zwei Tage nach Beginn dieser neuerlichen Proteste marschierten in Kenosha faschistische Milizionäre auf, die demonstrativ ihre automatischen Waffen präsentierten, ohne dass die Polizeikräfte sie daran hinderten. Bald machte das Gerücht die Runde, dass einer der Milizionäre scharf geschossen und dabei die beiden Aktivisten Anthony Huber und Joseph »Jojo« Rosenbaum getötet und einen dritten, Gaige Grosskreutz, verwundet habe.
    Im Internet tauchten Videos auf, die den 17jährigen Kyle Rittenhouse mit seinem halbautomatischen Gewehr AR-15 zeigten, wie er am Abend des 25. August die tödlichen Schüsse auf die Demonstranten abgab. Über den Schützen wurde bekannt, dass er als Polizeikadett gedient und über seine Facebook-Seite die Parole »Blue Lives Matter« verbreitet hatte. Das Blau steht für die Farbe der Polizeiuniform, und die Parole war eine Reaktion aus »Law and Order«-Kreisen auf die Kritik der BLM-Bewegung an rassistischer Polizeigewalt. Die Videos zeigten auch, wie Polizeibeamte die bewaffneten Rechten grüßten und ermunterten. Konsequenterweise unternahm niemand von den Sicherheitskräften auch nur den Versuch, Rittenhouse und seine Kumpane festzunehmen, obwohl auch für sie an dem Abend ab 20 Uhr eine Ausgangssperre galt. Rittenhouse konnte nach den tödlichen Schüssen sogar seelenruhig mit seinem geschulterten Sturmgewehr Polizeiketten passieren, obwohl aus der Menge auf ihn gezeigt und gerufen wurde, er habe gerade mehrere Menschen erschossen. Und während das Opfer der Polizeigewalt, der schwerverletzte Jacob Blake, verhaftet und von Polizisten mit Handschellen an sein Krankenhausbett gekettet wurde, schaffte es Rittenhouse, völlig ungehindert in seine zwanzig Meilen entfernte Heimatstadt Antioch (Illinois) zurückzukehren. Erst dort wurde er schließlich verhaftet und später wegen Mordes unter Anklage gestellt.
    Wie das Newsportal SfS am 29. August 2020 berichtete, hatte sich Kenoshas Polizeichef Daniel Miskinis geweigert, die tödlichen Schüsse auf Huber und Rosenbaum als Morde zu werten. Sie seien »selbst schuld an ihrem Tod«, da sie sich nach Beginn der Ausgangssperre noch »illegal« auf der Straße befunden hätten. Andererseits fand Miskinis die Selbstjustiz der faschistischen Miliz und ihre Missachtung der Ausgangssperre »in Ordnung«. Sie seien »einfach bewaffnete Zivilisten, die gekommen waren, um ihr verfassungsmäßiges Recht auszuüben und Eigentum vor Plünderern und Brandstiftern zu schützen«.
    Laut SfS gehörten die meisten der bewaffneten Milizionäre der »Kenosha Guard« an, einer von dem ehemaligen Stadtrat Kevin Mathewson gegründeten Einheit. Auf seiner Facebook-Seite hatte Mathewson einen »Aufruf zu den Waffen« gegen die BLM-Demonstrationen veröffentlicht. Auf dem rechten Sender Fox News Channel diffamierte der hochdotierte Moderator Tucker Carlson in seiner Talkshow den zum Krüppel geschossenen Jacob Blake als »Schläger«, um gleich darauf den Faschisten Rittenhouse zum aufrechten Patrioten zu erklären: »Sind wir wirklich überrascht darüber, dass Plünderung und Brandstiftung zu Mord führten? Warum reagieren wir schockiert, dass 17jährige mit Waffen die Ordnung aufrechterhalten, wenn niemand sonst es tut?«
    Zur Gewalt anstacheln
    Tuckers Verständnis und Lob für den »Patrioten« Rittenhouse im Hauptprogramm des Fox News Channel spiegelt exakt die Haltung der Herrschaftsclique um den amtierenden US-Präsidenten wider. Das »viertägige Hassfest«, wie SfS den am 24. August begonnenen Nominierungsparteitag der Republikaner in Charlotte (North Carolina) nannte, fand wegen der Coronapandemie nur am ersten Tag live statt, um Trump von den zugelassenen 336 Delegierten als Kandidaten für die am 3. November stattfindende Präsidentschaftswahl bestätigen zu lassen. An den restlichen drei Tagen wurde die Veranstaltung online fortgesetzt. Viele Redner zeichneten ein apokalyptisches Bild für den Fall, dass Trumps demokratischer Gegner gewinnen sollte. Joseph Biden werde »den Sozialismus einführen, den Amerikanern ihre Waffen wegnehmen und den Polizeibehörden die Finanzierung entziehen«. Es werde Mord und Totschlag in den Städten geben durch »linksextremistischen« Meinungsterror – kurz: die »Zerstörung Amerikas«. Biden sei »eine Marionette der extremen Linken und von ›Black Lives Matter‹«. Allein er, Trump, stehe »zwischen dem amerikanischen Traum und der totalen Anarchie«.
    Kyle Rittenhouse, der schon im Januar bei Trumps Kundgebung in Des Moines (Iowa) in der ersten Reihe der begeisterten Anhänger gestanden hatte, fühlte sich zusammen mit seinen Mitstreitern durch die Reden des Parteitags, besonders aber durch Trumps Ermutigung zum Handeln aufgefordert. So griffen sie am zweiten Abend des Parteikonvents zu den Waffen und machten sich auf, die angebliche »totale Anarchie« in den Straßen Kenoshas zu beenden. In Bewunderung für ihren Helden Trump wollten sie endlich zurückschlagen gegen »Black Lives Matter« und diese Bewegung als Speerspitze der größten Mobilisierung gegen das weiße Vorherrschaftsdenken in der Geschichte der USA beenden. Eine bunte Bewegung von zwanzig Millionen Menschen war seit Mai an rund zweitausend Orten in Stadt und Land gegen Rassismus, Polizeigewalt und die Überbleibsel von Kolonialismus und Sklaverei aufgestanden, um endlich die tödliche gesellschaftliche Spaltung aufzuheben. Dagegen wollten Rittenhouse und Co. ins Feld ziehen.
    Kein Geringerer als Präsident Trump verteidigte den Schützen Rittenhouse. Der habe in Notwehr gehandelt. »Das war eine interessante Situation«, schwadronierte Trump kryptisch auf einer Pressekonferenz vor seinem Besuch in Kenosha, den er nutzen wollte, um den Sicherheitskräften für ihren Einsatz zu danken. »Äußerst gewalttätig« sei Rittenhouse von Demonstranten angegriffen und »wäre wohl getötet worden«, phantasierte Trump. Beweise für seine Vermutung hatte er keine. Dafür viel Lob für die Polizei. Ihre Reaktion auf die Proteste nannte er »wirklich unglaublich und inspirierend«, denn das seien »keine friedlichen Proteste, sondern inländischer Terror« gewesen. Als schlimmstes Problem machte er dann »die linksgerichtete Indoktrination« in Schulen und Universitäten aus. Dort würden »jungen Amerikanern Lügen beigebracht, Amerika sei ein böses und von Rassismus geplagtes Land«, so Trump.
    Ein ermordeter Antifaschist
    Die von Inhabern höchster Regierungsämter und in den Medien gerechtfertigten Morde an Demonstranten versetzten die Protestbewegung jedoch nicht in Panik, sondern bestärkten sie darin, sich gegen alle Sorten von »grünen Männern« und Faschisten zu wehren. Auch in Portland traten diese verstärkt auf, um die seit dem Mord an George Floyd im Mai täglich weitergehenden Protestaktionen zu beenden. Dabei wurde am 29. August 2020 das Mitglied einer rechten Miliz erschossen. Nach einem Bericht des Wall Street Journal hatte sich die polizeiliche Suche nach dem Täter schon bald auf den 48jährigen Armeeveteranen und Antifaschisten Michael Reinoehl konzentriert. Am 3. September gegen 23 Uhr (Ortszeit) veröffentlichte das Internetportal Vice News überraschend ein Gespräch mit Reinoehl, der freimütig erzählte, er habe bei den Protesten in Portland »für Sicherheit gesorgt«.
    In dem Gespräch, das der freie Journalist Donovan Farley für Vice News führte, erklärte Reinoehl, er habe in dem Moment, als er und ein Freund von Faschisten angegriffen wurden, »in Selbstverteidigung gehandelt«. Wie sich später herausstellte, war der Angreifer Aaron »Jay« Danielson von der rechten Gruppe »Patriot Prayer«. Anwälte hätten ihm davon abgeraten, darüber zu sprechen, aber, so Reinoehl, »ich halte es für wichtig, dass die Welt wenigstens etwas von dem erfährt, was hier wirklich vor sich geht«. Er habe in dem Moment keine Wahl gehabt, sagte Reinoehl. »Hätte ich zusehen sollen, wie die meinen farbigen Freund töten? Ich hatte keine Wahl.«
    Am Morgen des 4. September um 6.24 Uhr lautete die neue Vice News-Schlagzeile: »In Verbindung mit Schießerei in Portland gesuchter Aktivist soll von der Polizei getötet worden sein«. Noch in der Nacht, wenige Stunden nachdem das Gespräch mit Michael Reinoehl gepostet worden war, hätten Polizisten ihn erschossen. Geschehen sei das im Ort Lacey im Westküsten-Bundesstaat Washington, etwa zwei Stunden entfernt von Portland, »bei dem Versuch, ihn festzunehmen«, so Vice News.
    Recherchen der New York Times (NYT), die am 11. Oktober aktualisiert wurden, ergaben jedoch ein anderes Bild. Demnach hatte eine von Bundesagenten geleitete »Sonderfahndungseinheit für Gewalttäter« namens »Pacific Northwest Violent Offender Task Force«, dem »Antifaunterstützer« Reinoehl aufgelauert, als er ein Apartmenthaus verließ und zu einem Wagen ging. Der Augenzeuge Pfarrer Nathaniel Dingess ließ seinen Anwalt verbreiten, was die Zeitung The Oregonian so beschrieb: Er habe gesehen, wie »Beamte mehrere Schnellfeuergarben auf Reinoehl schossen, bevor es einen kurzen ›Stoppbefehl‹ gab, auf den weitere Schnellfeuerstöße durch zusätzliche Beamte folgten«. Trevor Brown, Mieter in einem Nachbarhaus, hatte laut NYT, »mehrere Schüsse gehört und vier Polizeibeamte auf der Straße gesehen«. Dann habe ein Mann auf dem Boden gelegen.
    Auch Lieutenant Ray Brady vom Thurston County Sheriff’s Office gab an, dass »vier Beamte ihre Waffen abgefeuert« hätten. »Mr. Reinoehl« habe »eine Handfeuerwaffe bei sich gehabt«, er könne jedoch »nicht bestätigen, dass der damit geschossen« habe. Es gebe auch »keine Aufnahmen von Körperkameras von diesem Vorfall«. Was die Sache suspekt machte, denn gerade zu erwartende schwierige Verhaftungssituationen sollen nach den US-Polizeirichtlinien mit Bodycams dokumentiert werden. Und Reinoehl galt als »Antifa«, gegen ihn lag ein Haftbefehl vor.
    Der Erschossene war offenbar auch schon länger im Visier der Sicherheitsbehörden. Er lebte mit seinen beiden heranwachsenden Kindern in der Gegend von Portland und »war in den letzten Wochen bei den Demonstrationen in der Stadt ständig präsent«, um »für die Sicherheit der Demonstranten zu sorgen«, wie die NYT es umschrieb. Er sei »auf der ganzen Linie einhundert Prozent Antifa«, soll er im Juni auf Instagram geschrieben haben, und: »Wir wollen keine Gewalt, aber wir werden auch nicht davor weglaufen!«
    Als Reinoehls Tod in Portland bekannt wurde, versammelten sich Hunderte Demonstranten vor einer Polizeiwache und skandierten Parolen. An die Mauern der Wache war »An euren Händen klebt Blut!« und »Ihr habt Michael Reinoehl ermordet« gesprüht worden. Reese Monson, ein Sprecher der Protestbewegung und wie Reinoehl im Ordner- und Sicherheitskollektiv organisiert, sagte, sie alle seien in Deeskalationstechniken geschult. Reinoehl sei »darin ausgezeichnet« gewesen. Er habe die Aufgabe gehabt, »während der Demonstrationen potentielle Provokateure abzufangen und zur Beruhigung von Konflikten beizutragen«, sagten andere Aktive der NYT. »Mike war buchstäblich ein Schutzengel«, erklärte die Aktivistin Teal Lindseth, der bei den Protesten der Kiefer dreifach gebrochen wurde. Reinoehl hätte »jeden beschützt, egal was passiert«.
    Leider konnte er sich selbst nicht schützen vor denen, die wie die erwähnte »Taskforce« mit einem klaren Auftrag zu ihm kamen. Sie gehört zu den unter Trump von Heimatschutzminister Chad Wolf aufgestellten Sondereinheiten und setzt sich aus Beamten des U. S. Marshals Service, verschiedenen Polizeistellen und Sheriff Departments sowie einer Spezialeinheit zur Bekämpfung von Gefängnismeutereien des Westküstenstaats Washington zusammen. Nachdem die Sondereinheit Reinoehl erschossen hatten, erklärte US-Justizminister William P. Barr laut NYT: »Die Straßen unserer Städte sind nun wieder sicherer.« Die Regierung Trump habe sich »als fähig erwiesen, Reinoehl aufzuspüren«. Dies sei »ein unmissverständlicher Beweis dafür, dass die Vereinigten Staaten durch das Gesetz regiert werden und nicht durch einen gewalttätigen Mob«, so Barr.
    Im Sommer 2020 hatte Barr in seinem Ministerium ein Lagezentrum gegründet, um wegen der Proteste nach dem Mord an George Floyd »Ermittlungen über die Ausbreitung gewalttätiger regierungsfeindlicher Extremisten anzustellen«, wusste die NYT zu berichten. Die Bundespolizei FBI habe zum Bedauern Barrs ihr Augenmerk mehr auf rechte Gewalttäter gerichtet, so das Blatt, aber dem Justizminister sei es »in seinen öffentlichen Erklärungen immer darum gegangen, die Gewalt linken Gruppen und Bewegungen, insbesondere der Antifa, in die Schuhe zu schieben«. Er habe sich damit den ständigen Behauptungen von Präsident Trump angeschlossen, dass es »die Akteure der Linken sind, die zu gewalttätigen Ausschreitungen anstiften«.
    Ende Juli 2019 hatte Zeit online gemeldet, US-Präsident Trump habe getwittert, er wolle »Antifagruppen« in den USA »als terroristische Organisationen einstufen« lassen, um »der Polizei ihre Arbeit zu erleichtern« (Siehe jW-Thema vom 26.9.2019). Doch hinter den Kulissen wurde bereits das Gerüst für den Aufbau einer Bürgerkriegsarmee geschaffen, in der sich Spezialeinheiten des Bundes und rechte »patriotische Milizen« auf Sonderaufgaben vorbereiten können. Die gezielte Tötung von Michael Reinoehl, weil er Verteidigungsstrukturen gegen faschistische Gewalttäter organisierte, ist ein Ausdruck dieser gewollten Zusammenarbeit. Für das US-Magazin Counterpunch besteht kein Zweifel, dass Reinoehl, weil er verdächtigt wurde, einen Trump-Anhänger getötet zu haben, »von Bundesagenten auf eine Weise getötet wurde, die man als Attentat bezeichnen könnte«. Das habe öffentlich viel zuwenig Beachtung gefunden. Vor Publikum habe Trump zu der »außergerichtlichen Tötung« gesagt: »Dieser Typ war ein Gewaltverbrecher, und die US-Marshals haben ihn getötet. Und ich sage Ihnen etwas: So muss es sein. Für solche Verbrechen muss es Vergeltung geben.«
    Trump und die »Proud Boys«
    Im April 2020 hatte Trump seine Unterstützer in einem Tweet aufgefordert: »Befreit Michigan!« und damit Hunderte von Demonstranten ermuntert, das Kapitol des US-Bundesstaates zu stürmen, um die demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer wegen ihrer strikten Maßnahmen gegen die Coronaviruspandemie unter Druck zu setzen. Viele der Eindringlinge gehörten rechten Milizen an und trugen Schusswaffen, mit denen sie Abgeordnete bedrohten. Nach dem Protest weigerte sich Trump, diese Aktion zu verurteilen. Er nannte die Milizionäre »sehr gute Leute« und forderte Whitmer auf, doch »einen Deal« mit ihnen zu machen. Anfang Oktober warf die Gouverneurin Trump aus neuem Anlass auf einer Pressekonferenz vor, er habe »Wut geschürt und jene ermutigt, die Angst, Hass und Spaltung verbreiten«. Da waren nämlich gerade zwei dieser rechten Milizen aufgeflogen, weil sie die von ihnen zur »Tyrannin« erklärte Gouverneurin kidnappen und die Regierung des Bundesstaates stürzen wollten. Dreizehn Milizionäre wurden verhaftet und angeklagt, mit »200 Männern« das Kapitol erneut stürmen und Geiseln nehmen zu wollen. Darunter die Gouverneurin, um sie »noch vor den Präsidentschaftswahlen im November 2020 an einem sicheren Ort wegen Hochverrats anzuklagen«, wie Whitmer erschüttert berichtete.
    Das Onlinemagazin Business Insider zitierte die Gouverneurin mit dem Vorwurf an Trump, er habe sich während der ersten Präsidentschaftsdebatte mit seinem Kontrahenten Biden am 29. September geweigert, weiße Rassistengruppen wie die »Proud Boys« ausdrücklich zu verurteilen. Der Präsident sei deshalb »mitschuldig« an extremistischer Gewalt in den USA. Die »Proud Boys« sind nach Informationen der in Montgomery (Alabama) ansässigen Bürgerrechtsorganisation »Southern Poverty Law Center« ein nationalistisches, rassistisches und islamophobes Sammelbecken von Frauenhassern, das Mitglieder des Ku-Klux-Klans, Antisemiten, Rassisten und rechte Milizen zusammenbringt.
    Auf die Frage des Moderators der Fernsehdebatte, Chris Wallace, ob er bereit sei, »weiße Rassisten und Milizen zu verurteilen und zu sagen, dass sie sich zurückziehen müssen«, hatte Trump in die Fernsehkameras geblickt und nach kurzem Zögern geantwortet: »›Proud Boys‹, tretet zurück, aber haltet euch bereit! Ich sage euch, irgend jemand muss etwas gegen die Antifa und die Linke unternehmen!« Diese Worte zitierend erklärte Whitmer vor der Presse, die Hassgruppen hätten »die Worte des Präsidenten als einen Schlachtruf, als einen Aufruf zum Handeln« vernommen.
    Bislang wollte sich Trump nie zu der Frage äußern, ob er die Macht friedlich übergibt, falls er die Wahl am 3. November verliert. Seine unverhohlene Aufforderung an die »Proud Boys«, sich bereitzuhalten, wurde auch von anderen Gruppen als Aufruf zum Handeln aufgefasst. Denn nun planen rechte Milizen ganz offen, am 3. November bewaffnet vor Wahllokalen zu patrouillieren. Kommentatoren halten deshalb gewaltsame Zusammenstöße mit antifaschistischen Gruppen für möglich und befürchten eine Einschüchterung der wahlwilligen Trump-Gegner.
    Stewart Rhodes, Anführer der extrem rechten »Oath Keepers«, sagte der Los Angeles Times (LAT) kürzlich, seine Mitstreiter werden »am Wahltag unterwegs sein, um die Wähler zu schützen«. Er sei besorgt, dass »die radikale Linke die Wähler ins Visier nimmt«. Die »Oath Keepers« (dt. »Die Eidtreuen«) sind eine Miliz aus ehemaligen und aktiven Soldaten und Polizisten, die dafür eintreten, »jeden Befehl zu verweigern, der darauf abzielt, das amerikanische Volk zu entwaffnen«. Sie stehen in der Tradition rechter Milizen, die sich wie die Waffenlobbyisten der National Rifle Association ihr im Zweiten Zusatzartikel der US-Verfassung garantiertes Grundrecht auf Besitz und Tragen von Waffen nicht nehmen lassen wollen. Die »Oath Keepers« patrouillierten 2014 auch in den Straßen von Ferguson (Missouri) gegen die Proteste nach dem von einem weißen Polizisten verübten Mord an dem schwarzen Teenager Michael Brown. Cassie Miller vom »Southern Poverty Law Center«, sagte der LAT, dass diese Milizionäre »nicht nur die Wähler einschüchtern« wollten, sondern hofften, »die Situation zu chaotisieren«, weil sie »nicht bereit sind, etwas anderes als einen Sieg Trumps zu akzeptieren«.
    Der Präsident versuche nicht einmal, seine Absichten zu verbergen, stellt Counterpunch in seiner jüngsten Ausgabe fest. »Medien, liberale Experten und Politiker müssen jetzt in aller Dringlichkeit vermitteln, dass wir am Rande eines Aufstands stehen.« Doch noch hofften zu viele in den USA, Trump allein an den Urnen besiegen zu können. »Sie sind sich leider nicht bewusst, wie weit er bereit ist zu gehen, um an der Macht zu bleiben.« Jahrelang hätten sie sich »von der Rhetorik liberaler Führer einlullen lassen, dass ihr Kreuz auf dem Wahlzettel ein probater Ersatz für nachhaltiges politisches Organisieren« sein könne. »Das ist es jedoch nicht«, so der Kommentar in Counterpunch, »und vielleicht werden wir erst am Wahltag herausfinden, wie unzureichend diese Art der Verteidigung gegen Trumps Machtergreifung ist«.

  61. Im Kampf gegen die US-Internetmonopole (20.10.2020)
    Frankreich und die Niederlande ziehen in Betracht, US-Internetkonzerne “notfalls zu zerschlagen”. Deutschlands Widerstand dagegen schrumpft.
    BRÜSSEL/WASHINGTON (Eigener Bericht) – In der EU wächst die Bereitschaft zu harten Schritten gegen die Dominanz US-amerikanischer Internet- und Hightech-Konzerne. Dies geht aus Berichten in Wirtschaftsmedien hervor. Demnach drohen Frankreich und die Niederlande in einem Positionspapier, das sie jüngst gemeinsam vorgelegt haben, US-Internetriesen “notfalls zu zerschlagen”. Das Papier ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Niederlande bisher im Kampf gegen die US-Internetmonopole gewöhnlich bremsten. Während sie auf die jahrelang von Frankreich vertretene Linie einzuschwenken scheinen, man müsse die Marktmacht von Konzernen wie Google oder Amazon brechen, deutet sich auch in der Bundesrepublik ein Kurswechsel an. Berlin hatte in der Sache bislang ebenfalls gebremst: Die Bundesregierung war bemüht, etwaige US-Gegenmaßnahmen gegen die deutsche Exportindustrie zu vermeiden, für die die Vereinigten Staaten zuletzt der bedeutendste Absatzmarkt waren. Allerdings beginnt sich dies in der Covid-19-Pandemie zugunsten Chinas zu verschieben. Nun droht die Trump-Administration mit einem neuen Handelskrieg.
    Zerschlagung der “Gatekeeper”
    Innerhalb der EU wächst die Bereitschaft, hart gegen US-Internet- und Hightech-Konzerne vorzugehen, die eine beherrschende Stellung auf dem europäischen Markt errungen haben. Ein jüngst publiziertes, gemeinsames Positionspapier der Regierungen Frankreichs und der Niederlande verlangt Berichten zufolge sogar, US-Internetkonzerne “notfalls zu zerschlagen”.[1] Es fordere die EU-Kommission auf, konsequent gegen monopolartige Strukturen auf dem IT-Sektor und auf den Internetmärkten vorzugehen, die nahezu ausschließlich von US-Unternehmen dominiert werden, heißt es im “Handelsblatt”. Es gehe dabei um “Big-Tech” und um “Gatekeeper-Plattformen”, etwa Amazon, die ihre eigenen, monopolartigen Marktstrukturen im Netz geschaffen haben. Etliche der US-Internet-Plattformen seien zu mächtig geworden, wird die niederländische Wirtschaftsstaatssekretärin Mona Keijzer zitiert. Der auf Digitales spezialisierte deutsche Europaabgeordnete Axel Voss (CDU) stimmt diesem Vorstoß grundsätzlich zu; er bezeichnet Konzernzerschlagungen zwar als “Ultima Ratio”, wendet allerdings ein, es gebe inzwischen “Hinweise”, in der “europäischen Digitalwirtschaft” habe sich womöglich ein “Marktversagen” entwickelt, das harte Maßnahmen notwendig machen könne. Im vergangenen September forderte der französische Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton bereits sogar den Ausschluss von US-Konzernen vom europäischen IT-Markt.
    Der Digital Services Act
    Der gleichfalls auf Digitales spezialisierte deutsche Europapolitiker Tiemo Wölken (SPD) pflichtet der Einschätzung seines konservativen Kollegen bei, die Marktmacht der US-Konzerne verzerre den “Wettbewerb auf dem digitalen Binnenmarkt”. Allerdings sei man sich in der EU nicht klar darüber, wie man die Stellung europäischer IT-Unternehmen stärken könne. Es sei “sehr schwer, objektive Kriterien zu entwickeln, welche Firmen strenger überwacht werden sollen”, erklärt der Binnenmarkt-Sprecher der CDU im Europaparlament, Andreas Schwab. Im Gespräch sei beispielsweise eine “Wettbewerbsbehörde für die Digitalwirtschaft”. Derzeit arbeite die EU-Kommission fieberhaft an einem Digital Services Act, einem Bündel von Maßnahmen und Regeln, mit denen Brüssel der “Marktmacht der amerikanischen Internetgiganten” begegnen wolle. Bis zum Dezember sollen die Grundzüge des protektionistischen Maßnahmenpakets, das die derzeit US-dominierte Digitalwirtschaft für Wettbewerber aus der EU öffnen soll, dem Europaparlament und den EU-Staaten zur Diskussion vorgelegt werden, Die Vorschläge zielten darauf, “Wettbewerbsverzerrungen und Desinformation” zu verhindern sowie einen “fairen Umgang mit Werbung und Nutzerdaten” zu gewährleisteten, berichtet das “Handelsblatt”.
    “Zugang zu Daten”
    Tatsächlich zielen Paris und Den Haag den Berichten zufolge mit ihren Vorschlägen nicht nur darauf ab, die US-Internetgiganten daran zu hindern, “ihre eigenen Angebote auf Kosten kleinerer Wettbewerber durchzusetzen”. Vor allem sollen sie dazu bewegt werden, ihre Nutzerdaten ihren EU-Konkurrenten zur Verfügung zu stellen. Es gehe um den “Zugang zu Daten, zu Dienstleistungen, Interoperabilität”, wird der französische Digital-Staatssekretär Cédric O zitiert; dies seien “effiziente Instrumente”, um Marktabschottung zu vermeiden und den EU-Verbrauchern Wahlfreiheit zu garantieren. In diesem Zusammenhang fordert das niederländisch-französische Positionspapier einen “effizienten und abschreckenden Sanktionsmechanismus”. Die protektionistischen Bestrebungen der EU richten sich dabei zuvörderst gegen die “großen Vier” der US-Digitalwirtschaft (Amazon, Apple, Facebook, Google), doch kursieren Berichten zufolge in Brüssel Unternehmenslisten, auf denen rund 20 US-Konzerne zu finden sind, die von den neuen EU-Regelungen betroffen wären.[2] Die EU-Kommission streitet dies freilich ab.
    Frontverschiebungen in der EU
    Der aktuelle französisch-niederländische Vorstoß ist bemerkenswert, weil Den Haag bislang im EU-Monopolkampf gegen die US-Internetriesen gewöhnlich bremste. Der Hintergrund: Die Niederlande ziehen mit ihrer Steuergesetzgebung zahlreiche ausländische Unternehmen an, darunter US-Konzerne, auf deren Interessen sie Rücksicht nehmen. Frankreich hingegen geht schon seit Jahren gegen die US-Internetriesen vor, nicht zuletzt mit seiner Digitalsteuer (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Deutschland wiederum nimmt in der Sache traditionell eine vorsichtige Haltung ein: Die deutsche Exportindustrie ist, weil der US-Absatzmarkt große Bedeutung für sie hat, sehr anfällig für protektionistische Vergeltungsmaßnahmen. Allerdings hat sich die Haltung Berlins jüngst mit der Verabschiedung eines ersten Entwurfs für ein neues Wettbewerbsrecht geändert. Die Gesetzesnovelle soll dem Bundeskartellamt neue Befugnisse verschaffen, Sanktionen gegen Konzerne mit einer “überragenden marktübergreifenden Bedeutung” zu erlassen. Dies wiederum verschaffe der EU-Kommission “Rückenwind” bei ihren protektionistischen Bestrebungen, heißt es.[4] Der Berliner Sinneswandel dürfte auf die protektionistischen Tendenzen der Trump-Administration zurückzuführen sein sowie auf den pandemiebedingten Einbruch der deutschen Exporte in die USA, die im August um 21 Prozent unter dem Volumen des Vorjahresmonats lagen. Eine langfristige Erholung auf den Stand vor der Krise gilt als eher unwahrscheinlich.
    Transatlantischer Steuerstreit
    US-Kommentatoren urteilen zu den Vorstößen in der EU, die Union wolle “sich selbst das Recht geben”, US-Technologiekonzerne “aus Europa hinauszuwerfen”.[5] Neben den Optionen, eine Zerschlagung der US-Unternehmen durchzuführen oder sie gar vom EU-Markt auszuschließen, sei ein Bewertungssystem im Gespräch, das Konzernen Punkte für ihre Steuermoral und für die Entfernung “illegaler Inhalte” vergeben solle, heißt es. Das meinungsbildende “Wall Street Journal” urteilt, den Hintergrund der Auseinandersetzungen bilde ein jahrelang schwelender, immer noch ungelöster Streit zwischen Brüssel und Washington um die Besteuerung der Internetriesen.[6] Das vorläufige Scheitern der multilateralen Verhandlungen darüber werde insbesondere die Beziehungen zwischen der EU und den USA auf eine harte Belastungsprobe stellen. Die Spannungen seien so stark, dass Washington bereits drohe, neue Strafzölle zu erlassen, sollte Brüssel in Eigenregie Steuern gegen US-Internetkonzerne verabschieden. Bislang beharrt die Trump-Administration auf einer Ausnahmeregelung, die es US-Konzernen ermöglichen soll, die – für sie günstigen – geltenden Steuerregelungen beizubehalten. Den Streitwert des Machtkampfs beziffert die OECD auf rund 100 Milliarden Euro, die im Rahmen einer Steuerreform international neu verteilt würden – zu Lasten der USA und mancher Steueroasen. Hinzu kämen weitere 100 Milliarden Euro an neuen Einnahmen aus einer globalen Mindeststeuer. Sollte der Streit zu einem Handelskrieg zwischen USA und EU eskalieren, rechnet die OECD mit Verlusten in Höhe eines Prozents der globalen Wirtschaftsleistung – dies mitten in einer die Wirtschaft ohnehin massiv einbrechen lassenden Pandemie.

  62. EU-offizielle und griechische “Schlussfolgerungen” aus dem Brand aus Moria: Nicht mehr Hütten oder Zelte, sondern befestigte Lagersysteme auf griechischen Inseln sollen Flüchtlinge von der Flucht nach Europa abschrecken, indem sie dort in kasernierten Einöden möglichst 24 Stunden lang weggesperrt werden. “Chip-Armbänder” sollen eine lückenlose Kontrolle und Überwachung gewährleisten können. „Geschlossene Lager“, so lautet dafür der wenig schöngefärbte offiziellle EU-Titel. Bisher jedenfalls steht wohl erst ein Zaun wirklich vor Ort. Der Rest ist – angeblich – bis Ende des Jahres dort geplant…
    https://www.dw.com/de/mit-der-geduld-am-ende-die-fl%C3%BCchtlingssituation-auf-samos/a-55024469
    Freerk Huisken stellt in einer gerade erschienenen Fortschreibung der „Flüchtlingsgespräche 2015ff.“ auf 140 Seiten gesammelte Argumente zur Verfügung, die sich vor allem für Debatten mit „Ja-aber-Deutschen“ eignen…
    https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/fluechtlingsgespraeche-2015ff

  63. Die Crux mit der „Zerschlagung“ oder dem Verbot von US-Internet-Konzernen ist, daß es in der EU nichts gleichwertiges gibt.
    China hat Baidu als Suchmaschine und Alibaba als Verkaufsplattform, Rußland hat Yandex und als Alternative zu Facebook die VKontakte, China hat sicher auch irgendetwas Ähnliches.
    Ich bezweifle auch, daß es in der EU angesichts ihrer Zersplitterung und Dauerstreiterei um alles und jedes gelingen wird, diesbezüglich auf die Schnelle etwas auf die Beine zu stellen.
    Vielleicht Zalando als Alternative zu Amazon, weil der Internethandel ist unentbehrlich, aber sonst?
    Deswegen sind so Ankündigungen eher Schreckschüsse für die USA als ernstgemeinte politökonomische Optionen. So auf die Art: Wir können auch anders, wenn ihr weiter böse mit uns seid!

  64. Dieselben Grünen, von denen früher manche auch die Parole “Kein Mensch ist illegal” mitskandiert haben (zu dieser Parole vgl. die Kritik im neuen Buch von Huisken; S. 108 bis 110)
    https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/fluechtlingsgespraeche-2015ff
    … haben übrigens anlässlich des Brandes von Moria entdeckt, dass solche Lagerhaltung für Flüchtlnge doch bereits beschlossen und den Griechen finanziert gewesen sei. Da sie dann auch entdeckt haben, dass die damit beschlossene personelle Unterstützung Griechenlands beim Grenzregime mit Personal aus Europa weder von Seiten der EU-Grenzschutzbehörden noch von Seiten Griechenlands einvernehmlich funktioniert hat, ist dieser “finanzielle Skandal” im mehrheitlichen Lobpreis der Griechen, dass die so toll uns die Flüchtlinge vom Leibe halten, meist untergegangen. Passender Weise hat man solche Töne: der Grieche würde sich so bereichern, anschließend dann auch – meist – nur noch von der heiligen Einheit von FDP und AFD gehört. (Ähnliche frühere laute Töne gegenüber der Türkei sind übrigens inzwischen mehrheitlich auch nur noch sehr leise zu vernehmen…)
    Diesseits von Plänen, Strategien und zukünftigen Berechnungen schaut es in Griechenland für Flüchtinge nämlich derzeit so aus:
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1143120.fluechtlingsunterkuenfte-nach-dem-brand-von-moria-viele-zelte-im-fluechtlingslager-auf-lesbos-ueberflutet.html

  65. Stephan Kaufmann: Die alte und die neue Weltmacht
    Das Ende der ökonomischen Dominanz der USA ist schon oft ausgerufen worden. Aber noch weiß sie sich zu retten.
    Die Weltmacht wankt. Zumindest, wenn man der Debatte in den Vereinigten Staaten Glauben schenken will. Laut US-Präsident Donald Trump bedroht der wirtschaftliche Aufstieg Chinas die US-amerikanische Dominanz. Sein Herausforderer Joe Biden warnt vor einer ökonomischen Katastrophe, sollte Trump wiedergewählt werden. Tausende US-Unternehmen haben Klagen gegen Trumps Anti-China-Zölle erhoben, die sie Milliarden kosten. Im Technologiebereich haben sich monopolartige Strukturen durchgesetzt. Die soziale Krise führt zu gewaltsamen Protesten in den Metropolen. Mit den explodierenden Staatsschulden sehen Ökonomen das Ende des US-Dollar als Leitwährung gekommen…
    (‘Ideologiekritische’ Forts….):
    https://www.fr.de/politik/die-alte-und-die-neue-weltmacht-90075209.html

  66. Zwar wird immer wieder davor gewarnt, der Dollar könnte wegen Washingtons steigender Verschuldung seine dominante Stellung verlieren.

    Hierbei handelt es sich um reines Wunschdenken der Konkurrenten, die damit eine Dollar-Schwäche herbeireden wollen.
    Ich erinnere mich an eine Doku im ORF 2009, also schon im vollen Lauf der Finanzkrise, als der Dollar sozusagen abgewunken wurde, u.a. mit dem Hinweis, daß Kuwait jetzt schon Öl gegen Euro verkaufen will. 🙂
    Was den sozialen Frieden betrifft, so denkt Kaufmann m.E. zu sehr in angestammten klassenkampf-mäßigen Kategorien.
    Was den sozialen „Frieden“ oder Zusammenhalt der USA mehr bedroht als „Black Lives Matter“, sind Leute, die sich als die US-Variante der Reichsbürger verstehen: Milizen aller Art, wie z.B. diejenigen, die mit Gewehren ins Regionalparlament von Michigan eingedrungen sind, um gegen den Lockdown zu protestieren.
    Auch Regionalismen, wie z.B. die Initiative, die Teile des Staates Oregon an das republikanische Idaho anschließen will, um dem demokratischen Portland zu entkommen, stellen den Zusammenhalt in Frage.

  67. Zu: Bremer Lehrerzeitung Nr. 5-2020 über EU-Werten und Migrantenpolitik:
    Vom Fehler, in den zum EU-Imperialismus gehörenden Überhöhungen Menschenfreundlicheres hineinzulesen, als dessen praktische Politik bezeugt
    Es wird zitiert anlässlich einer Sitzung des Europarates, wo von „Prioritäten der EU“ die Rede ist, zu denen die Verteidigung von „europäischen Interessen und Werten“ gehöre, wofür die „wirksame Kontrolle der Außengrenzen“ eine Voraussetzung sei.
    Unverkennbar werden die EU-Interessen und deren Werte in einem Atemzug genannt, also so klar wie nichts gemacht, wie beides füreinander steht, dass die schönen Werte gar nicht erst als von schnöden Interessen wer weiß wie Abgesetztes vorkommen: die ersteren sind offenbar gleich in der Übersetzung in letztere gemeint.
    Wenn die angezeigte Grenzkontrolle gleichwohl im Einklang mit europ. Prinzipien und Werten zu gestalten sei, so lassen mit letztere in die Welt kommenden Idealisierungen viel Interpretationsspielraum, wie man diese in Deckung zu bringen kriegt mit der knallharten Interessenlage eines imperialistischen Blocks: die Betonung des zu verhindernden Illegalen am Grenzübertritt macht den Standpunkt der weitgehenden Ausländerabwehr kompatibel mit dem guten Gewissen einer Werteunion:
    Asyl als prinzipiell Hochzuhaltendes hat weiterhin seinen Platz neben der faktischen Ausländer-raus-Praxis.
    Eine BLZ-Redaktion will nicht dies zum Gegenstand machen, wie sich die EU ihre Werte so zurechtlegt, dass diese zu ihrer gemeinen „Realpolitik“ passend erscheinen, sondern hält den von ihr in diese Werte hineingelesenen schönen Schein als nicht vereinbar mit der praktischen Migrantenpolitik, letztere als einzigen Frevel gegenüber dem Guten und Wahren europäischer Politikgestaltung:
    Wenn die EU die Türkei einspannt, um weitere Flüchtlingsströme von Europa fernzuhalten, dann wird dies Europa als Makel vorgehalten, dass die „strategische Partnerschaft“ mit der Türkei als wichtiger genommen würde, als gegen das Elend an den EU-Außengrenzen vorzugehen: nicht der Schluss ist fällig, wie Europa nicht vom Migrantenelend behelligt werden will, also europ. Interessen und ein irgendwie würdigeres Schicksal von Flüchtlingsheeren sich ausschließen, sondern es wird vermisst ein menschenfreundlicherer Umgang mit letzeren unter den Insignien ‘Menschenrechte’ und ‘Asyl’; wo solchem Umgang gerade eine dezidierte Absage erteilt wird seitens der EU-Oberen.
    Es ist da von einer „autoritären Wende“ die Rede, die keine ist. Auch früher war Asylpolitik Gegenstand von weltpolitischen Berechnungen; Flüchtlinge wurden hergenommen als Symbolfiguren für Einsprüche gegen missliebige Regimes; also ging es um letzteres und nicht um Humanität gegenüber Migranten. Seit Jahren schon kommt das 3.-Welt-Elend aus allen möglichen Gründen und Gegenden, auch aus sog. befreundetem Ausland, hier an, die die alte Asylgewährungsräson obsolet gemacht haben. Davon ausgehend hat sich aus Sicht der EU-Imperialisten die schlichte Abwehrhaltung gegen das Elend der Welt etabliert.
    Mit Widersachern dagegen, die sich für ihre humanitätsbeflissenen Mahnungen auf nichts als die dem Imperialismus eigenen Prinzipien, allerdings eben in einem hehreren Sinn, berufen, können die Macher sehr gut leben: der Vorwurf von „weniger Demokratie wagen“ angesichts der konstatierten Repression gegen Flüchtlinge will nichts davon wissen, wie sich Demokratie auf EU-imperialistisch buchstabiert, sondern will dem die Haltung und das Engagement von und für mehr Gesittetheit im Verhältnis zu den Elendskreaturen der Welt an die Seite stellen.
    https://tages-politik.de/Europapolitik/BLZ_zu_EU-Werten_u._Migrantenpolitik-Okt._2020.html

  68. Wirtschaft als Waffe (22.10.2020)
    Berlin und Brüssel planen Schaffung neuer Instrumente zur Führung von Wirtschaftskriegen. Sanktionskampf um Nord Stream 2 spitzt sich zu.
    BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Mit der Publikation eines detaillierten Strategiepapiers bereiten Berlin und Brüssel die Schaffung eines breiten Instrumentariums zur Führung von Wirtschaftskriegen vor. Anlass sind nicht zuletzt US-Sanktionen, von denen Deutschland und die EU direkt oder indirekt getroffen werden und die Unternehmen aus der Union erheblich schaden. Man wolle sich in Zukunft mit ganzer Kraft gegen sie zur Wehr setzen können, heißt es: “Wir müssen alle Folterwerkzeuge auf den Tisch legen”, wird der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, zitiert. Das Strategiepapier, das vom European Council on Foreign Relations (ECFR), einer Polit-Denkfabrik mit Hauptsitz in Berlin, unter Mitwirkung des Auswärtigen Amts erstellt worden ist, schlägt unter anderem die Ernennung eines EU-Sonderbeauftragten für wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen und gezielte Gegensanktionen gegen ausländische Personen oder Branchen vor. Es wird publiziert, während der Sanktionskampf um Nord Stream in die nächste Runde geht – mit einer Verschärfung der US-Sanktionen.
    Die nächste Runde
    Der Sanktionskampf um Nord Stream 2 geht in die nächste Runde. Am Dienstag hat das US-Außenministerium eine neue Richtlinie veröffentlicht, die die in Kraft befindlichen Sanktionen gegen die Fertigstellung der Erdgaspipeline (PEESA, german-foreign-policy.com berichtete [1]) ausweitet. Demnach soll in Zukunft auch mit Zwangsmaßnahmen belegt werden, wer aktiv oder durch die Bereitstellung von Material oder Räumlichkeiten dazu beiträgt, die zur Verlegung der Pipeline benötigten Schiffe für die Verlegearbeiten auszurüsten, oder wer dies ganz oder auch nur teilweise finanziert.[2] Auslöser für die erneute Verschärfung ist laut Einschätzung von Insidern, dass das wichtigste russische Verlegeschiff, die Akademik Tscherski, zu Monatsbeginn den Hafen Mukran auf Rügen verlassen hat und nun offenbar vor Kaliningrad liegt. Nicht ganz klar ist, was dort geschieht; während manche von Testfahrten ausgehen, spekulieren Experten, das Schiff habe Mukran womöglich verlassen, um dortige Unternehmen und staatliche Stellen von den US-Sanktionsdrohungen zu entlasten.[3] Allerdings muss als fraglich gelten, ob das gelingen kann: Mukran galt bislang als logistische Basis für den Bau der Erdgasleitung als unverzichtbar.
    “Wir entscheiden selbst”
    Die Bundesregierung, die den Bau der Pipeline zwar stets unterstützt, sich mit klaren öffentlichen Stellungnahmen aber häufig zurückgehalten hatte, hat zuletzt eindeutig Position bezogen. “Über unsere Energiepolitik und Energieversorgung entscheiden wir hier in Europa”, bekundete Außenminister Heiko Maas am Wochenende: Er gehe verlässlich “davon aus, dass Nord Stream 2 zu Ende gebaut wird”; “die Frage” sei nur, “wann”.[4] Zuvor hatte Berlin versucht, Washington mit einem etwas eigentümlichen Deal umzustimmen: Bundesfinanzminister Olaf Scholz hatte laut Berichten in einem Schreiben an seinen US-Amtskollegen Steven Mnuchin angeboten, die Mittel, die für den Bau zweier Flüssiggasterminals in Brunsbüttel und Wilhelmshaven vorgesehen seien, “massiv durch die Bereitstellung von bis zu 1 Milliarde Euro zu erhöhen” und damit den Bau zu beschleunigen.[5] Über die Terminals könnte in Zukunft US-Flüssiggas importiert werden, freilich auch Gas aus anderen Ländern, etwa Qatar; sogar Russland wäre als Flüssiggaslieferant denkbar. Der Bau der Terminals ist ohnehin längst fest eingeplant; die in Aussicht gestellte Milliarde Euro würde also allenfalls etwas früher ausgegeben als vorgesehen.[6] Washington hat das Berliner Angebot offenkundig ignoriert.
    Kampf gegen US-Sanktionen
    Während sich der Sanktionskampf um Nord Stream 2 weiter zuspitzt, bereiten Berlin und Brüssel im Hintergrund den Aufbau eines umfassenden Instrumentariums für zukünftige Wirtschaftskriege vor. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Auseinandersetzung um die Erdgaspipeline nicht isoliert, sondern vielmehr ein Element umfassender ökonomischer Attacken ist, mit denen zur Zeit vor allem die Vereinigten Staaten nicht nur China, sondern auch die EU überziehen. Zu den US-Maßnahmen, denen sich die Union ausgesetzt sieht, zählen nicht nur Strafzölle sowie die Drohung mit weiteren Zwangsabgaben etwa auf Kfz-Exporte aus Europa in die USA, sondern auch extraterritoriale US-Sanktionen gegen Drittstaaten wie Iran, die jegliches Geschäft von Firmen aus der Bundesrepublik und anderen EU-Staaten mit den betroffenen Ländern so gut wie unmöglich machen. Der Versuch, mit dem “Instrument in Support of Trade Exchanges” (“INSTEX”) ein Finanzvehikel zu schaffen, das es Unternehmen aus der EU möglich macht, die US-Sanktionen zu umgehen, ist faktisch gescheitert.[7] Dies gilt vor allem auch deswegen als fatal, weil zur Zeit in Wirtschaftskreisen massive Befürchtungen kursieren, Washington könne mit extraterritorialen Zwangsmaßnahmen gegen Beijing das faktisch unersetzliche Chinageschäft europäischer Unternehmen torpedieren.
    Begleitet vom Auswärtigen Amt
    Um für die Wirtschaftskriege der Zukunft wirksame Instrumente zu entwickeln, hat in den vergangenen Monaten eine Task Force des European Council on Foreign Relations (ECFR) mit Hauptsitz in Berlin ein umfangreiches Papier mit konkreten Handlungsoptionen erstellt, das jetzt unter dem Titel “Europas wirtschaftliche Souveränität verteidigen” veröffentlicht worden ist. Die Task Force, deren Kern Mitarbeiter des ECFR bilden, ist dabei, wie berichtet wird, von den Regierungen Deutschlands und Frankreichs unterstützt worden; auf deutscher Seite war vor allem das Auswärtige Amt involviert, dessen Staatssekretär Miguel Berger die Auftaktsitzung der Task Force geleitet haben soll.[8] Beteiligt waren demnach weitere Spitzenbeamte, zudem Abgeordnete aus dem Bundestag und aus der französischen Assemblée nationale sowie Experten aus Wirtschaftsverbänden; die meisten wollen nicht namentlich erwähnt werden, weil sie Repressalien fürchten. Bekannt sind bisher nur die Bundestagsabgeordneten Stefan Rouenhoff (CDU), Andreas Nick (CDU) und Nils Schmid, der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, sowie die zwei Abgeordneten der französischen Assemblée nationale Caroline Janvier und Raphaël Gauvain (La République en marche/LREM, die Partei von Präsident Emmanuel Macron).[9]
    Gegensanktionen
    In ihrem Strategiepapier schlägt die ECFR-Task Force unter anderem vor, eine “Europäische Exportbank” zu gründen, um künftig – erfolgreicher als mit dem INSTEX – den Zahlungsverkehr europäischer Unternehmen unabhängig von Sanktionen anderer Mächte durchführen zu können. Zudem plädiert sie für die Schaffung einer EU-Behörde, die sich gezielt mit außenwirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen befassen soll; die Institution könne von einem neu zu installierenden EU-Sonderbeauftragten für Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen geleitet werden, heißt es in dem neuen Strategiepapier.[10] Vorgeschlagen wird außerdem, einen “digitalen Euro” zu schaffen, um der Nutzung der globalen US-Dollar-Dominanz durch Washington zukünftig etwas entgegenzusetzen und damit “Europas Souveränität” systematisch zu stärken. Neben diversen weiteren Maßnahmen spricht sich die ECFR-Task Force auch dafür aus, gegebenenfalls eigene Gegensanktionen zu verhängen. Sie sollen sich gegen Personen, aber auch gegen Branchen richten können.
    Folterwerkzeuge
    “Wir müssen alle Folterwerkzeuge auf den Tisch legen”, wird der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Nils Schmid, zitiert; der CDU-Abgeordnete Andreas Nick erläutert: “Die EU ist keine große Militärmacht, gerade deshalb sollte sie ihr wirtschaftliches Gewicht nutzen.”[11] Das ECFR-Strategiepapier soll jetzt in den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten wie auch in den EU-Gremien diskutiert werden. In Brüssel werde es, so heißt es, vermutlich auf Zustimmung stoßen, denn dort würden vergleichbare Überlegungen angestellt. Valdis Dombrovskis, Kommissar für Handel, wird mit der einschlägigen Aussage zitiert: “Wir arbeiten derzeit an der Stärkung der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit und prüfen verschiedene Optionen”.[12]
    Ein militärischer “Kompetenzcluster Weltraum” (23.10.2020)
    NATO-Zentrale für Weltraumoperationen wird in Deutschland angesiedelt. Berlin will zudem einen Weltraum-Think-Tank der NATO an den Niederrhein holen.
    BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Die neue NATO-Zentrale für militärische Operationen im Weltraum wird in Deutschland angesiedelt. Das haben am gestrigen Donnerstag die NATO-Verteidigungsminister beschlossen. Demnach wird das NATO Space Centre auf der US Air Base Ramstein westlich von Kaiserslautern untergebracht, die insbesondere als Zwischenstation für US-Material- und Truppenverlegungen in den Mittleren Osten und als Relaisstation für die Steuerung von US-Drohnenangriffen dient. Das NATO Space Centre soll zunächst vor allem die Weltraumüberwachung der Mitgliedstaaten, perspektivisch allerdings auch deren militärische Operationen im All koordinieren. Darüber hinaus ist die Einrichtung eines NATO-Space Centre of Excellence geplant, eines Fachzentrums zur “Entwicklung von Verfahren und Know-how” für künftige Waffengänge im Weltall. Die Bundesregierung will es ebenfalls nach Deutschland holen – nach Kalkar, wo schon ein NATO-Zentrum zur Weiterentwicklung der Kriegführung im Luft- und Weltraum sowie das neue Air and Space Operations Centre (ASOC) der Bundeswehr beheimatet sind.
    Die US Air Base Ramstein
    Das neue NATO Space Centre soll beim NATO Allied Air Command angesiedelt werden, das die Luftstreitkräfte des Kriegsbündnisses führt. Dieses wiederum ist auf der US Air Base Ramstein westlich von Kaiserslautern untergebracht, der größten US-Luftwaffenbasis außerhalb der Vereinigten Staaten. Über Ramstein werden US-Material- und Truppenverlegungen in die Länder des Mittleren Ostens abgewickelt; auch für den Transport von Verletzten hat die Air Base große Bedeutung: Ganz in der Nähe befindet sich mit dem Landstuhl Regional Medical Center das bedeutendste US-Militärlazarett außerhalb der Vereinigten Staaten. Ramstein ist für die CIA-Verschleppung von Terrorverdächtigen in Folterlager in den Jahren ab 2001 [1] genauso genutzt worden wie später Berichten zufolge für geheime, nach deutschem Recht illegale Lieferungen von Waffen an Aufständische in Syrien [2]. Vor allem aber befindet sich in Ramstein das Air and Space Operation Center (AOC) der U.S. Armed Forces, über das US-Drohnenangriffe in Mittelost und in Afrika gesteuert werden; dabei fungiert das AOC als Relaisstation für die Signalübertragung aus den Vereinigten Staaten in die Einsatzgebiete. Die US-Drohnenangriffe werden – vor allem, weil ihnen zahllose unschuldige Zivilisten zum Opfer fallen – international scharf kritisiert.[3]
    Das NATO Space Centre
    Zu den Aufgaben des NATO Space Centre gehört es zunächst, die Weltraumüberwachung der einzelnen NATO-Staaten zu koordinieren. Eine besondere Rolle spielen dabei die Satelliten der Mitgliedstaaten, die insbesondere für militärische Kommunikation, Navigation und Aufklärung unverzichtbar sind; sie müssen im Kriegsfall entsprechend gegen feindliche Angriffe abgesichert werden. Dem NATO Space Centre kommt zunächst die Aufgabe zu, etwaige Bedrohungen für Satelliten der Bündnisstaaten zu eruieren; perspektivisch könne es auch, heißt es, zu einem Kommandozentrum für Maßnahmen zur Verteidigung der Satelliten aufgerüstet werden. Darüber hinaus soll es, wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gestern bestätigte, dazu beitragen, die Aktivitäten der Mitgliedstaaten im Weltraum zu koordinieren.[4] Tatsächlich sind eine Reihe von Mitgliedstaaten inzwischen dabei, ihre Kapazitäten für militärische Operationen im Weltall umfassend auszuweiten. Die Trump-Administration etwa hat im Dezember 2019 die U.S. Space Force aus der Air Force ausgegliedert und zur eigenen Teilstreitkraft aufgewertet. Allein im Jahr 2021 stehen für sie 15,4 Milliarden US-Dollar bereit, davon gut 10,3 Milliarden für Forschung, Entwicklung sowie Tests neuer Technologien.[5] Die U.S. Space Force verfügt längst über Angriffswaffen zur Kriegführung im All.[6]
    Das NATO Space Centre of Excellence
    Ergänzend zu ihrem neuen Space Centre, das mit wenigen Mitarbeitern starten, personell aber in absehbarer Zeit aufgestockt werden soll, plant die NATO den Aufbau eines Space Centre of Excellence, das – wie alle NATO-Centres of Excellence ein “Fachzentrum bei der Entwicklung von Verfahren und Know-how” [7] – Vor- und Zuarbeiten für künftige Weltraumoperationen leisten soll. Sein Standort wird in Kürze festgelegt. Die Bundesregierung setzt sich dafür ein, die Einrichtung in Kalkar am Niederrhein anzusiedeln. Dort hat nicht nur das Joint Air Power Competence Center (JAPCC) seinen Sitz, das – auf deutsche Initiative – am 1. Januar 2005 als erstes NATO-Centre of Excellence überhaupt seine Tätigkeit aufgenommen hat und sich vor allem der Analyse und der Weiterentwicklung der Kriegführung im Luft- und im Weltraum widmet.[8] In Uedem bei Kalkar hat darüber hinaus die Bundeswehr im vergangenen Monat ihre neue Zentrale für die Führung militärischer Operationen im Weltraum in Dienst gestellt. Dabei dockt das neue Air and Space Operations Centre (ASOC) an das bereits seit 2009 bestehende Weltraumlagezentrum der Bundeswehr an. Das ASOC wird als nationale Führungseinrichtung betrieben; Berlin zielt darauf ab, es perspektivisch von US-Unterstützung – etwa der Bereitstellung von Weltraumlagedaten – unabhängig zu machen, um auch im All militärisch eigenständig operationsfähig zu sein.[9]
    “Kompetenzaufbau im Bereich Weltraum”
    Allerdings konkurriert Kalkar zur Zeit noch mit Toulouse. Frankreich hat seine Luftwaffe am 11. September 2020 in “Luft- und Weltraumstreitkräfte” (“Armée de l’air et de l’espace”) umbenannt und baut in Toulouse ein großes Weltraumkommando (“Commandement de l’espace”) auf, das ab 2025 mit rund 500 Soldaten voll einsatzfähig sein soll. Paris stellt für seinen Aufbau im ersten Schritt 4,3 Milliarden Euro bereit. Berichten zufolge soll die nächste Generation französischer Militärsatelliten offensiv bewaffnet sein – zum Beispiel mit Schusswaffen und Laserkanonen.[10] Mit Blick darauf, dass Paris das NATO-Space Centre of Excellence nach Toulouse holen und dort erhebliche Kapazitäten aufbauen will, rät die vom Kanzleramt finanzierte Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), bezüglich des Fachzentrums “eine Kooperation mit Frankreich” anzustreben: “Denkbar wären zum Beispiel gemeinsame Organisationsstrukturen mit binational wechselnden Spitzendienstposten.”[11] Beim “Kompetenzaufbau im Bereich Weltraum” könne es nur hilfreich sein, “internationale Kooperationen mit Verbündeten zu suchen”. Darauf aufbauend könne das NATO-Space Centre of Excellence zusammen mit dem ASOC “ein Kompetenzcluster Weltraum in Deutschland bilden”.
    Das fünfte Operationsgebiet
    Der Aufbau der NATO-Strukturen für militärische Operationen im Weltraum folgt dem Beschluss der NATO-Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel am 3./4. Dezember 2019 in London, das All ganz offiziell zum neuen Operationsgebiet des Kriegsbündnisses zu erklären – dem fünften neben Land, Wasser, Luft und Cyber. Militärs messen ihm dabei inzwischen eine recht besondere Bedeutung zu, weil kein Krieg mehr ohne Satellitendaten geführt werden kann.

  69. Während manche von Testfahrten ausgehen, spekulieren Experten, das Schiff habe Mukran womöglich verlassen, um dortige Unternehmen und staatliche Stellen von den US-Sanktionsdrohungen zu entlasten.

    Diese „Experten“ veranstalten einen ziemlichen Eiertanz.
    Da werden gegen Rußland alle ideologischen Kanonen in Stellung gebracht, rund um die Navalny-Affäre gegen Rußland gehetzt, was das Zeug hält; das Geschrei um verschärfte Sanktionen und mehr Manöver gegen Rußland ertönt aus allen Rohren – und dann kratzt man sich am Kopf, warum die Russen ihr einziges Rohrverlegungs-Schiff aus einem deutschen in einen russischen Hafen abziehen.
    Ja, was haben die denn nur?!
    Wobei auch das North Stream II-Projekt immer unwahrscheinlicher wird, wegen dem, man vergesse es nicht, das Schiff überhaupt dort war.

  70. Die US-Drohnenangriffe werden – vor allem, weil ihnen zahllose unschuldige Zivilisten zum Opfer fallen – international scharf kritisiert.

    Obamas Erbe, das die Trump-Regierung ohne das für sie so charakteristische Getöse still übernommen hat.

  71. Mit allen Tricks
    Kommunal- und Regionalwahlen in der Ukraine: Schon vorab wurde offenbar geschummelt
    Von Reinhard Lauterbach
    An diesem Sonntag finden in der Ukraine Kommunal- und Regionalwahlen statt. Neu gewählt werden die Bürgermeister und die Zusammensetzung der Dorf-, Stadt- und Regionalräte. Mit zwei Ausnahmen: Die Parlamente der durch den Bürgerkrieg geteilten Gebiete Donezk und Lugansk werden nicht neu gewählt. Zur Teilnahme aufgerufen sind etwa 28 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Eigens für die Regionalwahlen hatte die Regierungspartei »Diener des Volkes« von Staatspräsident Wolodimir Selenskij das Wahlrecht umgeschrieben.
    Das offizielle Hauptziel der Änderung war, die Wahl parteiunabhängiger Kandidaten zu erschweren. Neuerdings ist die Wahl sogenannter Selbstaufsteller nur noch in Gemeinden unter 10.000 Einwohnern erlaubt, in allen anderen Kommunen müssen sich zum Beispiel populäre Bürgermeister oder Manager lokal wichtiger Firmen eine Partei suchen, auf deren Liste sie antreten. Damit sollte einer in der Vergangenheit verbreiteten Unsitte vorgebeugt werden: dass irgendwelche Strohmänner im Auftrag von Oligarchen politische Mandate erringen und dann die Agenda ihrer Patrone ins Parlament tragen.
    Ganz dürfte das mit dem Gesetz allerdings nicht verhindert worden sein. Denn die Oligarchen haben eine Vielzahl neuer, regionaler Parteien gegründet. So tritt in der Zentral- und Südukraine eine neue Gruppe namens »Vorschlag« unter der Leitung des Bürgermeisters von Dnipro (früher: Dnepropetrowsk), Boris Filatow, an. Ihr haben sich auch die Oberhäupter einer Reihe anderer Städte der Region angeschlossen. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie als »Leute Achmetows« gelten: politische Agenten des nach wie vor größten ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow. Unter anderem Namen hat der Oligarch nach Recherchen ukrainischer Medien auch in Saporoschje und Mariupol Parteien ins Leben gerufen. Im an Ungarn und die Slowakei angrenzenden Transkarpatengebiet hat der dortige Geschäftsmann und zeitweilige Gouverneur der Region, Sergej Baluta, sich ebenfalls eine eigene Partei geleistet.
    Bereits vor der Abstimmung gingen bei der Polizei über 4.600 Anzeigen wegen mutmaßlicher Verstöße gegen das Wahlreglement ein. Bemängelt wurden verschiedene Manipulationen vom Stimmenkauf über den Einsatz dienstlich untergeordneter Personen wie Arbeiter oder Studenten als Wahlhelfer bis hin zur Belebung eines Tricks, den schon der aus der Ukraine stammende russische Schriftsteller Nikolai Gogol (1809-1852) zum Titel seines Hauptwerks gemacht hatte: der Verschiebung »Toter Seelen«. So kommt es, dass nicht einmal die Zahl der Wahlberechtigten genau feststeht: Die Register der Wahlkommission verzeichnen etwa 27,2 Millionen Stimmberechtigte, für den 25. Oktober stehen aber insgesamt 28,1 Millionen auf den Listen. Woher die zusätzliche Million kommt, ist – auch in Hinblick auf die millionenfache Abwanderung von Wählern aus der Ukraine – schlecht zu erklären. Solche offenkundig fiktiven Wählerwanderungen wurden vor allem im Kiewer Umland und an der Schwarzmeerküste verzeichnet: Der Urlaubsort Satoka im Gebiet Odessa hat in den drei Monaten vor der Abstimmung seine langjährige Einwohnerzahl verdoppelt. Unter einer einzigen Adresse waren im September 78 Personen gemeldet.
    Diese Merkwürdigkeiten haben vor allem einen Grund: Den absehbaren Absturz der Präsidentenpartei »Diener des Volkes« abzumildern und durch die Gründung fiktiver Lokalparteien dem Projekt ein zweites Leben einzuhauchen. In aktuellen Umfragen ist sie von den 60 Prozent, die sie vor einem Jahr hatte, auf 25 bis 30 Prozent gefallen. Das Ergebnis dürfte, vor allem in der ersten Wahlrunde, unübersichtlich ausfallen. Generell erwarten Beobachter ein Comeback der »prorussischen« Parteien insbesondere im Süden und Osten der Ukraine. Hier hatten viele Wähler 2019 für Selenskij gestimmt, weil er diffuse Versprechungen über ein Ende des Krieges und der Diskriminierung der russischen Sprache gemacht hatte. Passiert ist jedoch in der Friedensfrage nichts und in der Sprachpolitik genau das Gegenteil seiner Zusagen.
    Transatlantische Landschaftspflege (26.10.2020)
    Deutsche Konzernspenden im US-Wahlkampf belaufen sich auf über fünf Millionen US-Dollar. Bevorzugt werden die Demokraten.
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Deutsche Unternehmen haben bisher mit Spenden von insgesamt mehr als fünf Millionen US-Dollar in den Wahlkampf in den Vereinigten Staaten eingegriffen. Mehrheitlich unterstützten sie dabei Politiker der Demokraten. Ein Durchregieren der Partei liegt allerdings offenbar nicht im Interesse der Konzerne: Sie sähen den Senat lieber unter der Kontrolle der Republikaner, weshalb sie hier größtenteils deren Kandidaten sponserten. Die höchsten Beträge investierten T-Mobile und Fresenius, die in den USA für Milliardensummen Firmen aufgekauft hatten und im Zuge dessen kartellrechtliche Bedenken zerstreuen mussten. Zurückhaltend zeigten sich hingegen die Deutsche Bank sowie die Autohersteller VW, Daimler und BMW, denen der US-Präsident immer wieder Strafzölle angedroht hatte, um das Handelsbilanzdefizit gegenüber Deutschland auszugleichen. Laut Angaben des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft verringerte sich dieses jedoch während Trumps Amtszeit kaum. Allerdings schnellten die deutschen Investitionen in den USA in die Höhe.
    Millionenschwere Wahlkampfspenden
    Deutsche Unternehmen haben sich bis Mitte Oktober mit Spenden von über fünf Millionen US-Dollar in den US-Wahlkampf eingeschaltet. Das geht aus Zahlen der offiziellen Federal Election Commission hervor, die das Center for Responsive Politics, eine Nicht-Regierungsorganisation mit Sitz in Washington, ausgewertet hat.[1] Ein Großteil der Konzerne begünstigte dabei die Demokraten. Auch Siemens, BASF, Continental, T-Mobile und Infineon, die 2016 noch die Republikaner favorisiert hatten, priorisierten dieses Mal die Partei von Präsidentschaftskandidat Joe Biden. Nur die Allianz, Bayer, Covestro, Merck und die US-Tochter von HeidelbergCement, Lehigh Hanson, gaben Trumps Kandidaten den Vorzug. Bei Covestro lautete die Erklärung dafür kurz und knapp: “Die meisten der Covestro-Standorte befinden sich in Bundesstaaten oder Bezirken, die von Republikanern vertreten werden.”[2] 78 Prozent der Mittel, die der Kunststoffhersteller für die Kongresswahlen lockermachte, gingen an Vertreter dieser Partei. Noch eindeutiger positionierte sich nur Lehigh Hanson mit 83 Prozent für die Republikaner.
    Doppelstrategie
    Die Konzerne verfuhren dabei jedoch weithin zweigleisig. Selbst diejenigen, die insgesamt mehr Geld an die Demokraten ausschütteten und deren Kandidaten bei den Wahlen zum House of Representatives deutlich tatkräftiger unterstützten, schwenkten bei den Wahlen zum Senat komplett um und präferierten dort – mit Ausnahme von Infineon – republikanische Politiker. Offenbar wollen die Unternehmen im Falle eines Sieges von Joe Biden ein Durchregieren der Demokraten verhindern und betrachten die zweite Kammer des US-Kongresses als potenzielles Blockadeinstrument für Gesetzesvorhaben, die nicht in ihrem Interesse liegen. Insbesondere die von Biden angekündigte Wiederanhebung der Unternehmenssteuer, die der demokratische Präsidentschaftskandidat auf 28 Prozent zu erhöhen beabsichtigt, nachdem Trump sie zuvor von 35 auf 21 Prozent abgesenkt hatte, passt den deutschen Konzernen nicht.
    Spender Nr. 1: T-Mobile
    Die größte Summe investierte mit 1,8 Millionen US-Dollar T-Mobile in den Wahlkampf, gefolgt von Fresenius mit einer Million, BASF mit 737.000 und Bayer mit 562.000 US-Dollar. Die Ausgaben von T-Mobile und Fresenius legten dabei gegenüber 2016 deutlich zu. Beide Unternehmen hatten zuletzt in den Vereinigten Staaten milliardenschwere Übernahmen getätigt, für die es ein positives politisches Umfeld zu schaffen galt. So sah sich T-Mobile bei dem Kauf des Mobilfunkbetreibers Sprint, mit dem das deutsche Unternehmen zum Marktführer in den USA aufsteigen will, mit schweren kartellrechtlichen Bedenken bis hin zu Klagen einzelner Bundesstaaten konfrontiert. Auch Fresenius brauchte für die Akquisition des Heimdialysegeräteherstellers NxStage die Genehmigung der Kartellbehörden und bekam diese erst verspätet und nur unter der Auflage, sich von einigen Geschäftsbereichen zu trennen.
    Einige halten sich zurück
    Freilich treten nicht alle bedeutenden deutschen Konzerne mit umfangreichem US-Geschäft als Großspender im Wahlkampf auf. Die Deutsche Bank etwa spendete nur minimal. Das Geldhaus, das Schlagzeilen machte, weil es Trumps Hausbank ist und seinen Unternehmen bereits Milliardenkredite gewährte, stellte im gesamten Zeitraum ab Januar 2019 nur geringfügige Beträge zur Verfügung.[3] Die deutschen Autohersteller Daimler, VW und BMW, denen der US-Präsident mehrmals Zollerhöhungen angedroht hat, weisen ebenfalls keine Zahlungen an demokratische oder republikanische Kandidaten aus.
    “Im Einklang mit den politischen Zielen”
    In den USA dürfen Unternehmen Parteien auf Bundesebene nicht direkt sponsern; dies ist in dem Land nur auf lokaler oder regionaler Ebene erlaubt. Darum gründen die Konzerne sogenannte Politische Aktionskommitees (PACs), die bei ihrem Führungspersonal Spenden einsammeln. Dies wiederum verleitet einige Firmen dazu, die PACs als unabhängige Einrichtungen darzustellen, die angeblich nicht in ihrem Namen agieren. Andere geben sich offener. “Das BAYERPAC unterstützt Kandidaten, die im Einklang mit den politischen Zielen BAYERs stehen, ohne Rücksicht auf die persönlichen politischen Präferenzen der Führungskräfte”, erklärt beispielsweise der Leverkusener Chemieriese.[4] Dabei bemühen sich die Konzerne aber in der Regel, sich nicht ausschließlich an eine Partei zu binden, weil ihr Geschäft dann allzu stark von deren Erfolg abhinge. Ihre Praxis geht eher dahin, solchen Politikern Geld zukommen zu lassen, die Machtpositionen innehaben, um sich Zugang zu den Schalthebeln zu verschaffen.[5]
    “Kaum Auffälligkeiten”
    Mit Blick auf die Wahlen registriert das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in einer Analyse der deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen unter der Präsidentschaft Donald Trumps “kaum Auffälligkeiten” im Vergleich zu den Amtszeiten seiner Vorgänger.[6] Trotz des von Trump immer wieder beklagten Handelsbilanzdefizits im bilateren Warentausch sowie angedrohter oder auch tatsächlich verhängter Strafzölle stieg der Wert der deutschen Exporte in die USA zwischen 2016 und 2019 von 107 auf 119 Milliarden Euro an. Die Ausfuhr von US-Gütern in die Bundesrepublik legte in dieser Periode ebenfalls zu, was die Handelsbilanz allerdings kaum beeinflusste: Der deutsche Exportüberschuss schrumpfte nur leicht von 48,5 auf 47,3 Milliarden Euro. Stark nahmen dagegen die deutschen Direktinvestitionen in den Vereinigten Staaten zu: Ihr Bestand schnellte von 326 Milliarden Euro im Jahr 2016 bis 2018 auf 361 Milliarden Euro in die Höhe. Ob dies dem Appell Trumps an die Konzerne geschuldet war, mehr Geld in die Produktion vor Ort zu stecken, oder ob seine überaus unternehmensfreundliche Steuerreform die Ursache war, ließ das IW offen.

  72. Belarus – Eigentor per Generalstreik
    Die Strategie der Opposition zu Lukaschenko ging nicht auf. Die Exil-Belorussen laufen Gefahr, zu einer vom Westen abhängigen Salon-Opposition zu degenerieren
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    Fußtritt für Macron
    Boykottaufruf gegen Frankreich: Ankara stellt sich an Spitze des Protests islamischer Staaten und attackiert Paris
    Von Raphaël Schmeller
    Es brodelt in den Beziehungen zwischen Frankreich und der »islamischen Welt«. Allein in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka gingen am Dienstag rund 40.000 Menschen auf die Straßen und riefen zum Boykott französischer Waren auf, verbrannten die Trikolore und Bilder des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Seit vergangenem Freitag häufen sich die Aufrufe, aus Frankreich stammende Waren nicht zu kaufen. Damit soll auf die Äußerungen von Macron reagiert werden, der nach der Enthauptung eines Lehrers in Paris durch einen mutmaßlich islamistischen Angreifer gesagt hatte, Frankreich werde auf Veröffentlichungen von Karikaturen des Propheten Mohammed »nicht verzichten«. Zu Kuwait, Katar, Pakistan oder Jordanien gesellten sich am Dienstag Saudi-Arabien und Iran. Die Ölmonarchie verurteilte die Karikaturen von Charlie Hebdo, und Teheran bestellte den französischen Botschafter ein. An die Spitze dieser Proteste hat sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gestellt. Er forderte nicht nur einen Boykott französischer Produkte, sondern attackierte Macron persönlich und sagte, dieser gehöre in psychiatrische Behandlung.
    Seit dem Amtsantritt von Macron im Jahr 2017 haben sich die Beziehungen zwischen Paris und Ankara stetig verschlechtert – und mit ihnen die französischen Exporte in die Türkei. Diese sind laut einem im März veröffentlichten Bericht der französisch-türkischen Handelskammer im Jahr 2019 um 0,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen. 2018 belief sich dieser Rückgang sogar auf 11,9 und 2017 auf 4,5 Prozent. Damit lag die Türkei im vergangenen Jahr lediglich auf Platz 14 der Abnehmer französischer Waren.
    Und überhaupt: Die Ausfuhren in den Nahen und Mittleren Osten machen insgesamt nur drei Prozent der französischen Exporte aus – knapp 60 Prozent seiner Waren exportiert Frankreich dagegen in Staaten der Europäischen Union. Zudem wird die Wirkung des Boykotts zusätzlich dadurch abgeschwächt, dass die betroffenen Länder zum Teil nur schwer auf französische Waren verzichten können. Die wichtigsten Exporte in die Türkei beispielsweise betreffen die Luftfahrtindustrie – ein Bereich, auf den die Konsumenten mit ihrem Kaufverhalten ohnehin keinen Einfluss haben. Und wollen Menschen in der Türkei französische Produkte boykottieren, so würden sie gleichzeitig ihrer eigenen Wirtschaft schaden. Denn viele Waren, die mit dem Label »Fabriqué en France« etikettiert sind, werden in der Türkei selbst produziert. Renault verkauft dort zum Beispiel nach Fiat die meisten Autos. Problem für einen Boykott: Der Autokonzern stellt den Großteil seiner Fahrzeuge am Bosporus her. »Die Türkei hätte bei einer Krise der französisch-türkischen Handelsbeziehungen deutlich mehr zu verlieren«, sagte Sevim Dagdelen, Obfrau der Fraktion Die Linke im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, am Dienstag gegenüber jW.
    Wozu also das Ganze? Was Erdogan betrifft, liegt die Antwort auf der Hand: Ablenkung von der wirtschaftlich katastrophalen Lage im eigenen Land. Deren Ausmaß zeigt sich in der Kursentwicklung der heimischen Währung: 2015 mussten für einen Euro zwischen 2,8 und drei Türkische Lira gezahlt werden, mittlerweile steht der Euro-Lira-Kurs bei fast eins zu zehn. »Erdogan versucht auch, so neue finanzielle Hilfe aus dem Emirat Katar einzuwerben«, erklärte Dagdelen. Auch Macron will die Gunst der Stunde nutzen, um unter dem Motto »Bedrohung durch den Islam« von der sozialen Krise abzulenken und bei rechten Wählergruppen zu punkten.
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    Ein schwieriger Bündnispartner (I) (27.10.2020)
    Berlin fordert vor der US-Präsidentenwahl Interessenabgleich mit den USA. Think Tanks arbeiten seit Monaten daran.
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Für die Zeit nach der US-Präsidentenwahl fordert Außenminister Heiko Maas einen “Neuanfang in der transatlantischen Partnerschaft”. Dabei dürfe “Partnerschaft … nicht blinde Gefolgschaft” bedeuten, erklärt Maas: Es gelte, “unterschiedliche” Perspektiven “Europas” und der USA anzuerkennen und sich künftig außenpolitisch “besser abzustimmen”. Nach Optionen für einen transatlantischen Interessenabgleich suchen bereits seit Monaten mehrere einflussreiche Außenpolitik-Think Tanks auf beiden Seiten des Atlantik. Ziel ist es, einerseits die heftigen Auseinandersetzungen der vergangenen vier Jahre zu überwinden, andererseits angesichts der eskalierenden Krisen und Konflikte “enger zusammenzurücken”, wie Ex-Außenminister Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik Brücke, erklärt. Dabei liege, heißt es bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), einer der Gründe dafür, dass die Vereinigten Staaten auch mit einem etwaigen Präsidenten Joe Biden “ein schwieriger Bündnispartner” bleiben würden, in der wachsenden Ungleichheit und der massiven Polarisierung in den USA.
    “Enger zusammenrücken”
    Mit Blick auf die Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten haben Außenpolitik-Think Tanks auf beiden Seiten des Atlantik ihre Suche nach einem neuen Interessenabgleich zwischen Deutschland bzw. der EU und den USA intensiviert. Anlass sind einerseits die heftigen Auseinandersetzungen mit der Trump-Administration, die die Bestrebungen Berlins und Brüssels, “auf Augenhöhe” mit Washington zu gelangen [1], mit diversen Zwangsmaßnahmen beantwortet, darunter die Verhängung von Strafzöllen, die Anwendung extraterritorialer Sanktionen gegen Unternehmen aus Europa, der Versuch, den Bau der Erdgaspipeline Nord Stream 2 zu verhindern, und das Bemühen, eine einheitliche EU-Außenpolitik durch eine feste Einbindung insbesondere Polens und der baltischen Länder in US-Strategien zu verhindern [2]. Andererseits heißt es regelmäßig, die aktuell eskalierenden Krisen und Konflikte von der Covid-19-Pandemie und der mit dieser verbundenen Wirtschaftskrise über den Klimawandel bis hin zu den historischen Machtverschiebungen wegen des Aufstiegs der Volksrepublik China ließen ein abgestimmtes gemeinsames Vorgehen eines weltpolitisch geschlossen auftretenden Westens heute notwendiger erscheinen denn je. Es gelte “enger zusammenzurücken”, verlangten vergangene Woche Ex-Außenminister Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik Brücke, und John B. Emerson, Ex-US-Botschafter in Deutschland, heute Vorsitzender des American Council on Germany, in einem gemeinsamen Namensartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[3]
    Transatlantic Task Force
    Die Bedeutung, die dem Bemühen um einen Interessenabgleich beigemessen wird, lässt sich schon daran ablesen, dass einflussreiche Think Tanks eigens zu diesem Zweck zum Teil prominent besetzte Gremien gebildet haben. So hat der German Marshall Fund of the United States (GMF) gemeinsam mit der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung schon im Dezember 2019 eine Transatlantic Task Force gegründet, die soeben “Empfehlungen” für die zukünftige transatlantische Politik vorgelegt hat. Geleitet wird die “Task Force” von GMF-Präsidentin Karen Donfried sowie dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger; beteiligt sind mehrere US-Parlamentarier, zwei ehemalige EU-Kommissarinnen sowie Vertreter von Unternehmen und Denkfabriken aus den USA und mehreren Staaten Europas. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) wiederum hat im Frühjahr 2020 eine “Expertengruppe” ins Leben gerufen, die sich aktuell mit der Analyse langfristiger Trends in der US-Politik und mit deren Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen befasst. Ihr gehören rund zwei Dutzend Personen an, darunter außer Spezialisten aus diversen Think Tanks Wissenschaftler, Mitarbeiter der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen, Funktionäre von Wirtschaftsverbänden sowie mehrere Vertreter des Auswärtigen Amts. Die Tätigkeit der Expertengruppe, die soeben eine kurze Analyse zum Thema vorgelegt hat, wird vom Berliner Außenministerium finanziert.
    Ungleichheit und Polarisierung
    In ihrer Untersuchung warnt die SWP-Expertengruppe – übereinstimmend mit der überwiegenden Mehrheit der Beobachter -, die Vereinigten Staaten blieben “auch unter einer Biden-Administration aller Voraussicht nach ein schwieriger Bündnispartner”.[4] Das liege nicht nur daran, dass in den USA die “wachsende Ungleichheit” in der Bevölkerung eine immer stärkere “gesellschaftliche Spaltung” und damit eine beträchtlich “zunehmende politische und gesellschaftliche Polarisierung” mit sich bringe und so die “innenpolitischen Grundlagen” der “außenpolitischen Ambitionen der USA” unterminiere. Hinzu komme, dass auf konkreten transatlantischen Konfliktfeldern nicht nur bei einem Wahlsieg von Donald Trump, sondern auch bei einem Wechsel im Weißen Haus mit transatlantischen Differenzen zu rechnen sei. So sei “zu erwarten”, dass auch die Wirtschaftspolitik der nächsten US-Administration “von nationalistischen und protektionistischen Tendenzen durchzogen sein” werde – mit dem Ziel, “das verarbeitende Gewerbe in den USA [zu] stützen bzw. [zu] fördern”. Darüber hinaus sei von fortdauernden Differenzen in der Chinapolitik auszugehen (german-foreign-policy.com berichtet in Kürze). In der Klimapolitik werde man sich im Falle eines Wahlsieges von Joe Biden vielleicht etwas annähern können; doch werde auch dabei jede “US-Regierung ihren eigenen Vorstellungen über den Umgang mit den Klimafolgen und dem Klimaschutz Vorrang geben”, die wiederum “nicht automatisch im Einklang” mit “klimapolitischen Prioritäten europäischer und anderer internationaler Partner” stünden.
    Militärisch “im selben Boot”
    Konkrete Erwägungen für gemeinsame transatlantische Aktivitäten nach der US-Präsidentenwahl trägt die vom GMF gegründete Transatlantic Task Force vor. So plädiert sie etwa dafür, die Anstrengungen zur wirtschaftlichen Erholung nach der Covid-19-Pandemie eng zu “koordinieren”.[5] In der Klimapolitik schlägt sie eine Kooperation unterhalb der bundesstaatlichen Ebene vor: So könnten, heißt es, einzelne Gemeinden, Unternehmen oder Nicht-Regierungsorganisationen etwa bei der Förderung erneuerbarer Energien kooperieren. US-Städte und -Gemeinden stehen in puncto Klimapolitik zuweilen in schroffem Gegensatz zur Trump-Administration. Darüber hinaus spricht sich die Transatlantic Task Force für die Beibehaltung einer “robusten” US-Militärpräsenz in der EU sowie für eine sorgfältig koordinierte, entschlossene Aufrüstung in der NATO aus. Die massive Aufrüstung der Bundeswehr und eine Stärkung des westlichen Kriegsbündnisses inklusive einer “Fortsetzung” der “nuklearen Teilhabe” hat am Freitag auch Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer verlangt.[6] Beides ist weitgehend Konsens; auf eine “Stärkung der Nato als gemeinsames Verteidigungsbündnis” dringen auch Sigmar Gabriel (Atlantik Brücke) und John B. Emerson (Atlantic Council on Germany): “Wir sitzen im selben Boot.”[7]
    “Keine blinde Gefolgschaft”
    Dabei bestehen die Bundesregierung wie auch deutsche Think Tanks einmütig darauf, gegenüber der künftigen US-Administration die eigenen Interessen klar durchzusetzen. “Das Ziel lautet: europäische Souveränität”, teilte Außenminister Heiko Maas am Wochenende in der transatlantisch festgelegten “Welt am Sonntag” mit; “Partnerschaft” bedeute “nicht blinde Gefolgschaft”.[8] “Amerika und Europa” blickten “unterschiedlich auf Russland, China, den Nahen Osten, Afrika oder den Indopazifik”: Das treibe mittlerweile “einen immer tieferen Keil … zwischen Europa und Amerika”. “Besser wäre es anzuerkennen”, äußerte Maas, “dass auch unterschiedliche Ansätze zum Ziel führen und sich gegenseitig verstärken können”. Es gelte, “unsere Sanktionspolitik, aber auch mögliche Kooperationsangebote” etwa gegenüber Russland besser abzustimmen. US-Bemühungen, eine einheitliche EU-Außenpolitik zu verhindern, sollen beendet werden; so fordern Gabriel und Emerson etwa eine “gemeinsame Unterstützung der Drei-Meere-Initiative”. Letztere zielt darauf ab, die östlichen EU-Staaten vom Baltikum bis nach Kroatien und Bulgarien unter enger Anbindung an die USA gegen Russland in Stellung zu bringen (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Eine maßgebliche Berliner Beteiligung an ihr nähme den USA diesen Einflusshebel aus der Hand.

  73. Was ist denn das für ein komischer Artikel zu Belarus?

    den greisen Machthaber

    Lukaschenko ist 66, also im Vergleich zu den 2 US-Präsidentschaftskandidaten ein Jüngling.
    Außerdem ist es sehr eigenartig, gerade am Alter eine Kritik zu haben, als ob es ein Höchstalter für Regierungschefs gäbe.
    Was die Hilfe Moskaus angeht, so war das Entscheidende ein größerer Trupp von Geheimdienstlern, der bald nach Anfang der Protestwelle anmarschierte. Die haben vor allem in den Betrieben nach dem Rechten gesehen und die Betriebsleiter, also die Nomenklatura, vor die Wahl gestellt: Entweder für Lukaschenko, oder Koffer packen und ab ins Ausland.
    Diese Apparatschiks hofften ja vor allem, nach einem Abtritt von Lukaschenko, sich die Betriebe unter den Nagel reißen zu können, wie seinerzeit ihre Kollegen in Rußland.
    Deshalb war diesmal in den Betrieben steikmäßig wenig los, nicht wegen „Frust“, oder „Erlahmen“ der Protestbewegung, oder mangelnder „Mobilisierung“. Der Grund, gegen Lukaschenko auf die Straße zu gehen, angefeuert von ihren Chefs, fiel weg.
    Ansonsten hat sich die Strategie, die Köpfe der Protestbewegung ins Ausland zu schicken oder einzusperren, auch bewährt. Damit ist der Protest kopflos, und vor allem in westlichen Medien präsent.

  74. Lukaschenko wird nervös
    Austausch des Innenministers in Belarus
    Von Reinhard Lauterbach
    Wenn in einer angespannten innenpolitischen Situation wie in Belarus der Präsident den Innenminister auswechselt, geht die spontane Einschätzung in die Richtung, dass hier ein Sündenbock abgestraft werde für eine Zuspitzung, die der Präsident selbst zu verantworten habe. Auf den aktuellen Personalwechsel im belarussischen Innenministerium trifft diese Interpretation aber offenbar nicht zu.
    Der bisherige Innenminister Juri Karajew wird Sonderbeauftragter von Alexander Lukaschenko für die Region Grodno. Er soll dort insbesondere die Zusammenarbeit von Polizei und Armee zur Aufrechterhaltung der »Ordnung« in diesem vom Präsidenten als kritisch eingeschätzten Grenzgebiet zu Polen und Litauen koordinieren. Ähnliche Ernennungen nahm Lukaschenko auch für die zweite westliche Grenzregion Brest und die Hauptstadt Minsk vor. Gleichzeitig ordnete er an, eine freiwillige Hilfspolizei aus Bürgern mit militärischer Erfahrung aufzustellen und diese zu bewaffnen.
    Die Personalentscheidungen gehen einher mit einer Verschärfung der Rhetorik gegenüber den andauernden Protesten. Lukaschenko nannte die streikenden Arbeiter und demonstrierenden Oppositionsanhänger in dieser Woche erstmals »Terroristen«, und der jetzt nach Grodno geschickte Karajew drohte am Donnerstag mit Schusswaffengebrauch gegen »Extremisten«: Die Polizisten würden »keine Bestien, aber auch keine Weicheier« sein. Einen Tag zuvor hatte er begründet, warum Polizisten auch ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl in Wohnungen eindringen dürften: Im Lande herrsche eine »Kriegssituation«.
    Das alles deutet darauf hin, dass Lukaschenko nach fast drei Monaten ständiger Proteste nervös wird. Und zwar wahrscheinlich weniger mit Blick auf die eigentlichen Proteste. Die Streiks, zu denen seine Gegenspielerin Swetlana Tichanowskaja aufgerufen hat, sind weit davon entfernt, sich zu einem Generalausstand auszuweiten. Eher handelt es sich um Bummelstreiks in strategischen Abteilungen einzelner Großbetriebe – solchen, die wichtige Vorprodukte herstellen und so mit vergleichsweise geringem Einsatz ganze Unternehmen lahmlegen können. Aus Sicht der Staatsmacht ist das ärgerlich, aber nicht existenzbedrohend. Gegen die Sympathie vieler Studierender für die Opposition gehen die Hochschulleitungen mit massenhaften Exmatrikulierungen vor.
    Tatsächlich ist der Präsident von zwei Seiten unter Druck: einerseits von der Opposition, deren Unterstützung durch EU und USA immer offenkundiger wird. Und andererseits von seiten Russlands, das von ihm erwartet, dass er die Unruhe im Land unter Kontrolle bekommt. Die Erklärungen russischer Politiker darüber, dass die »Stabilität« des belarussisch-russischen Unionsstaates auch im vitalen Interesse Moskaus liege, enthalten die verborgene Drohung: Wenn es Lukaschenko nicht schafft, das zu leisten, könnte es auch Russland direkt tun.
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    Schlappe für Selenskij
    Präsidentenpartei bei ukrainischen Kommunalwahlen abgeschlagen. Comeback für »Oppositionsplattform« und Rechte
    Von Reinhard Lauterbach
    Direkte Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis im ukrainischen Parlament hatte die Kommunal- und Regionalwahl am vergangenen Sonntag nicht. Aber als Stimmungstest genommen, ist der Ausgang der noch nicht vollständig ausgezählten Abstimmung für die Präsidentenpartei »Diener des Volkes« mehr als blamabel. Die Parteifreunde von Wolodimir Selenskij konnten in keiner einzigen ukrai­nischen Großstadt den Bürgermeisterposten gewinnen und zogen nicht einmal in die Stichwahl ein. So bekam die Kandidatin Selenskijs für den Kiewer OB-Posten, Irina Wereschtschuk, nur acht Prozent, die Partei musste sich im Stadtrat mit zwölf Prozent zufriedengeben. Im westukrainischen Gebiet Lwiw verpasste sie nach vorläufigen Ergebnissen sogar den Einzug ins Regionalparlament.
    Sieger der lokalen Wahlen waren in den Großstädten klar örtliche Parteien, die die amtierenden Bürgermeister extra für diese Abstimmung aufgebaut hatten. Die Amtsinhaber siegten entweder schon im ersten Wahlgang, wie Witali Klitschko nach eigenen Angaben vom Mittwoch in Kiew, oder gehen mit großem Vorsprung in die Stichwahl. Und dies sogar dann, wenn sie, wie der Charkiwer Bürgermeister Gennadij Kernes, persönlich am Wahlkampf gar nicht teilgenommen hatten. Denn Kernes ist schwer an Covid-19 erkrankt und wird in der Berliner Charité behandelt.
    Soweit Parteien, die landesweit aufgestellt sind, Erfolge verbuchen konnten, zeichnet sich eine deutliche Polarisierung ab. Auf der Rechten gelang der »Europäischen Solidarität« von Expräsident Petro Poroschenko vor allem im Westen und in der Mitte der Ukraine ein deutliches Comeback, und sie ist fast überall zweitstärkste Kraft in den Regionalräten. Sie hat offenbar auch viele Wähler der faschistischen »Swoboda« übernommen. Diese spielt zum Beispiel im Kiewer Stadtrat, wo sie als nationalistischer Einpeitscher aufgetreten war, keine Rolle mehr.
    Auf der anderen Seite feierte die »Oppositionsplattform – Für das Leben« von Jurij Bojko Erfolge in großen Teilen der Ost- und vor allem der Südukraine. Sie wurde stärkste Kraft in den Regionalräten von Lugansk, Donezk, Saporoschje, Cherson, Mikulajiw und Odessa – also im Donbass und an der Schwarzmeerküste – und kam in den östlichen Regionen Sumi, Charkiw, Dnipro (früher: Dnipropetrowsk) und Kirowograd auf den zweiten Platz. Darin spiegelt sich vermutlich die Enttäuschung der Wähler in diesen russischsprachigen Regionen darüber wider, dass Selenskij weder in der Friedensfrage noch in der Sprachpolitik seine Wahlversprechen von 2019 erfüllt hat. Dafür verfehlte die »Oppositionsplattform« in großen Teilen der Westukraine den Einzug in die Parlamente.
    Beobachter erwarten nach der Wahl eine stärkere Zersplitterung der politischen Szene in der Ukraine. Da den Bürgermeistern durch eine Verwaltungsreform zuletzt größere Anteile an den Steuereinnahmen aus ihrer Region zugebilligt wurden, wächst auch das politische Gewicht der Städte und Regionen.
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    Mit am Tisch sitzen
    Berg-Karabach: Iran bemüht sich um diplomatischen Einfluss im Konflikt und stellt »Friedensplan« vor
    Von Knut Mellenthin
    Die iranische Regierung will bei der Beendigung des bewaffneten Konflikts zwischen den nördlichen Nachbarn ihres Landes, Aserbaidschan und Armenien, eine größere Rolle als bisher spielen. Außenminister Mohammed Dschawad Sarif gab am Dienstag bekannt, dass Iran einen Vorschlag für eine »dauerhafte Löung« des Territorialstreits habe. Sein Stellvertreter Sejed Abbas Araktschi werde in den kommenden Tagen Aserbaidschan, Armenien, Russland und die Türkei besuchen, um den iranischen »Friedensplan« vorzustellen.
    Im Iran gibt es mehrere Diplomaten, die den Titel eines stellvertretenden Außenministers tragen. Sie sind jeweils für bestimmte Regionen zuständig, und ihre Position entspricht ungefähr der von Staatssekretären. Araktschis Arbeitsbereich wird mit »politische Angelegenheiten« angegeben. Praktisch ist er damit der zweite Mann im Ministerium. Während der Wiener Verhandlungen über das Atomabkommen war der jetzt 60jährige der Leiter der iranischen Delegation, sofern Sarif nicht selbst teilnahm. Dieser erschien jedoch aus protokollarischen Gründen nur zu wenigen Treffen, die auf Außenministerebene stattfanden. Für seine Gespräche über den Kaukasuskonflikt wurde Araktschi der Titel eines Sonderbeauftragten des Präsidenten verliehen.
    Araktschi trat seine Rundreise noch am Dienstag mit einem Besuch in den vier Nordprovinzen Irans an. Die Mehrheit der dortigen Bevölkerung ist mit Aserbaidschan ethnisch, sprachlich, kulturell und durch enge wirtschaftliche Zusammenarbeit verbunden. Die Gouverneure dieser vier Provinzen hatten am 1. Oktober eine gemeinsame Stellungnahme zu den seit dem 27. September geführten Kämpfen zwischen den beiden nördlichen Nachbarstaaten veröffentlicht, die eine ungewöhnlich offene Parteinahme zugunsten Aserbaidschans enthielt. Das entspricht nicht ganz der Position der iranischen Regierung: Sie unterstützt zwar die »territoriale Integrität« Aserbaidschans und die Forderung, dass sich armenische Kräfte aus allen Gebieten zurückziehen, die sie seit dem Krieg von 1992 bis 1994 besetzt halten. Zugleich betont Teheran aber, dass es keine militärische, sondern nur eine politische Beendigung des Konflikts geben dürfe.
    Von Täbris, der Hauptstadt der iranischen Nordregion, flog Araktschi am späten Dienstag abend nach Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, weiter. Er führte dort Gespräche, an denen hauptsächlich sein Amtskollege und hochrangige Diplomaten aus dessen Ministerium sowie ein enger Berater des aserbaidschanischen Präsidenten Hikmet Hadschijew teilnahmen. Die offiziellen Stellungnahmen beider Seiten waren bewusst oberflächlich gehalten und ließen nicht erkennen, worüber konkret gesprochen worden war.
    Das russische Außenministerium teilte am Mittwoch mit, dass Araktschi am Donnerstag Gespräche in Moskau führen werde. Bei seiner Ankunft kritisierte der iranische Diplomat die sogenannte Minsk-Gruppe, die die OSZE 1994 gebildet hatte, um zur Beendigung der Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan beizutragen. In der Gruppe sind Russland, die USA und Frankreich als Vorsitzende und Belarus, Deutschland, Italien, Schweden, Finnland und die Türkei als ständige Mitglieder vertreten. Die Gruppe habe es in fast 30 Jahren nicht geschafft, den Territorialstreit zu beenden, sagte Araktschi. Was Iran dagegensetzen will, ist nicht bekannt. Teheran hatte zuvor schon zweimal, Anfang und Mitte Oktober, seine Dienste als Vermittler angeboten.

  75. Weil in Frankreichs Weltmacht-Agenda das Verhältnis zu Russland anders vorgesehen ist, hat sich Macron der deutschen Putin-Schelte nicht [oder nur sehr verhalten] angeschlossen – und damit unterstrichen, dass europäische Weltmacht-Aufstellung als ein primär deutsch ausgerichtetes Projekt nicht funktioniert. Überhaupt scheinen nicht nur bei der dt. Fokussierung auf Russland, sondern auch bei der frz. auf die Türkei, die BRD und Frankreich andere Ziele zu verfolgen. Drittens und sowieso beim Verhältnis zu den USA.
    Einwände?
    Wie ist denn die Stimmung/Ausrichtung in Osteuropa?
    Anscheinend erpressen die EU-Staaten einander wechselseitig auch nach wie vor damit, dass die allerletzten Bedingungen für das Kreditpaket noch nicht endgültig vereinbart sind. Aber von den aufsässigen Nordstaaten scheint man nichts mehr zu hören. Deren finanzielle Interessen sollten ja auch u.a. mittels Beitragsreduzierungen berücksichtigt werden. Einer der Titel des Kreditpaketes ist schließlich “Pandemie-Bekämpfung”, darauf verpflichten sich alle wechselseitig. Meinen so aber ihre je nationalen Vorhaben, die eben auch gegensätzlicher Art sind.
    https://www.tagesspiegel.de/plus/kann-merkel-diesen-eu-streit-noch-schlichten-750-corona-milliarden-sind-zwar-da-und-doch-erhaelt-italien-noch-keinen-cent/26232586.html
    https://www.tagesspiegel.de/politik/streit-um-rechtsstaats-suender-in-der-eu-europaabgeordnete-hoffen-auf-kompromiss/26567386.html
    Die Positionierungen der USA betrachten etwas gegensätzlich:
    a) https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/die-supermacht-hat-ausgedient
    b) https://www.fr.de/wirtschaft/donald-trump-usa-us-wahl-2020-handel-wirtschaft-beziehungen-strafzoll-china-eu-europa-90079020.html

  76. Größenwahn und Wirklichkeit
    Brüsseler Denkfabrik stellt Instrumente zum Schutz der »Souveränität Europas« vor. Bisherige Schutzmaßnahmen der EU gegen Washington unwirksam
    Von Simon Zeise
    Ursula von der Leyen (CDU) schätzt Berater wie kaum eine andere. Als Bundesverteidigungsministerin unterhielt sie so intensive Kontakte zu McKinsey, dass ein Untersuchungsausschuss des Bundestages sich der Sache annehmen musste. Auch im Präsidentenamt der EU-Kommission lässt sie einflussreiche Think-Tanks die Denkarbeit für sich übernehmen.
    Wenige Tage nach von der Leyens »Rede zur Lage der Union« (siehe Spalte) legte das European Council on Foreign Relations (ECFR) einen umfassenden »Werkzeugkasten« von Maßnahmen vor, mit denen »sich Europa gegen wirtschaftliche Erpressung aus China und den Vereinigten Staaten wehren kann« (siehe jW vom 22. Oktober).
    Im ECFR-Bericht werden verschiedene Fälle beschrieben, in denen »Großmächte die Souveränität Europas zu untergraben versuchten«. Einer ist das Verbot Washingtons für europäische Banken, der leitenden Staatsanwältin des Internationalen Strafgerichtshofs ein Bankkonto zu eröffnen, weil sie wegen möglicher Kriegsverbrechen der Vereinigten Staaten ermittelte, ein weiterer die »Einschüchterung deutscher Amtsträger« durch die USA aufgrund ihrer Rolle beim Pipelineprojekt Nord Stream 2.
    Werkzeuge, mit denen sich die EU auf internationaler Bühne behaupten kann, kennt das ECFR zuhauf. Unter anderem wird die Gründung einer Europäischen Exportbank zur Sicherung des Handels- und Zahlungsverkehrs vorgeschlagen, »die weder dem US-Finanzsystem noch dem US-Dollar ausgesetzt wäre«. Die »EU-Blocking-Verordnung«, die es europäischen Unternehmen untersagt, sich US-Sanktionen zu unterwerfen, solle reformiert werden. Denn bislang konnte es »dem internationalen Handel keinen Schutz vor Nötigung durch extraterritoriale Zwänge bieten, und paradoxerweise hat es viele Unternehmen bewogen, noch weniger Handel zu treiben«, offenbart das ECFR. Die Möglichkeit, individuelle Sanktionen anzuwenden, hat von der Leyen bereits angekündigt (siehe Spalte). Sie sollen laut ECFR Reiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten umfassen, »ohne dass man handelspolitische Maßnahmen ergreifen müsste«. Ein solches Vorgehen würde »mehrere Zwecke erfüllen, da es länderneutral, kostengünstig und mit geringem wirtschaftlichem Schaden verbunden wäre, zugleich aber eine abschreckende Wirkung hätte«.
    Während von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der Union China als »systemischen Rivalen« bezeichnete, hat sie die Völkerrechtsbrüche der USA gegen Personen und Unternehmen aus Deutschland kaum erwähnt. »Wir sind vielleicht nicht immer mit den jüngsten Entscheidungen des Weißen Hauses einverstanden. Aber wir werden das transatlantische Bündnis immer in Ehren halten«, erklärte die Kommissionspräsidentin. Nach Widerstand gegen Washington hört sich das nicht an.
    Ein schwieriger Bündnispartner (II) (02.11.2020)
    Berlin fordert von Washington ein gemeinsames Vorgehen gegen Beijing unter Berücksichtigung deutscher Interessen
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Berlin fordert von der künftigen US-Administration ein gemeinsames, sorgfältig abgestimmtes Vorgehen gegen Beijing unter Berücksichtigung besonderer deutscher Interessen. “Amerikaner und Europäer” teilten viele Forderungen gegenüber der Volksrepublik, insbesondere solche, die Handel und Investitionen in China beträfen, erklärt Bundesaußenminister Heiko Maas; sie gelte es nun Seite an Seite durchzusetzen. Die Koordination einer transatlantischen Chinapolitik könne eine “transatlantische Arbeitsgruppe” übernehmen, der beispielsweise der US-Vizepräsident, entsprechende Repräsentanten der EU und nationale Außen-, Verteidigungs- und weitere Minister angehören sollten, heißt es in einem Vorschlag, der unter Ko-Führung des deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger erarbeitet wurde. Hohe Bedeutung wird dem Kampf um die globale Technologieführerschaft zugeschrieben. Zugleich weist Berlin bestimmte US-Aggressionen zurück, darunter Pläne zur “Entkopplung” Chinas vom Westen: “Wir unterstützen … nicht jede Haltung und jeden Vorstoß der Regierung in Washington”, erklärt die Bundesverteidigungsministerin.
    Die Grundlage nationaler Macht
    Hohe Bedeutung kommt in den Plänen Berlins für eine transatlantisch abgestimmte Chinapolitik dem Kampf um die weltweite Technologieführerschaft zu. “Technologische Innovation nährt wirtschaftliches Wachstum und ist seit langer Zeit die Grundlage nationaler Macht und globalen Einflusses”, heißt es in einem Strategiepapier, das eine “Transatlantic Task Force” unter dem Ko-Vorsitz des Leiters der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, publiziert hat. Die “Task Force” ist im vergangenen Dezember vom German Marshall Fund of the United States (GMF) und der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung gegründet worden (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Wie sie festhält, ist China längst zu einer führenden Technologiemacht geworden; es ist beispielsweise der größte Produzent, Exporteur und Nutzer von Wind- und Solarenergieanlagen sowie Batterien, steht für 60 Prozent des globalen Verkaufs von Elektro-Kfz und liegt bei 5G vorn – sowohl technologisch als auch beim Aufbau der entsprechenden Netze.[2] Sein riesiger Binnenmarkt von 1,4 Milliarden Menschen, von denen mittlerweile 400 Millionen, nach manchen Schätzungen sogar mehr den kaufkräftigen Mittelschichten zugerechnet werden, bietet Vorteile nicht nur beim Absatz von High-Tech-Produkten, sondern vor allem auch für die schnelle Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI), für die gewaltige Datenmassen nötig sind. Auf lange Sicht, heißt es in dem Strategiepapier der Transatlantic Task Force, könnten weder die Vereinigten Staaten noch die EU alleine im Kampf um die Technologieführerschaft gegen die Volksrepublik bestehen.
    “Transatlantische Souveränität”
    Entsprechend schlägt die Transatlantic Task Force eine enge transatlantische Kooperation bei der Weiterentwicklung der modernsten Technologien vor. Zwar seien EU und USA seit jeher nicht nur “Partner”, sondern auch “technologische Rivalen”, heißt es in dem Strategiepapier: So hätten sich die westeuropäischen Länder bereits während der 1960er und 1970er Jahre Sorgen über die US-Dominanz in der neu entstehenden Computertechnologie gemacht und beklagten heute häufig den Aufstieg der beherrschenden US-Internetmonopole. Andererseits komme man nicht daran vorbei, dass China bei den Forschungs- und Entwicklungsausgaben rasant aufhole und diesbezüglich in diesem Jahrzehnt aller Voraussicht nach nicht nur an der EU, sondern auch an den Vereinigten Staaten vorbeiziehen werde. Während die EU heute gewöhnlich “europäische Souveränität” anstrebe, sei das einzige Gegenmittel gegen die Technologieführerschaft der Volksrepublik eine “transatlantische technologische Souveränität”, die auf intensiver Zusammenarbeit zwischen den USA und der EU beruhe – nicht nur in der Forschung, sondern auch bei der Entwicklung etwa von KI und 5G.[3] Der Gedanke findet durchaus Anklang. So urteilt etwa Ex-Außenminister Sigmar Gabriel, es sei “nicht nachvollziehbar”, dass es “keine geeignete westliche Alternative zu Huawei” gebe.[4] Zu dem Arsenal, das die Transatlantic Task Force vorschlägt, zählen freilich neben einer engeren Kooperation auch restriktive Maßnahmen, so etwa Exportbeschränkungen gegenüber China.
    “Mit einer Stimme”
    Jenseits einer Kooperation bei der Weiterentwicklung moderner Technologien plädieren Berliner Politiker für ein gemeinsames Vorgehen beim Versuch, die Volksrepublik zur weiteren Öffnung für westliche Interessen zu nötigen. Beijing ist längst dabei, etwa die Rahmenbedingungen für Auslandsinvestoren zu lockern, tut das allerdings in einem Tempo, das seiner eigenen Entwicklung entspricht. Außenminister Heiko Maas erklärte Ende November in einem Namensbeitrag für die Tageszeitung Die Welt, “Amerikaner und Europäer” teilten das Interesse “an fairem Handel, freien Seewegen und an der Sicherheit unserer Daten und unseres intellektuellen Eigentums”.[5] Suche man die westlichen Vorstellungen gemeinsam gegen China durchzusetzen, dann könne der US-Druck durch den ökonomischen Einfluss der europäischen Mächte in der Volksrepublik verstärkt werden; “und wenn wir in der Welthandelsorganisation mit einer Stimme sprechen, anstatt uns gegenseitig mit Zöllen zu überziehen, dann können wir auch dort neue Standards setzen”, urteilte Maas. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer äußerte kürzlich, man teile die “Sorge” über bestimmte chinesische Wirtschaftspraktiken mit anderen westlichen Ländern, “auch mit den Vereinigten Staaten”: So kritisiere man etwa “Währungsmanipulationen”, eine “aggressive Aneignung geistigen Eigentums”, “ungleiche[…] Investitionsbedingungen” sowie eine “staatlich subventionierte Verzerrung des Wettbewerbs”.[6] Gemeinsam, heißt es nun, könne man westliche Forderungen gegenüber China leichter durchsetzen.
    “Nicht blinde Gefolgschaft”
    Bestimmte Aggressionen Washingtons gegen Beijing weist Berlin freilich als nicht den eigenen Interessen entsprechend zurück. Dies gilt vor allem für die Pläne zur ökonomischen “Entkopplung” (“Decoupling”) Chinas vom Westen, die die Bundesregierung vermeiden will, um das deutsche Chinageschäft zu bewahren.[7] Unabhängig vom Resultat der US-Präsidentenwahl werde sich die – zumindest – “partielle Entkopplung von Hochtechnologiebereichen” voraussichtlich “fortsetzen”, warnt die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): “Der Anti-China-Konsens” habe sich in den Vereinigten Staaten “auf beiden Seiten des politischen Spektrums … weiter verfestigt” – “sowohl in den außenpolitischen Eliten” wie auch “in Teilen der US-amerikanischen Bevölkerung”.[8] Dabei hätten die USA, “was den strategischen Ansatz gegenüber China betrifft, die klare Erwartung, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten sich der amerikanischen Sichtweise anschließen”; Washington werde “auch unter der nächsten US-Administration entsprechend Druck ausüben”. Berlin sucht sich dagegen zu wappnen. “Partnerschaft bedeutet … nicht blinde Gefolgschaft”, warnt´Maas.[9] “Wir unterstützen … nicht jede Haltung und jeden Vorstoß der Regierung in Washington” in Sachen China, kündigt Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer an.[10] Ex-Außenminister Gabriel plädiert für “Zusammenarbeit zur Schaffung eines wirtschaftlichen Gegengewichts zu China”, allerdings “ohne sich der Sprache eines ‘kalten Krieges’ zu bedienen”.[11]
    Transatlantik-AG mit US-Vizepräsident
    Ein gemeinsames Vorgehen steht nun auch mit Blick auf die chinesische Einflussarbeit auf dem afrikanischen Kontinent sowie auf die Neue Seidenstraße zur Debatte. Berlin ist bereits seit vielen Jahren bemüht, die eigene Position in Afrika zu stärken, scheitert jedoch regelmäßig.[12] Zuweilen sind Vorschläge laut geworden, dort gemeinsam mit Beijing aufzutreten, um besser Fuß zu fassen.[13] Jetzt plädiert Gabriel für die “Konzeption einer transatlantischen Infrastrukturinitiative mit Afrika” – und zugleich für eine solche Initiative mit “dem eurasischen Raum als demokratische, faire und transparente Alternative zu Chinas ‘neuer Seidenstraße'”.[14] Hintergrund ist, dass die EU auch in den Schwerpunktregionen der Neuen Seidenstraße versucht, sich gegen China in Stellung zu bringen, dabei aber noch keinen Durchbruch erzielt hat.[15] Ähnliche Vorschläge äußert die Transatlantic Task Force. Sie tritt zudem dafür ein, eine “transatlantische Arbeitsgruppe” zu etablieren, der der US-Vizepräsident, vergleichbare Repräsentanten der EU und ausgewählter EU-Staaten sowie die jeweiligen Außen-, Verteidigungs-, Wirtschafts- sowie Finanzminister angehören sollen und die unter Nutzung geheimdienstlicher Informationen gemeinsame Planungen für die “wirtschaftlichen, politischen und strategischen Herausforderungen” durch China vornehmen soll – als Grundlage für abgestimmte, koordinierte Maßnahmen gegen Beijing.[16]

  77. Rechte verlieren an Unterstützung
    Polen: Umfrage zufolge will Mehrheit Rücktritt von Chef der Regierungspartei PiS
    Von Reinhard Lauterbach, Poznan
    Der Streit um das faktische Abtreibungsverbot in Polen hat dem Ansehen der Regierungs­partei PiS und dem ihres Chefs Jaroslaw Kaczynski deutlich geschadet: Laut Umfrage im Auftrag der Tageszeitung Rzeczpospolita, die die Ergebnisse am Montag veröffentlichte, sind 70 Prozent der Polen der Auffassung, dass er sich aus der Politik zurückziehen sollte. Bei Frauen und in der Alterskohorte unter 40 liegt die Ablehnung Kaczynskis bei jeweils 80 Prozent. Die Zahl seiner Anhänger ist demnach auf 21 Prozent gesunken. Offenbar lag es an seinem Aufruf zur »Verteidigung der Kirchen um jeden Preis« vom vergangenen Dienstag.
    Unterdessen halten die massenhaften Proteste gegen die jüngste Verschärfung des Abtreibungsrechts an. Am Freitag waren allein in Warschau zwischen 100.000 und 150.000 Menschen auf der Straße. Sie zogen in einem Sternmarsch ins Stadtzentrum und von dort in das Viertel, wo ­Kaczynski wohnt. Das Haus war durch ein großes Polizeiaufgebot abgeriegelt worden. Ähnliche Proteste gab es auch in Dutzenden anderen Städten aller Größen: von der Millionenstadt Lodz, wo die Fahrerinnen der städtischen Verkehrsbetriebe die Straßenbahnen aus Solidarität anhielten, bis zu kleinen Ortschaften. So versammelten sich nach Angaben der Veranstalter selbst in einer 14.000-Einwohner-Stadt wie Slupca in Westpolen 2.000 Protestierende.
    Neu ist, dass in den großen Städten die Demonstrationen zunehmend von Faschisten angegriffen werden. Die Polizei ist in solchen Momenten in der Regel wie zufällig gerade abwesend. Videos, die Teilnehmende der Warschauer Demo vom Freitag ins Netz stellten, zeigten schwarzgekleidete Männer, die die Demonstrierenden mit Steinen, Brandsätzen und Feuerwerkskörpern bewarfen. Einzelne Teilnehmerinnen berichteten, sie seien auf dem Heimweg aus dem Hinterhalt angegriffen worden.
    Gleichzeitig erschwerte die Polizei denjenigen, die protestieren wollten, die Anreise nach Warschau. So berichtete die anarchistische Gewerkschaft »Arbeiterinitiative« aus Poznan, dass das Auto, mit dem eine Gruppe ihrer Aktivisten in die Hauptstadt unterwegs war, auf den 300 Kilometern dreimal angehalten, die Insassen zum Schluss in Handschellen auf eine Polizeiwache gebracht und nach drei Stunden kommentarlos wieder freigelassen wurden. In internen Chatgruppen der Polizei kursieren Sprüche wie: »Wenn wir diese Bande stellen: Teaser, Reizgas und Handschellen«, wie die Poznaner Lokalausgabe der ­Wyborza am Sonnabend berichtete.
    Die wachsende Aggressivität der Polizei wird von oben gedeckt. Der stellvertretende Justizminister und Generalstaatsanwalt Bogdan Swieczkowski ordnete an, dass gegen alle Personen, die zu den Demonstrationen mobilisieren, Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Aufrufs zu Straftaten durch Verstoß gegen die Hygieneregeln im Rahmen der Pandemiebekämpfung zu eröffnen seien. Tatsächlich verbieten diese Regeln alle Ansammlungen von mehr als fünf Personen.
    Am Freitag hatte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im Kampf gegen die weiterhin ansteigenden Infektionszahlen einen teilweisen Lockdown für das ganze Land angeordnet. Über das Allerheiligenfest am 1. November wurden die Friedhöfe geschlossen. Damit sollte verhindert werden, dass sich, wie sonst jedes Jahr, Millionen an den Gräbern ihrer Angehörigen versammeln und sich näher kommen, als es gegenwärtig klug ist. Außerdem richtete Morawiecki den »dringenden Appell« an alle Personen über 70 Jahre, die nächsten zwei Wochen zu Hause zu bleiben, denn sonst liefen sie Gefahr, in drei Wochen selbst auf dem Friedhof zu liegen.
    Die Gegner der Gerichtsentscheidung zum Schwangerschaftsabbruch rief er auf, »weltanschaulichen Streit« bis zum Abflauen der Epidemie zurückzustellen. Einstweilen machen diese Appelle auf die Demonstrierenden keinen Eindruck. Ihre Antwort lautet, als Parole formuliert: »Hättet ihr uns halt nicht wütend machen dürfen«.
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    Generalabrechnung von rechts
    Großbritannien: Labour-Parteispitze will Debatte nach Suspendierung Corbyns unterdrücken. Weitere Ausschlussverfahren eingeleitet
    Von Christian Bunke, Manchester
    Im von der britischen Gleichstellungs- und Menschenrechtskommission (EHCR) veröffentlichten Bericht über Antisemitismus in der Labour-Partei wird ausdrücklich dem Wunsch Ausdruck verliehen, dass Lesende die dort aufgeführten Erkenntnisse einer kritischen Betrachtung und Analyse unterziehen sollen. Labour-Parteichef Keir Starmer sieht das offensichtlich anders. Am Donnerstag suspendierte er die Partei- und Parlamentsfraktionsmitgliedschaft seines Amtsvorgängers Jeremy Corbyn. Sein Vergehen: Er hatte den Erkenntnissen des Berichts großteils zugestimmt, jedoch auf seiner Auffassung beharrt, dass das Ausmaß des Antisemitismus in der Partei von den blairistischen Gegnern des linken Parteiflügels aus politischen Gründen »dramatisch übertrieben« worden sei. Explizit sagte Corbyn: »Jeder Antisemit in der Partei ist einer zuviel.«
    Der linke Parteiflügel setzt sich derweil kritisch und konstruktiv mit dem Report auseinander. So erklärte die linke Gruppe »Jewish Voice for Labour« (JVL), der Bericht verdiene »genaues Lesen und eine detaillierte Antwort«. Einige Teile würden Defizite aufzeigen, die von Gruppen wie JVL schon lange kritisiert worden seien. Andererseits weise er eine methodische Schwäche auf, da die im geleakten internen Bericht (siehe Randspalte) zitierten Chatprotokolle nicht zur Durchsicht angefordert wurden. Die Gruppe arbeitet derzeit an ihrer Stellungnahme, dass der frühere Vorsitzende suspendiert wurde, kritisiert sie schon jetzt scharf: Es handele sich dabei nicht nur um einen Angriff auf Corbyn, sondern auf die gesamte Parteimitgliedschaft.
    Keine Debatte
    Ein genaues Studium des EHRC-Berichts könnte Corbyns Position in mancherlei Hinsicht stärken. So verwiesen die Journalisten Peter Oborne und Richard Sanders in einer am Freitag auf der Homepage des Onlineportals Middle East Eye veröffentlichten Analyse darauf, dass die Kommission Einflussnahme aus dem Büro des Parteichefs auf die Rechtsabteilung der Labour-Partei kritisierte. Allerdings habe es sich dabei um Versuche des Büros von Corbyn gehandelt, die Untersuchungen zu beschleunigen und voranzubringen, weil man – berechtigterweise, wenn man dem im April geleakten internen Bericht glauben darf – der Auffassung war, dass der rechte Parteiflügel diese, um dem linken Flügel zu schaden, verschleppen würde.
    Das blairistische Regime von Starmer will darüber nicht reden. Der Labour-Vorsitzende und seine Verbündeten in Partei und Medien interessiert nur, inwieweit der EHRC-Bericht als Hammer gegen die Linke Großbritanniens verwendet werden kann. Am Freitag veröffentlichte das linke Nachrichtenportal Skwawkbox eine E-Mail der Labour-Zentrale, in der die einzelnen Parteigliederungen angewiesen werden, eine Debatte über den Bericht auf den »sozialen Medien« zu verhindern. Zu diesem Zweck sei eine neue interne Webseite errichtet worden, um dem Apparat der Hauptamtlichen eine schnelle Meldung von Mitgliedern, die sich dieser Direktive widersetzen, zu ermöglichen. In den kommenden Tagen und Wochen wird sich zeigen, inwieweit hier eine Infrastruktur zur Säuberung der Partei von Vertretern linker Positionen aufgebaut wird.
    Derweil wirft die Art und Weise der Suspendierung Corbyns Fragen auf. Weder Starmer noch Labour-Generalsekretär David Evans rücken trotz wiederholter Nachfrage diverser britischer Medien mit einer Antwort auf die Frage heraus, gegen welchen Teil der Parteistatuten der frühere Vorsitzende verstoßen haben soll. Corbyn selbst wurde nicht einmal von seiten der Parteizentrale bestätigt, dass er suspendiert wurde, er erfuhr davon am Donnerstag nachmittag von einem Journalisten. Anscheinend wurden große Medien wie die Tageszeitung Guardian oder die öffentlich-rechtliche BBC vorab von der Suspendierung informiert.
    »Eine wählbare Kraft«
    Dass nun eine Generalabrechnung mit den Linken bevorsteht, dafür spricht auch, dass die zum rechten Parteiflügel gehörende »Campaign against Antisemitism« Ausschlussverfahren gegen eine ganze Reihe von Labour-Parlamentariern, darunter prominente Köpfe wie Diane Abbott, Richard Burgon oder Zarah Sultana, eingeleitet hat. Das sorgt für Aufsehen, denn insbesondere die Schwarze Abbott war während der Amtszeit Corbyns wiederholt zur Zielscheibe rassistischer verbaler Übergriffe geworden, deren Urheberschaft im rechten Parteiflügel vermutet wird. Dieser Rassismus wurde bislang jedoch nie untersucht und wird auch in der linksliberalen Presse Großbritanniens kaum thematisiert, geschweige denn skandalisiert.
    Die Suspendierung von Jeremy Corbyn wurde in den vergangenen Tagen auf allen bürgerlichen Kanälen Großbritanniens lautstark befürwortet. Am deutlichsten formuliert wie so oft die Chefredaktion der Financial Times den Klassenstandpunkt der Besitzenden. Am Freitag schrieb das Blatt in einem kollektiv signierten Leitartikel: »Indem der neue Parteichef sich entscheidet, ihn (Corbyn) herauszufordern, geht er in Konfrontation mit einem machtvollen Block in der Partei, der immer noch loyal hinter Herrn Corbyn steht.« Hier gebe es deutliche Ähnlichkeiten mit dem Kampf des damaligen Parteichefs Neil Kinnock gegen »die linksradikale Militant Tendency in den 1980er Jahren«. Wenn »Sir Keir« ernsthaft den Antisemitismus in Labour bekämpfen und die Partei »in eine moderne, wählbare Kraft« umwandeln wolle, müsse er »diesen Kampf führen«.
    Hintergrund: Ermittlungen bei Labour
    Seit Juni 2019 ermittelt die britische Gleichstellungs- und Menschenrechtskommission gegen die britische Labour-Partei. Die 2007 aufgrund eines von der sozialdemokratischen Regierung unter Anthony Blair eingeführten Gleichstellungsgesetzes entstandene Kommission sollte antisemitische Vorfälle in der Labour-Partei untersuchen. Insgesamt hat die Kommission 70 Fälle unter die Lupe genommen, die meisten davon aus den Jahren 2016 bis 2019.
    Antisemitismusvorwürfe waren eine der schärfsten Waffen des rechten Parteiflügels der Labour-Partei gegen den linken ehemaligen Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn. Vor allem in den letzten beiden Jahren seiner Amtszeit verging kaum ein Tag, an dem Corbyn sich nicht damit konfrontiert sah. Bereitwillig wurden die Vorwürfe von den konservativen und auch linksliberalen britischen Medien verbreitet.
    Im April 2020 wurde ein interner Bericht über die Arbeit der Rechtsabteilung der Labour-Partei im Internet von einer anonymen Quelle veröffentlicht. Dieser Bericht zitierte ausführlich aus Chatprotokollen führender Mitarbeiter der Parteizentrale. Es zeigte sich das Bild einer Zentrale, die Hunderte Vorwürfe über antisemitische Vorfälle unbearbeitet ließ, während gleichzeitig die Onlineaktivitäten linker Labour-Mitglieder systematisch durchforstet wurden, um Gründe für Parteiausschlussverfahren zu finden. Erst als der blairistische Labour-Generalsekretär Iain McNicol im Frühling 2018 seinen Posten räumte und durch die zum Corbyn-Flügel gehörende Jennifer Formby ersetzt wurde, begann sich daran etwas zu ändern.
    Der Großteil der von der EHRC untersuchten Periode fällt in einen Zeitraum, in dem das blairistische Lager den Apparat der Labour-Partei kontrollierte, auch wenn der linke Flügel mit Corbyn formal den Vorsitz führte. Dieser Umstand wird im EHRC-Bericht zwar nicht direkt angesprochen, für seine Analyse ist er jedoch grundlegend. (cb)

  78. Das neue jourfixe-Protokoll bestimmt die Logik der französischen Sicherheits- und Militärpolitik u.a. wie folgt: “(…) Das Pochen auf die sicherheitspolitische Souveränität verdankt sich dem politischen Programm Frankreichs gegenüber Russland mit dem Anspruch, dass Russland sich als politische Macht Frankreich in einer Weise zuordnen soll, dass es seine Potenzen nicht gegen französische oder europäische Interessen in Anschlag bringt, sondern sich diesen unterordnet und sich ihnen zum Mittel macht. Erst von diesem imperialistischen Standpunkt aus ergibt sich das Auffinden einer Schranke für die französische Politik in der Politik der USA. Die erklärt nämlich die Existenz Russlands mitsamt seiner militärischen Bewaffnung für unvereinbar mit den amerikanischen Vorhaben in der Welt und will dafür die NATO instrumentalisieren. Mit dieser Rolle, die Trump für sie vorsieht, erweist sich die NATO als nicht geeignetes Mittel für die Ansprüche, die Frankreich in die Welt setzt.
    Einerseits erweist sich so die Politik Trumps und dessen Instrumentalisierung der NATO als Schranke für das imperialistische Anliegen Frankreichs gegenüber Russland, andererseits weiß Frankreich diese US-Politik zu schätzen und lebt sogar davon, dass die militärische Potenz der USA gegenüber Russland zum Einsatz gebracht wird. Daher die Unbedingtheit der Forderung Frankreichs, sich die Souveränität in sicherheitspolitischen Fragen dergestalt zu verschaffen, dass man auch in Hinsicht auf die NATO nicht einfach eingeplant und untergeordnet wird, sondern sich selber zum Subjekt macht in der Frage, wie das Potential der NATO zum Einsatz gebracht wird.
    I.2 Die NATO heute: nutzlos bis hinderlich für Frankreichs Auftritt in seinem weitläufig definierten Hinterhof” (…) (Fortsetzung:)
    https://de.gegenstandpunkt.com/sites/default/files/jf-protokolle/jf201026-fortsetzung2-macron.pdf

  79. dass Russland sich als politische Macht Frankreich in einer Weise zuordnen soll, dass es seine Potenzen nicht gegen französische oder europäische Interessen in Anschlag bringt, sondern sich diesen unterordnet und sich ihnen zum Mittel macht.

    Eine sehr größenwahnsinnige Vorstellung.
    Man merkt daran, wie Rußland in sehr unrealistischer Form als Möglichkeit entdeckt wird, die eigene Position in der EU-Konkurrenz zu verbessern.

  80. Doch nur verzählt
    Neonazis beim KSK
    Von Sebastian Carlens
    Während die BRD in der Coronapandemie versinkt, kann gut mit früheren Skandalen aufgeräumt werden – die Leute haben schließlich anderes zu tun, als sich den Kopf über die Sinnhaftigkeit solcher Aussagen zu zerbrechen: Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, hatte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Montag einen Zwischenbericht vorgelegt, wonach der »Kampf gegen Extremismus« in der Truppe erfolgreich abgeschlossen oder aber wenigstens »auf einem guten Weg« sei.
    Zur Erinnerung: Neonazikumpanei bei schwerbewaffneten Elitetruppen, unterirdische Sprengstoffverstecke und haufenweise verschwundene Waffen aus Armeebeständen konnten den Eindruck erwecken, dass es ein Problem mit Faschisten innerhalb der Repressionsorgane gibt. Doch das Ministerium meldet Entwarnung: Die meisten der nicht mehr auffindbaren Waffen seien gar nicht weg, sondern nur »falsch verbucht« worden. Ein glücklicher Umstand ergebe sich zudem bei angeblich entwendeten Zigtausenden Schuss Munition: Eine Nachzählung habe erwiesen, dass nicht nur keine Patronen fehlten, sondern sogar »50.000 Schuss Überbestand« vorhanden seien. Auch der abhanden gekommene Sprengstoff sei mit einem »Buchungsfehler« zu erklären: »Anhaltspunkte für Diebstahl oder Unterschlagung konnten bisher nicht identifiziert werden.« Das Erddepot mit zwei Kilogramm Nitropenta, das im Gemüsegarten eines Kommandosoldaten ausgehoben worden war, wird sicher einen profanen Hintergrund haben; vermutlich hatte der Hund des KSK-Mannes das Zeug dort verbuddelt – alles ganz harmlos also.
    Wer diese Beschwichtigungen nicht glauben mag, wird sich an den Franco-Albrecht-Skandal oder das »Hannibal«-Netzwerk erinnern: braune Strukturen quer durch Polizei und Bundeswehr. Staatsstreichplanungen für einen »Tag X«. Und entsprechende Bewaffnung samt Mordlisten gegen demokratisch gewählte Politiker. Um diesen Sumpf auszutrocknen, wäre mehr als eine Reform nötig. Denn es bleibt ein unauflösbarer Widerspruch, zum Töten ausgebildete Truppen einsetzen zu wollen, aber genau die Soldaten, die dazu fähig und bereit sind, vom Dienst abzuhalten. SS-Devotionalien und Hitlerbilder, die beim Calwer »Kommando Spezialkräfte« auftauchten, sind mehr als private Spleens. Der deutsche Imperialismus ist eben noch nie so weit in alle Welt wie unter seinem »Führer« gekommen – dieser Maßstab liegt stets an, wenn das deutsche Kapital marschiert. So gesehen sind die Soldaten ehrlicher als ihre Vorgesetzten.
    Aber das ist ja überhaupt das Problem mit jedem Parlamentarismus: Er befördert irgendwann immer die eigenen Totengräber. Wenn »Tag X« kommt, werden Abgeordnete und Kabinettsmitglieder merken, dass selbst sie zum Hemmnis deutscher Expansion werden können. Bis dahin dürfen wir erleben, wie Neonaziaffären unter der gestaltenden Hand bürgerlicher Demokraten regelmäßig zu buchhalterischen Missgeschicken zusammenschnurren.
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    Auf die rote Liste
    Frankreichs Regierung kündigt Verbot der »Grauen Wölfe« an. Türkische Faschisten attackieren Armenier, Gedenkstätte für Völkermord geschändet
    Von Nick Brauns
    Die französische Regierung will die als »Graue Wölfe« bekannten Gruppierungen türkischer Faschisten verbieten. Das kündigte Innenminister Gérald Darmanin am Montag vor einem Parlamentsausschuss in Paris an. Ein entsprechender Verbotsantrag werde an diesem Mittwoch dem Ministerrat vorgelegt. Die Gruppe türkischer Faschisten sei »besonders aggressiv, um es vorsichtig auszudrücken«, so der gaullistische Politiker. Unmittelbarer Anlass des geplanten Verbots ist die Schändung einer Gedenkstätte für die Opfer des Genozids an den Armeniern im Osmanischen Reich. Unbekannte hatten das Mahnmal in Décines-Charpieu in der Nähe von Lyon am Wochenende unter anderem mit den Initialen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan »RTE« sowie in französischer Sprache mit »Loup Gris« – also »Grauer Wolf« – beschmiert.
    Am Donnerstag vergangener Woche waren bereits Hunderte türkische und aserbaidschanische Nationalisten und Islamisten unter dem Ruf »Allahu Akbar« durch Dijon gezogen – unmittelbar nach dem Dreifachmord eines Islamisten an Besuchern einer Kirche in Nizza. Der Mob attackierte Gegendemonstranten, die Polizei setzte schließlich Tränengas ein, um ihn zu stoppen. Am Tag zuvor war es in der als »Kleinarmenien« bekannten Banlieu Decines bei Lyon zu regelrechten Hetzjagden von türkischen Faschisten auf vermeintliche Armenier gekommen. »Wo seid ihr, Armenier?« und »Wir werden die Armenier töten« skandierten die Rechten nach Angaben der kurdischen Nachrichtenagentur Firat. Zuvor hatten mit Messern und Hämmern bewaffnete »Graue Wölfe« eine Autobahnblockade von Armeniern auf der A 7 nach Valence angegriffen, mit der die Demonstranten gegen den derzeitigen von der Türkei unterstützten Angriffskrieg der aserbaidschanischen Armee auf die überwiegend von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach protestierten.
    In Frankreich lebt eine rund 500.000 Menschen große armenische Diaspora von Nachfahren der Überlebenden des türkischen Völkermordes von 1915/16. Bereits 2001 wurde der von Ankara bis heute bestrittene Völkermord von Frankreich per Gesetz offiziell anerkannt. Hintergrund des jetzt geplanten Verbots der »Grauen Wölfe« ist allerdings nicht nur der besondere Anspruch Frankreichs auf Schutz seiner armenischen Bürger. Vielmehr befinden sich Frankreich und die Türkei – beide sind Mitgliedstaaten der NATO-Kriegsallianz – seit einiger Zeit auf geopolitischem Kollisionskurs im östlichen Mittelmeerraum und Nordafrika. Während die türkische Regierung aggressiv Anspruch auf unterseeische Gasvorkommen in zypriotischen und griechischen Hoheitsgewässern erhebt, hat sich Paris auf die Seite der so bedrängten Staaten gestellt. Als Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron nach dem Mord eines Islamisten am Geschichtslehrer Samuel Paty Mitte Oktober die von diesem im Unterricht gezeigten Mohammedkarikaturen als von der Meinungsfreiheit gedeckt verteidigte, beschimpfte ihn der türkische Präsident Erdogan als Islamhasser.
    Noch ist unklar, welche Gruppierungen oder Symbole der »Grauen Wölfe« konkret verboten werden sollen. Denn keine Organisation trägt offiziell diesen Namen. Nachdem die militante Jugendorganisation der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) in der Türkei in den 1970er Jahren unter diesem aus der turanischen Mythologie stammenden Namen bekannt wurde, handelt es sich vielmehr um eine Sammelbezeichnung für türkische Ultranationalisten und Faschisten, von denen einige auch in Opposition zur Regierung Erdogan stehen. Die »Grauen Wölfe« verbieten zu wollen, wäre also ähnlich abstrakt, wie »die Nazis« zu verbieten.
    Neben der Türkischen Föderation als Auslandsorganisation der MHP gibt es in Europa weitere in der Tradition der »Grauen Wölfe« stehende Vereinigungen und Islamverbände sowie eine organisatorisch nicht gebundene, aber äußerst gewaltbereite Jugendszene. Wie die Bundesregierung im Juli auf eine kleine Anfrage der Bundestagsfraktion von Die Linke erklärt hatte, nutzt der türkische Geheimdienst MIT die »Grauen Wölfe«, »um nachrichtendienstliche Belange zu fördern«. Es ist also anzunehmen, dass bei den armenierfeindlichen Ausschreitungen der türkischen Faschisten in Frankreich ebenso wie im Juli bei deren tagelangen Angriffen auf linke Zentren im Wiener Stadtteil Favoriten der MIT seine Hand mit im Spiel hat.
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    Pikante Details
    Invasionsversuch Venezuela: US-Söldner reicht Klage gegen »Übergangspräsidenten« ein. Informationen zu Verwicklung der Trump-Regierung
    Von Volker Hermsdorf
    Der US-Söldner Jordan Goudreau hat den selbsternannten »Übergangspräsidenten« Venezuelas, Juan Guaidó, und dessen »Berater« Juan José Rendón wegen »Vertragsbruch« auf 1,4 Millionen US- Dollar (1,2 Millionen Euro) verklagt. Wie die rechtslastige Tageszeitung Miami Herald berichtete, hat der Anwalt des ehemaligen Green-Barett-Elitesoldaten und derzeitigen Eigentümers der Sicherheitsfirma Silvercorp USA die Klage am Freitag beim Bezirksgericht von Miami-Dade eingereicht. Goudreau zeigte an, dass auch zwei US-Regierungsbeamte an den Planungen für die von venezolanischen Verteidigungskräften Anfang Mai vereitelte »Operation Gideon« beteiligt waren. Goudreau, der ankündigte, über die Hintergründe des Invasionsversuchs auspacken zu wollen, erhob zudem schwere Vorwürfe gegen die US-Bundespolizei. FBI-Beamte hätten Ende Mai bei einer Hausdurchsuchung versucht, seinen Widerstand zu provozieren, um ihn in einer »Tod-durch-Cop-Konfrontation« beseitigen zu können, erklärte er.
    Mit der »Operation Gideon« hatten ultrarechte Kräfte der venezolanischen Opposition und eine angeworbene Söldnertruppe versucht, die Regierung von Präsident Nicolás Maduro zu stürzen. Die schwerbewaffneten Angreifer waren von Kolumbien aus mit Schnellbooten gestartet. Sie sollten in Venezuela Unruhe schüren und Maduro in die USA entführen. Zwei Versuche wurden jedoch am 3. and 4. Mai von der venezolanischen Armee vereitelt, mehrere Söldner getötet und 114 Invasoren, darunter zwei ehemalige US-Elitesoldaten, festgenommen. Schon kurz nach dem Invasionsversuch übernahm Goudreau die Verantwortung für die gescheiterte Operation. Er präsentierte einen unter anderem von Guaidó und Rendón unterzeichneten Vertrag mit Silvercorp »zur Befreiung Venezuelas«. Ende vergangener Woche enthüllten Goudreau und sein Anwalt Gustavo Jesus Garcia-Montes neue pikante Details, die den von Washington, der Bundesregierung und rund 50 weiteren der 193 UN-Mitgliedsländer noch immer als »Übergangspräsident« anerkannten Guaidó wie auch seine Unterstützer in Erklärungsnot bringen dürften.
    Dem Miami Herald und dem Medienkonzern McClatchy liegen nach eigenen Angaben Tonaufzeichnungen vor, in denen Guaidó sich auf den Vertrag bezieht. Das Dokument enthalte zwar eine Klausel, die es ihm erlaube, im Falle eines Scheiterns der Mission jede Beteiligung zu leugnen, doch ein Nachtrag zum Vertrag lege fest, dass er von Silvercorp »bei der Planung und Durchführung einer Operation zur Gefangennahme und Überstellung von Nicolás Maduro in die USA, zur Beseitigung des gegenwärtigen Regimes und zur Einsetzung des anerkannten venezolanischen Präsidenten Juan Guaidó beraten und unterstützt wird«. Außerdem habe Guaidó 20 Millionen US-Dollar für die Finanzierung eines »internen Volksaufstands« gefordert, der parallel zur Invasion erfolgen sollte, erklärte Goudreau.
    An der Ausarbeitung dieser Pläne seien außer dem »Übergangspräsidenten« auch dessen politischer Ziehvater, der vor einer Woche nach Spanien geflohene rechte Oppositionspolitiker Leopoldo López, sowie Beamte der Trump-Regierung beteiligt gewesen. Namentlich werden in der Klage Andrew Horn, ein ehemaliger Berater von Vizepräsident Michael Pence, und der im Ministerium für Veteranenangelegenheiten als Berater beschäftigte Exsoldat Jason Beardsly angegeben. Eine für die US-Regierung offenbar peinliche Enthüllung. Denn obwohl, laut Miami Herald, ein »hoher Verwaltungsbeamter« gegenüber dem McClatchy-Konzern zugab, dass Horn für das Büro von Pence tätig war, ließ der einen Sprecher erklären: »Vizepräsident Pence hatte absolut keine Kenntnis von dem Schurkenkomplott in Venezuela und kennt Herrn Horn nicht.«
    Während die von Goudreau Beschuldigten diesen jetzt als »abtrünnigen Agenten«, »Lügner« und »Hochstapler« bezeichnen, hält Venezuelas Botschafter bei den Vereinten Nationen, Samuel Moncada, die Aussagen des Silvercorp-Chefs für glaubwürdig. »Goudreau liefert spezifische Informationen über die Beteiligung von Juan Guaidó und seinem Chef, Leopoldo López, an der terroristischen Operation. Er legt auch seine Kontakte zu Beamten der Trump-Regierung offen, die das Projekt gefördert haben. Niemand weiß mehr über diesen Plan als Goudreau«, schrieb Moncada am Sonnabend per Twitter.
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    Energiewende auf polnisch
    Warschau macht sich zum Türöffner für US-Atomkonzerne in Europa. Aufträge über 15 Milliarden Euro für amerikanische Nukleartechnik vorgesehen
    Von Reinhard Lauterbach
    Polen will in den nächsten zwanzig Jahren insgesamt sechs neue Atomkraftwerke bauen. Das beschloss die Regierung im Oktober, kurz bevor die Proteste gegen das Schwangerschaftsunterbrechunsgsurteil des Verfassungsgerichts die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in eine andere Richtung lenkten. Die Gesamtkosten des Atomprogramms werden zum jetzigen Zeitpunkt auf etwa 35 Milliarden Euro bis 2040 geschätzt. Polen erhofft sich, dass etwa die Hälfte dieser Summe von der Europäischen Union (EU) zugeschossen wird. Ihrerseits plant die Regierung in Warschau allerdings, den Großteil des Investitionsvolumens nicht in Europa anzulegen, sondern in den Vereinigten Staaten. Am 19. Oktober unterzeichneten der polnische Regierungsbevollmächtigte für die strategische Energieinfrastruktur, Piotr Naimski, und sein US-Kollege, Energieminister Danny Brouillette, ein Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit beider Länder in der Entwicklung des polnischen Atomsektors. Es sichert US-Nuklearkonzernen Aufträge im Umfang von 15 Milliarden Euro über die nächsten 15 Jahre. Wenige Wochen zuvor hatten sich die Vereinigten Staaten auch den Zuschlag für zwei geplante Atomkraftwerke in Rumänien gesichert, nachdem die dortige Regierung Verhandlungen mit einem chinesischen Anbieter abgebrochen hatte. Verkauft wurde das Abkommen in Polen auch als Beitrag zu dessen »Energiesicherheit«. Dass das Land damit die bestehende Abhängigkeit von russischem Erdgas, das nach 2022 nicht mehr bezogen werden soll, durch eine doppelte Abhängigkeit von den USA ersetzt – bei Atomtechnologie und Flüssiggas – fällt zumindest öffentlich niemandem auf.
    Wenn Polen jetzt den Ausbau der Atomenergie forciert, hat dies vor allem mit der EU-Klimapolitik zu tun. Sie sorgt mit immer höheren Preisen für Emissionsrechte dafür, dass Strom in Polen teurer ist als in der BRD, und dass Erklärungen wie die von Staatspräsident Andrzej Duda beim Weltklimagipfel in Katowice 2018, die Kohle bleibe noch für 200 Jahre das Rückgrat von Polens Energieversorgung, heute nicht mehr wiederholt werden. Atomstrom soll der polnischen Industrie billige Energie liefern, und er gilt im polnischen Diskurs als »sauber«, weil er CO2-frei produziert werde. Über alle anderen Risiken, von Störfällen bis zur weltweit ungeklärten Endlagerung des Atommülls, geht die polnische Diskussion hinweg. Die mit Nachhilfe der deutschen Grünen gegründete Partia Zieloni spielt nur eine marginale Rolle; selbst linke Parteien wie »Razem« halten Atomkraft – selbstverständlich auf »höchstem Sicherheitsstandard« – für unverzichtbar, um die Abkehr Polens von der Kohle vollziehen zu können.
    Noch heute liefert Kohle etwa 75 Prozent des in Polen verbrauchten Stroms. Angesichts der immer höheren Produktionskosten durch die Emissionsrechte und die schwierigen geologischen Bedingungen ist die polnische heute allerdings selbst im eigenen Land nur noch bedingt verkäuflich; die Hälfte der verbrauchten Kohle stammt aus Importen, vor allem aus Russland. Derweilen liegen acht Millionen Tonnen der heimischen auf Halde, die Bergwerksgesellschaften schreiben dauerhaft Verluste. Allerdings hängen am Kohleabbau auch etwa 200.000 Arbeitsplätze im Industriegebiet im historischen Oberschlesien und Kleinpolen. Wegen des relativ hohen Organisationsgrades der dortigen Bergleute und ihrer Bereitschaft auch zu militanten Protesten hat sich keine Regierung seit 1989 an das Thema Kohleausstieg herangetraut.
    Bis zum September. Da nutzte die Regierung die Coronakrise, in deren Verlauf die Kohlegruben sich zu Hotspots für die Verbreitung des Virus entwickelt hatten, um den Gewerkschaften die Zustimmung zu einem Kohleausstieg bis 2049 abzunötigen. Das ist das letzte Jahr, bevor die EU offiziell Klimaneutralität anstrebt. Der Ausstieg soll sozial maximal abgefedert werden: Wer jetzt im Bergbau arbeitet, soll das bis zu seiner Verrentung weiter tun können. Der Plan steht allerdings noch unter dem Vorbehalt, dass die EU die damit verbundenen öffentlichen Subventionen für den laufenden Betrieb der Bergwerke entgegen ihren eigenen Beihilferegeln doch akzeptiert.
    Der jetzt wohl bevorstehende polnische Einstieg in die Atomkraft ist der zweite Anlauf in dieser Sache. Zu sozialistischen Zeiten war geplant, in Zarnowiec westlich von Gdansk zwei Blöcke nach sowjetischer Technologie zu errichten. Das Projekt zog sich aus Geldmangel in die Länge, nach dem Unglück von Tschernobyl war es politisch nicht mehr zu vermitteln und wurde eingestellt. Jetzt soll der inzwischen wieder zugewachsene Bauplatz von damals reaktiviert werden.

  81. Heute hieß es allenthalben in den Medien:

    “EU-Parlament und Mitgliedsländer einigen sich auf Rechtsstaatsmechanismus
    Erstmals können Ländern EU-Mittel gekürzt werden, wenn sie den Rechtsstaat demontieren. Darauf haben sich Vertreter der Mitgliedsländer und das Europaparlament verständigt.”

    Das paßt nur nicht zusammen mit dem Schlußsatz dieser Meldung:

    “Vor allem Ungarn und Polen … lehnen den Rechtsstaatsmechanismus strikt ab und drohten bereits mit einer Blockade von wichtigen EU-Entscheidungen.”

    Sind da wieder mal die “Vertreter *der* Mitgliedsländer” gar nicht die Vertreter *aller* Mitgliedsländer gewesen?

  82. @Neoprene
    Dieser „Beschluß“ spiegelt offenbar das Wnschdenken einiger EU-Regierungen und vor allem der Medien wieder, die schon längst mehr Befugnisse für wichtige und politisch korrekte Staaten fordern.
    Ich bin neugierig, wie der Brexit, sofern er einmal vollzogen ist, auf diese Debatte einwirken wird. Weil Beschlüsse dieser Art – die aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips gar nicht möglich sind –, würden andere Staaten möglicherweise auch einen Austritt überlegen lassen.
    Aber auch das ist Spekulation, weil für die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips braucht es Einstimmigkeit, und die ist sicher nicht zu haben.
    @NN
    Ich habe mich schon gefragt, warum die polnische Regierung diese Abtreibungsfrage jetzt mit solcher Wirkung betreibt, aber es ist offensichtlich ein Versuch, die Aufmerksamkeit von anderen, in das Alltagsleben weitaus einschneidenderen Beschlüssen abzulenken, und das gelingt, wie man sieht, recht gut.
    Alle Zeitungen sind voll mit den Demos zur Abtreibungsfrage in Polen, von den AKWs liest man nix.

  83. ntv dazu:
    “Trotz Drohungen aus Warschau und Budapest haben sich Vertreter anderer EU-Länder und des Europaparlaments auf ein Verfahren zur Kürzung von EU-Mitteln bei bestimmten Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit geeinigt. Die Gelder sollen demnach gekürzt werden können, wenn eine qualifizierte Mehrheit von 15 EU-Staaten mit zusammen 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU dies unterstützt. Mit Spannung wird nun erwartet, ob Ungarn und Polen wirklich aus Protest dagegen wichtige Entscheidungen für den langfristigen EU-Haushalt und das geplante Corona-Konjunkturprogramm blockieren.
    Polens Vize-Justizminister Sebastian Kaleta bezeichnete den Deal in einer ersten Reaktion als eine “Einigung auf einen beispiellosen Bruch der EU-Verträge”. Die per Mehrheitsentscheidung vorgesehene Einführung des Rechtsstaatsmechanismus stelle aus Polens Sicht eine “totale Missachtung” der Rechtsstaatlichkeit dar.”
    https://www.n-tv.de/politik/EU-Rechtsstaatsverstoesse-werden-teuer-article22149630.html

  84. Hier scheint sich eine Entwicklung der Beschlußfassung von Einstimmigkeit zu Mehrheit durchzusetzen.
    Man weiß nicht genau, wie das bei der EU überhaupt festgelegt ist und ob sich in dem endlosen Lissabon-Vertrag mit unendlich vielen Zusätzen ein Schlupfloch findet, um das durchzubringen.
    Ich halte es für einen Probeballon, wo noch überhaupt nichts entschieden ist. Oder einen Versuch der EU-Spitze, um ihre Handlungsfähigkeit zu beweisen.
    Das zweite ist, daß diese Zuschüsse ja auch Absatzmärkte für Westwaren und günstige Bedingungen für Investoren schaffen, also nicht als eine Art Geschenk ausgezahlt werden, mit dem man die Hinterhof-Verwalter bei Laune hält, – wie es in den Medien gerne präsentiert wird.
    Also falls da wirklich Zuschüsse gekürzt werden und die dortigen Regierungen darauf reagieren, werden möglicherweise Unternehmensverbände in anderen Staaten protestieren.

  85. “Ich halte es für einen Probeballon, wo noch überhaupt nichts entschieden ist. Oder einen Versuch der EU-Spitze, um ihre Handlungsfähigkeit zu beweisen.”
    Wenn es nur ein Probeballon ist, dann ist aber die Handlungsfähigkeit durch gestrichen, wenn der Ballon platzt und Polen und Ungarn und vielleicht auch noch andere EU-Staaten bei der Mehrheitsregel nicht mitmachen wollen.

  86. a) zu den Versuchen, “Mehrheitsentscheidungen” verstärkt in der EU einführen zu wollen:
    https://die-zukunft.eu/eu-mehrheitsentscheidungen-und-machtverschiebungen/
    (dieser Artikel ist bereits zwei Jahre alt…)
    b) Die mit dem neuen Haushalt der EU, dem Kreditpaket, dem Rechtsstaatsprinzip zusammenhängenden Fragen sollen demnächst insgesamt verabschiedet werden, da dürften also noch Veränderungen passieren.
    c) Erst nach Verabschiedung des Gesamtpaketes muss das Ganze danach auch noch in allen EU-Staaten verabschiedet werden als nationale Gesetze.
    d) Kredit-Geld aus dem Corona-Euro-Bond …
    … fließt daher vermutlich erst in der zweiten Hälfte 2021 …
    Erst mal muss das EU-Parlament eingebunden werden
    https://www.euractiv.de/section/eu-innenpolitik/news/recovery-fund-eu-parlament-will-finanzielle-konditionalitaet-lockern/

  87. Ja, daß vor allem Frankreich und Deutschland Mehrheitsentscheidungen wollen, das ist seit Jahr und Tag bekannt und dafür treten Meinungsmacher hierzulande auch regelmäßig ein, so wie in dem verlinkten Artikel. Interessant ist aber, welche Mittel diese beiden Staaten überhaupt einsetzen können, um den Widerstand einiger kleinerer Staaten dagegen zu brechen. Ganz offensichtlich versucht Deutschland, versucht auch die deutsche Kommissionschefin, den auf den alten Regeln beharrenden Staaten deren Opposition buchstäblich abzukaufen. Da wird munter an einem Junktim gebastelt, daß Gelder aus dem EU-Haushalt, aus dem bisher ja nur grundsätzlich beschlossenen Kreditpaket nur fließen würden, wenn es in den Fragen “Rechtsstaatlichkeit” und Mehrheitsenscheidungen Zugeständnise gibt. Aber auch, wenn demnächst da im EU-Parlament ein D und F passendes Gesamtpaket zusammengezimmert werden könnte, ist damit ja nicht wirklich was gewonnen, weil das EU-Parlament ja gar nichts von Belang in diesen Fragen entscheiden kann. Das machen ja wie eh und je die nationalen Regierungen. Und da sind die Positionen ja nun wahrlich nicht konsensfähig.

  88. Sturm gegen Trump
    US-Wahl: Landesweite Proteste für und gegen Auszählung. Nochpräsident klagt weiter, OSZE widerlegt Vorwürfe
    Von Ina Sembdner
    Auch wenn es bis Donnerstag abend weiterhin kein endgültiges Ergebnis gab, zeichnet sich doch ein Sieg des demokratischen Herausforderers Joseph Biden bei der US-Präsidentschaftswahl ab. Die zahlreichen Gruppen von Aktivisten, die sich seit Monaten auf die Zeit rund um die Abstimmung vorbereitet haben, bezweifeln jedoch, dass dies für eine friedliche Machtübergabe im Weißen Haus ausreichend ist. Mittwoch nacht protestierten Tausende unter anderem in Washington, New York, Chicago, ­Seattle und Los Angeles und forderten: »Zählt jede Stimme!«
    Teilweise fielen die Kundgebungen zusammen mit Protesten der Black-­Lives-Matter-Bewegung gegen rassistische Polizeigewalt. So in Philadelphia, wo am 26. Oktober der 27jährige Walter Wallace von Polizisten ermordet worden war. In Portland, seit Monaten Zentrum antirassistischer Proteste, ließ Gouverneurin Katherine Brown die Nationalgarde gegen die Demonstrierenden vorgehen.
    Das Bündnis »Protect the Vote« rief zu weiteren landesweiten Demonstrationen auf, um sicherzustellen, dass »jede Stimme« bei der Präsidentschaftswahl gezählt wird. Mindestens bis Sonnabend wollen die mehr als 130 daran beteiligten Gruppen den Druck aufrechterhalten, sollte »Trump etwas unternehmen, um gegen das Ergebnis vorzugehen«. Begonnen hat er damit bereits: Sein Team reichte in mehreren Bundesstaaten Klagen gegen die Auszählung ein.
    Das ist Wasser auf die Mühlen von Trumps gewaltbereiter rechter Anhängerschaft. Vor dem Auszählungsbüro im Maricopa County in Phoenix (Arizona) skandierten in der Nacht auf Donnerstag Hunderte Menschen, von denen einige nach einem CNN-Bericht Automatikgewehre und Pistolen bei sich trugen: »Stoppt den Diebstahl!« Anlass waren »Fake News«, dass Wahlzettel, die mit einem bestimmten Stift ausgefüllt worden seien, nicht gezählt würden. Der Ausgang der Abstimmung in Arizona könnte entscheidend für den Wahlsieg sein. Die US-Agentur AP und der Sender Fox hatten den Staat in der Wahlnacht bereits Biden zugeschlagen. CNN berichtete am Donnerstag jedoch, dass Trump im Laufe der Auszählung aufholen konnte. Auch in Detroit versuchten dessen Anhänger, kurz bevor AP den Sieg in Michigan Biden zuschlug, ein Auszählungsbüro zu stürmen, wie lokale Medien berichteten.
    Nevada zählt ebenfalls zu den verbleibenden entscheidenden Staaten. Würde Biden Arizona und Nevada für sich entscheiden können, käme er genau auf die erforderlichen 270 Wahlleute, die für den Sieg notwendig sind. Neue Zahlen aus Nevada wurden nach jW-Redaktionsschluss erwartet, auch hier reichte Trump am Donnerstag Klage ein. Offen blieb der Ausgang zudem in Georgia, Pennsylvania, wo frühestens heute mit einem Ergebnis gerechnet wird, und North Carolina. Dort werden Briefwahlstimmen sogar noch bis zum Stichtag 12. November gezählt. Dass es keine Unregelmäßigkeiten gab, bestätigten indes die Wahlbeobachter der OSZE: »Wir haben keinerlei Regelverstöße feststellen können«, sagte der Leiter der Mission, der FDP-Politiker Michael Georg Link, Donnerstag im RBB-Inforadio.
    Angesichts eines wahrscheinlichen demokratischen Präsidenten und eines republikanisch kontrollierten Senats dämpfte das linke US-Magazin Jacobin allzu große Erwartungen und forderte, »Druck von außen aufzubauen«, gemeinsam mit den »Millionen von Menschen, deren Probleme von einer gelähmten Biden-Regierung nicht gelöst werden können«.
    Einiges bleibt
    Trump, Biden und die US-Wahlen
    Von Arnold Schölzel
    Als der amtierende US-Präsident erklärte, er habe die Wahl gewonnen, aber die sei gefälscht, weswegen er länger dauernde Auszählungen gerichtlich stoppen lassen werde, veränderte er wieder einmal das US-Staatswesen zur Kenntlichkeit. Milliardäre wie er halten sich mit Fassadendemokratie gar nicht erst auf, sondern machen Politparty mit allem Drum und Dran: Pöbelei, krimineller Energie, Freude an Unflat, gewohnheitsmäßiger Korruption, infantilem Ich-ich-­Geschrei, inklusive staatsterroristischer Mordaktionen und strammer Hochrüstung. So gewinnt man die Badefeste des Chauvinismus, genannt US-Wahlen. Trump hat zwar keinen großen Krieg begonnen, umso mehr tat er dafür, dass zukünftige Kriege »great again« werden. Trump verkörpert »Mord­amerika« (Peter Hacks) in idealer Weise. Seine Verwechslung von Privatem und Politischem, von sich und Staat, ist barrierefrei. Nur dass es sich bei ihm nicht um eine Kopie Ludwigs XIV. handelt, sondern eher um die Wiederkehr des Pferdes, das der römische Kaiser Caligula einst zum Konsul ernannte. Die US-Zeitschrift Foreign Affairs warnte jedenfalls am 28. Oktober, eine Wiederwahl Trumps bedeute »Das Ende der amerikanischen Macht«. Das war nur wenig übertrieben.
    Ein Präsident Joseph Biden verlangsamt wahrscheinlich den Niedergang, aber sicher ist nichts. Immerhin hat er fast 50 Jahre in Washington weit oben mit dafür gesorgt, dass die USA in die Sackgasse geraten sind, in der sich die vor kurzem noch »einzige Supermacht« heute befindet. Der »Demokrat« hat sich im US-Polit-, also im Kriegsbetrieb, das Attribut »bloody – blutig« redlich verdient. Das ihm von Trump verliehene »sleepy – schläfrig« gehört zu den Witzen, die der Immobilienspekulant ab einem bestimmten Kontostand über Leute, die nur ein paar Dollar »wert« sind, drauf hat. Laut Forbes verfügen die Bidens über ebenso lächerliche wie unanständige neun Millionen Dollar. Dafür besitzt der Langzeitsenator über Know-how für gewaltsamen Regime-Change und war in Belgrad und Kiew erfolgreich. Dort verdiente sich der Kandidat seine Präsidentensporen und offenbar auch was für die Familienkasse.
    Merkwürdig erscheinen lediglich einige hiesige Reaktionen auf das Washingtoner Geduldsspiel. Der deutsche Aktienindex rauschte zunächst in den Keller, und der Bundesverband der Deutschen Industrie barmte, eine »längere Phase der Unsicherheit« über den Wahlsieger in den USA beschädige »das Vertrauen in die US-amerikanische Demokratie«. Als gäbe es dort Neues. Vorsorglich bestellte der Verteidigungsausschuss am Mittwoch schon mal 38 neue »Eurofighter« bei Airbus. Die 45 F-18-US-Kampfflugzeuge für die »nukleare Teilhabe« will Berlin nach wie vor haben. Da kann der Präsident egal sein. Der erteilt im Kriegsfall lediglich deutschen Piloten den Befehl zum Atombombenabwurf. Einiges bleibt unabhängig von Wahlen.
    Mit den USA untergehen (05.11.2020)
    Die deutsche Außenpolitik und die US-Wahlen. Kommentar von Hans-Rüdiger Minow
    Über den Verlauf der US-Wahlen und die Reaktionen der deutschen Außenpolitik lässt sich nicht mehr viel sagen. Was in Berlin über den amtierenden US-Präsidenten und seine nächtlichen Vorhaben zur Beendigung der Stimmenauszählung gesagt worden ist, über seine Selbstausrufung zum Sieger, über eine kommende Schlacht vor den US-Gerichten wegen angeblichen Wahlbetrugs – das alles ist harmlos, weil es den tatsächlichen Entwicklungen nicht entspricht. Es unterbietet das Ausmaß der Gewalt, die den Idealen der bürgerlichen Demokratie angetan wird, im angeblichen Stammland ihrer Herrschaft, so als wäre das alles nur ein böses Zwischenspiel, ein gefährlicher Auftritt, der im kommenden Akt, mit Protagonisten der besseren Art, mit einem anderen Skript und einer deutschen Souffleuse den Ausgang des Dramas noch abwenden könnte. Aber dazu ist es zu spät.
    Die deutsche Außenpolitik hat vergeblich gehofft, zwischen zwei Unternehmern wählen zu können, von denen der eine dem genehmeren Typ der gemeinsamen Herkunft das Aussehen leiht, während der andere das Gewaltpotential einer illegalen Sanktionspolitik und die extralegalen Tötungsexzesse des US-Militärs völlig offen durchsetzt. Berlin hat gehofft, es könnte diskreter, mit der feineren Art derselben Gewalt zu Kompromissen gelangen, um die eigenen Sanktionen mit den eigenen Drohnen an den eigenen Orten deutscher Weltpolitik in Anschlag zu bringen. Aber dass die eigene Gewalt und die globale Gewalt der führenden Macht ein Ausmaß erreicht hat, das die innere Ordnung an der Basis zerstört und die Herrschaftsfraktionen in den Untergrund zieht, das hat Berlin nicht begreifen wollen und will es weiter nicht verstehen.
    Was die deutsche Außenpolitik zu den Fraktionskämpfen anlässlich der US-Wahlen zu sagen hat – man sei entsetzt über den Angriff auf die Ideale der bürgerlichen Demokratie -, hat mit den Idealen der bürgerlichen Demokratie nichts mehr zu tun. Es ist die innere Zersetzung der bürgerlichen Demokratie, die im US-amerikanischen Wahlkampf einen Geruch der Gosse verbreitet.
    Dieser Gestank ist nicht neu.
    Als der amtierende US-Präsident vor einem Jahr in Greenville (North Carolina) die in Somalia geborene Ilhan Omar, Mitglied der politischen Konkurrenz im US-Repräsentantenhaus und Muslimin, vor einer brüllenden Menge zum Verlassen der USA aufforderte, stieg er in jenen Abgrund, aus dem der Gärstoff jeder zerfallenden Ordnung steigt. Die demagogische Rede, die mehreren respektablen, aber nicht-weißen Bürgern des Landes galt, quittierte das angefeuerte Publikum mit begeisterten Sprechchören “Send them back”. In diesen Chören entblößte sich der Zustand, in dem die äußere und innere US-Herrschaft schwankt und Faschisten hervorbringt (den präsidialen Faschisten und die, die er weckt).
    Die deutsche Außenpolitik hat diese Szene nicht goutiert und hat vornehm getan, statt an die eigene Geschichte zu denken: Bedauerlich, aber kein Grund, an der sogenannten Wertegemeinschaft zu zweifeln. Berlin hat auf die andere Fraktion gesetzt. Nur ein Jahr später offenbart sich diese Wertegemeinschaft als ein apokalyptisches Bündnis, in dem es noch an einer Massenbewegung fehlt, um den Herrschaftstaumel der Führungsnation in eine autoritär-faschistische Form zu gießen.
    Die deutsche Außenpolitik taumelt dieser Enwicklung hinterher, tut so, als hüte Berlin die demokratische Flamme, aber ist bereit, mit den USA unterzugehen. Aber egal wer die Wahlen gewinnt: Das ist ein hoher Preis, um die deutschen Exportvorteile zu wahren und hinter dem Atomschild der USA weltweit zu expandieren. Der Preis ist zu hoch, doch wenn kein Wunder geschieht, wird Berlin ihn bezahlen.
    Der Digital-Euro und die Souveränität der EU (04.11.2020)
    EZB treibt Debatte über die Einführung einer Digitalwährung voran. Diese könnte extraterritoriale US-Sanktionen erschweren.
    FRANKFURT AM MAIN/BERLIN (Eigener Bericht) – Die Europäische Zentralbank (EZB) intensiviert die Debatte über die Einführung einer Digitalwährung und eröffnet damit Perspektiven zur Umgehung extraterritorialer US-Sanktionen. Der “Digital-Euro” soll Bargeld nicht ersetzen, aber in Zukunft an seine Seite treten; er entspräche dem Trend zum bargeldlosen Bezahlen, der in den vergangenen Jahren stärker wurde und in der Coronakrise zusätzlich an Schwung gewinnt. Wie der Digital-Euro konkret gestaltet sein soll, ist noch unklar. Digitalwährungen werden in mehreren Ländern längst entwickelt; im Oktober wurde beispielsweise auf den Bahamas der “Sand Dollar” eingeführt. Rasche Fortschritte macht insbesondere China, das im Oktober einen ersten größeren Testlauf in der südchinesischen High-Tech-Metropole Shenzhen gestartet hat. Während die EZB nun aufzuholen sucht, weisen deutsche Experten darauf hin, dass der Digital-Euro wohl überwiesen werden kann, ohne – wie Finanztransfers mit Hilfe des internationalen Zahlungssystems SWIFT – von Dritten überwacht zu werden. Damit erschwert er die Durchsetzung von US-Sanktionen.
    Trend weg vom Bargeld
    Eines der Motive, die Einführung einer digitalen Währung in der Eurozone verstärkt zu diskutieren (“Digital-Euro”), liegt im Rückgang der alltäglichen Nutzung von Bargeld als Zahlungsmittel. Wurden laut Angaben der Europäischen Zentralbank (EZB) im Jahr 2016 in der Eurozone noch gut 79 Prozent aller Zahlungen im Einzelhandel in bar getätigt, so waren es drei Jahre später nur noch 73 Prozent.[1] Die Coronakrise hat die Entwicklung in diesem Jahr weiter beschleunigt. So zeigt eine Untersuchung, dass der Anteil der Konsumenten, die am liebsten in bar zahlen, in zehn ausgewählten EU-Ländern von 43 Prozent im Jahr 2018 auf heute 37 Prozent gefallen ist. Selbst in Deutschland, wo Bargeld ein im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohes Ansehen genießt, ist der Anteil derjenigen, die Barzahlungen vorziehen, seit 2018 gesunken – von 61 auf 56 Prozent.[2] Zu Kartenzahlungen kommen mittlerweile mobile Digitalzahlungen per Smartphone hinzu; diese ziehen in Deutschland inzwischen 6, in den zehn untersuchten EU-Staaten 12 Prozent der Bevölkerung vor. Dabei liegt Europa weit hinter China zurück: Dort zahlen inzwischen rund 57 Prozent der Bevölkerung mit dem Handy.
    Wie Bargeld, nur digital
    Wie der künftige Digital-Euro konkret gestaltet sein soll, steht noch nicht fest. Klar ist bislang nur, dass er das Bargeld nicht ablösen, sondern an seine Seite treten soll. Klar ist zudem, dass er – wie das Bargeld – von der Zentralbank ausgegeben werden soll; man wird einen Digital-Euro nicht nur besitzen, sondern ihn, ganz wie eine Münze, direkt an einen Verkäufer weitergeben können, von dem man eine Ware erstehen will. Das unterscheidet den Digital-Euro vom Buchgeld (Giralgeld), das man auf seinem Bankkonto hat und von dort per Karten- oder Onlinezahlung rechnerisch auf ein anderes Konto überträgt.[3] Entsprechend wird der Digital-Euro bestimmte Anforderungen erfüllen müssen; so soll er mindestens genauso fälschungssicher sein wie die gängigen Banknoten. Es gilt auch darüber hinaus zahlreiche technische Details zu klären; so ist zu entscheiden, ob man mit dem Digital-Euro auch bezahlen kann, wenn man keinen Internetzugang hat, und wenn ja, wie dies geschehen soll. Vieles ist ungewiss.
    “Sand Dollar”, “Digital Ruble”, “E-krona”
    Dabei ist die EU in Sachen Digitalwährung spät dran. Weit fortgeschritten sind etwa die Bahamas. Der Karibikstaat hat bereits im vergangenen Jahr begonnen, eine eigene Digitalwährung (“Sand Dollar”) in einem Pilotprogramm in seinen Provinzen Exuma und Abaco zu testen; im Oktober ist er dazu übergegangen, den Sand Dollar landesweit einzuführen. Man kann die offiziell von der Zentralbank emittierte Währung im Verhältnis eins zu eins mit der Landeswährung, dem Bahama-Dollar, tauschen, der seinerseits im Verhältnis eins zu eins an den US-Dollar gekoppelt ist.[4] In Kürze will auch Kambodscha eine Digitalwährung einführen (“Bakong”), die bereits seit Juli 2019 getestet wird. Am 13. Oktober hat die russische Zentralbank mitgeteilt, ausführliche Planungen für die Einführung eines “Digital Ruble” zu starten; ein konkreter Zeithorizont ist freilich noch nicht bekannt.[5] In Europa ist Schweden, das seine eigene Währung, die Krone, behalten hat, seit Februar 2020 mit einem Pilotprojekt befasst, das zunächst bis Februar 2021 fortdauern soll.[6] Die “E-krona”, erklärt Zentralbankpräsident Stefan Ingves, sei wie “Bargeld, angepasst an die heutige Zeit”.[7]
    “E-Yuan”
    Erhebliches Gewicht hat jedoch vor allem, dass China mit der Einführung einer Digitalwährung (“E-Yuan”) voranprescht. Beijing hat bereits im Jahr 2014 mit den ersten Überlegungen in der Sache begonnen und seine Aktivitäten im vergangenen Jahr beschleunigt, als Facebook die Einführung seiner Kryptowährung Libra offiziell in Aussicht stellte. Dieses Jahr sind erste Tests angelaufen; zunächst wurde der E-Yuan im Sommer an einige Mitarbeiter staatlicher Konzerne ausgezahlt, bevor im Oktober ein größerer Testlauf im südchinesischen Shenzhen startete, der High-Tech-Metropole, in der unter anderem die Telekomkonzerne Huawei und ZTE ihren Sitz haben. Geplant ist, dass die chinesische Zentralbank den E-Yuan an die vier großen Staatsbanken ausgibt, über die sie dann an die Nutzer verteilt werden sollen; dies gilt als wünschenswert, um das bestehende Bankensystem nicht zu schädigen.[8] Als mögliches Datum für die Einführung der Digitalwährung wird zuweilen das Jahr 2022 genannt.
    2025 oder später
    Inzwischen hat auch die EZB die Debatte über die Einführung einer Digitalwährung, des “Digital-Euro”, intensiviert. Anfang Oktober hat sie eine gut 50 Seiten starke Untersuchung zum Thema vorgelegt.[9] Mitte Oktober hat sie ein offizielles Konsultationsverfahren gestartet, mit dem Experten und Unternehmen der Zahlungsbranche in die Debatte integriert werden sollen. Darüber hinaus sind erste Tests eingeleitet worden, um die technischen Optionen im Zusammenhang mit dem Digital-Euro zu eruieren. Am Wochenende hat EZB-Präsidentin Christine Lagarde jetzt auch die Bevölkerung dazu aufgerufen, sich im Rahmen einer Onlineumfrage der Zentralbank an der Diskussion zu beteiligen; damit bindet die EZB die Öffentlichkeit ein. Die Entscheidung über die Implementierung der Digitalwährung sowie gegebenenfalls über die konkreten Modalitäten soll spätestens Mitte kommenden Jahres getroffen werden. Für die tatsächliche Einführung des Digital-Euro wird in der Branche ein Zeitpunkt ab 2025, wahrscheinlich aber später genannt.
    Schlag gegen US-Sanktionen
    Befeuert werden die Planungen – zusätzlich zu dem Bestreben, nicht noch weiter vor allem hinter China zurückzufallen – von geostrategischen Erwägungen. Diese knüpfen daran an, dass etwa die extraterritorialen Sanktionen der Vereinigten Staaten auch deswegen durchsetzbar sind, weil die US-Administration über das internationale Zahlungssystem SWIFT die Geldflüsse weltweit beobachten kann. Zahlungen, die mit Hilfe von Digitalwährungen getätigt werden, könnten dies unmöglich machen, heißt es: “Ein digitaler Euro könnte damit Europas Souveränität bei der Zahlungsinfrastruktur ausbauen” – das nicht zuletzt auch “mit dem Ziel, die Widerstandsfähigkeit europäischer Handelsbeziehungen gegen Sanktionen zu vergrößern”.[10]
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    Berg-Karabach: Moskau sichert Armenien Hilfen zu
    Moskau. Moskau hat Armenien im Konflikt um die Südkaukasus-Region Berg-Karabach seine Unterstützung zugesagt. »Russland wird Jerewan alle notwendige Unterstützung leisten, falls es direkt auf armenischem Territorium zu Auseinandersetzungen kommt«, erklärte das russische Außenministerium in Moskau am Sonnabend. Zuvor hatte der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan den russischen Präsidenten Wladimir Putin offiziell um Hilfe gebeten. Paschinjan habe Putin um den Beginn »dringender Konsultation« gebeten, teilte das Außenministerium in Jerewan am Sonnabend mit. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region war Ende September erneut entbrannt. (AFP/jW)
    Truppen rücken vor
    Berg-Karabach: Baku setzt Offensive fort. Russland reagiert zurückhaltend auf armenisches Hilfsgesuch
    Von Reinhard Lauterbach
    Im Krieg um die Kaukasusregion Berg-Karabach zwischen Aserbaidschan und Armenien sind Aserbaidschans Streitkräfte offenbar auf dem Vormarsch. Beide Seiten verbreiten regelmäßig Meldungen über eigene Erfolge, die aber nicht zu überprüfen sind. Als Indiz kann aber gelten, dass der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan eine dringende Bitte um militärische Unterstützung an Russland sandte und der Präsident der international nicht anerkannten Republik Arzach, Arajik Harutjunjan, einräumte, dass die Aserbaidschaner nur noch wenige Kilometer vor der strategisch wichtigen Stadt Schuscha stünden.
    Rhetorik verschärft
    Die Stadt liegt auf 1.500 Meter Höhe an der einzigen Verbindungsstraße zwischen Karabach und Armenien, die sich in Serpentinen durch den »Latschin-Korridor« zieht. Sollte es Bakus Truppen gelingen, diese Straße abzuschneiden, wäre das umkämpfte Gebiet eingekesselt. Den Großteil der 1994 von Armenien besetzten aserbaidschanischen Regionen in diesem Korridor hat Aserbaidschan offenbar inzwischen zurückerobert.
    Trotz einer in den russischen Medien erkennbaren Sympathie für die armenische Seite reagierte die Regierung in Moskau ausweichend auf den Hilferuf. Das Außenministerium bestätigte am Wochenende, dass Jerewan die Bündnisklausel des Vertrags über kollektive Sicherheit von 1992 anrufen könne – aber erst wenn der Krieg die Grenzen Armeniens überschreite. Dies ist bisher offenbar nicht der Fall. Die russische Botschaft in Jerewan dementierte auch Meldungen, wonach ein provisorischer Stützpunkt russischer Truppen an der Grenze zwischen den beiden Ländern angegriffen und russische Soldaten getötet worden seien. Die Einrichtung des Postens – faktisch ein Zeltlager unter russischer Fahne – war vor etwa zwei Wochen von armenischer Seite gemeldet und als Warnung Moskaus an Aserbaidschan interpretiert worden, den Krieg nicht nach Armenien zu tragen.
    Unterdessen verschärfen beide Kriegsparteien die Rhetorik. Paschinjan erklärte schon vor drei Wochen in einem offenkundigen Versuch, Russland schon zu einer Intervention zu drängen, im Kaukasus habe der dritte Weltkrieg begonnen. Dadurch, dass die Türkei dschihadistische Kämpfer aus Syrien in den Kaukasus geschafft habe, bestehe die Gefahr eines Terrorhotspots in relativer Nähe zur Südgrenze Russlands. Auf aserbaidschanischer Seite erklärte Präsident Ilcham Alijew, sein Land kämpfe gegen den »armenischen Faschismus« und für die »Vertreibung des Feindes von seiner heiligen Erde«.
    Parallel dazu erklärte Alijews Berater Hikmet Hadschijew laut Süddeutscher Zeitung vom Sonntag, sein Land habe keine Rachegelüste gegenüber der armenischen Zivilbevölkerung. Niemand bestreite deren Recht, in Berg-Karabach wohnen zu bleiben – als Staatsbürger Aserbaidschans. Hadschijew räumte ein, dass der Weg zur »ethnischen Versöhnung« lang und schwierig sein werde, aber sein Land werde nach einem Sieg durchzusetzen versuchen, dass die armenische Bevölkerung keinen Repressalien ausgesetzt wird.
    Die nach seinen Angaben 800.000 Aserbaidschaner, die in den neunziger Jahren von der armenischen Seite aus der Pufferzone vertrieben worden seien, müssten nach Behebung der Schäden aus Krieg und Besatzung in ihre Heimatorte zurückkehren können. Tatsächlich sind die damals von Armenien eroberten Teile Aserbaidschans heute weitgehend unbewohnt.
    Aufruf zur Feuerpause
    Russland erneuerte seinen Appell an beide Kriegsparteien, das Feuer einzustellen und wieder zu verhandeln. Der Aufruf klang allerdings etwas routinemäßig. Das hat seinen Grund. Die dritte Waffenruhe, die aktuell gerade ignoriert wird, hatte nicht Russland vermittelt, sondern US-Präsident Donald Trump. Ein Erfolg genau dieses Vermittlungsversuchs liegt nicht im Interesse Moskaus.
    Inzwischen hat Israel, einer der bedeutenderen Waffenlieferanten Aserbaidschans, die Lieferung humanitärer Hilfsgüter nach Berg-Karabach angeboten. Paschinjan wies dieses Angebot in scharfer Form zurück: Es sei ein »Hohn«, erst Aserbaidschan mit Drohnen auszustatten, die armenische Ortschaften beschössen, und dann mit humanitärer Hilfe zu kommen.

  89. falls es direkt auf armenischem Territorium zu Auseinandersetzungen kommt

    D.h., Berg-Karabach ist von Armenien aufzugeben.

  90. Dass Trump ein schlechter Schauspieler seiner selbst gewesen sei – so fasst sich anscheinend die aktuelle Weltsicht der modernisierten kritischen TheoretikerIn Judith Butler zusammen.
    Manch ein/e LeserIn wird noch Assoziationen an Butlers Adorno-Preis oder an ihre assoziativ verschwurbelten Gender-Studies haben, deren [un]kritischer Gestus inzwischen ja eher zum mainstream (‘mit zig sozialen GeschlechterInnen bei facebook’) kenntlich geworden ist…
    https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/ist-die-show-fuer-trump-vorbei

  91. Na immerhin nennt sich sich Leser (noch) nicht LeserIN und zeigt in seinem Namen wenigstens, dass hier eine Funktion bezeichnet wird und kein Geschlecht auch wenn er das im Text, vielleicht als Verbeugung vor der großen Judith – keine Ahnung, dann wieder vergisst.
    Die geschlechtergerechte Sprache ist so wie der Feminismus im Ganzen konstituiert ist. An allem und jedem ist nur eines interessant, wie kommt das Geschlecht bzw. die Frau in allem vor, auch wenn das Geschlecht gar nicht Thema ist. Das ist schon wahnhaft, wenn an jeden Scheiß ein IN oder INNEN angehängt wird. Als würde es immer ums Geschlecht gehen. Das ist wie ein Querschläger im Gedankengang. Da wird igendein Inhalt zum Ausdruck gebracht und dann grätscht von der Seite ein INNEN ins Bewusstsein und zwingt einen dazu “AHA-Geschlechtergerecht soll’s zugehen laut Autor” zu denken. Überall eine kleine gedankliche geschlechtergerechte Duftmarke setzen, obwohl das doch angeblich Sache der Männer ist.
    “Als Pose ist die Drohung, die Wahl zu stoppen oder für nichtig zu erklären, eine Art Schauspiel – geschrieben, um von seiner Anhänger-Basis konsumiert zu werden.”
    Nein das ist kein Schauspiel, das meint der Ernst. Nach seiner Meinung ist er der Sieger und wenn er nicht der Sieger ist, dann liegt das nicht daran, dass er ganz einfach verloren hat (bzw. psychologisch überhöht, er ein Verlierer ist), sondern daran, dass betrogen wird, dass Stimmen geklaut werden, dass nicht richtig ausgezählt wird, dass Briefwahlstimmen auch ohne Poststempel zählen und zu spät eingehen, dass zu lang ausgezählt wird, dass Briefwahl überhaupt zugelassen wird usw. Das ist ein Muster bei ihm, Trump lebt in dem Wahn, dass er der Größte ist und wenn was schiefgeht dann sind immer andere schuld, die natürlich die bad guys sind.
    “Los geht’s, Sleepy Joe!” Wenn ihr das mal nicht im Halse stecken bleibt. Da merkt man welch geistes Kind sie ist. Für einen dritten Weltkrieg oder die eine oder andere Metzelei wird sich auch Sleepy Joe nicht zu schade sein.

  92. Zur Gender-Theorie der J. Butler.
    Dass geschlechtlich abweichende (schwule oder queere) Selbst- und Fremdbilder nicht genügend in ihrer angeblich aufmüpfigen “Diversität” hierzulande gewürdigt würden, weil alles dem Weltbild des Patriarchats und seiner Geschlechterrollen-Konstruktion subsumiert würde – in dieser Konstruktion ging es der Butler nie um die Kritik der Funktionalität der modernen bürgerlichen Familienkonstruktion für den kapitalistischen Staat und für die Ausbeutung, also für das Personal Stellen fürs Kriegführen, fürs Wirtschaften und so für die diversen nationalen Ausbeutungsgesellschaften des kapitalistischen Weltsystems. Daran wurde stattdessen die sachfremde Auskunft drangeklebt, bei deren Funktionieren ginge es höchst eigentlich immerzu vor allem um das Geschlecht: Um das ‘soziale Geschlecht’.
    Die tatsächlich ja nach wie vor vorfindlichen Geschlechterrollen (vgl. die Berichte über die proletarische Lockdown-Bewältigung im Frühjahr in der BRD) – das sei gegen Butlers Theorie eingewandt – haben also nicht den Mangel, dass sie zu eindimensional und zu wenig divers ausgefallen wären. Sondern dass sie Anno 2020 den kapitalistischen Alltag der Lohnarbeiterklasse für diese aushaltbar machen sollen. Dazu taugen dann nämlich sowohl Schwulenehen als auch Butlers Multi-Geschlecht-WGs. Und fürs Elitepersonal des Kapitalismus gilt das augenscheinlich natürlich gleichfalls. Auch hier waren hierzulande die GRÜNEN Vorreiter kapitalistischer Modernisierungen des Familienrechts und modernerer betrieblicher und staatlicher Personalbewirtschaftung. – Also von wegen ‘aufmüpfig’…
    Wie Trump mit seiner vermutlichen Wahlniederlage umgeht, das wird von Butler gleichfalls als Folge seines männlich verstockten Selbstbildes behauptet. Dass Trump die Ehre seiner Untertanen als Teil der US-Größe gewürdigt hat, um so vor allem an deren Betätigung als kapitalistische Produktivkraft interessiert zu sein – die Guten halten auch jede Pandemie aus – diese patriotische Beweihräucherung der US-Ausbeutung, die die Untertanen pur auf ihre Funktionalität als Ausbeutungsmaterial festlegt und diese würdigt, das ist der Judith Butler völlig wurschtegal.
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/praesident-weltmacht-schwoert-aufs-proletariat

  93. “Sondern dass sie Anno 2020 den kapitalistischen Alltag der Lohnarbeiterklasse für diese aushaltbar machen sollen.” So wie der Feminismus in seiner überwiegenden Mehrheit am Kapitalismus nur eines schlimm findet, dass die Frau an der bürgerlichen Konkurrenz nicht gleichberechtigt teilnimmt. Das sind die affirmativsten Socken wo gibt, gleichzeitig kommen sie sich noch besonders kritisch vor und bekommt diesen Ehrentitel der progressiven kritischen Modernität auch noch vom Mainstream bestätigt.
    “Und fürs Elitepersonal des Kapitalismus gilt das augenscheinlich natürlich gleichfalls.” Genau. Dass Frauen als Niedriglöhner benutzt werden ist für sie ganz genau das selbe wie zu wenig Frauen in den Führungsetagen von Politik und Wirtschaft. Beides Ausdruck des Patriarchats oder des strukturellen Sexismus oder so. Die Begriffe ändern sich.

  94. “Leading from behind”, so lautete die Devise für den Führungsanspruch der USA unter Obama in der westlichen Militärpolitik. Die Alliierten sollten z.B. Libyen oder Syrien bekriegen, aber eben im Interesse und unter Oberaufsicht der USA.
    Über Tony Blinken, möglicher?/vermutlicher?/ neuer nationaler Sicherheitsberater einer Biden-Regierung, wird vermeldet:
    “Blinken scheint der Ansicht zu sein, dass es alleine an den USA liegt, die Verantwortung für das Weltgeschehen zu übernehmen: “Was die Führung angeht, ob es uns gefällt oder nicht, so organisiert sich die Welt einfach nicht selbst. Und bis zu dieser (Trump)-Regierung hatten die USA eine führende Rolle in der globalen Ordnung gespielt, indem sie geholfen haben, die Regeln festzulegen, die Normen zu schaffen und die Institutionen zu beleben, die die Beziehungen zwischen den Nationen regeln. Wenn wir uns nicht engagieren, wenn wir nicht führen, dann werden wahrscheinlich ein oder zwei Dinge geschehen. Entweder versucht ein anderes Land, unseren Platz einzunehmen – aber wahrscheinlich nicht in einer Weise, die unseren Interessen oder Werten förderlich ist -, oder niemand tut es. Und dann entsteht Chaos oder ein Vakuum, das durch schlechte Dinge gefüllt wird, bevor es durch gute Dinge gefüllt wird. So oder so, das ist schlecht für uns”. Blinken scheint auch Bidens pro-israelische Agenda zu bestimmen.”
    https://www.heise.de/tp/features/Bildet-Joe-Biden-ein-Kriegskabinett-4949870.html
    Diese Darstellung von Mariamne Everett schließt wie folgt:
    “Die Rückkehr einer solchen Politik unter den gegenwärtigen verschärften Umständen könnte uns eine Regierung bringen, die noch größere Risiken akzeptiert, als die gegenwärtige Regierung. Vor allem in Bezug auf den Beginn neuer Kriege.”

  95. Die Erwartungen der Börse skizziert Stephan Kaufmann:
    “(…) Nun zeichnet sich ein Sieg Bidens ab, gleichzeitig dürften die Republikaner die Mehrheit im Senat verteidigen. Dies verhindert laut Commerzbank ein »Durchregieren« Bidens. Folge: »Der von vielen Demokraten propagierte radikale Politikwechsel wird nicht stattfinden.«
    Auf der einen Seite dürfte damit das von den Demokraten geforderte große Konjunkturpaket nicht Wirklichkeit werden. Sie hatten zuletzt weitere Hilfen in Höhe von bis zu 3000 Milliarden Dollar gefordert, um Unternehmen und Haushalte zu unterstützen und Investitionen zu finanzieren. Sie scheiterten aber an den Republikanern, die maximal 2000 Milliarden boten. Dieser Gegensatz dürfte sich verschärfen, sollte Biden gewinnen: »Die Republikaner werden in ihrer Rolle als Opposition sehr rasch die Gefahren übergroßer Staatsdefizite wieder entdecken und Ausgabenprogrammen der Regierung der Demokraten einen Riegel vorschieben«, prognostiziert die Commerzbank. Allerdings: Ein Paket wird es dennoch geben, wenn auch nicht so groß wie geplant. Die Schweizer Investmentbank UBS erwartet einen neuen »fiskalischen Schub spätestens im Januar 2021«.
    Unklar ist damit, was aus Bidens angestrebtem, großen Infrastrukturprogramm und seinen ehrgeizigen Plänen zum Schutz der Umwelt wird. Ein nur knapper Sieg gäbe ihm »kein Mandat für den von Teilen der Partei propagierten radikalen Kurswechsel«, so die Commerzbank. (…)”
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144107.us-wirtschaft-gut-fuers-geschaeft.html?sstr=Stephan%20Kaufmann

    Die Erwartungen der dt. Regierung skizziert die jw online aktuell
    https://www.jungewelt.de/artikel/390438.wahlen-in-den-usa-nie-wieder-allein.html

  96. Biden ist anti-russischer eingestellt als Trump. Ich bin neugierig, wie das mit North Stream II weitergeht.

  97. “Ich bin neugierig, wie das mit North Stream II weitergeht.”
    Na gar nicht, ist doch jetzt schon tot. Außer Rußland will ja eh keiner mehr die Pipeline haben und die USA sind expliziter kompromißloser Gegner des Projekts.

  98. »Nie wieder allein«
    Olaf Scholz macht Joseph Biden ein Angebot
    Von Arnold Schölzel
    Kurz vor 17.30 Uhr MEZ berichteten CNN und andere Medien am Sonnabend, Joseph Biden habe die 20 Wahlleute Pennsylvanias gewonnen und werde damit nächster US-Präsident. Bereits um 19.15 Uhr veröffentlichte Der Spiegel im Internet eine lange Eloge des »Vizekanzlers der Bundesrepublik Deutschland« und SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz auf den offiziell noch nicht zum „gewählten Präsidenten“ erklärten Kandidaten. Überschrift: »Ich bin erleichtert«. Im ersten Sätzen dehnt Scholz seinen Überschwang auf die Menschheit aus: »Amerika hat gewählt, die Welt atmet auf.« Solche Verwechslungen des eigenen Ich mit der Welt haben in Deutschland Tradition.
    Der Text aus dem Stehsatz ist dementsprechend ein Bittgebet um eine Art Kriegswendung durch Gottes Fügung, wie einst 1870 am Tag von Sedan im Feldzug gegen Frankreich.
    Die Berliner Freunde des Transatlantismus, für die Scholz spricht, dürften wissen, wer den Daumen über Donald Trump gesenkt hat und warum. Der Mann im Weißen Haus hat offenbar das ihm aufgetragene Pflichtprogramm nicht erfüllt. Er hat zwar nicht, wie 2016 angekündigt, auch nur einen der laufenden US-Kriege beendet, ließ aber die Gelegenheit zu größeren verstreichen. So kündigte er zwar das Atomabkommen mit dem Iran, führte Teheran gegenüber aber nur eine Politik am Rand des offenen Konflikts. Vor allem aber: Wirtschaftlich hat er gegenüber China keinen Boden gut gemacht, im Gegenteil. Das besagen die jüngsten Wirtschaftszahlen. Die Pleite der Frackingindustrie konnte er nicht verhindern, obwohl er alles dafür tat, dass sie ganze Landstriche verseuchen konnte.
    Deutliches Indiz dafür, dass ihm die herrschende Klasse der USA schlechte Noten erteilte, war sein Zusammenstoß mit dem Medienmogul Rupert Murdoch vor einigen Wochen. Dessen rechter Krawallsender Fox News, neben Twitter und Facebook die wichtigste innere Manipulationsmaschine, ging plötzlich auf Distanz zu Trump. Als Fox News am Mittwoch vorzeitig erklärte, Biden habe Arizona gewonnen, kam dies der amtlichen Bescheinigung von Trumps Niederlage gleich. Der verstand das jedenfalls so.
    Mit Biden rückt ein Mann an die Spitze des globalen Imperialismus, der als Senator seit 1972 für sämtliche Kriege der USA in den vergangenen 50 Jahren steht. Sofort nach dem Untergang der Sowjetunion trat er für den Einsatz von Gewalt zur Zerschlagung Jugoslawiens ein und holte 2014 faktisch die Ukraine »heim« ins Imperium. Biden hat eine besondere Neigung zu einem Europa ohne Sozialismus.
    Das macht die Scholzsche Erleichterung verständlich und der Bundesfinanzminister fängt im Eifer sogar an, Klartext zu sprechen: Mit Biden könne ein »neues Kapitel der Zusammenarbeit« aufgeschlagen werden. Die werde »in einer Welt wachsender Unsicherheiten dringend nötig.« Dabei sei Europa, fährt Scholz fort, »der Handlungsrahmen für unser Land. Dies ist nicht nur Lehre aus unserer Geschichte, die uns zu einem ›nie wieder allein‹ in unserer Außenpolitik mahnt.« Es sei auch die Einsicht, dass die bipolare Welt der Nachkriegszeit Geschichte sei. Im Umkehrschluss heißt das: Was »wir« früher allein versucht haben, daraus kann gemeinsam noch etwas werden. Unter deutscher Führung »Europas«, versteht sich. Ein rechtes Scholz-Wort zur rechten Zeit, fast schon ein deutsches Kanzlerprogramm.
    Ob im übrigen Trump ein Vorbote der faschistischen Tendenz in den USA war, weiß noch niemand. Die aggressivste Fraktion des US-Imperialismus kann sich wieder anders entscheiden als bei diesen »Wahlen«. Ein Biden ist jedenfalls kein Hindernis. Die Welt kann froh sein, wenn er nicht Beschleuniger wird.
    “Europa stark machen” (06.11.2020)
    Berliner Regierungs- und Oppositionspolitiker fordern in Reaktion auf die US-Wahl mehr globale Macht für die EU.
    WASHINGTON/BERLIN (Eigener Bericht) – Berliner Regierungs- und Oppositionspolitiker fordern in Reaktion auf die Präsidentenwahl in den USA vereint eine Stärkung der globalen Macht der EU. Man müsse jetzt “Europa stark machen”, erklärt Bundesfinanzminister Olaf Scholz. “Wir” Europäer sollten “auf der Weltbühne selbst unseren Platz reklamieren”, verlangt der FDP-Vorsitzende Christian Lindner. Laut Bayerns Ministerpräsident Markus Söder muss die EU künftig “eine eigenständige Position” entwickeln – “mehr auf Augenhöhe als bislang mit den USA”. Experten nehmen bereits – ganz unabhängig davon, ob Donald Trump oder Joe Biden die Wahl gewinnt – spezielle Konfliktfelder in den Blick. So urteilt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Ex-Airbus-Chef Thomas Enders, “transatlantisch” werde in wirtschaftlichen Fragen “weiter mit harten Bandagen gekämpft”. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), geht auch im Falle eines Biden-Wahlsiegs nicht davon aus, dass Trumps Strafzölle oder die Sanktionen gegen Nord Stream 2 “sofort zurückgenommen” werden.
    Mehr Gewicht in die Waagschale
    Die Bundesregierung hatte bereits die US-Präsidentenwahl im November 2016 zum Anlass genommen, einen gestiegenen deutschen Machtanspruch zu markieren. So hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer ersten öffentlichen Reaktion auf den Wahlsieg von Donald Trump erklärt, sie “biete” dem nächsten US-Präsidenten “eine enge Zusammenarbeit an”, dies allerdings zugleich von Bedingungen – nämlich der Einhaltung “gemeinsame[r] Werte” – abhängig gemacht: eine Äußerung, die eine neue deutsche Eigenständigkeit im transatlantischen Verhältnis betonen sollte.[1] Parallel hatte der Koordinator der Bundesregierung für die transatlantische Zusammenarbeit, Jürgen Hardt (CDU), geurteilt, nach der Wahl bestehe eine “Notwendigkeit für uns Europäer und speziell für uns Deutsche”, künftig mehr Gewicht “in die Waagschale zu werfen”. Wenig später äußerte die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen, “auf Deutschland als große Nation in der Mitte Europas” komme nach der US-Wahl “eine zweifach wichtige Rolle zu”: Es gelte nicht nur “Brücken zur neuen Administration Trump zu bauen”, sondern auch, in der EU abgestimmt, “selbstbewusst die eigene Position” zu vertreten: Das biete eine Chance für “ein ausgewogeneres Verhältnis zu den USA”.[2]
    “Unser Platz auf der Weltbühne”
    Ähnlich äußern sich deutsche Politiker nun erneut, dies erklärtermaßen unabhängig von der Frage, ob Trump oder Joe Biden letztlich die Wahl gewinnt. So urteilte Bundesfinanzminister Olaf Scholz bereits am Mittwoch, man müsse jetzt “Europa stark machen”: Es gehe “um europäische Souveränität”.[3] Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner erklärte, “wir” Europäer sollten nun “auf der Weltbühne selbst unseren Platz reklamieren”. Der CSU-Vorsitzende und Ministerpräsident Bayerns, Markus Söder, forderte: “Europa muss viel stärker werden, wirtschaftlich, technologisch, auch sicherheitspolitisch”; letztlich gelte es “eine eigenständige Position … zu entwickeln” – “mehr auf Augenhöhe als bislang mit den USA”.[4] Die EU müsse “mit Hochdruck daran arbeiten, ein entscheidungs- und handlungsfähiger Akteur zu werden”, verlangt zudem der Präsident der einflussreichen Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Thomas Enders: “Europa solle sich “endlich seiner eigenen Stärke bewusst” werden. “Die geostrategische Initiative der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen” sei dazu “ein erster Schritt”.[5]
    Mit harten Bandagen
    Deutsche Außenpolitikexperten nehmen dabei bereits erste konkrete Konflikte mit der künftigen US-Administration in den Blick. So hält etwa Claudia Schmucker, Leiterin des DGAP-Programms “Geoökonomie”, fest, ganz “unabhängig” von der Person des künftigen US-Präsidenten müssten “Deutschland und Europa mit einer Handelspolitik rechnen, die sich stark an den Interessen der USA orientiert”; dies gelte beispielsweise für das Bestreben, die Produktion in die USA zurückzuverlagern, sowie für “Buy-American-Bestimmungen”.[6] Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, erklärt, er rechne auch bei einem Sieg von Biden “nicht damit”, dass etwa die Strafzölle “sofort … zurückgenommen” würden; selbst bei den US-Sanktionen gegen Nord Stream müsse man daran erinnern, dass sie vom “demokratisch dominierten Repräsentantenhaus” initiiert worden seien.[7] DGAP-Präsident Enders, als früherer Airbus-Vorstandsvorsitzender mit Handelskonflikten mit den USA gut vertraut, sagt voraus, “transatlantisch” werde, was die Wirtschaft angehe, “auch weiter mit harten Bandagen gekämpft” – schließlich ließen sich von Trump kritisierte “Fakten wie die unausgeglichenen Handelsbilanzen” zwischen den USA und der EU bzw. Deutschland “nicht einfach wegdiskutieren”.[8]
    Tech-Governance
    Mit Differenzen rechnen Experten auch auf dem Feld der Technologie. Erst kürzlich hieß es in einem Strategiepapier einer “Transatlantic Task Force”, die Ende 2019 vom German Marshall Fund of the United States und der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung initiiert worden war: “Technologische Innovation nährt wirtschaftliches Wachstum und ist seit langer Zeit die Grundlage nationaler Macht und globalen Einflusses”.[9] Jetzt konstatiert Tyson Barker, Leiter des DGAP-Programms “Technologie und Außenpolitik”: “Die technologische Vorherrschaft der USA ist sowohl für Trump als auch für Biden der Schlüssel für die geostrategische Vormachtstellung der USA gegenüber China.”[10] Trumps Plan, Chinas technologische “Abkopplung” (“Decoupling”) zu erzwingen, ist bekannt; er wird von der deutschen Wirtschaft eindeutig abgelehnt (german-foreign-policy.com berichtete [11]). Allerdings werde auch Biden, der für weltweit gemeinsame Regeln für “neue Technologien wie KI oder Cloud- und Quantencomputing” eintrete und der “Vision einer demokratischen Tech-Governance” folge, “frühzeitig die Hand nach Deutschland ausstrecken”. Das verheiße Konflikte – schließlich strebe die EU ihrerseits “nach digitaler Souveränität”. Man könne sich also “auf Spannungen mit Washington einstellen”, ganz unabhängig davon, wer künftig “im Weißen Haus sitzt”.
    Ein transatlantischer New Deal
    Außenminister Heiko Maas hatte bereits vor der US-Präsidentenwahl einen “Neuanfang in der transatlantischen Partnerschaft” gefordert und eine stärkere Berücksichtigung der Interessen Deutschlands und der EU verlangt: “Partnerschaft” dürfe “nicht blinde Gefolgschaft” bedeuten.[12] Am Wochenende kündigte Maas außerdem an: “Wir werden schnell nach der Wahl mit Vorschlägen auf Washington zugehen – und einen transatlantischen ‘New Deal’ vorschlagen”.[13] Genaueres ist dazu noch nicht bekannt. Allerdings regt sich – nicht zuletzt mit Blick auf das US-Wahlgeschehen – Unmut selbst in den Berliner Regierungsparteien. “Es gibt ernstzunehmende Stimmen auch in Europa, dass wir uns stärker abkoppeln müssen … von dem, was in den USA passiert”, erklärt etwa der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich: “Und zu diesen Stimmen gehöre ich auch”.[14]

  99. “Man müsse jetzt „Europa stark machen“
    Jetzt erst, ich dachte, das “muß” “man” schon seit vielen Jahren.
    „Wir“ Europäer sollten „auf der Weltbühne selbst unseren Platz reklamieren“
    Tun sie das nicht schon eine ganze Weile, wenn auch nicht mit sonderlichem Erfolg?
    “muss die EU künftig „eine eigenständige Position“ entwickeln”
    Ungefähr seit Gründung der EU, so wie es mir scheint.
    „mehr auf Augenhöhe als bislang mit den USA“
    Davon träumt Deutschland doch schon seit ungefähr 1945.
    Vor allem, weil ja offensichtlich ist,
    “„transatlantisch“ werde in wirtschaftlichen Fragen „weiter mit harten Bandagen gekämpft“
    “künftig mehr Gewicht „in die Waagschale zu werfen“
    Ja, das wollen alle europäischen Imperialisten. Nur haben sie halt herzlich wenig “Gewichte”.
    Da wäre es schon schön für sie:
    “in der EU abgestimmt, „selbstbewusst die eigene Position“ zu vertreten”
    Nur gibt es leider gar keine einheitliche Position.
    Usw., usw. Bis zum Abwinken.

  100. Alte Fronten, neuer Stil
    Mit dem Wahlsieg Joseph Bidens erhofft sich das deutsche Establishment Verbesserungen in den transatlantischen Beziehungen. Erhebliches Konfliktpotential bleibt
    Von Jörg Kronauer
    Ein Mann, ein Wort: Bereits Ende Oktober, rund zehn Tage vor der US-Präsidentenwahl, hatte Außenminister Heiko Maas (SPD) im Springer-Blatt Die Welt der künftigen US-Administration einen »Neuanfang in der transatlantischen Partnerschaft« angeboten. Jetzt hat sich Joseph Biden in der Wahl durchgesetzt, und Maas bekräftigt: »Unser Angebot steht: für einen transatlantischen Neustart, einen ›New Deal‹.« Biden habe »deutlich gemacht«, er sehe »die weltpolitische Stärke der USA im Team Play und nicht im Alleingang«; auch Berlin wolle, »dass der Westen wieder als Team spielt«: Auf dieser Basis könne man nach vier Jahren Deutschland-Bashing seitens der scheidenden Trump-Administration doch wohl wieder zusammenfinden. »Wir werden deshalb nach Abschluss der Wahl auf die dann gewählte Regierung zugehen«, kündigte Maas an.
    Kampf um Hegemonie
    Steht der Welt mit dem Personalwechsel im Weißen Haus eine neue Ära transatlantischer Geschlossenheit bevor? Zweifel sind angebracht. Zwar wird die künftige Biden-Administration wohl stärker gewillt sein, im Bündnis zu operieren, und in mancher Hinsicht Positionen vertreten, die denjenigen Deutschlands und der EU deutlich näher sind als diejenigen der Regierung von US-Präsident Donald Trump. Der President-elect teilt zum Beispiel die grundsätzliche Abneigung des scheidenden Amtsinhabers nicht, im Kampf um die globale Vorherrschaft auch internationale Organisationen zu nutzen, zum Beispiel die Welthandelsorganisation WTO. Er hat außerdem angekündigt, dem Pariser Klimaabkommen wieder beizutreten und die Vereinigten Staaten bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu machen. Nun hängt zwar einiges davon ab, ob die Republikaner die Mehrheit im Senat behalten und damit Pläne der Administration gegebenenfalls blockieren können. Dennoch zeichnet sich ab: Einige der transatlantischen Differenzen der vergangenen vier Jahre dürften schwinden.
    Andere werden freilich bleiben. Das trifft voraussichtlich auf die China-Politik zu. Auch mit einem Präsidenten Biden wird Washington den Machtkampf gegen die Volksrepublik mit allen Mitteln weiterführen. Dies entspricht, wie schon bisher, lediglich partiell deutschen Interessen. Zwar ist auch Berlin bemüht, Beijings Aufstieg wenigstens zu bremsen, ihn nach Möglichkeit sogar zu stoppen. Allerdings ist die deutsche Wirtschaft auf zentralen Feldern auf das hochprofitable Geschäft mit dem Zukunftsmarkt China angewiesen. Die Trumpsche Politik der Technologie-Entkopplung (»Decoupling«), die Biden laut dem Urteil etwa der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) fortsetzen wird, widerspricht deutschen Interessen daher fundamental. »Wir unterstützen«, was die Politik gegenüber China angehe, »nicht jede Haltung und jeden Vorstoß der Regierung in Washington«, erklärte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) bereits kurz vor der Wahl. Man solle »zur Schaffung eines wirtschaftlichen Gegengewichts zu China« kooperieren, allerdings »ohne sich der Sprache eines ›kalten Krieges‹ zu bedienen«, forderte der frühere Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), heute Vorsitzender des Vereins »Atlantik-Brücke«, Ende Oktober. Da liegt unverändert transatlantisches Konfliktpotential.
    Ähnliches zeichnet sich für die Russland-Politik ab. Biden hat Moskau bereits im September offen als »Gegner« eingestuft, während die Russland-Sanktionen der vergangenen Jahre maßgeblich vom US-Kongress unter führender Beteiligung demokratischer Abgeordneter durchgesetzt worden sind. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand einen Kurswechsel erwartet, egal, wer gewinnt« – so ließ sich unmittelbar vor der Wahl Fjodor Lukjanow zitieren, Chefredakteur der Fachzeitschrift Russia in Global Affairs und Forschungsdirektor des »Valdai International Discussion Club«. Unbeschadet der Tatsache, dass auch Berlin im Machtkampf gegen Moskau immer aggressiver vorgeht: Auch im Verhältnis zu Russland hat Deutschland kooperative Sonderinteressen, die sich exemplarisch in der Erdgaspipeline »Nord ­Stream 2« verkörpern. Auch die Sanktionen gegen »Nord Stream 2« wurden im Kongress von Demokraten vorangetrieben. Transatlantische Entspannung ist auch hier nicht in Sicht.
    »Auf Augenhöhe«
    Entsprechend verlangte Außenminister Maas schon Ende Oktober in der Welt, »Partnerschaft« dürfe »nicht blinde Gefolgschaft« bedeuten. Kramp-Karrenbauer erklärte es gleichfalls bereits vor der US-Wahl zum Ziel, die Vereinigten Staaten sollten »Europa als starken Partner auf Augenhöhe betrachten«. In einer ersten Reaktion nach der Wahl forderte Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), man müsse nun vor allem »Europa stark machen«, während der CSU-Vorsitzende und bayrische Ministerpräsident Markus Söder äußerte, »Europa« müsse jetzt »eine eigenständige Position« entwickeln – »mehr auf Augenhöhe als bislang mit den USA«.
    Unterstützt werden diese Forderungen aus der Wirtschaft. »Die deutsche Industrie wünscht sich in den transatlantischen Beziehungen einen Neustart auf Augenhöhe«, erklärte am Sonntag Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Bereits zuvor hatte etwa Ute Wolf, Finanzchefin von Evonik, einem der größten deutschen Chemiekonzerne, geäußert: »Europa ist groß, besitzt ein Gewicht in der Welt«; die deutschen Unternehmen wünschten sich, dass die EU dieses Gewicht endlich nutze. Auch aus den Thinktanks der deutschen Wirtschaft war diese Forderung zu hören. »Es gibt keine Rückkehr zur Normalität«, ließ sich Michael Hüther, Leiter des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, zitieren: Die EU solle ihre Interessen »selbstbewusster« durchsetzen, und zwar nicht nur gegenüber China, sondern auch gegenüber den USA. Hüther konnte es sich freilich nicht verkneifen, dem Mann der Worte im Auswärtigen Amt einen kräftigen Tritt vors Schienbein zu verpassen: Deutschland brauche, so befand er, »besseres außenpolitisches Personal«.
    Zukunft der NATO: Weiter auf Kriegskurs
    Wie geht’s weiter mit der NATO, wenn Joseph Biden ins Weiße Haus einzieht? Klar zu sein scheint: Biden wird deutlich stärker als Donald Trump auf das transatlantische Militärbündnis setzen. Die NATO nimmt dabei einen zentralen Platz in seinen Plänen ein, Russland weiterhin – womöglich sogar noch stärker als bisher – unter Druck zu setzen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass er den Druck auf die europäischen NATO-Staaten aufrechterhalten wird, ihren Militärhaushalt auf zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung anzuheben; dieses Ziel ist beschlossen worden, als er Vizepräsident der Vereinigten Staaten war. Noch unklar ist dagegen, ob und, wenn ja, in welchem Umfang es bei dem Abzug von US-Truppen aus Deutschland bleibt, den der scheidende Präsident eingeleitet hat. Aus Bidens Umfeld hieß es zuletzt, er werde den Schritt »überprüfen«. Johann Wadephul, für Außenpolitik zuständiger stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Bundestag, erklärt, er sehe »eine definitive Chance« auf eine Aufhebung der Abzugsentscheidung. Peter Beyer (CDU), Koordinator der Bundesregierung für die transatlantische Zusammenarbeit, rechnet hingegen allenfalls mit einer Teilrevision.
    Unabhängig davon setzt Berlin auf die Aufrüstung der Bundeswehr wie auch der Streitkräfte der europäischen NATO-Staaten insgesamt. Zwar sei man auf die »Stärkung der NATO als gemeinsames Verteidigungsbündnis« angewiesen, behauptete im Oktober Exaußenminister Sigmar Gabriel (SPD): »Wir sitzen im selben Boot.« Doch müssten auch »die Europäer selbst machtvoll agieren können«, erklärte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) ebenfalls im Oktober mit Blick auf die US-Wahl. »Europa« müsse nicht nur wirtschaftlich und technologisch, sondern »auch sicherheitspolitisch« in Zukunft »viel stärker werden«, forderte unmittelbar nach der Wahl der CSU-Vorsitzende Markus Söder. Der Zwei-Prozent-Beschluss der NATO ist für die Bundesregierung dabei taktisch vorteilhaft: Sie kann ihre eigenen Aufrüstungsvorhaben bequem hinter ihm verstecken. (jk)
    »Hier schweigt Moskau«
    Joseph Bidens Wahlsieg hat Russland erkennbar auf dem falschen Fuß erwischt. Erwartungen mehr als gedämpft
    Von Reinhard Lauterbach
    »Goworit Moskwa« – hier spricht Moskau. Diese beiden Worte waren im Zweiten Weltkrieg das Erkennungszeichen des sowjetischen Rundfunks. Wollte man das offizielle Echo in Russland auf den Ausgang der Präsidentenwahl in den USA ähnlich prägnant zusammenfassen, müsste man sagen: »Moltschit ­Moskwa« – hier schweigt Moskau. Die Seite des Kreml notiert für die vergangenen Tage kein Wort zum Ergebnis in den USA. Genauso auf der Seite des Außenministeriums. Regierungssprecher Dmitri Peskow brachte es am Donnerstag auf den Punkt: »Wir sollten erst einmal gar nichts kommentieren, weil alles, was wir sagen würden, doch nur wieder gegen uns gewendet würde.« Und die politische Klasse des Landes hält sich daran.
    Jedenfalls in der ersten Reihe. Das Wort haben eher die Experten. Schon Ende Oktober hatte Igor Iwanow, Außenminister Russlands von 1998 bis 2004 und heute Präsident des offiziösen Thinktanks »Russischer Rat für Internationale Beziehungen«, eingeräumt, dass sich Moskau im Zweifel lieber gewünscht hätte, dass Donald Trump wiedergewählt worden wäre. Russlands Beziehung zu den US-Demokraten sei, vorsichtig ausgedrückt, frustrierend. Biden sei, so klagte Iwanow in einem Artikel »Wahl ohne Wahl«, soweit gegangen, seinen Gegner öffentlich als »Putins Schoßhündchen« zu bezeichnen. Am Freitag zitierte die amtliche Nachrichtenagentur RIA den Senator Alexej Puschkow mit der Erwartung, dass die US-amerikanisch-russischen Beziehungen nur schlechter werden könnten. Mit Biden komme der ideologische Ansatz von Barack Obama zurück ins Weiße Haus. Als dessen damaliger Vize habe Biden die Politik der Sanktionen mit dem Ziel, Russland zu »erdrosseln« mitgetragen, man müsse mit einer »Intensivierung des Kalten Krieges« rechnen.
    Timofej Bordatschow, Programmdirektor des ebenfalls offiziösen »Waldaj«-Diskussionsklubs, hielt dem scheidenden Trump zugute, er sei der »friedlichste US-Präsident der letzten 40 Jahre« gewesen, der keinen einzigen Krieg neu vom Zaun gebrochen habe. Vor allem aber sei er im wesentlichen berechenbar und »transaktionsfähig« gewesen. Biden dagegen sei eine »tragische Figur«, von der man nicht wisse, was von ihm zu erwarten sei. Für ein Massenpublikum bestimmte russische Medien gießen einige Häme über dessen fortgeschrittenes Alter aus, das populäre Portal lenta.ru zieht Sprachfehler und Stottern aus dem Zettelkasten und porträtiert den künftigen US-Staatschef als halben Trottel, der Gerüchte über seine Altersdemenz ausdrücklich habe dementieren lassen müssen. Aber auch bei seriösen Autoren steht die Sorge im Raum, dass im Falle, dass Biden aus gesundheitlichen Gründen im Laufe seiner Amtszeit ausfalle, seine Stellvertreterin Kamala Harris die Richtlinien der US-Politik bestimmen werde – und die hat in Russland offenbar niemand richtig auf dem Schirm.
    Als einzige eventuelle Chance durch den Biden-Sieg wird in Moskau die gestiegene Möglichkeit gesehen, mit Washington in der Rüstungskontrolle doch zu einer Verlängerung des Start-3-Abkommens zu gelangen. Diese Ruhe werde aber nicht lange anhalten, prognostiziert Bordatschow: Spätestens zur Mitte seiner Amtszeit müsse Biden den Anspruch der USA auf »Weltherrschaft« und seine »parasitäre Existenz« auf Kosten des Rests erneuern. Denn anderenfalls müssten von den Reichen höhere Steuern erhoben werden. China habe vom Sieg Bidens nichts zu befürchten, so Bordatschow; Russland dagegen bleibe nichts, als zur »Rundumverteidigung« überzugehen.

  101. @Neoprene

    Na gar nicht, ist doch jetzt schon tot.

    Die Begründung dafür bzw. das offizielle „Aus“ fehlt aber noch.
    Immerhin wurde ein Haufen Geld investiert, verschiedene Firmen waren engagiert, u.a. die österreichische ÖMV, also das ist keineswegs gegessen. Da kämen im Falle eines Stops des Projektes jede Menge Klagen auf die deutsche Regierung zu. Das alles ganz abgesehen davon, was für eine Blamage das für die angemaßte Führungsnation der EU wäre.
    Also das ist keineswegs entschieden.
    @NN
    Es ist schon beachtlich, wie die deutsche Führung die US-Wahl als eine Möglichkeit sieht, sich selber wichtig zu machen.
    Da wird es noch herbe Enttäuschungen geben.
    Ich vermute, die nächste US-Führung wird sich daran abarbeiten, Europa endgültig zu ihrem Schoßhund zu machen, im Kampf gegen Rußland und China.

  102. “das offizielle „Aus“ [von Nord Stream 2] fehlt aber noch”

    Nur wofür ist das ein Argument? Praktisch tut sich nichts mehr an der Pipeline, den “verschiedenen Firmen” ist seitens der USA der Krieg erklärt für den Fall, daß sie doch weiter machen wollten. Und ja, “was für eine Blamage das für die angemaßte Führungsnation der EU wäre”, das wird schon so sein. Aber was hat denn diese “angemaßte Führungsnation der EU” dem US-Diktum entgegengesetzt bzw. was könnte sie denn den USA überhaupt noch entgegenhalten? Also scheint mir das doch schon entschieden zu sein. Außer für Typen wie Maas natürlich.

  103. Du meinst also, North Stream II wird still und heimlich zu Grabe getragen und keiner redet mehr darüber?
    So wie ich unsere EU kenne, wird das nicht ganz so laufen, weil zu viele Interessen dran hängen.

  104. “Du meinst also, North Stream II wird still und heimlich zu Grabe getragen und keiner redet mehr darüber?”
    Natürlich nicht. Aber drüber reden und was dagegen machen können fällt halt nicht in eins.

  105. Lutz Herden hat die transatlantische Lage so kommentiert:
    “(…) in dem Maße, wie die EU den Aufstieg zum supranationalen Souverän verpasst hat, stimuliert das bei den Mitgliedern den Willen zu mehr nationaler Souveränität. Warum sonst scheitert eine synchronisierte Flüchtlingspolitik, wird die Rivalität im EU-Führungszirkel zwischen nationalen Regierungen in Paris und Berlin ausgetragen, wollen EU-Staaten heraus aus dem Geschirr rechtsstaatlicher Normierung?
    Die Vereinigten Staaten können die fehlende Kohärenz im vereinten Europa nur als Ansporn empfinden, im Konflikt um Handelsdefizite, Einfuhrzölle, Umwelt- und Sozialstandards nicht zurückzuweichen. Sie haben unter Donald Trump gezeigt, wo sie stehen – in keinem Lager, nur noch für sich selbst. Das würde sich unter Joe Biden, sollte der ein unanfechtbarer Wahlsieger sein, kaum ändern, auch wenn er demnächst wieder von der transatlantischen Brücke winkt und deren Widerlager mit versöhnlicher Semantik schmiert. Er würde Nord Stream 2 so wenig tolerieren wie Trump, er dürfte den Umbau der NATO von einer Allianz der weltweiten Aktion zur Anstalt mit begrenzter Haftung fortsetzen und in der Iran-Frage keine Kehrtwende vollziehen. US-Präsidenten fragen mittlerweile nicht mehr nach dem Ranking ihres Landes in internationalen Konflikten. Es geht um den Nutzen, den die USA daraus ziehen, wenn sie sich auf einen Konflikt einlassen oder ihn aussparen. Die von Deutschland so geschätzte Moral- und Menschenrechtsapologetik verortet dieser Pragmatismus eher als Störfaktor. (…)”
    https://www.freitag.de/autoren/lutz-herden/die-haut-am-hemd
    Leser-Kommentar: Dass die BRD und auch die EU Fans solcher Menschenrechtsapologetik sind, gerne auch Phrasen über gemeinsame verpflichtende Kima- oder Umweltpolitik im Munde führen: – Das ist gar kein Mangel der Rhetorikkünste des Herrn Maas…

  106. Nein, dem Herrn Maas mangelt es nicht an Rhetorikkünsten (nun gut, um ehrlich zu sein, mangelt es ihm daran auch) sondern es mangelt im am “Wumms”. Denn in den interantionalen Auseinandersetzungen und Konflikten geht es ja nie um Lufthoheit bei den Sprüchen, sondern um die wirkliche Lufthoheit, die ein Staat hinbekommt oder wie das Deutschland von Maas eben nicht. Und ob das nicht ein noch nicht ist, wird sich auch noch zeigen, ich bezweifele das ja bekanntlich.

  107. Die EU hat die Chance, die ihr das Beoeing-Urteil der WTO eröffnet hat, genutzt, und rechtzeitig vor der offiziellen Amts-Installation von Biden ihrerseits den USA einen Handelskonflikt hingesemmelt. Einerseits.
    https://www.tagesschau.de/wirtschaft/wto-strafzoelle-eu-usa-101.html
    Andererseits: Dass Ungarn so nebenbei verkünden kann, dass an seinem Veto das gesamte Kreditpaket und der gesamte Haushalt der EU scheitern kann, da fällt einem dann schon die Variation eines alten Mao-Spuchs ein: Diese Imperialisten führen sich zumindestens auf wie bloße Papiertiger….
    Ob Polen, Ungarn, Slowenien in den USA nach Trump noch Stützen für ihre EU-abweichende Politik finden werden, thematisiert dieser Kommentar:
    https://www.dw.com/de/abgang-des-paten-in-washington/a-55547188
    EDIT: Dass die Außenpolitik von Trump in ihrem Bestreben, trojanische Pferde in der EU zu fördern, unter Biden deswegen anders verlaufen würde, weil Biden im Wahlkampf dies oder jenes als Kontrast zu Trump hat anders verlautbaren lassen, – das ist erst einmal eine bloße Vermutung des Kommentators der DW…
    EDIT II: Dass der Spaltpilz in der EU nur durch eine dort hineinregierende auswärtige Macht, die USA, verursacht worden wäre, das ist gleichfalls eine interessierte Deutung…
    EDIT III zur NATO:
    http://nestormachno.blogsport.de/2020/10/03/imperialismus-heute-fortsetzung-3-10/#comment-40653

  108. Der Boeing-Airbus-Subventionsstreit ist ja ein ewiges Thema, ich glaube rund 16 Jahre schon. Das ist also kein neuer Handelskonflikt sondern ein schon recht lange schwelender. Und auch jetzt hat die EU-Seite ja betont, daß man immer noch reden könne und wolle. Also auch hier wird man sehen müssen, wie sich beide Seiten zukünftig positionieren. Konzilianz kann die EU jedenfalls auch in dieser Frage von Biden wohl eher nicht erwarten.

  109. Noch einmal zu den neuen Strafzöllen der EU gegen die USA
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144194.boeing-subventionen-bruesseler-liebesgruesse-an-biden.html
    Zu dem inneramerikanischen Streit
    https://tages-politik.de/Aussenpolitik/Trump-Biden_30.9.pdf
    Der Artikel guckt auf die USA mit einer europäischen Brille…
    Linke US-Amerikaner schauen in ihrer “Innenpolitik” auch noch etwas anders auf Biden:
    https://www.heise.de/tp/features/Ding-Dong-The-Witch-is-Dead-4952403.html
    https://www.counterpunch.org/2020/11/06/u-s-foreign-policy-is-a-failure-whoevers-president/

  110. @Leser

    das ist erst einmal eine bloße Vermutung des Kommentators der DW…

    Sein Wunsch! Ich würde sagen, dieser Kommentar hat den Charakter einer Beschwörung: Möge es doch so sein!

    Dass Ungarn so nebenbei verkünden kann

    „Nebenbei“ verkündet das die ungarische Regierung natürlich nicht. Zu Hause macht sie damit große Werbung für sich … Ich, Orbán, gegen den Rest der EU! – und auch in den EU-Gremien wird das als Show und Auftritt inszeniert.
    Es sind nur die Medien, die diese Peinlichkeit vom Standpunkt der EU-Einigkeit in Kurzmeldungen auf Seite 5 verbannen.

  111. Heute war eine Reportage im El País über Stepanakert. Die Stadt wird ständig bombardiert, von den mehr als 50.000 Einwohnern 2015 leben heute noch 18.000 dort, deren Evakuierung schreitet inzwischen auch voran.
    Armenien kann den Krieg nicht gewinnen. Die armenischen Truppen kämpfen größtenteils noch mit Equipment aus der Sowjetzeit, die Azerbaidschaner rücken mit dem neuesten Zeug an, Drohnen, und jeder Menge türkischer Unterstützung.
    Es ist nur eine Frage der Zeit, wann Schluß ist mit der Republik Arzach.
    Rußland ist nicht bereit, hier in die Bresche zu springen.

  112. Baku setzt sich durch
    Nach Eroberung der strategisch wichtigen Stadt Schuscha Waffenstillstand im Karabach-Konflikt. Russland schickt Friedenstruppe
    Von Reinhard Lauterbach
    Mit der Eroberung der strategisch wichtigen Bergstadt Schuscha hat Aserbaidschan am Montag den Krieg um das armenisch besiedelte Berg-Karabach (»Republik Arzach«) für sich entschieden. Noch am Abend unterzeichneten die beiden Kriegsgegner unter russischer Vermittlung in einer Videokonferenz eine Waffenruhe. Sie sieht vor, dass Armenien die Anfang der neunziger Jahre eroberte Pufferzone zwischen dem eigentlichen Armenien und der Exklave Berg-Karabach bis Ende dieses Monats zu räumen hat – mit Ausnahme eines fünf Kilometer breiten Korridors zu beiden Seiten der einzigen Verbindungsstraße. Im Gegenzug erhält Aserbaidschan einen exterritorialen Korridor durch den Süden Armeniens in die – durch einen Streifen armenischen Territoriums vom Hauptteil des Landes abgeschnittene – Exklave Nachitschewan. Beide Korridore werden durch russische Friedens- bzw. Grenztruppen gesichert. Nach Angaben Bakus wird sich auch die Türkei an der Durchsetzung der Waffenruhe beteiligen. Eine Bestätigung hierfür aus Ankara lag zunächst nicht vor.
    Russland setzte noch in der Nacht die ersten Einheiten seiner auf 2.000 Mann geplanten Friedenstruppe in Marsch. Sie rekrutieren sich offenbar nicht aus Soldaten der ohnehin in Armenien stationierten »Basis Nr. 202«, sondern wurden in zehn Großraumtransportern aus Uljanowsk an der Wolga eingeflogen. Unter dem Strich wird die russische Truppenpräsenz im Südkaukasus so um die Hälfte erhöht. Der Militäreinsatz ist zunächst auf fünf Jahre befristet, kann aber mit Zustimmung aller Beteiligten verlängert werden. Das trägt der Tatsache Rechnung, dass die politische Frage über den künftigen Status von Berg-Karabach und das Schicksal seiner etwa 150.000 Einwohner weit von einer Lösung entfernt ist.
    Als Reaktion auf die faktische Kapitulation Armeniens gab es am Abend in der Hauptstadt Jerewan gewaltsame Unruhen. Demonstranten warfen Regierungschef Nikol Paschinjan »Verrat« vor und forderten ihn auf, seine Unterschrift zurückzuziehen. Paschinjan selbst sprach von einer »extrem schmerzlichen Entscheidung«, zu der es aber keine Alternative gegeben habe. Der armenische Staatspräsident Armen Sarkisjan bemängelte, er sei vor der Unterzeichnung nicht von Paschinjan konsultiert worden. Bis zum Morgen hatte die Polizei die Situation im Regierungsviertel wieder unter Kontrolle gebracht.
    Tatsächlich war die militärische Lage der Karabach-Armenier mit dem Fall von Schuscha aussichtslos geworden. Die aserbaidschanische Seite war von Anfang an militärisch überlegen und hatte in den ersten Wochen einen Streifen Land südlich von Berg-Karabach entlang der iranischen Grenze zurückerobert. Anschließend hatte Aserbaidschan gleichzeitig von Norden und Süden das Bergland angegriffen, durch das die wenigen Verbindungen zwischen Armenien und Berg-Karabach verlaufen, war aber in die abtrünnige Region selbst nicht eingedrungen. Die armenische Seite hatte diesen Vormarsch nur noch verzögern können, Gegenangriffe waren mehrfach gescheitert. Schuscha liegt auf einem 1.500 Meter hohen Berg in nur zwölf Kilometern Entfernung von der Arzach-Hauptstadt Stepanakert (aserbaidschanisch: Hankendi). Diese hätte damit wie auf dem Präsentierteller im Feuerradius aserbaidschanischer Artillerie gelegen, wenn die Kämpfe fortgesetzt worden wären.
    Politisch hat sich Russland an der Oberfläche als von allen Seiten anerkannte Ordnungsmacht im Südkaukasus behauptet. Dass sich Aserbaidschans Präsident Ilcham Alijew für den Abschuss eines russischen Militärhubschraubers am letzten Kampftag ausdrücklich entschuldigt und Schadenersatz zugesagt hat, zeigt, dass in Baku – und vermutlich ebenso der Türkei, die Aserbaidschan militärisch und diplomatisch unterstützt hat – eine Konfrontation mit Moskau zumindest kurzfristig nicht gesucht wird. Trotzdem wird Russland in der Region künftig mit der Türkei rechnen müssen: Schließlich hat die Aufrüstung Aserbaidschans durch Ankara die jetzt eingetretene Veränderung des Kräfteverhältnisses erst ermöglicht. Diplomatische Verlierer sind die Unterstützer Armeniens in Paris und Washington. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Spiel im Südkaukasus bis auf weiteres ohne sie ausgetragen wird. Dieselbe Lektion muss auch Paschinjan lernen: Flirts mit dem Westen zahlen sich für Armenien nicht aus.
    Berg-Karabach: Nur russische Friedenssoldaten
    Moskau. Zur Kontrolle der Waffenruhe in der Konfliktregion Berg-Karabach im Südkaukasus wird es neben den russischen Friedenssoldaten nach Angaben Moskaus keine türkischen Kräfte geben. In der trilateralen Vereinbarung zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland zur Beendigung der Kampfhandlungen seien keine türkischen Soldaten vorgesehen, sagte der Sprecher des russischen Präsidenten Dmitri Peskow am Dienstag der Agentur Interfax zufolge. Er wies damit eine Erklärung des aserbaidschanischen Präsidenten Ilcham Alijew zurück, der von einem Einsatz »türkischer Friedenssoldaten« und einer gemeinsamen Mission mit Russland gesprochen hatte. Diskutiert worden sei lediglich die Einrichtung eines Zentrums zum Monitoring der Waffenruhe auf aserbaidschanischem Gebiet. Aber das seien separate Verhandlungen, sagte Peskow. (dpa/jW)
    Russischer Militärhubschrauber in Armenien abgeschossen
    Moskau. Im Krieg um die Südkaukasus-Region Berg-Karabach ist am Montag abend ein russischer Militärhubschrauber vom Typ Mi-24 abgeschossen worden. Er sei auf armenischem Gebiet abgestürzt, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Dabei seien zwei Besatzungsmitglieder getötet, ein weiteres verletzt worden. Der Hubschrauber sei nach dem Beschuss mit einer Rakete in einer Bergregion nahe der Grenze zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan abgestürzt.
    Zu dem Vorfall sei es außerhalb der Kampfzone in Berg-Karabach gekommen, hieß es. Sie liegt mehr als 100 Kilometer entfernt vom Absturzort. Armenien als Verbündeter Russlands sicherte Unterstützung bei der Aufklärung zu. Das Außenministerium von Aserbaidschan sprach in der Hauptstadt Baku wenig später von einem versehentlichen Abschuss, wie die russische Nachrichtenagentur Tass meldete. Baku sei bereit, eine Entschädigung dafür zu bezahlen: »Die aserbaidschanische Seite entschuldigt sich (…) für diesen tragischen Vorfall.« Dieser sei nicht gegen Russland gerichtet gewesen, hieß es. Die schweren Kämpfe um Berg-Karabach dauern seit dem 27. September an. Aserbaidschan verlor in einem Krieg nach dem Ende der Sowjetunion vor rund 30 Jahren die Kontrolle über das bergige Gebiet mit etwa 145.000 Bewohnern. Seit 1994 galt eine brüchige Waffenruhe. (dpa/jW)
    Kämpfe um Schuscha
    Berg-Karabach: Aserbaidschan bedroht zweitgrößte Stadt
    Von Reinhard Lauterbach
    Die Kämpfe um die international nicht anerkannte Republik Arzach (Berg-Karabach) sind dem Anschein nach in eine entscheidende Phase getreten. Am Sonntag erklärte der aserbaidschanische Staatspräsident Ilcham Alijew, die Truppen seines Landes kontrollierten die zweitgrößte Stadt der Region, Schuscha. Die armenische Seite bestritt diese Aussage Alijews, bestätigte aber intensive Kämpfe im unmittelbaren Nahbereich von Schuscha. Ein russischer Militärkorrespondent berichtete, dass die Truppen in Berg-Karabach eine Schlucht, durch die die Aserbaidschaner Truppen heranführten, unter intensiven Artilleriebeschuss nähmen. Zwei von drei Angriffstrupps seien vernichtet worden. Beide Seiten beschuldigten sich zudem gegenseitig der Angriffe auf zivile Ziele.
    Aus der Mitteilung vom Samstag aus Jerewan, bei der westlich von Schuscha gelegenen Ortschaft Latschin hätten die armenischen Truppen ihre Positionen »verbessert«, lässt sich aber schließen, dass die Lage auch dort angespannt ist. Latschin liegt an der einzigen asphaltierten Straße, die das eigentliche Armenien mit Berg-Karabach verbindet. Schuscha ist für die armenische Seite nicht nur von symbolisch-kultureller Bedeutung; die auf 1.500 Meter Höhe gelegene Stadt erlaubt auch einen direkten Artilleriebeschuss auf die arzachische Hauptstadt Stepanakert.
    Die Situation wird auch dadurch unübersichtlicher, dass nach armenischen Angaben Angehörige eines vor knapp 30 Jahren im georgisch-abchasischen Konflikt auf abchasischer Seite aufgestellten »Bagration-Bataillons« auf die Gelegenheit warteten, von der abchasischen Hauptstadt Suchumi aus nach Armenien zu fliegen. Wenn sich dies erhärtet, wäre es der erste Hinweis auf eine zumindest indirekte militärische Unterstützung Jerewans durch Russland. Denn Abchasien hat keinen eigenen Flugplatz; der Luftverkehr läuft über den russischen Flughafen Sotschi.
    Unterdessen sprach sich der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan dafür aus, dass Russland Friedenstruppen nach Berg-Karabach entsenden solle. In einem am Samstag veröffentlichten Interview auf tagesschau.de sagte er, russische Truppen hätten den Vorteil, die Region und die Mentalität ihrer Bewohner zu kennen. Türkische »Friedenstruppen«, wie sie Aserbaidschan fordert, lehnte Paschinjan ab.

  113. Mehr US-Truppen für Polen
    Warschau ratifiziert erweitertes Stationierungsabkommen mit Washington. Infrastruktur für 20.000 Soldaten geplant
    Von Reinhard Lauterbach, Poznan
    Der polnische Staatspräsident Andrzej Duda hat am Montag das im August ausgehandelte erweiterte Truppenstationierungsabkommen mit den USA ratifiziert. Es sieht einen umfangreichen Ausbau US-amerikanischer militärischer Infra­struktur vor. So soll nicht nur die Zahl der dauerhaft in Polen anwesenden Armeeangehörigen um 1.000 auf 5.500 erhöht werden, die Kapazität der geplanten Bauten soll ausreichen, um bis zu 20.000 US-Soldaten stationieren zu können. Damit das im Spannungsfall kurzfristig realisierbar ist, werden die Flughäfen in Wroclaw, Katowice und Krakow erheblich ausgebaut und teilweise mit neuen Bahnanschlüssen ausgestattet. Auffällig ist, dass diese Flugplätze alle so weit im Südwesten Polens gelegen sind, dass die im Gebiet Kaliningrad stationierten russischen Iskander-Raketen sie nicht erreichen können.
    Ähnliches gilt für die an die USA übergebenen oder noch zu errichtenden Stützpunkte: In Poznan entsteht ein neues Hauptquartier für eine Division und ein Armeekorps, im nahegelegenen Powidz die Basis für ein Transportgeschwader, einschließlich 30 unterirdischer Munitionsbunker, im zentralpolnischen Lask ein Stützpunkt für 24 Kampfdrohnen und so weiter. Insgesamt umfasst die entsprechende Liste 111 Positionen. Warschau verpflichtet sich in dem Abkommen, bis zu einer halben Milliarde Zloty (110 Millionen Euro) jährlich zu den laufenden Betriebskosten der US-Truppen beizutragen, darunter 75 Prozent der Kosten für den benötigten Treibstoff.
    Mit der Inkraftsetzung des Vertrags setzt Polen seine Bestrebungen fort, sich als neuer NATO-Frontstaat in der Mitte Osteuropas zu einem bevorzugten Alliierten der USA zu machen. In den polnischen Medien wird aus diesem Grund der bevorstehende Präsidentenwechsel mit großer Gelassenheit betrachtet. Die »Stärkung der NATO-Ostflanke« sei ein Gebot zur Durchsetzung der strategischen Interessen der USA, schrieb am Montag die Tageszeitung Rzeczpospolita, daran werde auch ein Präsident Joseph Biden nichts ändern. Unklar sei jetzt, ob die geplante Stärkung des US-Militärs in Polen auf Kosten der Präsenz in der BRD gehe oder Biden den Befehl von Donald Trump, 11.000 US-Soldaten aus Deutschland abzuziehen, nicht wieder zurücknehme.
    Auch in anderen Teilen Europas geht der Aufbau des NATO-Militärs entlang der russischen Grenzen weiter. Im September erklärte der US-General Jeffrey Harrigian auf einer Fachkonferenz öffentlich, die US-Luftwaffe habe »selbstverständlich« Pläne für eine schnelle Eroberung der Region Kaliningrad und übe dies auch bereits. Entscheidend für den Erfolg dieser Pläne sei aber eine größere Zahl von Flughäfen in Europa, damit nicht Russland die »Operation« etwa durch einen Schlag gegen die Basis in Ramstein verhindern könne. Im Oktober brüstete sich das polnische Militärnachrichtenportal defence24.pl damit, NATO-Raketenstellungen in Polen und Estland könnten die russische Ostseeflotte im Hafen »festnageln«. Ebenso demonstrierten im September mehrere NATO-Kriegsschiffe Präsenz in der Barentssee nördlich von Norwegen, wenige hundert Kilometer von den Stützpunkten der russischen Nordmeerflotte entfernt.
    Die Antwort aus Moskau ließ nicht lange auf sich warten. Das Verteidigungsministerium kündigte für die nächsten Tage den Übungsabschuss einer Hyperschallrakete des Typs »Zirkon« im Nordpolarmeer an, und im Oktober kreuzte der russische Raketenkreuzer »Seweromorsk« einige Tage lang demonstrativ vor der Ostküste Schottlands, von wo britische Kampfflugzeuge regelmäßig in Richtung Russland starten. Nach US-Berichten soll Moskau auf der Polarinsel Nowaja Semlja auch wieder Tests des atomgetriebenen und dadurch angeblich mit unbegrenzter Reichweite ausgestatteten Marschflugkörpers »Burewestnik« begonnen haben. Sie waren 2019 nach einem Unfall im Weißen Meer bei Archangelsk vorübergehend eingestellt worden. Der »Burewestnik« fällt unter keines der noch bestehenden Rüstungskontrollabkommen. Ihn zu entwickeln ist daher auch kein Verstoß gegen einen dieser Verträge, die übrigens die USA einen nach dem anderen aufgekündigt haben.
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    Der Bräutigam geht
    Türkei: Rücktritt des Finanzministers und Erdogan-Schwiegersohns Albayrak auch eine Folge der US-Wahl
    Von Nick Brauns
    Am Sonntag hatte der türkische Finanzminister Berat Albayrak überraschend seinen Rücktritt erklärt – via Instagram: Erst am späteren Montag abend nahm Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den Antrag Albayraks »auf Freistellung von seinen Pflichten« aus »gesundheitlichen Gründen« an. Bis dahin hatten die hinter dem Präsidentenpalast gleichgeschalteten großen Zeitungen und Sender kein Wort über den Ministerrücktritt verloren. Zum neuen Finanzminister ernannte Erdogan Lütfi Elvan, einen ihm treu ergebenen früheren Vizeministerpräsidenten. Kemal Kilicdaroglu, der Vorsitzende der kemalistischen Oppositionspartei CHP, sprach anlässlich des in dieser Form »nie dagewesenen« Ministerrücktritts von einer »Staatskrise« und warf Erdogan vor, das Land wie ein »Familienunternehmen« zu leiten.
    In weiten Teilen der Bevölkerung galt Albayrak abschätzig als »der Bräutigam«. Denn seine Ämter – 2007 als Generaldirektor des Stahlkonzerns Calik Holding, 2015 als Energie- und ab 2018 als Finanzminister – hatte er allein seiner Heirat mit Erdogans Tochter Esra zu verdanken. Als geleakte E-Mails im Jahr 2016 die Verwicklung des Ministers in den Ölschmuggel der Dschihadistenorganisation »Islamischer Staat« in Syrien nahelegten, hielt Erdogan seine schützende Hand über den Schwiegersohn.
    Während westliche Medien den ebenso überfordert wie arrogant wirkenden Politiker als Erdogans »Kronprinz« handelten, war der 42jährige vor allem dessen vorgeschobener Sündenbock. Als Minister musste er seinen Kopf hinhalten für das von seinem Schwiegervater vertretene ökonomische Dogma, wonach allein niedrige Leitzinsen das von der AKP-Regierung als zentralen Erfolgsindikator gehandelte Wirtschaftswachstum ankurbeln würden. In der Realität trug gerade diese Niedrigzinspolitik zu steigender Inflation und rasanten Wertverlust der türkischen Lira bei, die allein in diesem Jahr weit mehr als ein Drittel an Wert gegenüber dem US-Dollar verloren hat. Albayrak wurde zum Gesicht einer Politik, die sich für die breite Bevölkerung vor allem in einer erheblichen Teuerung von Lebensmitteln bemerkbar machte.
    Am Sonntag tauschte Erdogan dann offenbar ohne Konsultation Albayraks den bisherigen Zentralbankchef Murat Uysal gegen den früheren Finanzminister Naci Agbal aus – es war der vierte Wechsel an der Spitze des Instituts in fünf Jahren. Agbal kündigte an, die »notwendigen geldpolitischen Entscheidungen« gegen den weiteren Kursverfall einzuleiten.
    Anlass für den Rücktritt mag gewesen sein, dass Albayrak sich von seinem Schwiegervater brüskiert gefühlt hat, als der Agbal einsetzte. Der prominente Journalist Murat Yetkin weist auf seiner Nachrichtenseite »Yetkinreport« noch auf einen weiteren außenpolitischen Hintergrund hin. US-Präsident Donald Trump hatte angesichts zum Teil bereits beschlossener Sanktionen wegen des Kaufs des russischen S-400-Luftabwehrsystems und des Bruchs des von den USA verhängten Iran-Embargos durch die türkische staatliche Halkbank seine schützende Hand über die Türkei ausgebreitet. So hatten US-Medien berichtet, dass das »besondere Verhältnis« zwischen Erdogans Schwiegersohn Albayrak und Trumps Schwiegersohn Jared Kushner Ankara bislang vor weitergehenden US-Sanktionen bewahrt habe. Aber nun steht der Wechsel in Washington an.
    Den parteiinternen Machtkampf um die Erdogan-Nachfolge hatte Albayrak schon lange verloren. Dies wurde deutlich, als sein Hauptrivale – Innenminister Süleyman Soylu – im April seinen Rücktritt eingereicht hatte, nachdem es zu turbulenten Szenen gekommen war, als der Corona-Lockdown verhängt wurde. Damals mobilisierten innerhalb weniger Stunden Tausende Anhänger des nationalistischen Scharfmachers auf der Straße und im Internet für dessen Verbleib in der Regierung. Erdogan lehnte das Rücktrittsersuchen Soylus ab, der seitdem deutlich gestärkt agieren kann. Albayrak dagegen konnte zu Wochenbeginn wohl erstmals in seiner Karriere über 600.000 zustimmende Likes in sozialen Medien verbuchen – für seine Rücktrittserklärung.

  114. Nicht nur auf Rügen pausieren die Bauarbeiten zu Nord Stream 2. Auch in Wilhelmshaven stockt der Weiterbau des Terminals, wo eigentlich amerikanisches Frakking-Gas angelandet wederden sollte.
    https://www.heise.de/tp/features/Nach-Nord-Stream-2-ruht-auch-LNG-Terminal-4952127.html
    https://www.rnd.de/politik/bundesregierung-lng-gas-aus-fracking-forderung-ahnlich-klimaschadlich-wie-kohle-D7F5S3NTJJFHJGOEFQHGDY3HSM.html
    Dass es sich hier irgendwie um Maßnahmen von Klimapolitik handeln würde, ist eine Sprechweise, die heutzutage wohl deswegen nicht arg strapaziert wird, weil solche diplomatischen Kostümierungen in Grundsatzfragen des weltweiten Imperialismus eher auf Staaten wie Brasilien, Polen etc. erpresserische Anwendung finden. Dort ist es der Heiligenschein dazu, Gefolgschaft herstelllen zu wollen.

  115. Immer noch steht an, daß sich die deutsche Politik zu diesem Projekt äußert im Sinne: Ja oder nein?
    Ich sehe das ja auch so wie Neoprene und andere, daß die Angelegenheit gestorben ist, aber mich würde eben interessieren, wie das argumentiert wird.
    Angesichts all der Investitionen, die dort bereits geflossen sind – von russischer Seite, aber auch von EU-Firmen – wird es auf die Dauer nicht gehen, so zu tun, als: Da war nie was.
    („Alesia? Ich weiß nicht, wo Alesia ist!“)

  116. Nein, das traut sich zumindest die deutsche Regierung bisher nicht: Nachdem die USA allen Firmen untersagt haben, am Projket mitzumachen, hätte die deutsche Regierung natürlich irgendwas machen müssen (und nicht nur sagen), um die Sanktionen nihct wirksam werden zu lassen. Aber was?? Da hat sich wohl ergeben, daß Deutschland da nichts entgegensetzen könnte, ohne richtig Ärger mit den USA zu bekommen.
    Das ist ja genaus die gleiche Entwicklung wie bei Iran-Embargo. Da wollten die europäischen Staaten, Deutschland allen voran, ja auch die Boykottmaßnahmen unterlaufen und haben dem Iran in die Hand versprochen, daß daß schon nicht so heiß gegessen würde. Und was ist daraus geworden? Praktisch nichts.

  117. Aktuelle Entwicklungen werden bei Wiki eingearbeitet; hier wohl zum letzten mal am 8.11.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Nord_Stream#Deutschland
    … und vor dem offiziellen Amtsantritt des neuen US-Präsidenten mag es allenfalls diplomatische Kontakte geben. Aber garantiert nichts Entscheidendes.
    (Was die dt. Regierung anbieten könnte, wer weiß? Letztens war von garantierten Abnahmemengen für Frackinggas und von sonstigen Zahlungen (Vizekanzler Scholz) die Rede. Aber auch darüber hört man ja nur halbgares.)
    Ob es unter Biden eine vergleichbare US-Identität von Systemfeindschaft gegen Russland und China, Wirtschaftskrieg mit aller Welt und Bündnisbeziehungen oder auch nicht zu NATO-Staaten geben wird, ist ja noch nicht raus. Also ob die USA eine gemeinsame Koalition gegen Russland und China schmieden wollen, oder America First gegen alle Welt fortsetzen: Muss sich noch erweisen. Die Energiefragen und Pipeline-Fragen sind, aus US-Sicht, eine darin eingebundene Problematik. Und die BRD scheint nach wie vor darauf zu hoffen, dass es irgendeinen Dreh gibt, die USA von ihrem feindlichen Kurs abzubringen, mittels Anwanzerei plus Unterordnung plus ökonomischen Angeboten.

  118. Der bisherige Umgang der EU-Staaten mit den Sanktionen war so, daß man offiziell einen Kotau macht und sich als verläßliche Verbündete der USA präsentiert – und dann versucht, zu schummeln was nur geht und auf informellem Wege weiter Geschäfte mit den Sanktionierten zu machen.
    Österreich ist darin Meister.
    Bei North Stream II wird das aber nicht mehr gehen, das ist zu öffentlich, dort schauen zu viele hin.

  119. Mit dem Iran weiß ich nicht, aber mit Rußland läuft recht viel.
    „Bringen“ tut es natürlich nichts, man vermeidet damit offene Konfrontation und macht trotzdem Geschäfte.
    Ich kann mir auch vorstellen, daß bei Rußland von Seiten der USA mehr die Augen zugedrückt wurden als beim Iran.

  120. Bergkarabach geteilt
    Armenien soll Gebiete im Korridor räumen – und knapp zweitausend russische Soldaten sollen einen Waffenstillstand sichern
    Der Lohn des Angriffskrieges
    Der türkisch-aserbaidschanische Sieg im Krieg um Bergkarabach wird Ankara zu weiteren Kriegsabenteuern und ethnischen Säuberungen verleiten
    Ist Bergkarabach gefallen?
    Die aserbaidschanische Armee ist in die militärisch und symbolisch wichtige Stadt Schuschi vorgedrungen
    Machtlos im Südkaukasus
    Berlin ist mit dem Versuch, auf den Berg-Karabach-Krieg Einfluss zu nehmen, gescheitert. Den Waffenstillstand kontrolliert Moskau.
    (Eigener Bericht) – Außenpolitikexperten stufen den Waffenstillstand im Krieg um Berg-Karabach als Erfolg für Russland und als machtpolitische Niederlage für den Westen ein. Die Vermittlung des Waffenstillstands sei ein “spektakulärer diplomatischer Zug” des russischen Präsidenten Wladimir Putin gewesen, heißt es beim Carnegie Moscow Center. “Der Westen” habe “Putin erneut das Feld” überlassen, kritisiert die regierungsfinanzierte Deutsche Welle. Tatsächlich ist es Moskau einmal mehr gelungen, in enger Kooperation mit Ankara einen bewaffneten Konflikt zu stoppen – ähnlich wie zuvor beispielsweise in Syrien. Die “Minsk-Gruppe” der OSZE, die – gebildet von den USA, Frankreich und Russland – mit dem Berg-Karabach-Konflikt befasst war, ist gescheitert. Dies trifft ebenso auf Bemühungen Berlins und der EU zu, den Krieg zu beenden. In Zukunft werden russische Truppen den Waffenstillstand in Berg-Karabach überwachen; damit sind die russischen Streitkräfte in allen drei Staaten des Südkaukasus stationiert – zum ersten Mal seit Beginn der 1990er Jahre.
    Der Waffenstillstand
    Die Kämpfe um Berg-Karabach sind mit Inkrafttreten der jüngsten Waffenstillstandsvereinbarung am frühen Morgen des 10. November eingestellt worden. Militärisch geht Aserbaidschan als Sieger aus dem Krieg hervor. Es hat, dank systematischer Aufrüstung insbesondere durch die Türkei und dank praktischer Unterstützung aus Ankara [1], einen Teil der rings um Berg-Karabach gelegenen Gebiete zurückerobern können, die zwar zu seinem Territorium gehören, die Armenien aber als “Schutzgürtel” gehalten hatte. Die noch nicht zurückeroberten Teile dieser Gebiete muss Armenien bis zum 1. Dezember räumen. Darüber hinaus konnte das aserbaidschanische Militär Teile Berg-Karabachs selbst erobern, darunter die Stadt Schuschi/Şuşa, die direkt oberhalb von Stepanakert, der Hauptstadt Berg-Karabachs, liegt und den einzigen verbliebenen Landkorridor nach Armenien, den Latschin-Korridor, überblickt. Zudem muss Armenien Aserbaidschan gestatten, einen Landkorridor über sein Territorium in die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan zu errichten. Viele Fragen sind ungeklärt, darunter diejenige, welchen Status Berg-Karabach künftig erhalten soll. Als ungewiss gilt freilich auch, ob bzw. wieviele Einwohner Berg-Karabachs, die während des Krieges nach Armenien geflohen waren, unter den jetzigen Bedingungen überhaupt in das Gebiet zurückkehren werden.
    Folgenloses Fäusteschwingen
    Beobachter und Experten in Deutschland stufen das Inkrafttreten des Waffenstillstands widerwillig als Erfolg der russischen Diplomatie ein. In der Tat hat es die “Minsk-Gruppe” der OSZE, die von den Vereinigten Staaten, Frankreich und Russland bereits in den 1990er Jahren gebildet worden war, um den Berg-Karabach-Konflikt einer Lösung näherzubringen, nicht geschafft, zwischen den beiden Kriegsparteien zu vermitteln. Auch ein Versuch der Trump-Administration, den Krieg im Alleingang zu beenden, misslang. Anstrengungen der Bundesregierung, als Mittler in den Konflikt zu intervenieren, führten zu nichts: So hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits Ende September, schon kurz nach Beginn der Kämpfe, mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew und mit Armeniens Präsident Nikol Paschinjan gesprochen und am 11. Oktober erneut mit Paschinjan telefoniert; Außenminister Heiko Maas hatte sich bei seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu für eine Lösung des Konflikts eingesetzt. Konsequenzen blieben aus. Auch Appelle der EU verhallten wirkungslos. So hatte sich der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zwar “besorgt” über den Krieg gezeigt; Berichterstatter sprachen von “kollektive[m] Fäusteschwingen” im Europaparlament.[2] Praktische Folgen hatte beides nicht.
    Russlands Einflussgewinn
    Moskau hingegen ist es in Kooperation mit Ankara, auf das sich die aserbaidschanische Regierung stützt, gelungen, die seit Dienstag gültige Waffenruhe zu vermitteln. Damit hat Russland einmal mehr, wie zuvor in Syrien und in Libyen, bewiesen, dass es trotz massiver Differenzen in der Lage ist, Kompromisse mit der Türkei auszuhandeln und darauf Waffenstillstandsvereinbarungen zu gründen.[3] Zu dem daraus resultierenden Prestigegewinn kommt neuer konkreter Einfluss vor Ort hinzu. So sollen russische Truppen die Einhaltung des Waffenstillstands überwachen; vorgesehen sind 1.960 Soldaten mit 90 Truppentransportern, 380 anderen Fahrzeugen und sonstigem Gerät.[4] Sie sollen mindestens fünf Jahre in Berg-Karabach stationiert bleiben; eine Verlängerung um fünf Jahre ist anvisiert. Zudem sollen russische Truppen den Latschin-Korridor – die Landverbindung nach Armenien – kontrollieren und Aserbaidschans neu geplanten Landkorridor über armenisches Territorium in die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan überwachen. Damit werden Militärs aus Russland künftig in allen drei Staaten des Südkaukasus präsent sein: In Georgien sind in den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien russische “Friedenstruppen” stationiert; in Armenien, mit dem Russland in dem Militärbündnis OVKS kooperiert, unterhalten die russischen Streitkräfte einen eigenen Truppenstützpunkt – die Militärbasis Gjumri.
    “Eine neue geopolitische Konfiguration”
    Russlands Einflussgewinn wird allgemein anerkannt. Die Waffenstillstandsvereinbarung habe “einen geopolitischen Sieg” für Moskau gebracht, urteilt Michael Carpenter, geschäftsführender Direktor des Penn Biden Center for Diplomacy and Global Engagement an der University of Pennsylvania.[5] “Die Minsk-Gruppe existiert nicht mehr”, wird Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Fachzeitschrift Russia in Global Affairs und Forschungsdirektor des Valdai International Discussion Club, zitiert: Washington sowie Paris und mit ihm die EU hätten Einfluss verloren; an ihrer Stelle kooperiere Moskau nun auch im Südkaukasus mit Ankara. Dies sei “eine absolut neue geopolitische Konfiguration”, in der “die russische Rolle als Stabilitätsgarant von beiden Seiten stark nachgefragt” sei.[6] Beim Carnegie Moscow Center ist von einem “spektakulären diplomatischen Zug” der russischen Regierung die Rede.[7] Präsident Wladimir Putin sei “der unerwartete Sieger dieses Krieges”, konstatiert die meinungsbildende Frankfurter Allgemeine Zeitung.[8] Bei der regierungsfinanzierten Deutschen Welle heißt es, “der Westen” habe “Putin erneut das Feld” überlassen – “wie schon in Georgien, der Ukraine und Syrien”.[9]
    Der Krisengürtel rings um die EU
    Tatsächlich sind die Bestrebungen Berlins und der EU, in dem weit gefassten Staatengürtel jenseits ihrer Außengrenzen als Ordnungsmacht aufzutreten, einmal mehr gescheitert. “Wir müssen darauf hinarbeiten, dass östlich der Europäischen Union und an den Mittelmeergrenzen ein Ring verantwortungsvoll regierter Staaten entsteht, mit denen wir enge, auf Zusammenarbeit gegründete Beziehungen pflegen können”, hieß es exemplarisch etwa in der Europäischen Sicherheitsstrategie, die am 12. Dezember 2003 verabschiedet wurde.[10] Seither sind Kriege und Konflikte in einer ganzen Reihe von Ländern entflammt, die dem Ring um die EU zugerechnet werden, in denen sich die Union allerdings vergeblich um Kontrolle über Auseinandersetzungen bemüht: in Libyen, Mali, dem Libanon, Syrien und der Ostukraine; aktuell kommen noch die Proteste in Belarus sowie die Konflikte mit der Türkei – nicht nur – im östlichen Mittelmeer hinzu. Deutschland und die EU erweisen sich regelmäßig als nicht in der Lage, die Konflikte dauerhaft zumindest zu dämpfen oder sie zu befrieden. Dass Berlin und Brüssel ihre Beziehungen zu der einzigen Macht systematisch beschädigen, die wenigstens in einigen der erwähnten Krisenstaaten zur Durchsetzung von Waffenstillständen in der Lage ist – Russland -, erleichtert die Lage nicht.[11]

  121. Deutschland und die EU erweisen sich regelmäßig als nicht in der Lage, die Konflikte dauerhaft zumindest zu dämpfen oder sie zu befrieden.

    Da glaubt wohl jemand noch immer an die „Friedensmacht“ EU.
    Die EU-Staaten treten doch regelmäßig Konflikte mit los, um sich als treuer Schildknappe der USA zu erweisen oder zu zeigen, daß sie auch wer sind.
    Wenn der Salat einmal fertig ist, erweisen sich die westlichen Mächte als unfähig, irgendeine Lösung zu finden. Das sind dann Konflikte ohne Ende, siehe Irak & Afghanistan.

  122. “Deutschland und die EU”
    Es stimmt schon mal gar nicht, daß deutsche Interessen, friedliebend oder nicht, mit den EU-Interessen in eins fallen. Noch nicht mal die berühmt/berüchtigte Achse Frankreich-Deutschland ist sich ja in solchen Fragen einig. Vom Rest der EU gar nicht zu reden. Oder den weiteren NATO-“Partnern” wie der Türkei. Es mangelt also schon mal an einem einheitlichen politischen Willen einem gemeinsamen Programm aller EU-Staaten. Und bekanntlich mangelt es gerade Deutschland ja auch vorn und hinten an den Mitteln, um “Konflikte dauerhaft zumindest zu dämpfen oder sie zu befrieden”, um den vorherrschenden Euphemismus zu bemühen.

  123. Spielmacher Russland
    Von Reinhard Lauterbach
    Da hätte wirklich etwas gefehlt, wenn sich nicht einer von Deutschlands berufsmäßigen Russlandhassern zu Wort gemeldet hätte. Manuel Sarrazin, Osteuropa-Sprecher der Grünen: »Die Bundesregierung sollte sich keine Illusionen machen: Dem Kreml geht es nicht um Frieden, sondern um Einflussnahme und politische Kontrolle der Region«, zitierten ihn am Dienstag die Nachrichtenagenturen. Und der Westen solle Russland nicht »das Feld überlassen«.
    Russland hat das Feld längst besetzt. Seine 2.000 Soldaten, die die armenische Exklave Berg-Karabach sichern, aber auch neue militärische Abenteuer ihrer nationalistischen Führung verhindern sollen, sind schon da. Eingeflogen mit einer Präzision und Schnelligkeit, die darauf schließen lässt, dass die Planungen für diesen Einsatz nicht erst am Wochenende begonnen hatten. Diese Demonstration von Operationsfähigkeit wird man auch in den westlichen Hauptstädten zur Kenntnis nehmen (müssen). Frieden ist hier ein geklärtes Kräfteverhältnis, das unmittelbare Gewalt überflüssig macht. Insofern steht er auch nicht im Gegensatz zu »Einflussnahme und politischer Kontrolle«, sondern setzt diese voraus.
    Die jetzt gefundene Lösung ist aus Sicht sowohl Russlands als auch der Zivilbevölkerung von Berg-Karabach optimal. Letztere braucht sich nicht mehr von fanatischen Nationalisten für Ansprüche mit Wurzeln im frühen Mittelalter instrumentalisieren zu lassen, ersteres hat sich bis auf weiteres als das Land durchgesetzt, das im Südkaukasus die Karten mischt. Armenien ist von Russland künftig abhängiger als zuvor, weil das Schicksal seiner Landsleute in Karabach von russischen Soldaten gesichert wird. Aserbaidschan hat mit der Rückeroberung seiner seit knapp 30 Jahren besetzten Landesteile den völkerrechtlichen Status quo wiederhergestellt; Russland hatte keinen Anlass, hiergegen vorzugehen. Dafür ist Aserbaidschan ein viel zu guter Waffenkunde, der überdies an der Route von Russland in den Iran liegt. Und dafür hat Russland auch eine viel zu große muslimische Bevölkerung, als dass es sich eine einseitige Parteinahme für Armenien hätte leisten können.
    Maximal zehn Jahre sieht das Abkommen für die russische Präsenz in Berg-Karabach vor. Wenn in dieser Zeit die politische Lösung und ein ziviler Umgang der beiden Nationalitäten miteinander zumindest in die Wege geleitet werden, wäre viel erreicht. Russland das Feld zu bestreiten, wie es der Grüne Sarrazin praktisch forderte, könnte nur funktionieren, indem bestehende Konflikte angefeuert, statt beigelegt würden. Wollte Sarrazin hier zündeln, wo der letzte Krieg gerade vorbei ist?
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    CIA kauft verstärkt deutsche Hightech-Unternehmen
    US-amerikanische Investoren sichern sich deutsche Entwicklungen. Dabei geht es traditionell in erster Linie um Patente und sonstige Rechte

  124. @Neoprene
    Der Autor des Artikels, der schreibt „Deutschland und die EU“ meint ja offenbar auch – man beachte die Reihenfolge – daß sich die EU hinter Deutschland versammeln sollte, um Einheit zu erreichen – und ist in Folge enttäuscht, daß DAS nicht passiert.

  125. Bei der Berg-Karabach-Geschichte sollte man auch im Auge behalten, daß die Tage des armenischen Präsidenten – ein erklärter liberaler und Soros-Anhänger – gezählt sein dürften, was als Kollateral-Nutzen für Rußland angesehen werden kann.
    Wie weit sich die Situation der Dauer-Enklave halten läßt, werden die nächsten Jahre weisen. Die russischen Truppen sind ja auch dafür da, den Korridor zu überwachen.

  126. Samtene Übernahme
    Neue Präsidentin in Moldau
    Von Reinhard Lauterbach
    Sage niemand, die EU sei nicht lernfähig. Das Programm der von ihr offen unterstützten künftigen Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, ist das des Euromaidan in der Ukraine: die Übernahme eines weiteren Stücks der ehemaligen Sowjetunion in die Brüsseler Hegemoniesphäre. Aber die Art, wie sie es vorgetragen hat – mit zumindest verbalen Zugeständnissen an die russischsprachige Bevölkerung des Landes –, unterschied sich deutlich von dem Rabaukennationalismus derjenigen, die 2014 die Macht in Kiew ergriffen. Ohne dass dieser freilich im Ergebnis der formellen Subsumtion der Ukraine unter die EU-Hegemonie, wie sie das Assoziierungsabkommen von 2016 besiegelte, irgendwelche wirklichen Fortschritte in der profitablen Benutzbarkeit des Landes für das EU-Kapital hinzugefügt hätte.
    Die leisere Tour Sandus trägt zunächst einmal der Tatsache Rechnung, dass die moldauische Gesellschaft traditionell etwa zur Hälfte in Anhänger der Ost- und der Westbindung gespalten ist. Oder vielmehr: war. Denn in der vorherigen Präsidentenwahl 2016 hatten sich ebenfalls Igor Dodon und Sandu gegenübergestanden, und Dodon mit 52 Prozent noch knapp geführt. Sandus Vorsprung vom Sonntag ist viel deutlicher, und er spiegelt reale soziale Veränderungen wider. Wenn rund ein Drittel der moldauischen Bevölkerung seit Jahren sein Dasein als Migranten in der EU fristet, dann ist es nur konsequent, dass die Leute auch EU-Bürger sein wollen und nicht mehr rechtlich benachteiligte, oft »illegale«, Wanderarbeiter.
    Heute würden in einem Referendum über den EU-Beitritt in Moldau 58 Prozent mit Ja stimmen, nur noch 20 Prozent mit Nein. Vor vier Jahren waren die Antworten auf dieselbe Frage mit 37 zu 38 noch ausgewogen gewesen. Und wenn russische Politiker jetzt damit drohen, bei einer radikalen Westwendung Moldaus den Import von dessen Obst und Wein auf den russischen Markt zu stoppen, dann verkennen sie den Umstand, dass ein großer Teil der moldauischen Migranten – insbesondere Mi­grantinnen – überhaupt nichts mehr mit der Landwirtschaft zu tun hat, sondern zum Beispiel in der Pflege arbeitet. Es ist bekanntlich das gesellschaftliche Sein der Menschen, das ihr Bewusstsein bestimmt.
    Zu Lasten der an Russland orientierten Fraktion der moldauischen Gesellschaft wirkt sich auch die Tatsache aus, dass die ältere, in der Sowjetunion sozialisierte Generation allmählich aus dem Leben scheidet. Und, nochmals im Vergleich zur Ukraine: Moldau hat seinen »Donbass-Konflikt« bereits hinter sich: mit der Abspaltung der russischsprachigen Industrieregion links des Dnjestr vom durch rumänische Nationalisten dominierten Rest des Landes 1992. Das international nicht anerkannte Transnistrien führt heute ein ebenso unbeachtetes Dasein wie die »Volksrepubliken« Donezk und Lugansk. Irgendwann wird sich Russland überlegen müssen, ob es sich diese Dependance noch leisten will.
    Brüssel zufrieden
    Moldau: Von EU unterstützte Kandidatin Sandu gewinnt Präsidentschaftswahl gegen Amtsinhaber. Außenpolitische Umorientierung erwartet
    Von Reinhard Lauterbach
    Die von der EU unterstützte Kandidatin Maia Sandu hat die Präsidentschaftswahl in Moldau klar gewonnen. Nach Abschluss der Auszählung am Montag morgen erhielt sie 57,75 Prozent. Für das scheidende Staatsoberhaupt Igor Dodon von den »prorussischen« Sozialisten stimmten 42,25 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag mit knapp 53 Prozent um zehn Punkte höher als bei der ersten Runde am 1. November. Auch wenn Dodon im Anschluss angab, bei der Stichwahl habe es zahlreiche Manipulationen und eine »direkte Einmischung« westlicher Politiker gegeben, gestand er seine Niederlage ein und gratulierte Sandu zu ihrem Wahlsieg. Seine Anhänger und auch die Unterstützer der neuen Präsidentin rief er auf, nicht auf die Straße zu gehen. Eine Destabilisierung des Landes müsse unbedingt verhindert werden.
    Besonders stark war die Unterstützung für Sandu offenbar unter den moldauischen Wählerinnen und Wählern im Ausland. Dort erhielt sie nach offiziellen Angaben rund 92 Prozent der Stimmen – man kann von einer geschlossenen Stimmabgabe der Auslandsmoldauer für Sandu sprechen –, wobei die Wahlkommission nicht nach Wählern differenzierte, die in Russland bzw. im westlichen Ausland abgestimmt hatten. Beide Gruppen waren zahlenmäßig mit je 250.000 ungefähr gleich stark, allerdings hatte die Kommission im EU-Ausland ein erheblich dichteres Netz an Wahllokalen aufgebaut als in Russland: Zum Beispiel gab es allein in Italien insgesamt 30 Wahllokale, im vielfach größeren Russland nur sieben.
    Sandu erklärte nach ihrer Wahl, sie sehe ihre Hauptaufgabe darin, das Land zu einen. Alle Bürger von Moldau sollten in einem Staat leben, der ihre Rechte schütze und sich so entwickle, dass sie nicht mehr zu emigrieren bräuchten. Vor dem Votum hatte sie »allen Menschen guten Willens« die Schaffung eines »europäischen Moldau ohne Oligarchen und Korruption« versprochen. Und in einer am Donnerstag veröffentlichten Ansprache an die russischsprachige Bevölkerung zugesagt, dass unter ihr keine einzige russischsprachige Schule geschlossen und der Gebrauch der russischen Sprache – sie präzisierte nicht, ob nur privat oder auch öffentlich – wie auch das Begehen sowjetischer Feiertage wie dem Tag des Sieges am 9. Mai weiter möglich sein sollen.
    Sandu tritt für die Integration Moldaus in EU und NATO und mittelfristig die Vereinigung des Landes mit Rumänien ein. Kurzfristig will sie vorgezogene Parlamentswahlen erreichen, um auch dort eine Mehrheit für ihre Partei der Aktion und Solidarität (PAS) zu erzielen. Im Moment sind dort die Sozialisten (PSRM) Dodons die stärkste Partei. Außenpolitisch hat Sandu eine Intensivierung der Beziehungen zur Ukraine und zu Rumänien angekündigt.
    Für Russland, das im Wahlkampf Amtsinhaber Dodon unterstützt hatte, ist der Wahlsieg von Sandu eine klare Schlappe. Präsident Wladimir Putin gratulierte gleichwohl noch am Montag und äußerte in einem Telegramm an Sandu die Hoffnung auf eine »konstruktive Entwicklung der russisch-moldauischen Beziehungen«, wie sie den »grundlegenden Interessen der Völker beider Länder« entspreche.

  127. Irgendwann wird sich Russland überlegen müssen, ob es sich diese Dependance noch leisten will.

    So ein Schmarrn.
    Rußland ist ja kein Erbsenzähler, der sich dauernd Kosten-Nutzen-Rechnungen aufmacht.
    Es gab rund um den Maidan und das Pogrom von Odessa von Oligarchen wie Kolomojski und sicher auch US-und EU-Geheimdiensten Überlegungen, Transnistrien auch aufzumischen, wo man doch gerade dabei ist.
    Da dürfte von Moskau ein energisches Nein! gekommen sein.
    Außerdem produziert Transnistrien zum Unterschied von Moldawien immerhin einiges, also es ist weitaus selbstfinanzierter als sein ehemaliges Mutterland, das von Krediten, EU-Zuschüssen und Auslandsüberweisungen seiner Gastarbeiter finanziert wird.
    Die Frau Sandu wird sich auch bald als Politifigur verbrauchen, weil die „Integration“ in die EU wird, wenn da überhaupt etwas Nennenswertes geschieht, Moldawien ungefähr soviel bringen wie die Westorientierung der Ukraine gebracht hat.
    (Man vergesse die Gagausen nicht, die dezidiert prorussisch sind und schon mit Abspaltung gedroht haben, sollte Moldawien der EU beitreten.)

  128. Nach Entlassung von Pentagon-Chef Esper: Ex-Offizier Rose befürchtet Militärintervention im Iran
    Welche Absicht verfolgt US-Präsident Donald Trump mit der Entlassung seines Verteidigungsministers Mark Esper? Diese Frage lässt Raum für viele Spekulationen. Sicherheitsexperte, Oberstleutnant a.D. Jürgen Rose, befürchtet im Sputnik-Interview, dass Trump eine offene Konfrontation mit dem Iran einleiten könnte, um seine Macht zu sichern.
    Trump erwägte Militärschlag gegen iranische Nuklearanlagen – Zeitung
    US-Präsident Donald Trump hat wohl vorgehabt, gegen Atomanlagen des Iran vorzugehen, um dessen Atomprogramm zu stoppen. Am 12. November ließ er sich nach Angaben der Zeitung „The New York Times“ diesbezüglich von seinen hochrangigen Beratern konsultieren.
    „Imperialismus in Pumps“ oder was von Bidens Kabinett zu erwarten ist
    Es wird erwartet, dass Joe Biden in den Spitzenämtern der US-Politik so viele Frauen – auch farbige – einsetzen wird, wie kein US-Präsident vor ihm. Ein Grund zum Jubeln? Keineswegs, findet die australische Journalistin Caitlin Johnstone. Das sei kein Feminismus, sondern „Imperialismus in Pumps“.
    So werden Joe Bidens Mitarbeiter von der Rüstungsindustrie gesteuert
    Ein Drittel des Teams für das Verteidigungsministerium mit Kontakten zu Waffenkonzernen und Lobbygruppen. Auch Kamala Harris hat ein dunkles Geheimnis

  129. Am Iran haben sich seit Carter alle Präsidenten die Zähne ausgebissen und die Mullahs sind immer noch dort.
    Es ist nicht ausgeschlossen, daß Trump oder Biden da irgendwelche Aktionen planen. Meistens ist dann Israel ihr Vollstreckungsgehilfe. Aber nennenswerte Schritte gegen den Iran könnnen die USA nicht setzen, das haben die letzten Jahrzehnte erwiesen.
    Ebenso ist der Plan gescheitert, die Verbündeten in der Region auf den Iran zu hetzen.
    Es ist allen Potentaten der Region noch gut in Erinnerung, wie es demjenigen Staatschef gegangen ist, der sich von den USA bei seinem Angriffskrieg gegen den Iran unterstützen ließ.
    Auch der saudische Prinz läßt sich von den USA gerne bei der Zerstörung des Jemen unterstützen, vom Iran hingegen läßt er die Finger.
    Eine direkte Konfrontation mit dem Rivalen um die Führung der islamischen Welt will er sich aus verschiedenen Gründen nicht leisten.
    Es könnte sich u.a. herausstellen, daß Saudi-Arabien sogar in der sunnitischen Welt ziemlich isoliert ist.

  130. Was ist jetzt das „dunkle Geheimnis“ von Frau Harris?
    Der Artikel hat eine unangenehme Schlagseite, Verflechtungen mit der Rüstungsindustrie als etwas Verwerfliches und Ungewöhnliches hinzustellen.
    Noch dazu in einer komischen Tonart: He, ich verrat euch jetzt was!

  131. Trump scheint über einen Militärschlag gegen Iran nachzudenken
    Außenminister Pompeo besucht Israel, wo es auch um den Iran gehen soll. In Israel wird spekuliert, ob Netanjahu die verbleibende Zeit für einen Angriff auf iranische Atomanlagen nutzen will
    Rettung seiner selbst
    Laut Bericht erwog scheidender US-Präsident Trump Angriff auf iranische Atomanlagen
    Von Knut Mellenthin
    Will US-Präsident Donald Trump die zwei Monate Amtszeit, die ihm noch bleiben, für Angriffe auf die iranischen Atomanlagen nutzen? Diesen Verdacht legt ein Bericht der New York Times vom Montag nahe. Nach Darstellung der bedeutendsten Tageszeitung der USA hat Trump am Donnerstag voriger Woche bei einer Sitzung im Oval Office nach militärischen Optionen gegen Teheran gefragt. Zu den Anwesenden gehörten laut Bericht unter anderem Vizepräsident Michael Pence, Außenminister Michael Pompeo, der geschäftsführende Verteidigungsminister Christopher Miller und Generalstabschef Mark Milley.
    Anlass für Trumps Zorn soll der jüngste Vierteljahresbericht der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zum Iran gewesen sein, dessen Inhalt am Vortag bekannt geworden war. Dem Report zufolge besitzt der Iran zwölfmal so viel schwach angereichertes Uran wie es nach den Bestimmungen der Wiener Vereinbarungen vom 14. Juli 2015 haben dürfte. Daran ist allerdings nichts Überraschendes: Als Reaktion auf den Ausstieg der USA aus dem Abkommen hält sich auch der Iran seit Mai 2019 nicht mehr an seine Verpflichtungen. Aber weil die Inspektoren der IAEA nach wie vor uneingeschränkten Zugang zu allen Atomanlagen des Landes haben, ist das Anwachsen des Vorrats an angereichertem Uran genau bekannt. Daher weiß man auch, dass der Iran bei der Produktion deutlich unterhalb seiner Kapazität bleibt. Allerdings kann man nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass Trump, der ungern liest, davon bis zum vorigen Mittwoch nichts mitbekommen hatte.
    Dem Bericht der New York Times zufolge sollen mehrere Teilnehmer der Sitzung dem US-Präsidenten erklärt haben, dass sich jeder größere Angriff auf den Iran, ob mit Raketen oder mit Cybermitteln, leicht zu einem regionalen Konflikt ausweiten könnte. Damit habe Trump sich scheinbar zufriedengegeben. Es sei aber nicht auszuschließen, dass er jetzt nach einer weniger gefährlichen Möglichkeit suche, den Iran doch noch zu »bestrafen«.
    Als Quellen dieser Darstellung beruft sich das Blatt auf vier nicht näher bezeichnete Funktionäre der US-Regierung. Das Weiße Haus lehnte eine Stellungnahme ab. Falls der Bericht der New York Times im wesentlichen korrekt sein sollte, ist dennoch nicht sicher, ob Trump die Drohung mit einem militärischen Angriff ernst gemeint hatte oder wieder einmal nur bluffen wollte. In seiner originellen Gedankenwelt sind eine wilde Rhetorik und ein scheinbar unberechenbares Gehabe der beste Weg, um einen Gegner »an den Verhandlungstisch« zu bringen und ihm maximale Zugeständnisse abzunötigen.
    Schon während des Wahlkampfs hatte Trump mehrmals fabuliert, dass er sofort nach seinem Sieg Gespräche mit Teheran aufnehmen wolle. Es ist nicht auszuschließen, dass der exzentrische Milliardär wirklich glaubt, er könne in den nächsten Wochen erfolgsversprechende Verhandlungen mit der iranischen Regierung einleiten und sich damit vielleicht sogar in eine zweite Amtszeit retten.
    Allzeit kriegsbereit
    Aufrüsten auch in der Pandemie: Verteidigungsministerin hält Grundsatzrede. Sicherheit ohne NATO und USA sei »Illusion«
    Von Jan Greve
    Mehr Geld fürs Militär, Zusammenarbeit mit den USA, bei Bedarf Konfrontationskurs gegenüber China: Mit altbekannten Tönen hat Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Dienstag ihre zweite sicherheitspolitische Grundsatzrede gehalten. Der Abrüstung redete sie dabei mit keiner Silbe das Wort, während der Begriff der »Aufrüstung« genau einmal auftauchte – in bezug auf das Agieren Russlands.
    Kramp-Karrenbauer, die aufgrund der Verschiebung des CDU-Parteitags infolge der Coronapandemie nach wie vor Parteivorsitzende ist, hielt ihre per Video übertragene Rede an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Das zentrale Thema war ihre Forderung nach einem »weltpolitikfähigen« Deutschland und Europa. Dies setze »eine gut abgestimmte Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs-, Handels- und Entwicklungspolitik« voraus – allerdings vor allem mit Blick auf die NATO-Partner. Kramp-Karrenbauer sprach von einem »internationalen Systemwettbewerb«, vom »westlichen Modell der offenen Gesellschaft, der Demokratie und des Rechtsstaats« auf der einen und »autoritären Systemen«, die »mit unterschiedlichen Methoden aggressiv ihren Einfluss« ausbauten, auf der anderen Seite.
    Trotz all der ideologischen Rhetorik bemühte sich die als frühere saarländische Ministerpräsidentin in Büttenrede erprobte CDU-Politikerin, ihren Worten den Anschein einer »nüchternen« Analyse zu verpassen. Es sei Fakt, dass »ohne die nuklearen und konventionellen Fähigkeiten Amerikas« weder BRD noch EU geschützt werden könne. Und es sei eine Illusion, zu glauben, »Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA gewährleisten« zu können. Hier gehe die »Idee einer strategischen Autonomie Europas« zu weit. Kramp-Karrenbauer zufolge müssten »wir« dieses »Paradox« aushalten: sicherheitspolitisch von den USA abhängig zu sein und gleichzeitig »als Europäer mehr von dem selbst (zu) tun, was uns die Amerikaner bisher abgenommen haben«. Mit ihren Äußerungen reagierte die Ministerin auf die Kritik des französischen Präsidenten vom Vortag. Emmanuel Macron hatte eine ähnliche Äußerung Kramp-Karrenbauers als »Fehlinterpretation der Geschichte« bezeichnet und sich für mehr Eigenständigkeit der Europäer ausgesprochen.
    Mit Blick auf die Pandemie, die weltweit bislang mehr als einer Million Menschen das Leben gekostet hat, sprach Kramp-Karrenbauer von einem »gesunden Wachstumskurs«, den die künftigen Verteidigungshaushalte der NATO-Mitgliedstaaten benötigten. Jürgen Wagner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der »Informationsstelle Militarisierung«, zeigte sich gegenüber jW am Dienstag empört. Das Aufrüstungsdogma führe seit vielen Jahren »zu Chaos und Zerstörung im Globalen Süden und verschärften Konflikten mit den als Rivalen gebrandmarkten Staaten wie Russland und China«. Wagner verwies auf das Anwachsen des deutschen Militärhaushalts von 24,3 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 38,5 Milliarden im Jahr 2018 – gefolgt von einem Sprung auf 45,1 Milliarden Euro im zurückliegenden Jahr. Auch Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der »Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegs­dienstgegnerInnen«, übte im Gespräch mit jW scharfe Kritik an der Ministerin: Es brauche dringend mehr Geld im Kampf gegen den Klimawandel und die Coronapandemie anstatt für mehr Waffen und Soldaten. Er betonte: »Nur Abrüstung schafft Sicherheit.«

  132. EU-Haushalt in Sackgasse
    Ungarn und Polen legen Veto gegen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ein. Auszahlung der Coronahilfen verzögert sich weiter
    Von Steffen Stierle
    Die deutsche Ratspräsidentschaft wollte das Thema Rechtsstaatlichkeit pragmatisch handelnd von der Agenda schaffen. So sollte Brüssel für den Umgang mit Mitgliedstaaten, deren Justizsysteme den EU-Ansprüchen nicht genügen, lediglich symbolische Druckmittel an die Hand bekommen. Die BRD-Vertreter wollten eine Blockade des EU-Haushaltsrahmens für die Jahre 2021 bis 2027 sowie der Mittel zur Abfederung der wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie verhindern. Das ist gescheitert.
    Denn am Montag legten die Repräsentanten Ungarns und Polens im Rahmen einer Konferenz der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten ihr Veto gegen den Haushaltsplan ein. Zuvor hatte sich der Rat mit dem EU-Parlament auf eine Änderung des EU-Rechtsstaatsmechanismus geeinigt, durch die Brüssel die Möglichkeit erhalten sollte, Mitgliedstaaten die Zuschüsse zu kürzen, wenn deren Rechtssysteme nicht hinreichend an die wirtschaftsliberalen EU-Verträge angepasst werden. »Ungarn hat sein Veto gegen das Budget eingelegt«, hatte ein Warschauer Regierungssprecher am Montag via Kurznachrichtendienst Twitter verkündet. Man könne den Plan, Rechtsstaatskriterien an Haushaltsentscheidungen zu knüpfen, nicht akzeptieren. Dieser verstoße gegen die Beschlüsse des EU-Gipfels vom Juli – also die von der deutschen Regierung angepeilte symbolische Lösung.
    In der Tat ist es naheliegend, dass der nun blockierte Mechanismus sich vor allem gegen Ungarn und Polen richten würde, da die autoritären Regierungen in Budapest und Warschau seit Monaten immer öfter die konstitutionell-­liberale Linie des EU-Rechts verlassen und ihren Einfluss auf nationale Institutionen wie Zentralbanken und Gerichte ausbauen. Die Kompromissformel, nach der im Rahmen des überarbeiteten Mechanismus nur dann Verfahren eröffnet werden können, wenn der Missbrauch von EU-Mitteln droht, reicht nicht aus, um die Vertreter Ungarns und Polens zur Zustimmung zu motivieren. Angesichts ihrer Schwammigkeit hätte die Zusatzbedingung in der Praxis wenig Bedeutung: Sie könnte bereits erfüllt sein, wenn Gerichte nicht vollständig unabhängig sind und es deshalb denkbar ist, dass Regierungsbehörden Einfluss auf die Verteilung von EU-Mitteln nehmen. Brüssel will entscheiden, wofür das Geld aus der Gemeinschaftskasse ausgegeben wird und braucht dafür Durchgriffsrechte in den Mitgliedstaaten und Systeme, die garantieren, dass die nationalen Autoritäten ihre Finger aus dem Spiel lassen.
    Die Rechtsstaatlichkeitsevaluation der EU ist nicht nur vor dem Hintergrund der Interessenlagen Polens und Ungarns sowie einiger weiterer osteuropäischer Mitgliedstaaten problematisch. So hatte etwa der Rechtsexperte Martin Mendelski vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung bereits 2016 in einer Analyse darauf hingewiesen, dass die »Legitimität und Fähigkeit«, die Rechtsstaatlichkeit zu evaluieren, der EU nur unter der Annahme zugeschrieben werden kann, dass von dieser eine »demokratie- und rechtsstaatlichkeitsfördernde Wirkung« ausgehe. Tatsächlich könne sie aber auch »negative Wirkungen auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit« haben. Zudem sei die EU nicht politisch neutral, sondern ein Akteur, der »den Rechtsstaatlichkeitsbegriff politisiert und instrumentalisiert« und die Systeme der Mitgliedstaaten aus einer einseitigen Perspektive bewerte.
    Im EU-Parlament ist die Empörung über das Veto dennoch groß. Ungarns Staatschef Viktor Orban versuche, »Europa und Covid als Geisel für seine gescheiterte Politik zu nehmen«, ließ etwa der Haushaltspolitiker der Grünen im EU-Parlament Rasmus Andresen verlautbaren. Der EU-Abgeordnete der FDP Moritz Körner sagte, es sei »grotesk«, dass zwei der größten Nettoempfänger den Haushalt blockierten. Der Chef der konservativen EVP, Donald Tusk, forderte den Ausschluss von Orbans Partei Fidesz aus der Fraktion. Er erwarte von allen EVP-Parteien eine »klare Position zum Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit«, so der frühere Ratspräsident.
    Wie geht es weiter mit dem EU-Haushalt und den Coronahilfen? Darüber beraten nun Diplomaten zufolge Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), EU-Ratspräsident Charles Michel und die Kommissionscheffin Ursula von der Leyen. Weiter über das Thema gestritten wird voraussichtlich diesen Donnerstag bei einer Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs. Beobachter erwarten jedoch frühestens für den regulären EU-Gipfel Mitte Dezember eine Lösung. Sollte das Finanzpaket nicht auf den Weg kommen, steht der EU ab Januar nur noch ein Nothaushalt zur Verfügung. Die Auszahlung der Gelder aus dem Wiederaufbaufonds würde sich weiter verzögern.

  133. Im Konflikt der EU-Mehrheitsstaaten mit Ungarn und Polen tritt u. a. der Spiegel für Finanzstrafen gegen diese beiden Staaten ein:

    “Lässt die EU sich das gefallen [den Wegfall der “Rechtsstaatlichkeits”auflagen], kann sie sich auch gleich selbst auflösen. Sie sollte deshalb ernsthaft prüfen, was Marek Prawda, Polens ehemaliger EU-Botschafter und heutiger Vertreter der EU-Kommission in Warschau, kürzlich vorgeschlagen hat: das 750 Milliarden Euro schwere Corona-Hilfspaket vom regulären Haushalt abzulösen und in Form multilateraler Absprachen neu aufzulegen.”

    https://www.spiegel.de/politik/ausland/die-eu-muss-hart-gegen-ungarn-und-polen-vorgehen-a-9a7a2049-043e-4f39-ad47-d1f4df7ea010#ref=rss
    Ich frage mich nun, ob das EU-rechtlich überhaupt geht. Denn der mehrjährige Finanzrahmens (MFR) gemäß Art. 312 AEU-Vertrag kann doch genausowenig ohne Polen und Ungarn beschlossen werden, denn zur Beschlußfassung schreibt Wikipedia: “Die Beratung im Europäischen Rat muss anschließend einstimmig abgeschlossen werden.”

  134. Sehr gute Überlegungen zu Belarus:
    Belarus: Diktatur-Demokratie-Debatte
    Zu dem Zeitpunkt, wo ich diese Zeilen schreibe, ist noch nicht klar, ob sich der belarussische Präsident Lukaschenko an der Macht halten wird oder ob die Proteste und Sanktionen ihn zur Amtsaufgabe zwingen.
    Schon jetzt ist aber klar, dass die Proteste in Belarus einige Probleme der Linken in Deutschland in Bezug auf Analyse von Staat, Demokratie und Diktatur offenbaren.
    https://www.untergrund-blättle.ch/politik/europa/belarus-diktatur-demokraite-debatte-6114.html

  135. @ Neoprene
    A) Die Interessen der EU-Staaten lasssen sich zwar rechtlich in Paragraphen, Gesetzen, Abstimmungsmodalitäten etc. formulieren. Irgendwelche solcher Gesetze oder Abstimmungsmodalitäten limitieren nationale Interessen in ihrer Durchsetzung in der EU aber nur so weit, wie die Teilnehmer sich das wechselseitig einräumen (wollen).
    Bei den Griechenland-Kredit-Endverhandlungen hat der Rat der EU-Finanzminister den damaligen griechischen Finanzminister Varoufakis bei Beratung und Beschlussfassung einfach vor die Tür gesetzt, um sich darüber einig werden zu wollen, ob man als EU Griechenland aus dem Euro werfen sollte. (So stand eine Erpressungsdrohung von u.a. Schäuble im Raum.) Als Mitglied des EU-Rates hätte Griechenland solche Beschlussfassung per Veto nämlich verhindern können. Also hat man sich zu einem neuen Rat oder Ausschuss neu [eben ohne Griechenlands Vertreter Varoufakis| konstituiert, und als dieses neue Gremium an Griechenland eine Unterwerfungserklärung hingesemmelt, aufgrund derer Griechenland dann ja auch zu Kreuze gekrochen ist. Und Varoufakis wurde aus der griechischen Regierung gefeuert.
    Dass die EU sich von ihren eigenen Gesetzen vorschreiben ließe, was zu tun oder zu lassen wäre, glaube ich also nicht …
    Die Problematik dabei damals war auch weniger die Gesetzesmaterie und ihre Paragraphensouveränität. Sondern dass der Kurs des Euro noch weiter in den Keller ginge, würden solche fundamentalen Streitigkeiten offenbar. Die Kalkulation war dann augenscheinlich, dass der Eindruck auf die Finanzmärkte aber noch viel verheerender ausfiele, ließen sich die gesammelten etablierten EU-Finanzminister von einem Herrn Varoufakis mittels seines Vetorechtes komplett die gesamten europäischen Perspektiven vorgeigen…

    B) Das habe ich jetzt etwas prinzipialistisch auf die prinzipialistische Darstellung des SPIEGEL geantwortet. Aber so weit kommen wird es vermutlich nicht. Die Lage der EU ist heute gegenüber Ungarn nicht mit der damaligen gegenüber Griechenland gut vergleichbar. Die allgemeinen Umstände sind eben andere als damals. Die Krise ist eine allgemeine. Und der Brexit hat gezeigt, dass das Zerbrechen der EU keine Fantasie ist.
    Die Interessenlage Ungarns wird hier verdeulicht:
    https://www.dw.com/de/ungarn-und-die-eu-orb%C3%A1n-gegen-den-rest-europas/a-55572455
    Dass der Staat Ungarn auf welchem Wege auch immer aus der EU ausgeschlossen würde – ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil sie noch nicht einmal die Partei Orbans aus den Reihen der Europäischen konservativen Volkspartei haben ausschließen wollen. Die CSU hat Orban hofiert, und Orban als europäischen Konservativen zu feiern ist was anderes, als ihn als Rechtsradikalen zu brandmarken.
    Die Kalkulation lautet also: spätestens beim [auch eigenem!] Geldzufluss wird Ungarn irgendeinen “Formelkompromiss” suchen wollen. Und dass Ungarns und Polens Weltpositionierung nach Trumps Amtsende sowieso eher schwieriger ausfallen würde, das dürfte aktuell die Mehrheitsmeinung [oder -hoffnung…] in der EU sein. Ob man Polen zu einer anderen Position als Ungarn wird bringen können, dürfte auch ausgetestet werden. Dafür werden Uhren beim Beschlussfassen angehalten werden, neue Institute oder Gelder oder Rabatte bewilligt oder sonstwie national Vorzeigbares ermöglicht werden …

  136. Natürlich stimmt es, Leser, wenn du darauf verweist:
    “Die Interessen der EU-Staaten lasssen sich zwar rechtlich in Paragraphen, Gesetzen, Abstimmungsmodalitäten etc. formulieren. Irgendwelche solcher Gesetze oder Abstimmungsmodalitäten limitieren nationale Interessen in ihrer Durchsetzung in der EU aber nur so weit, wie die Teilnehmer sich das wechselseitig einräumen (wollen).”
    Jetzt stehen aber wieder recht unvereinbare Vorstellungen gegenüber, wie es in der Eu weiter gehen soll. Damit steht aber das Projekt EU als Solches zur Debatte. Mir scheint jedenfalls kaum eine einvernehmliche Regelung dieser Konflikte möglich, bei der Polen und Ungarn nicht solche massiven Zugeständnisse machen müßten, die sie bisher kategorisch abgelehnt haben.
    Ja, die Kalkulation von Mehrheits-EU-Seite und sicherlich allen voran von Deutschland dürfte sein,
    “spätestens beim [auch eigenem!] Geldzufluss wird Ungarn irgendeinen „Formelkompromiss“ suchen wollen.”
    Nur geht das doch in beide Richtungen: Spanien und Italien z.B. bekommen auch keinen Cent Corona-Fonds in die Hand, wenn Ungarn nicht massiv entgegengekommen wird und defacto das Rechtsstaatlichkeitsprinzip fallen gelassen wird. Und da geht es gleich um ganz andere Milliardenbeträge.
    Und ob Polen nun auf einmal handzahm für Macron und Merkel wird, “bloß” weil Trump wohl nicht mehr Präsident sein wird, das scheint mir auch Wunschdenken zu sein.

  137. Kein Wunschdenken, sondern eine Erinnerung an prinzipielle Bestimmungen der EU:
    Auszüge aus dem Vortrag „Die europäische Einigung: Ein deutsches Weltmachtprojekt“ (Peter Decker, GegenStandpunkt, Mai 2017)
    These: Der jetzige Kurs der BRD – schon seit den ‚Römischen Verträgen’ von vor 60 Jahren – besteht darin, dass das deutsche Nationalinteresse die Expansion auf den europäischen Raum braucht und zu seiner Sache macht. Insofern fallen Nationalismus und Supranationalimus der EU, fallen deutsches Interesse und Interesse am Aufbau Europas für Deutschland zusammen.
    Begründung: Die beiden großen Errungenschaften der EU: 1. der Binnenmarkt und 2. der Euro führen mit Notwendigkeit die Scheidung der europäischen Nationen von gleichrangigen Partnern, als die sie beginnen, in einerseits geführte und benutzte und andererseits in führende und benutzende Nationen herbei. Die Scheidung ist das Produkt der EU. Wie kommt es dazu ?
    Die Scheidung der Nationen in Macher und Mitmacher ist das gewollte Produkt der EU (…) Vor der Einführung des Binnenmarktes können die Länder noch überlegen, ob sie ihm beitreten wollen. Aber einmal eingeführt wird er zum Sachzwang für sie, dann sortiert der Binnenmarkt die nationalen Wirtschaften. Die Mitgliedsländer müssen und wollen alles, was nicht europaweit konkurrenzfähig ist und was nicht den Maßstab der europaweiten Rentabilität erfüllt, kaputtgehen lassen. Die ‚Tante Emma Läden’, kleine Firmen etc. sind nur Kosten für die Nation. Firmen, die auch in den Ländern überleben können, und in jedem Land gibt es welche, brauchen dann den Europäischen Raum und sind in ihrer Größe und Ausrichtung auf den europäischen Markt hin orientiert. Ein Rückzug ins Nationale wäre der Ruin dieser Wirtschaft und geht nicht mehr.
    Nationale Wirtschaft ist durch den Binnenmarkt nicht mehr einfach nationaler Besitzstand und nicht mehr Gegenstand einer politischen Regelung, die ein Staat immer noch vornehmen könnte. Vielmehr schafft der Binnenmarkt einen Imperativ für jede Nation und formt deren Nationalinteresse: Die Bewährung als Kapitalanlageplatz europäischer Kapitale ist jetzt das Lebensmittel der Nationen. Wer daran scheitert, verarmt. Florieren kann ein Land nur, wenn es diesen Maßstab zu erfüllen vermag.
    Mit Blick auf die Ökonomie sind also Phrasen wie ‚Wir sind doch alles Europäer, Gemeinsam ist besser als einzeln …’ – moralische, billige Sprüche für ein kompliziertes Verhältnis von Benutzung der Nationen untereinander und der Wirkung dieser Benutzung. (…)
    Jeder Schritt der Vergemeinschaftung beginnt als Angebot an die Nationen und endet als Sachzwang, denen die Nationen genügen müssen. Dieser Effekt ist inzwischen, gleich ob am Anfang gewusst oder nicht, gewollt! In dem Satz ‚Wir sind in einer immer engeren Union vereint’ wird ausgedrückt, dass man den unwiderruflichen Einbau der Nationen in dieses europäische Projekt herbeiführen und sicherstellen will und dass man ihn nicht durch politische Entscheidungen umkehren können soll. Die nationalen Interessen sowohl der erfolgreichen wie der erfolglosen Nationen sollen alternativlos auf die Bewährung am europäischen Binnenmarkt und im Euro festgelegt werden, darin sollen sie ihren nationalen Erfolg suchen.
    Dabei wird die Souveränität der souveränen europäischen Staaten nicht abgeschafft wie unter Nazideutschland, das die Nachbarländer eroberte, die Regierungen beseitigte und sie zur deutschen Provinz erklärte. Die Souveränität der Mitgliedsländer wird anerkannt, aber auf einen bestimmten Kurs festgelegt und der Sache nach materiell ausgehöhlt. Die Nationen sollen nicht mehr anders können, als auf diese Mittel zu setzen und sich an diesen Gesichtspunkten bewähren wollen. (…)
    Alle lassen sich auf die Vergemeinschaftung nur wegen sich und ihrem Konkurrenzzuwachs ein. Die anderen kommen aus Not immer wieder mal auf Ideen –die Arbeitslosenkasse, die Bankenrettung, die Bankenunion- sich die deutsche Potenz mit anzueignen, indem sie zur Vergemeinschaftung dieses oder jenes Politikfeldes bereit wären.
    Der Kernwiderspruch des ganzen Projekts ist: Lauter nationale Egoismen tun sich zur supranationalen Ordnung zusammen, um als Nation daran zu gewinnen.
    (…) Die Rechten wollen die EU dahingehend auflösen, dass Nationen für ihre Interessen Bündnisse eingehen und Kooperationen mit anderen Partnerstaaten machen, wobei aber die Nation über dem Bündnis stehen muss. Das Bündnis muss jederzeit zur Disposition der Nation stehen, sie muss es je nach Nutzen eingehen und kündigen können. Aber ein Bündnis, das von ihnen eingegangen wird, um Mittel der Nation zu sein, zugleich aber über ihnen stehen soll, wobei sie sich den Erfordernissen des Bündnisses rechtlich unterordnen müssen, das ist ein Widerspruch, den die Rechten nicht aushalten. (…)
    Es gibt ein Argument für Europa, dass die Rechten gerne mitmachen. Außenminister Gabriel sagt: ‚In der Welt des 21. Jhdts, in der Großmächte wie die USA, China und Russland das Sagen haben, sind alle europäischen Staaten, auch die großen, zu klein um ihren Werten und Interessen Gehör zu verschaffen.’ – „Gehör Verschaffen“ ist sehr höflich ausgedrückt. Bei den Interessen geht es nicht um ‚Gehör’, sondern um die Durchsetzung; zu klein sind die EU-Staaten als eigene Mächte, um die nötige Erpressung aufzubringen, um ihren Interessen gegen die Interessen anderer großer Mächte Geltung zu verschaffen.
    Es sind nicht wir, die dem europäischen Projekt Imperialismus nachsagen, es sind seine Protagonisten, die mit Imperialismus für es werben. Das kann man auch bei der FPÖ lesen: Als Bündnis gegen die großen Imperialisten der Welt findet auch sie das Zusammenstehen der europäischen Staaten gut. (…)
    In den kleinen Markt der bloßen Nation will niemand zurück, auch Trump nicht, wenn er meint, die Unternehmer sollen in den USA investieren, sonst gibt es Strafzölle zur Zerstörung des Geschäfts. Er meint nicht, die USA ist selbst genügsam und alle bleiben zu Hause, sondern ‚Wir beherrschen die Welt doch sowieso’…
    https://www.contradictio.de/blog/wp-content/uploads/2017-05-04-Europa-Nbg-Mitschrift.pdf

  138. WEnn Decker die These aufstellt,
    ” Die beiden großen Errungenschaften der EU: 1. der Binnenmarkt und 2. der Euro führen mit Notwendigkeit die Scheidung der europäischen Nationen von gleichrangigen Partnern, als die sie beginnen, in einerseits geführte und benutzte und andererseits in führende und benutzende Nationen herbei.”
    wird das wirtschaftlich/finaziell schon so sein. Es bleibt aber eben der vom GSP als “Kernwiderspruch” gekennzeichnete Sachverhalt, “Lauter nationale Egoismen tun sich zur supranationalen Ordnung zusammen, um als Nation daran zu gewinnen.” Und diese nationalen Egoismen sind nicht immer einfach in Euro aufzuwiegen oder zu befriedigen.
    Andererseits muß ich zugeben, daß ich schon beim letzten großen Konflikt in der EU um die Corona-Fonds gedacht hatte, daß die konfligierenden Nationalismen stärker aufeinander krachen. Vielleicht ist ja auch diesmal letztlich viel Lärm um Nichts zugange, wir werden es sicher bald sehen.

  139. Wenn du der Grundthese Deckers zustimmst, dem als „Kernwiderspruch“ gekennzeichneten Sachverhalt, „lauter nationale Egoismen tun sich zur supranationalen Ordnung zusammen, um als Nation daran zu gewinnen…“
    … dann wäre zu fragen, ob sich das für Ungarn 2020 so völlig anders darstellt, sodass Ungarn bzw. Orban insgeheim mit einem “Ungarix” liebäugeln täte.
    Die andere Version wäre, dass Ungarn nach den anstehenden EU-Ratsverhandlungen in Ungarn national sich damit brüstet, dass auch dieses Mal die EU angeblich mal wieder letztlich nach ungarischer Pfeife tanzen würde…

  140. Biden spricht mit Netanjahu
    Pompeo in Israel. Designierter US-Präsident treibt Amtsübernahme voran
    Der Außenminister der scheidenden US-Regierung von Präsident Donald Trump, Michael Pompeo, ist am Mittwoch zu einem Abschiedsbesuch in Israel eingetroffen. Palästinenser protestierten, weil Pompeo laut Medienberichten als erster US-Außenminister eine Siedlung im von Israel besetzten Westjordanland besuchen will.
    Zu Beginn des zweitägigen Besuchs war am Abend ein Treffen mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Bahrains Außenminister Abdellatif Al-Sajani geplant, der Israel als erster Minister der Golfmonarchie besuchte. Treffen mit Vertretern der Palästinenser stehen nicht auf dem Programm.
    Zuvor hatte am Dienstag bereits der gewählte US-Präsident Joseph Biden mit Netanjahu telefoniert. Biden sagte dem Premierminister dabei seine »Unterstützung für die Sicherheit Israels und die Zukunft des Landes als jüdischer und demokratischer Staat« zu, wie das Übergangsteam des US-Demokraten erklärte. Er wolle »eng« mit Netanjahu zusammenarbeiten und die Beziehungen zwischen beiden Ländern »stärken«.
    Biden telefonierte am Dienstag auch mit Israels Staatschef Reuven Rivlin, außerdem mit dem indischen Regierungschef Narendra Modi, dem südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa und Chiles Staatschef Sebastián Piñera. Der 77jährige, der am 20. Januar als 46. Präsident der US-Geschichte vereidigt werden soll, bereitet derzeit trotz Trumps Widerstand die Übernahme der Amtsgeschäfte vor. Trump hat bislang seine Wahlniederlage nicht eingestanden. Der Amtsinhaber spricht von Wahlbetrug und hat eine Reihe von Klagen eingereicht. Trump blockiert auch eine Übergabe der Amtsgeschäfte an Bidens Übergangsteam.
    Der Wahlsieger stellt derweil weiter seine künftige Führungsmannschaft zusammen. Am Dienstag wählte er eine Reihe von Vertrauten für Schlüsselpositionen im Weißen Haus aus. Bidens 44jährige Wahlkampfleiterin Jennifer O’Malley Dillon soll stellvertretende Stabschefin im Weißen Haus werden. Der afroamerikanische Abgeordnete Cedric Richmond, der in Bidens Wahlkampf ebenfalls eine zentrale Rolle spielte, wird als »Senior Advisor« ein führender Präsidentenberater. Ebenfalls zum Senior Advisor ernannte Biden seinen Chefwahlkampfstrategen und langjährigen Vertrauten Mike Donilon. (AFP/jW)
    Illusion und Realität
    Nach Bidens Wahlsieg droht dem Iran die Konfrontation mit einem US-amerikanisch-europäischen Bündnis
    Von Knut Mellenthin
    Die iranische Regierung hat den USA am Dienstag für den Fall eines Angriffs mit einer »zerschmetternden Antwort« gedroht. Sie reagierte damit auf Pressemeldungen, dass Donald Trump sich am vorigen Donnerstag bei einer Beratung im Weißen Haus nach »militärischen Optionen« gegen das iranische Atomprogramm erkundigt habe. Trump hat bis zur Vereidigung von Joseph Biden am 20. Januar noch zwei Monate Präsidentschaft vor sich und will die Zeit nutzen, um seinem Nachfolger eine Verständigung mit dem Iran so schwer wie möglich zu machen.
    Um so größere Hoffnungen setzt die Regierung in Teheran anscheinend auf den nächsten US-Präsidenten. Die Nachrichtenagentur Reuters zitierte Außenminister Mohammed Dschawad Sarif am Dienstag mit der Aussage: »Wir sind bereit, darüber zu diskutieren, wie die USA dem (Wiener) Abkommen wieder beitreten können. Wenn Herr Biden den Willen hat, die Verpflichtungen der USA zu erfüllen, können auch wir sofort zur vollen Erfüllung unserer Verpflichtungen durch das Abkommen zurückkehren (…) und Verhandlungen im Rahmen von ›Fünf plus eins‹ (fünf UN-Vetomächte plus BRD, Anm. jW ) werden möglich. (…) Die Situation wird sich in den allernächsten Monaten verbessern. Biden kann alle Sanktionen mit drei Anordnungen aufheben.«
    Als Reaktion auf den von Trump im Mai 2018 verkündeten Ausstieg aus den Wiener Vereinbarungen hatte der Iran ein Jahr später begonnen, sich seinerseits nicht mehr an alle Beschränkungen zu halten, die sich aus dem Abkommen ergeben. Damit sollte vor allem Druck auf die europäischen Vertragspartner Deutschland, Frankreich und Großbritannien ausgeübt werden, trotz der US-Sanktionen normale Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zum Iran wiederherzustellen.
    Ein offensichtliches Problem besteht aber darin, dass eine Rückkehr der USA zum Wiener Abkommen nicht automatisch eine Aufhebung aller Strafmaßnahmen zur Folge haben müsste: Die 2015 unterzeichneten Vereinbarungen beziehen sich ausschließlich auf »nuklearbezogene« Sanktionen. Anders begründete Maßnahmen bleiben davon unberührt. Das gilt für fast alle Anordnungen Trumps. Sie betreffen unter anderem alle iranischen Banken und den gesamten Energiesektor des Landes. Dadurch würden die Erleichterungen, die sich aus einer Rückkehr der USA zu ihren Verpflichtungen aus dem Wiener Abkommen ergeben könnten, gleich wieder zunichte gemacht. In den betont »optimistischen« Stellungnahmen der iranischen Regierung kommt dieser Aspekt jedoch nicht vor.
    Was sagt Biden selbst dazu? Der US-Sender CNN veröffentlichte am 13. September eine Stellungnahme des Kandidaten unter der Überschrift »There’s a smarter way to be tough on Iran«. Dort kündigte er einerseits an: »Ich werde Teheran einen glaubwürdigen Rückweg zur Diplomatie anbieten. Falls der Iran zur strikten Einhaltung des Atomabkommens zurückkehrt, würden die USA dem Abkommen als Ausgangspunkt für darauffolgende Verhandlungen wieder beitreten.« – Andererseits sagte Biden dort aber auch: »Wir werden fortfahren, gezielte Sanktionen gegen Irans Menschenrechtsverletzungen, seine Unterstützung des Terrorismus und sein Raketenprogramm einzusetzen.«
    Wenn man das ernst nimmt, bedeutet es eindeutig, dass Biden die meisten von seinem Vorgänger angeordneten Sanktionen in Kraft lassen wird. Selbst wenn er etwas anderes wollte, hätte er im Kongress nicht nur die Republikaner gegen sich, sondern auch die Mehrheit der Abgeordneten und Senatoren seiner eigenen Partei würde ihm nicht folgen.
    Ebenso wie Trump, nur mit etwas »diplomatischeren« und klügeren Mitteln, strebt auch Biden eine Neuverhandlung des Wiener Abkommens an. An erster Stelle steht dabei zumindest eine erhebliche Verlängerung der Laufzeit aller Beschränkungen des iranischen Atomprogramms oder sogar deren Verewigung. Darüber hinaus soll der Iran dazu gebracht werden, die Unterstützung seiner Verbündeten – der syrischen Regierung, der libanesischen Hisbollah, der irakischen Schiiten, des palästinensischen Widerstands und der jemenitischen Gegenregierung – aufzugeben und die Entwicklung von Raketen einzustellen. Nicht einmal andeutungsweise wird jedoch darüber gesprochen, mit welchen Gegenleistungen die Iraner rechnen könnten, wenn sie sich auf diese Zumutungen einließen.
    Bidens Vorteil ist, dass die europäischen Staaten – insbesondere das Trio Deutschland, Frankreich und Großbritannien – nach seinem Wahlsieg geradezu darauf drängen, möglichst schnell die von Trump schwer beschädigte transatlantische Zusammenarbeit im vollen Umfang wiederherzustellen. In einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk bekannte Bundesaußenminister Heiko Maas sich am 9. November zum gemeinsamen Ziel eines »erweiterten Abkommens«, das auch Irans Raketenprogramm und seine »regionale Rolle« einbeziehen müsse. »Es wird nicht so sein, dass der Iran sein Verhalten so fortsetzen kann, und alle dann wieder in dieses Abkommen einsteigen. Da muss der Iran sich auch ganz wesentlich bewegen.« Realistisch betrachtet wird der Iran es daher mit Biden nicht leichter, sondern noch schwerer haben als mit Trump.
    Hintergrund: Sehr kleines Fenster
    Falls der nächste Präsident der USA, Joseph Biden, wirklich an einer Verständigung mit dem Iran interessiert wäre, müsste er in einem engen Zeitfenster von weniger als einem Jahr zu wesentlichen Ergebnissen kommen: Die Amtszeit seines Kollegen Hassan Rohani, unter dessen Führung im Juli 2015 das Wiener Abkommen geschlossen wurde, endet Anfang August 2021. Dessen Nachfolger wird wahrscheinlich ein illusionsloser »Hardliner« werden.
    Im Juni 2021, vielleicht auch schon im Mai, wird im Iran ein neuer Präsident gewählt. Rohani darf nicht noch einmal antreten. Zum jetzigen Zeitpunkt zeichnet sich noch nicht ab, welche Kandidaten sich bewerben wollen. Wer schließlich zur Wahl zugelassen wird, entscheiden die zwölf Mitglieder des »Wächterrats«, die je zur Hälfte vom »Revolutionsführer« Ali Khamenei ernannt und vom Parlament ausgewählt werden.
    Der von den »Reformisten« und »Zentristen« unterstützte Rohani, der 2017 die Präsidentenwahl mit einem Stimmenanteil von 57,14 Prozent gewann, hat seither deutlich an Sympathie verloren. Hauptgrund dafür ist die dauerhafte Wirtschaftskrise, die ihre Ursache nicht nur in den Folgen der US-Sanktionen und der Beschränkungen infolge der Coronapandemie hat, aber durch diese Faktoren weiter verstärkt wird.
    Bei der Parlamentswahl im Februar 2020 verloren Rohanis Unterstützer ihre Mehrheit von über 60 Prozent und fielen auf kaum noch 20 Prozent. Die stärkste Gruppe wird seither von konservativen Abgeordneten gestellt. Viele Kandidaten aus den Reihen der »Reformisten«, die daraufhin zum Wahlboykott aufriefen, waren gar nicht erst zugelassen worden.
    Für die Konservativen war das Wiener Abkommen von Anfang an ein naiver Fehler, wenn nicht sogar Verrat. Trumps Konfrontationskurs, aber auch das opportunistische Taktieren der EU haben diese Sicht bestätigt und verhärtet. (km)
    Im Nahen Osten brodelt es vor dem wahrscheinlichen Ende von Trumps Präsidentschaft
    Außenminister Pompeo in Israel mit neuen Sanktionen gegen Iran, Israel bombardiert iranische Ziele in Syrien, Iran beschleunigt die Urananreicherung und eine seltsame Geschichte über einen Anschlag auf einen al-Qaida-Chef in Teheran

  141. EU im offenen Konflikt
    Mitgliedstaaten und Kommission streiten über Agrarreform. Klöckner beharrt auf Agrobusinesspläne
    Von Raphaël Schmeller
    Die EU steckt mal wieder in einer Krise. Als sei das Veto Ungarns und Polens zum Haushaltsrahmen für die kommenden sieben Jahre (siehe jW vom 18. November) nicht genug, ist nun auch ein offener Streit um die »Gemeinsame Agrarpolitik« (GAP) ausgebrochen – die den zweitgrößten Haushaltsposten der EU repräsentiert. »Unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist auch die ›Weiter-so-Blockade‹ gescheitert«, stellte deswegen Kirsten Tackmann, agrarpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke, am Mittwoch gegenüber jW fest.
    Den Konflikt befeuert haben Äußerungen von Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission und Ressortchef für Klimaschutz. Dieser hatte am vergangenen Montag beim »Wirtschaftsgipfel« der Süddeutschen Zeitung die Einigung auf eine Agrarreform von Ende Oktober (siehe jW vom 22. Oktober) mit Blick auf Versäumnisse beim Umweltschutz kritisiert. »Wir müssen so viel schaffen, und die Agrarpoltik kann das auch schaffen«, sagte er. Aber dazu müsse man »ein bisschen mehr ambitioniert sein«, als die Landwirtschaftsminister es seien. Es gehe jetzt darum, dass die Kommission »auf Augenhöhe« mit den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament verhandele, sagte Timmermans weiter. Auf die Frage, ob die Möglichkeit bestehe, dass die Kommission ihren Vorschlag zurückziehe, antwortete er, dieses Recht habe sie immer, wenn die Positionen von Parlament und Rat sich zu weit davon entfernten.
    Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) reagierte prompt: »Es ist dringend geboten, demokratische Kompromisse, die mit guten Gründen so gefunden wurden, ernst zu nehmen«, sagte sie im Rahmen der informellen Videokonferenz der zuständigen EU-Minister am Montag und Dienstag. »So etwas lapidar in den Wind zu schlagen, das ist für die Kultur in der EU weder gut, noch ist es glaubwürdig für die Zukunft«, versuchte sie die unter ihrer Leitung vereinbarten Reformpläne zu verteidigen. Klöckners Ministerium zufolge zeigten sich auch die EU-Kollegen am Montag »zutiefst irritiert darüber, dass demokratisch gefundene Kompromisse von 27 Mitgliedstaaten sowie der Mehrheit des EU Parlaments in Frage gestellt würden«.
    Dass trotz »demokratischer Kompromisse« – ein Brüsseler Euphemismus für schlechte Vereinbarungen – die Pläne für die GAP weiter in Frage gestellt werden, ist wenig verwunderlich. Denn ursprünglich sollten Milliardensubventionen für »Klimaschutz« vereinbart werden; es hatte geheißen, man wolle einen »Systemwechsel« einleiten. Doch daraus wurde nichts. »Gemessen an den Herausforderungen und den daraus abgeleiteten ambitionierten EU-Beschlüssen zum ›Green Deal‹, zu ›Farm to Fork‹ und zur Biodiversitätsstrategie sind die Kompromisse von Kommission und EU-Parlament enttäuschend«, sagte die Linken-Sprecherin Tackmann.
    Konkret betrachtet, ändert sich am Prinzip der Flächenprämie – wer mehr Hektar bewirtschaftet, bekommt mehr Geld – kaum etwas, es gibt quasi keine verbindlichen Beschlüsse zum Umweltschutz sowie zur Reduzierung von Pestiziden, Sanktionsmechanismen gegen klimaschädliche Landwirtschaft wurden nicht beschlossen – kurz: Die industrielle Agrarlobby hat sich weitestgehend durchgesetzt. »Im Trilog kann und muss jetzt innerhalb und außerhalb der Parlamente darum gekämpft werden, dass die Fördergelder ausschließlich die Agrarbetriebe unterstützen, die das Klima, die biologische Vielfalt, Wasser, Luft und Boden schützen und gleichzeitig auch fair bezahlte Arbeitsplätze vor Ort schaffen und sichern«, forderte Tackmann. Eines ist jedenfalls jetzt schon sicher: Egal, wie der interne EU-Streit ausgehen wird, der »Green Deal« der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist Geschichte.
    Die strategische Autonomie der EU (19.11.2020)
    EU-Verteidigungsminister vor Debatte über Schritte zu größerer “strategischer Autonomie” – über PESCO und den “strategischen Kompass”.
    BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Neue Schritte zur Erlangung “strategischer Autonomie” stehen im Mittelpunkt der morgigen Videokonferenz der EU-Verteidigungsminister. Zum einen ist eine “strategische Überprüfung” von PESCO vorgesehen; das Anfang 2018 gestartete Projekt hat zum Ziel, die rüstungsindustrielle und die militärische Eigenständigkeit der EU zu vergrößern. Zu Monatsbeginn ist nach mehrjährigen Auseinandersetzungen eine Lösung für den Konflikt um die Frage, ob sich Drittstaaten an PESCO beteiligen dürfen, in Kraft getreten; dies wird möglich sein, allerdings nur in engen Grenzen, die für die US-Rüstungsindustrie nachteilig sind. Unabhängig davon bescheinigen Spezialisten PESCO gravierende Mängel. Darüber hinaus debattieren die EU-Verteidigungsminister morgen über den deutschen Plan, einen “strategischen Kompass” für die Union zu schaffen, der die widersprüchlichen Interessen der Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen Nenner bringen soll. In der Debatte, ob sich “strategische Autonomie” der EU in absehbarer Zeit erreichen lassen wird, gibt sich Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer skeptisch.
    PESCO wird “überprüft”
    Das im Jahr 2018 gestartete Projekt PESCO (Permanent Structured Cooperation, Ständige Strukturierte Zusammenarbeit), das einen Schwerpunkt der morgigen Videokonferenz der EU-Verteidigungsminister bildet, geht nächstes Jahr in seine zweite Phase (2021 bis 2025) und wird deshalb aktuell einer “strategischen Überprüfung” unterzogen. Das Ziel des Projekts ist es, die Erlangung “strategischer Autonomie” rüstungsindustriell sowie militärisch zu beschleunigen. Zur Zeit sind 46 Einzelvorhaben in Arbeit; eins ist inzwischen beendet worden. Zu ihnen zählen so unterschiedliche Vorhaben wie der Aufbau logistischer Knotenpunkte für die Streitkräfte der Mitgliedstaaten und die Entwicklung der “Eurodrohne”. Während offiziell zuweilen Fortschritte vermeldet werden, äußern sich Spezialisten immer skeptischer über das Projekt. So hieß es bereits im Mai unter Berufung auf ein internes Dokument, man stehe vor einem “Debakel”; lediglich ein Drittel der PESCO-Vorhaben entwickle sich erfolgversprechend, die Mehrheit befinde sich immer noch im Planungsstadium.[1] In einem Bericht über einen Workshop, den Ende September das Bundesverteidigungsministerium sowie die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gemeinsam abhielten, heißt es, die 47 PESCO-Vorhaben könnten “größere Kohärenz” vertragen; man müsse abwarten, ob nicht einige von ihnen sogar ganz über Bord geworfen würden.[2]
    Die Drittstaatenfrage
    Unabhängig davon ist es der Bundesregierung Ende Oktober gelungen, im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft einen seit Beginn des PESCO-Projekts schwelenden Streitpunkt zu lösen: die Frage, ob auch Unternehmen aus Ländern teilnehmen dürfen, die nicht der EU angehören. Im Grundsatz widerspricht das dem eigentlichen Ziel von PESCO. Allerdings gibt es Ausnahmen; so ist etwa die Teilnahme Großbritanniens und britischer Unternehmen trotz des Brexit durchaus erwünscht: Wegen seines erheblichen politisch-militärischen Gewichts wollen Berlin und Brüssel das Vereinigte Königreich in Belangen der Außenpolitik so eng wie möglich an die EU anbinden; die Bundesregierung hat dazu sogar das sogenannte E3-Format etabliert (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Umstritten ist hingegen die Beteiligung von US-Konzernen. Während sich etwa Frankreich zunächst strikt gegen sie verwahrte [4], plädierten andere, Polen oder die Niederlande etwa, aufgrund ihrer speziellen transatlantischen Bindung dafür, der Beteiligung von US-Unternehmen an PESCO-Projekten keinerlei Steine in den Weg zu legen, auch wenn damit möglicherweise ein Abfluss von EU-Mitteln in die Vereinigten Staaten verbunden wäre. Ein Argument, auf das sie sich stützen konnten: US-Konzerne sind auf so manchen Feldern technologisch klar überlegen; das könne man sich zunutze machen, hieß es.
    Nur in engen Grenzen
    Die Einigung, die Berlin am 28. Oktober erzielen konnte und die am 5. November rechtskräftig wurde, ist vor allem in US-Rüstungskreisen auf Unmut gestoßen. Der EU-Kompromiss sieht vor, dass Unternehmen mit Firmensitz außerhalb der Union grundsätzlich an PESCO-Vorhaben teilnehmen können. Allerdings muss die Teilnahme für jedes Vorhaben einzeln beantragt werden. Zudem müssen nicht nur die EU-Staaten zustimmen, die an dem Vorhaben über ihre Streitkräfte oder über Unternehmen direkt beteiligt sind; auch der Europäische Rat muss einverstanden sein – einstimmig. Damit hat faktisch jeder EU-Staat die Möglichkeit, ein Veto gegen die Beteiligung beispielsweise eines US-Rüstungskonzerns einzulegen. Hinzu kommt, dass kein einziges für ein PESCO-Vorhaben genutztes Bauteil fremden Exportbeschränkungen unterliegen darf; dies richtet sich vor allem gegen die Nutzung von US-Technologie, die wegen US-Restriktionen (“ITAR”, german-foreign-policy.com berichtete [5]) üblicherweise nur mit expliziter Genehmigung Washingtons genutzt und weiterexportiert werden kann.[6] Stoßen diese Einschränkungen in den USA auf Unmut, so ruft beim NATO-Mitglied Türkei Ärger hervor, dass die neuen PESCO-Drittstaatenregeln “gemeinsame Werte” wie auch klare Kompatibilität mit den Interessen der EU-Mitgliedstaaten zur Voraussetzung machen.[7] Spätestens seit der Eskalation des Konflikts mit Griechenland und Zypern kommen türkische Unternehmen damit für PESCO kaum noch in Betracht.[8]
    Der “strategische Kompass”
    Neben PESCO werden sich die EU-Verteidigungsminister am morgigen Freitag vor allem mit dem geplanten “Strategischen Kompass” befassen. Der Sache nach handelt es sich bei dem Projekt um einen Versuch, die widersprüchlichen außen- und militärpolitischen Interessen der Mitgliedstaaten, die einer schlagkräftigeren Weltpolitik der Union bisher im Wege stehen, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Als Hebel soll eine gemeinsame “Bedrohungsanalyse” dienen, aus der Brüssel dann eine gemeinsame Strategie sowie eine klarere Fokussierung der Aufrüstung der einzelnen EU-Staaten ableiten will. Die Bedrohungsanalyse soll – so lautet der Plan – noch in diesem Jahr fertiggestellt werden; auf eine Grundlage sollen sich die Geheimdienste der einzelnen Länder sowie ihr EU-Äquivalent (European Union Intelligence and Situation Centre, EU IntCen) einigen. Damit wird die Festlegung zentraler Koordinaten der künftigen EU-Außen- und Militärpolitik noch weiter als bisher jeglicher demokratischen Kontrolle entzogen. Davon unabhängig werden jedoch auch gegenüber dem “Strategischen Kompass” erste skeptische Stimmen laut. Die EU setze sich große Ziele, habe jedoch nicht einmal ausreichende Mittel, um wenigstens auf Konflikte und Krisen “in ihrer Umgebung zu antworten”, hieß es Ende September auf dem erwähnten Workshop des Verteidigungsministeriums und der DGAP; zeige der “Kompass” keine konkreten Lösungen auf, helfe auch er nicht weiter.[10]
    “Noch auf die USA angewiesen”
    Ernüchtert dadurch, dass die vor inzwischen über vier Jahren – noch vor dem Wahlsieg von US-Präsident Donald Trump – stolz angekündigte “strategische Autonomie” der EU [11] nicht die von den deutsch-europäischen Eliten erhofften Fortschritte macht, gibt sich Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im Hinblick auf die Entwicklung der nächsten Jahre eher skeptisch. Wie sie am Dienstag in einer Grundsatzrede konstatierte, stellen die USA zur Zeit laut Schätzung des britischen Royal United Services Institute (RUSI) “75 Prozent aller NATO-Fähigkeiten”.[12] “All dies zu kompensieren würde nach seriösen Schätzungen Jahrzehnte dauern und unsere heutigen Verteidigungshaushalte mehr als bescheiden daherkommen lassen”, stellte die Ministerin fest: Wenn “die Idee einer strategischen Autonomie Europas … die Illusion” nähre, “wir könnten Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA gewährleisten”, dann gehe sie “zu weit”; “Deutschland und Europa” seien jedenfalls “auf absehbare Zeit” auf “die nuklearen und konventionellen Fähigkeiten Amerikas” angewiesen. Kramp-Karrenbauers Urteil wird zur Zeit in Frankreich scharf kritisiert; Präsident Emmanuel Macron dringt energisch auf schnellere Fortschritte. Ausgelöst worden ist die weiter andauernde Debatte freilich dadurch, dass die erhofften Fortschritte trotz gelegentlicher verbaler Kraftmeierei noch nicht eingetreten sind.

  142. Wenn Leser schreibt, “wäre zu fragen, ob sich das für Ungarn 2020 so völlig anders darstellt”, dann ist meine Antwort: Natürlich nicht, auch Ungarn, auch Polen und all die anderen kleineren Staaten, die bei der EU mitmachen, versprechen sich davon, daß ihr jeweiliger Staat damit besser über die Runden kommt (wobei das “besser” sicherlich von den einzelnen Staaten unterschiedliche gefüllt wird, natürlich sicherlich in erster Linie ökonomisch). Aber mit Sicherheit denkt jeder Staat, daß seine nationalen Entscheidungsfreiheiten nicht ohne seine explizite Zustimmung zugunsten von EU-Gremien eingeschränkt werden darf. Die EU ist ja ein “freiwilliger” Zusammenschluß und nicht das Ergebnis einer Neuauflage des zweiten Weltkriegs, wo Deutschland schon mal Europa neu “ordnen” wollte.
    Deshalb glaube ich nicht, daß immer alle konkreten Konflikte auf welchem Gebiet auch immer, vor allem bei den Fragen der Außenpolitik, dem Grenzregime, der Flüchtlingspolitik, der inneren Verfaßtheit der Staaten usw, durch einen mit Geld unterlegten Formelkompromiß geschlichtet werden können. Das ist ja bisher auch nicht passiert. Was sollte denn mittlerweile so grundsätzlich anders geworden sein, daß nunmehr alle diese nationalen Vorbehalte und Differrenzen von der Mehrheit (unter der Führung von Deutschland und/oder Frankreich?) weggebügelt werden könnten.

  143. Zu der Debatte von Leser und Neoprene erinnere ich nur daran, daß so eine Einheit wie im Fall Griechenland inzwischen schwer wieder herzustellen sein wird. Es ist eben nicht so, daß Deutschland auf den Tisch haut und alle folgen.
    Man merkt ja auch, daß der Brexit da einiges umgestoßen hat.
    Mir erscheint, daß diese ganze Debatte um Ungarn und Polen in den Medien falsch dargestellt wird. Da werden zwei isolierte Länder mit verschrobenen Potentaten präsentiert, die endlich zur Räson gebracht werden müssen.
    Ich denke, daß die Regierungen Ungarns und Polens durchaus Sympathisanten in Osteuropa und sogar in den Zentren der EU haben.
    Das macht die Frage eben so brisant und erzeugt verstärkten Handlungsbedarf. Genau gegen so Parteien wie AfD, Vox oder Vlaams Block sollen da autoritäre Tendenzen in die Schranken gewiesen werden.
    Orbán und die polnische Regierung spielen nicht va banque, die haben die Stimmung ausgelotet und wissen, daß sie nicht allein sind.

  144. Stephan Kaufmann über Freihandel und Handel als Waffe – anlässlich des Abkommens RCEP in Asien, also einer ” …Freihandelszone mit 15 Staaten, die 30 Prozent der Wirtschaftsleistung und ein Drittel der Weltbevölkerung stellen. Das Problem für die EU und die USA: Sie sind nicht mit dabei. (…) Wurden Freihandelsabkommen früher von westlichen Politikern und Ökonomen gelobt mit dem Argument, sie würden Handelsbarrieren abbauen und dadurch den Wohlstand mehren, so gilt Asiens RCEP derzeit als Gefahr. Weniger wegen der Ökonomie: »Die kurzfristige wirtschaftliche Bedeutung des Abkommens ist begrenzt«, erklärte Clemens Fuest, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo. Sondern weil RCEP »im Erfolgsfall China einen Hebel geben könnte, seinen Einfluss in der Welt auszuweiten«, warnt die US-Denkfabrik Brookings.
    Seit die globale Dominanz des Westens erschüttert ist, werden Freihandelsabkommen als das besprochen, was sie immer schon waren: nicht bloß Instrumente des Wirtschaftswachstums, sondern Mittel zur Festigung politischer Macht. Niemand weiß das besser als die US-Regierung. »Seit dem Zweiten Weltkrieg waren Handelsverträge mit Geopolitik verbunden und fanden meist statt zwischen Staaten, die auch militärisch kooperierten«, so US-Ökonom Barry Eichengreen. »Nicht zuletzt sollte der Handel dazu dienen, die betreffenden Allianzen zu stärken.« (…)
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144712.freihandel-handel-als-waffe.html?sstr=Stephan%20Kaufmann

  145. Auf Konfrontationskurs
    Polen blockiert weiter EU-Haushaltsplan. Warschaus Justizminister bringt Austritt aus Staatenverbund ins Spiel
    Von Reinhard Lauterbach, Poznan
    In Polen wächst die Sorge, dass die Regierungskoalition »Vereinigte Rechte« das Land Richtung Austritt aus der EU bringen könnte. Hintergrund sind Drohungen von Regierungsmitgliedern, gemeinsam mit Ungarn den nächsten siebenjährigen Budgetrahmen der EU durch ein Veto zu Fall zu bringen. Dazu werde es kommen, wenn die EU darauf bestehe, die Auszahlung von Fördergeldern künftig an die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit – insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz gegenüber der Regierung und die Einhaltung von Minderheitenrechten – zu knüpfen. Polen gehe es darum, diesen Mechanismus entweder ganz zu kippen, oder ihm »die Zähne auszuschlagen«, zitierte am Montag die wirtschaftsnahe Tageszeitung Rzeczpospolita aus »Regierungskreisen«.
    Die polnische Regierung hält das, was sich die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat einfallen lassen, um den »Rechtsstaatsmechanismus« von den Haushaltsverhandlungen – für die Einstimmigkeit erforderlich ist – unabhängig zu machen, für »vertragswidrig«. Zu diesem Zweck soll eine Verordnung zum »Schutz des EU-Haushalts« verabschiedet werden. Dafür ist keine Einstimmigkeit erforderlich, und bei einer Konferenz der EU-Botschafter aller Mitgliedstaaten am Montag war das Abstimmungsergebnis 25 zu zwei zugunsten dieser Verordnung. Ein Videogipfel der Regierungschefs am Donnerstag abend brachte keine neuen Entwicklungen, außer, dass sich zu den beiden »Rebellenstaaten« Polen und Ungarn ein potentieller Verbündeter gesellte: Slowenien, das im zweiten Halbjahr 2021 die rotierende Ratspräsidentschaft innehaben wird. Dessen rechtskonservativer Regierungschef Janez Jansa hatte in einem Brief die polnische Argumentation mit der Vertragswidrigkeit in weiten Teilen übernommen – allerdings selbst nicht mit einem Veto gedroht.
    Sollte Polen seine Vetodrohung beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 10. und 11. Dezember wahrmachen, passiert zweierlei: Einerseits müsste die EU mit Nothaushalten weiterarbeiten, die ihr erlauben, jeden Monat ein Zwölftel des jeweiligen Haushaltstitels des vergangenen Jahres auszugeben. Das erhöht den Verwaltungsaufwand und erschwert die langfristige Planung, führt aber nicht dazu, dass in Brüssel die Lichter ausgehen. Die zweite Folge ist weitreichender: Mit dem siebenjährigen Finanzrahmen in Höhe von 1,1 Billionen Euro ist auch ein Paket an Hilfszahlungen im Umfang von 750 Milliarden verbunden, das die Mitgliedstaaten zur Linderung der Krisenfolgen verwenden sollen. Polen wäre mit geschätzten 160 Milliarden Euro einer der größten Begünstigten des künftigen Haushaltsrahmens und des Hilfsfonds.
    Auf diese Tatsache stützen die Verfechter der EU-Bürokratie die Hoffnung, dass Warschau sich letztlich doch nicht trauen werde, den ganzen Staatenverbund in Schwierigkeiten zu bringen. Allerdings wird bei dieser Hoffnung der innenpolitische Aspekt übersehen, den die Debatte um den EU-Haushalt in Polen bekommen hat: eine Konkurrenz innerhalb der Koalition darüber, wer der beste Vertreter »konservativer Werte« im Lande sei.
    Zbigniew Ziobro, Anführer der am rechten Flügel der Regierungskoalition angesiedelten Partei Solidarisches Polen und als Justizminister einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass der Streit mit Brüssel überhaupt entstanden ist, agitiert inzwischen offen dafür, dass ein EU-Austritt Polens gar nicht so schlimm wäre. Das Land könne durch Zolleinnahmen erheblich profitieren, wenn es aus dem Binnenmarkt austrete. Die Bourgeoisie sieht das anders. Nach Angaben des Unternehmerverbands hat Polen 2019 Waren und Dienstleistungen für 90 Milliarden Euro in den EU-Markt geliefert und dabei einen Überschuss von fünf Milliarden Euro erzielt.

  146. @Leser

    Auch Griechenland hatte damals klein beigegeben.

    Die Umstände waren aber damals ganz anders.
    Schäuble hatte sich noch vor den Wahlen mit Tsipras getroffen und wußte, daß er bzw. die Syriza-Partie auf keinen Fall den Euro verlassen will, trotz allen alternativen Gebarens.
    Varoufakis war gar nicht bei Syriza, aber hatte als Wirtschafts-Uni-Prof eine keynesianische Kritik an den Austeritäts-Vorgaben, und daraufhin hat ihn Tsipras mit ins Syriza-Boot geholt. Immerhin, ein echter Uni-Prof.! Und als die Diskrepanzen zu groß wurden, ist er wieder gegangen – oder gegangen worden.
    Er war jedenfalls kein Politiker und kam auch nicht von Syriza.
    Was Varoufakis in seinen Büchern seither verbreitet, gibt seine Sicht der Dinge wieder, aber Griechenland sprach damals nicht mit einer Stimme.
    Demgegenüber machen die polnischen und ungarischen Regierungen einen relativ geschlossenen Eindruck.
    Außerdem sind sie nicht in einer Notlage, wie es Griechenland war.
    Die geplante Umgehung würde die ganze EU neu definieren und vermutlich weiter zu ihrer Desintegration beitragen. Sie würde auf jeden Fall den EU-kritischen oppositionellen Parteien Aufwind verschaffen.

  147. @NN
    Polen ist die verlängerte Werkbank Deutschlands, ein Austritt würde also auch die deutsche Wirtschaft ziemlich treffen.
    Meiner Ansicht nach sind dergleichen Drohungen ein Druckmittel der polnischen Politiker, um zu zeigen, daß man sich auch andere Optionen überlegt, aber sie sind nicht ernst gemeint.
    Andererseits hat sich beim Brexit gezeigt, daß solche Anwandlungen leicht eine Eigendynamik entfalten können, die von den handelndenden Subjekten gar nicht beabsichtigt war.
    Und Polen und Ungarn haben immerhin noch eine eigene Währung, die Abhängigkeiten sind zumindest anders gelagert.

  148. Personalwechsel im Weißen Haus (20.11.2020)
    Berliner Regierungsberater eruieren Kooperationsfelder und Konflikte mit der nächsten US-Administration.
    BERLIN/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Berliner Regierungsberater eruieren mögliche Kooperationsfelder und Konflikte mit der zukünftigen Washingtoner Biden-Administration. Zwar heißt es übereinstimmend, die grundsätzliche Bereitschaft des President-elect zu internationaler Kooperation biete Chancen, die Deutschland und die EU sich unbedingt zunutze machen müssten und deretwegen es angeraten sei, möglichst bald auf Joe Biden und sein außenpolitisches Team zuzugehen. Gemeinsame Sache könne man etwa gegen Russland machen und in mancherlei Hinsicht auch gegen China; neue Möglichkeiten böten sich darüber hinaus gegenüber Iran, da der künftige US-Präsident im Wahlkampf in Betracht gezogen habe, zum Atomabkommen mit dem Land zurückzukehren. Unklar sei, ob Washington sich künftig bereitfinden werde, die Sanktionen gegen die Erdgaspipeline Nord Stream 2 zu stoppen. Konfliktpotenzial gebe es dagegen bei den US-Bestrebungen zur technologischen “Entkopplung” des Westens von China. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) plädiert für eine transatlantische Kooperation im Kampf gegen “Desinformation”.
    Bleibende Konfliktpunkte
    Weitgehend Konsens herrscht in der Berliner Beraterszene, dass mehrere Konfliktpunkte, die das transatlantische Verhältnis während der Präsidentschaft von Donald Trump belasteten, auch während der Präsidentschaft von Joe Biden erhalten bleiben werden. Dazu gehört das Drängen der Vereinigten Staaten, Deutschland und die europäischen NATO-Mitglieder müssten ihren Militäretat umgehend auf zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung aufstocken. Diesbezüglich werde sich der US-Druck womöglich sogar “in dem Maße erhöhen, in dem die wirtschaftliche Erholung” nach dem Ende der Covid-19-Pandemie “auf sich warten lässt”, heißt es bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).[1] Auch werde “die Kritik der US-Administration” an den deutschen Exportüberschüssen – vergangenes Jahr waren es im Warenhandel mehr als 47 Milliarden Euro – “nicht nachlassen”, urteilt der Think-Tank. Zuweilen wird zwar die Vermutung geäußert, Washington werde nach dem Personalwechsel im Weißen Haus wenigstens die Strafzölle gegen die EU aufheben und zu einem gemeinsamen Vorgehen in der Welthandelsorganisation (WTO) zurückkehren – mit dem Ziel, “eine Modernisierung des WTO-Regelwerks” durchzusetzen, wofür etwa die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) plädiert.[2] Freilich gilt das einigen als ungewiss.
    China: “strategischer Rivale”
    Weitgehend Konsens wiederum besteht in Berlin auch mit Blick auf die künftige US-Chinapolitik. Selbst wenn die Vereinigten Staaten unter Biden “diplomatischer auftreten”, werde sich “an den geoökonomischen Kernpunkten der China-Politik wenig ändern”, sagt die DGAP voraus.[3] Nach Auffassung Washingtons dürfe “dem strategischen Rivalen China künftig nicht mehr durch wirtschaftlichen Austausch geholfen werden, ökonomisch und technologisch aufzusteigen”: Vielmehr müsse vermutlich auch nach dem Willen des nächsten Präsidenten “mit allen Mitteln verhindert werden, dass China die USA in den technologischen Schlüsselbereichen überholt”. Die Biden-Administration werde dabei “erwarten, dass Berlin und Brüssel sich bei wichtigen Einzelthemen unzweideutig und klarer als in den vergangenen vier Jahren auf die Seite der USA stellen”, urteilt die SWP; dies werde “etwa in der Frage einer Beteiligung chinesischer Firmen am Aufbau von 5G-Netzen” gelten.[4] Sollte Washington tatsächlich an dem Versuch festhalten, die technologische “Entkopplung” von der Volksrepublik zu erzwingen, droht freilich Streit mit Deutschland und der EU. Berlin hat sich mehrfach gegen die Washingtoner “Entkopplungs”-Pläne ausgesprochen und kooperiert etwa bei “Gaia-X”, dem strategisch zentralen Projekt zum Aufbau einer “europäischen Cloud”, nicht nur mit US-Unternehmen wie Amazon, Microsoft und der CIA-nahen Firma Palantir, sondern auch mit Alibaba Cloud und Huawei – eine offene Absage an das “Decoupling” der USA.[5]
    Russland: “Gegner”
    Transatlantische Gemeinsamkeiten sehen Berliner Experten beim künftigen Vorgehen Berlins und Washingtons gegenüber Russland. Die Einstufung Moskaus als “Gegner” sei ein “Grundgedanke von Bidens Russland-Politik”, heißt es etwa bei der SWP; ein “generelles Leitmotiv der Biden-Administration” werde daher “die Eindämmung russischen Einflusses sein”. Allerdings dürfe man davon ausgehen, dass “Washingtons künftige Russland-Politik wohl zusammen mit den europäischen Verbündeten diskutiert und betrieben” werde – “und zwar nicht bloß mit einigen wenigen Partnerstaaten”, heißt es weiter mit Blick auf antirussisch motivierte Zusammenarbeit der Trump-Administration insbesondere mit Polen und den baltischen Ländern, sondern auf breiterer Basis, womöglich “auch mit der EU”.[6] Dabei legt die SWP Wert darauf, Maßnahmen der Trump-Administration in Ost- und Südosteuropa zu revidieren. Vor allem geht es um die Blockade der Erdgaspipeline Nord Stream 2, die die deutschen Regierungsberater gegen die aktuellen US-Sanktionen durchsetzen wollen, und um die US-Unterstützung für die “Drei-Meere-Initiative”. Bei letzterer handelt es sich um einen lockeren Pakt von zwölf östlichen und südöstlichen EU-Staaten, die einen Ausbau der – von Berlin vernachlässigten – Nord-Süd-Infrastruktur in der EU-Peripherie anstreben. Washington nutzt sie als Absatzmarkt für US-Flüssiggas und sucht damit zugleich, russisches Erdgas aus dem Markt zu drängen (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Laut der SWP soll sich Berlin, um die politische Kontrolle zu behalten, an der Initiative beteiligen.
    Iran: Kurskorrekturen
    Auf Kurskorrekturen der Biden-Administration hoffen die deutschen Spezialisten in der Iran-Politik. “Im Wahlkampf” habe Biden “eine Rückkehr seines Landes zum Atomabkommen mit Iran (JCPOA) angeboten – vorausgesetzt, auch Teheran werde die Übereinkunft wieder vollständig umsetzen”, ruft die SWP in Erinnerung.[8] Dass dies bruchlos geschehe, sei zwar unwahrscheinlich; zum einen werde Washington iranische Zugeständnisse bei der Raketenaufrüstung fordern, während Teheran nicht nur US-Garantien verlangen werde, um den erneuten Bruch des Abkommens durch die Vereinigten Staaten nach einem nächsten Regierungswechsel zu verhindern, sondern auch Schadensersatz für die schweren ökonomischen Schäden durch die extraterritorialen US-Sanktionen fordern könne. Dennoch gestatte es der Personalwechsel im Weißen Haus Brüssel mutmaßlich, “nun wieder auf Kooperation mit Washington zu setzen” und sich weniger als bisher auf die Rettung des Atomabkommens zu konzentrieren, sondern vielmehr auf die “Entwicklung eines neuen transatlantischen Ansatzes gegenüber Teheran”. Bei der DGAP werden allerdings Warnungen laut, dies werde nicht einfach: Schließlich habe Iran “in den vergangenen Jahren seine Position am Persischen Golf ausbauen können” und nicht nur engere Bande zu Russland, sondern auch zu China geknüpft; so hätten Teheran und Beijing erst vor kurzem eine auf 25 Jahre angelegte “Partnerschaft” geschlossen, “die neben Milliardeninvestitionen in die iranische Öl- und Gaswirtschaft auch eine enge militärische Zusammenarbeit vorsieht”.[9]
    “Gemeinsam gegen Desinformation”
    Kooperationspotenzial sieht die SWP schließlich auch beim Vorgehen gegen tatsächliche oder angebliche “Fake News”. Die EU habe ihren Kurs verschärft, lasse sogenannten Faktenprüfern seit Juni “mehr Unterstützung zukommen” und habe Onlineplattformen verpflichtet, “monatlich zu berichten, wie sie gegen Desinformationskampagnen im Zusammenhang mit Covid-19 vorgehen”, konstatiert der Think-Tank; weitere Maßnahmen seien in Vorbereitung. Die Trump-Administration habe dies nicht unterstützt; in den USA griffen inzwischen “die Plattformen selbst … regulierend ein”.[10] Nun sei allerdings “davon auszugehen, dass sich die Regierung Biden des Themas Desinformation deutlich entschlossener annehmen wird … – nicht zuletzt, weil dieses Phänomen in den USA vor allem zu Lasten der Demokraten geht”. “Bei allen Schwierigkeiten wäre es vorteilhaft”, rät die SWP, “käme es auf diesem Feld zu einer engeren Kooperation zwischen den USA und Europa”; zum Beispiel sei “das Bestreben der EU, Internetfirmen mit Sitz in den USA zu regulieren, … mit Washingtons Unterstützung deutlich wirksamer zu verfolgen” als gegen die US-Administration. “Ein gemeinsamer EU-US-Technologiegipfel” könne in Zukunft “den Auftakt bilden, um die Regeln für Maßnahmen gegen Desinformation zu vereinheitlichen”.

  149. Spirale der Repression
    Belarussische Regierung geht hart gegen Demonstranten vor. Moskau verurteilt »unbegründete Gewalt«
    Von Reinhard Lauterbach
    Auch dreieinhalb Monate nach der Präsidentenwahl in Belarus halten die Proteste gegen Staatschef Alexander Lukaschenko an. Am Sonntag gingen in Minsk nach Angaben der Veranstalter von Demonstrationen einige zehntausend Leute auf die Straße, um Lukaschenkos Rücktritt zu verlangen. Überprüfen lassen sich die Zahlenangaben nicht, weil die Märsche dezentral stattfanden. Videos im Internet zeigen jeweils maximal einige hundert Teilnehmer. Dass die Zahl der Beteiligten tendenziell abnimmt, geht indirekt daraus hervor, dass die mit den Protesten durchaus sympathisierenden Sender – die britische BBC und die Deutsche Welle – inzwischen keine Gesamtzahlen mehr veröffentlichen.
    Gleichzeitig bleibt die Zahl der Verhafteten hoch, das Risiko für den einzelnen Teilnehmer steigt also. Nach den Aktionen vom Sonntag meldete das Menschenrechtszentrum Wesna 253 Festgenommene. Sieben Personen seien in Krankenhäuser überführt worden, wurden also offenbar von der Polizei erheblich misshandelt. Kleinere Protestkundgebungen in Brest und anderen Provinzstädten versammelten jeweils einige Dutzend Teilnehmer.
    Am Freitag war in Minsk der 31jährige Roman Bondarenko beerdigt worden, der Anfang vergangener Woche festgenommen und offenbar auf der Polizeiwache so schwer verletzt worden war, dass er am Tag danach im Krankenhaus seinen Schädelverletzungen erlag. An der Beerdigung nahmen einige tausend Menschen teil. Anlass für seine Festnahme war nach Zeugenaussagen gewesen, dass er maskierte Zivilisten gefragt hatte, warum sie im Hof seines Wohnblocks Aufkleber in den weiß-rot-weißen Farben der Opposition entfernten.
    Eine Journalistin des oppositionellen Portals tut.by wurde für mindestens zehn Tage inhaftiert, weil sie »medizinische Geheimnisse gebrochen«, nämlich die Aussage des ärztlichen Untersuchungsprotokolls wiedergegeben hatte, dass Bondarenko bei seiner Festnahme nüchtern gewesen sei. Das linke russische Portal rabkor.ru berichtete am Mittwoch, dass unter den Opfern der Repressalien auch Aktivisten linker Gruppen seien. Sogar vier »linksradikale Partisanen« seien festgenommen worden, ihnen drohe jetzt die Todesstrafe.
    Hochburgen der Opposition sind offenbar weiterhin die Hochschulen. Dort sind jetzt Massenexmatrikulationen von Studierenden im Gang, die bei den Protesten von den Staatsorganen identifiziert wurden. Soweit es sich um junge Männer handelt, werden sie offenbar mit sofortiger Wirkung in die Armee einberufen. Viele setzen sich, um wenigstens diesem Schicksal zu entgehen, in Nachbarländer wie Polen oder die Ukraine ab, berichtete das russische Onlineportal lenta.ru am Sonnabend.
    Angesichts der verfahrenen Situation beginnt auch Russland, sich vorsichtig von Lukaschenkos Repressionswelle zu distanzieren. Dmitri Peskow, Sprecher von Präsident Wladimir Putin, sagte der russischen Nachrichtenagentur Sputnik zufolge, »unbegründete Gewalt« gegen Protestierende sei »unzulässig und nicht wünschenswert«. Anlass zu dieser Äußerung könnten Umfrageergebnisse vom Anfang dieses Monats sein. Der eurasischen Nachrichtenagentur EA Daily zufolge haben die Proteste dazu geführt, dass die Zahl der Anhänger eines engen Bündnisses mit Russland in der belarussischen Gesellschaft seit September von 51 auf 40 Prozent gefallen, die der Sympathisanten einer engeren Anbindung des Landes an die EU dagegen von 26 auf 33 Prozent gestiegen sei.
    In dieser Atmosphäre beginnt sich der belarussische Außenminister Wladimir Makej offenbar zu einem selbständigeren politischen Akteur aufzubauen. In mehreren Interviews vom Wochenende erklärte er, Belarus werde von seiner Außenpolitik »in alle Richtungen« und der damit verbundenen Zusammenarbeit mit der EU nicht ablassen. Er kritisierte auch die Beziehungen zu Russland: Diese könnten besser sein, wenn es nicht die ständigen Streitereien um Öl und Gas gäbe. Mit anderen Worten: wenn Russland widerspruchslos weiter das Land subventionieren würde.

  150. Die SWAP-Vereinbarungen sind 2019 und 2020 von Seiten der USA bis zum März 2021, von Seiten Chinas sogar noch eineinhalb weitere Jahre verlängert worden. [Geldmamgel beim Verrechnen von Ansprüchen zwischen den Weltwährungen soll also auch weiterhin als Krisendynamo ausgeschlossen werden.]
    https://www.federalreserve.gov/newsevents/pressreleases/monetary20200729b.htm
    https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2019/html/ecb.pr191025_1~a1221c41cd.en.html
    Bei aller Krisenfolgenabwälzung auf die Konkurrenten – soll die eigene Ökonomie nicht auch noch dadurch zusätzlich ins Rutschen geraten…
    Das ist also eine Gemeinsamkeit der diversen Regierenden des kapitalistischen Weltsystems.
    Für die Staaten, die nicht selber über Weltwährungen verfügen, wirkt sich auch dieses Momentum des Kredits derzeit zusätzlich eher im Sinne von Kreditklemmen gegenüber weltweiten Zahlungsforderungen aus, weil es deren Verschuldungsfähigkeiten engere Grenzen setzt, als den diversen staatlichen Akteuren von Weltwährungen.
    Und Verschuldungsfähigkeit ist ein wuchtiger Titel angesichts ökonomischer Krisen.
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/finanzhilfe-aus-eigennutz
    Schuldendienst und Kreditbedienung wird in China in den Dienst staatlicher Direktiven gestellt – und darin eben nicht nur dem Geschäftsgang gedient.
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/china-waechst-trotz-corona

  151. @NN
    Es war ja schon eine Idee der Bush-Regierung, Saudi-Arabien und Israel für einen Angriff auf den Iran anzustacheln. Die wären auch laut Wikileaks auch bereit gewesen.
    Man hätte aber eine personell stärkere Militärmacht gerne mit im Boot gehabt, also Kanonenfutter aus Ägypten. Daran ist die Sache gescheitert, weil Ägypten Nein! gesagt hat.
    Trump und Pompeo greifen offenbar jetzt diesen schubladisierten Plan wieder auf.

  152. Seemächte im Mittelmeer (24.11.2020)
    Ankara protestiert gegen deutsches Boarding eines türkischen Frachters. Italienischer Admiral: Der Westen hat seine Dominanz im Mittelmeer verloren.
    BERLIN/ANKARA (Eigener Bericht) – Die westlichen Mächte, Deutschland und die EU inklusive, drohen ihre Vormachtstellung im Mittelmeer zu verlieren. Das erklärt ein früherer Generalstabschef der italienischen Streitkräfte, Admiral Luigi Binelli Mantelli. Wie Binelli Mantelli urteilt, ist mittlerweile Russland “die herausragende Seemacht im Mittelmeer”. Neben Russland schreibt der italienische Admiral a.D. vor allem der Türkei einen rasch zunehmenden Einfluss zu. Gemeinsam seien Moskau und Ankara dabei, die “traditionellen” westlichen Ordnungsmächte zu verdrängen. Die Äußerung wird zu einem Zeitpunkt bekannt, zu dem die Türkei bereits zum zweiten Mal eine Kriegsmarine einer führenden EU-Macht düpiert: In der Nacht von Sonntag auf Montag musste das deutsche Boardingteam, das einen türkischen Frachter auf dem Weg nach Libyen wegen etwaigen Bruchs des UN-Waffenembargos kontrollierte, seine Durchsuchung auf Intervention Ankaras abbrechen. Schon im Juni hatte die Türkei eine ähnliche Aktion der Marine Frankreichs abgewehrt. Die machtgewohnte EU erweist sich als nicht in der Lage, den Aufstieg ihres türkischen Rivalen zu stoppen.
    Das Boarding der “Roseline A”
    Aktuell eskaliert der Streit um das Boarding des türkischen Frachtschiffs “Roseline A” durch ein Boardingteam der Bundeswehr, das von der Fregatte “Hamburg” aus operiert. Die “Hamburg” war am Sonntag von der Führung der EU-Operation Irini beauftragt worden zu überprüfen, ob die “Roseline A”, die Kurs auf die libysche Hafenstadt Misrata genommen hatte, Waffen transportierte und damit das UN-Waffenembargo gegen Libyen brach. Wie es im Irini-Hauptquartier in Rom heißt, habe man sich am Sonntag Nachmittag um die Zustimmung des Flaggenstaats – der Türkei – zu dem Boarding bemüht [1]; nach Ablauf der üblichen Einspruchsfrist von vier Stunden sei das Boardingteam dann in den Einsatz gestartet. Wenig später legte die Türkei allerdings nachträglich Widerspruch ein. Daraufhin brachen die deutschen Soldaten die Durchsuchung der Fracht ab, blieben bis zum Morgengrauen – aus Sicherheitsgründen, wie es heißt – auf dem türkischen Schiff und kehrten dann schließlich auf die “Hamburg” zurück. Sie hätten auf der “Roseline A” keine Waffen entdeckt, teilt die Bundesregierung mit. Freilich hatten sie die Durchsuchung auch nicht zu Ende bringen können. Ankara behauptet, der Frachter habe lediglich humanitäre Hilfsgüter – etwa Nahrungsmittel – und Farbe an Bord gehabt.
    Ein zahnloser Tiger
    Der Streit um das Boarding hat mehrere Facetten. Zum einen ist unklar, wie die Durchsuchung konkret vonstatten gegangen ist. Die Bundeswehr teilte gestern zunächst auf Twitter mit, “die Situation an Bord” sei “kooperativ” gewesen. Was das genau bedeuten soll, ist nicht wirklich klar, zumal der staatliche türkische Nachrichtensender TRT World mittlerweile einen Videomitschnitt publizierte, auf dem zu sehen ist, wie ein Mitglied der Frachterbesatzung von einem deutschen Soldaten mit erhobenen Händen abgeführt wird.[2] Staatsnahe türkische Medien beschweren sich nicht nur über das Vorgehen des deutschen Boardingteams, sondern erklären auch, der gesamte Einsatz sei rechtswidrig erfolgt. Das wiederum wirft auf Seiten Berlins und der EU die Frage auf, über welche Kompetenzen die Boardingteams der Operation Irini verfügen. Die Bundesregierung teilte gestern mit, es sei “tatsächlich völkerrechtlich erforderlich, dass der Flaggenstaat dem Boarding zustimmt”; deshalb hätten die deutschen Soldaten ihren Einsatz unmittelbar nach dem türkischen Einspruch beendet. Kann jedes Boarding allerdings mit dem simplen Widerspruch des Flaggenstaats verhindert werden, dann stellt sich Irini aus der Perspektive konfrontationsbereiter Staaten als zahnloser Tiger dar. Dem Machtanspruch Berlins und der EU ist das abträglich.
    Vom Feuerleitradar erfasst
    Dem Streit um das Boarding der “Roseline A” kommt auch deshalb erhebliche Bedeutung zu, weil es nicht der erste derartige Fall ist. Bereits am 10. Juni hatte es größere Auseinandersetzungen um das Frachtschiff “Cirkin” gegeben, das – aus der Türkei kommend – in Richtung Misrata unterwegs war. Zunächst hatte die Besatzung der griechischen Fregatte “Spetsai” versucht, den Frachter zu kontrollieren, war mit dem Vorhaben allerdings gescheitert, da die “Cirkin” von Schiffen der türkischen Kriegsflotte begleitet wurde.[3] Noch am selben Tag startete die französische Fregatte “Le Courbet”, die im Rahmen der NATO-Operation “Sea Guardian” im Mittelmeer unterwegs war, einen zweiten Versuch, der jedoch ebenfalls von den türkischen Kriegsschiffen abgewehrt wurde: Sie erfassten die “Le Courbet” mit ihrem Feuerleitradar – eine Maßnahme, die gewöhnlich zur unmittelbaren Vorbereitung von Beschuss eingeleitet wird. Die französische Fregatte drehte daraufhin ab. Heftige Auseinandersetzungen im NATO-Rahmen folgten. Im September verhängte dann schließlich die EU Sanktionen gegen die türkische Reederei “Avrasya Shipping”, die die “Cirkin” nach Libyen entsandt hatte. Ankara hat scharf gegen die Sanktionen protestiert.
    “Wendepunkt in den Beziehungen zur Türkei”
    Mit dem neuen Vorfall eskaliert nicht nur der Konflikt zwischen der EU und der Türkei allgemein. Erst in der vergangenen Woche hatte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell gewarnt, Ankara sei dabei, “seine Trennung von der EU zu vertiefen”.[4] Dies bezog sich auf den umstrittenen Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in der Geisterstadt Varosia auf Zypern und auf seine Forderung, auf der Mittelmeerinsel eine Zweistaatenlösung umzusetzen.[5] Im Hinblick darauf, dass Erdoğan damit den diversen Konflikten zwischen Ankara und Brüssel [6] noch einen weiteren hinzufügte, urteilte Borrell, die EU nähere sich wohl “einem Wendepunkt in unseren Beziehungen zur Türkei”. Auf dem EU-Gipfel im Dezember steht in der Tat eine Debatte über die Ausweitung der Sanktionen gegen Ankara bevor. Außenminister Heiko Maas hatte sich Borrells Warnungen angeschlossen. Sollte es vor dem EU-Gipfel “keine positiven Signale seitens der Türkei” geben, “dann werden wir sicherlich eine schwierige Diskussion haben”, bekräftigte Maas: Dies schließe “gewiss” auch mögliche Sanktionen ein.[7] Bisher hat Berlin Zwangsmaßnahmen gegen Ankara weitgehend verhindert.[8] Der Affront gegen das deutsche Boarding spitzt nun allerdings den Konflikt auch mit der EU-Zentralmacht erheblich zu.
    “Die herausragende Seemacht im Mittelmeer”
    Schwer wiegt zusätzlich, dass sich im Streit um das Boarding ein weiterer Konflikt ausweitet: der Konflikt darum, wer letzten Endes die dominante Macht im östlichen Mittelmeer ist. Zu der Frage, die in Fachkreisen mit zunehmender Intensität diskutiert wird, hat sich jetzt in zugespitzter Form Admiral Luigi Binelli Mantelli geäußert, ein ehemaliger Generalstabschef (2013 bis 2015) der italienischen Streitkräfte. Wie Binelli Mantelli urteilt, hat der Westen mit der Umorientierung der Vereinigten Staaten in Richtung Asien und dem neuen NATO-Schwerpunkt rings um die Ostsee im Mittelmeer erheblich an Einfluss verloren; die EU biete dort – trotz beträchtlicher Anstrengungen Frankreichs – mit ihrer mangelnden “Handlungsbereitschaft” lediglich ein “trauriges Schauspiel”. “Die herausragende Seemacht im Mittelmeer” sei mittlerweile Russland, das eine Marinebasis in Syrien unterhalte, nun eine zweite in Libyen einzurichten suche und in den vergangenen Jahren ein Maß an “Durchsetzungsfähigkeit” offenbart habe, das an dasjenige der Vereinigten Staaten in den Jahren des Kalten Kriegs erinnere.[9] Außer Russland sei auch die Türkei dabei, eine “signifikante Fähigkeit zur Machtprojektion” im Mittelmeer zu erlangen. Moskau und Ankara hätten gemeinsam die “traditionellen” Ordnungsmächte – die NATO, die EU-Staaten – zu verdrängen begonnen, wird Binelli Mantelli mit Blick auf die Entwicklung vor allem in Syrien, Libyen und Aserbaidschan zitiert. Die “goldenen Tage” des Westens in der Region seien vorbei.

  153. “In der Nacht von Sonntag auf Montag musste das deutsche Boardingteam, das einen türkischen Frachter auf dem Weg nach Libyen wegen etwaigen Bruchs des UN-Waffenembargos kontrollierte, seine Durchsuchung auf Intervention Ankaras abbrechen. Schon im Juni hatte die Türkei eine ähnliche Aktion der Marine Frankreichs abgewehrt.”
    Wieso eigentlich “mußte”? Konkret stand da doch eine bewaffnete Fregatte einem sicherlich erheblich weniger bewaffneten “zivilen” Frachter gegenüber.
    Offensichtlich gibt es wohl dieses “Embargo” gar nicht wirklich:
    “Wegen Verstößen gegen das UN-Waffenembargo im Libyen-Konflikt hat die Europäische Union Sanktionen verhängt. Die Außenminister der Mitgliedstaaten haben in Brüssel einstimmig einen entsprechenden Beschluss gefasst. Die Sanktionen richten sich gegen Unternehmen und Personen, die Schiffe, Flugzeuge und andere Logistik für den Transport von Kriegsmaterial bereitgestellt haben, konkret gegen drei Firmen aus der Türkei, Jordanien und Kasachstan sowie um zwei Personen aus Libyen. ”
    Es gilt also nicht unbedingt für alle Waffentransporte, sondern buchstäblich nur für “drei Firmen aus der Türkei”. Da müßte die Türkei ja besonders blöd sein, die Waffen nach Libyen ausgerechnet durch diese verbrannten Firmen zu verschiffen.
    Was sollte dann diese antitürkische Provokation ohne Rechtsgrundlage (sofern man bei EU-Entscheidungen überhaupt von gültigem Recht reden kann)?

  154. Was ist eigentlich die Rechtskraft solcher Waffenembargos?
    Mit welchem Recht verfügt die EU über Libyens Küste? Oder über Gebiete außerhalb der soundsoviel Meilen-Zonen?
    Es ist doch eine Anmaßung der EU – besonders Sarkozy war das ein Anliegen – das Mittelmeer mehr oder weniger zum EU-Binnenmeer zu erklären.
    Dieser Anspruch wird nun eben von der Türkei bestritten.
    Ich erinnere an den iranischen Tanker, der Öl nach Syrien brachte und wo es einen Eiertanz gab, weil die USA und EU es nicht verhindern konnten.

  155. Der Gipfel dabei ist, daß die Türkei hier die von der EU anerkannte und eigentlich auch eingesetzte libysche Regierung unterstützt, die sonst wahrscheinlich schon von der Haftar-Partie weggeblasen worden wäre.

  156. Wenn auch die Türkei bei diesem ominösen “einstimmigen” Embargo-Beschluß zugestimmt hat, dann können andere EU-Staaten ihr gegenüber natürlich darauf pochen und mit irgendwelchem Ungemach drohen, wenn die Türkei sich nicht dran hält. Aber wenn die Türkei buchstäblich nichts unterschrieben hat, was sie einschränken könnte in ihrer Libyen-Politik, was soll dann mit solchen Provokationen gegenüber der Türkei denn erreicht werden? Was geht denn jetzt für Deutschland, Frankreich oder Italien besser als vor diesem Hochsee-Stunt?

  157. Die „Operation Irini“ hat es sich zum Ziel gesetzt, die Sicherheitsratsresolutionen, die Libyen betreffen, durch Kontrolle des Waffenembargos durchzusetzen.
    Damit versucht die EU einerseits gemeinsame Außenpolitik zu betreiben. D.h., die setzt sich einen vermeintlich völkerrechtlich verbindlichen Zweck, um Geschlossenheit und Einheit zu demonstrieren.
    Der erste Adressat dieser Operation ist also die EU selbst bzw. ihre Mitgliedsstaaten: Seht her, zusammen sind wir wer!
    Diese Demonstation geht allerdings gewaltig in die Hose, wenn sich andere Mächte, wie Rußland oder die Türkei, nicht darum scheren.
    Für die Türkei sind solche Resolutionen des Sicherheitsrates seit jeher Schall und Rauch.
    Es zeigt sich also, daß die EU weder aus ihrer internen Verfaßtheit noch durch ihr militärisches Potential imstande ist, etwas außerhalb ihrer Grenzen durchzusetzen.
    Bei machtosen Balkanstaaten mag das noch funktionieren, aber im Mittelmeer geht das schon nicht mehr.
    Auch die Ukraine oder der Kaukasus werden sich da nicht bewähren als Schauplatz imperialistische Muskelübungen.

  158. Nochmal meine Frage: Wie zum Teufel konnten denn die beiden Kaiser ohne Kleider Kramp-Karrenbauer und Maas denken, daß sie mit einer solchen Konfrontation gegen die Türkei durch kommen würden, wo die doch gerade erst den Aserbeidschankrieg mitgewonnen hat und auch in Libyen für die Sieger sorgt?

  159. Wie die Krise die Krise erschafft …
    Dass die Krise länger andauert, hat zur Folge, dass es ökonomisch für konkurrierende Unternehmen wertlos wäre, ausgerechnet jetzt Investitionen zu tätigen, die auf eine größere Nachfrage nach den eigenen Produkten abzielen würden. Der Gesamtmarkt stagniert ja, bzw. ist bereits leicht rückläufig. Also werden Investitionsentscheidungen erst einmal zeitlich für vielleicht ein halbes Jahr zurückgestellt. Da diese zeitlich gestreckten oder dann gar stornierten Käufe von Invetitionsmitteln bei den Produzenten dieser Investitionsmittel aktuell also abgesagt werden, fehlen so auch diesen sowohl Mittel als auch Gewinnerwartungen, um ihrerseits ihre Produktion von Maschinen o.ä. auszuweiten.
    Der Staat mag zwar mit seinen Zuschüssen das eine oder andere Geschäft kompensieren. Nicht aber kann er den kapitalistischen, auf Zukunft ausgerichteten, Unternehmern den kompletten zukünftigen Zusammenhang ihrer erwarteten Geschäfte und Gewinnerwartungen für die Zukunft ersetzen. Und so frisst sich die Erwartung der Krise immer weiter in jedes Einzelgeschäft und so in die allgemeinen Geschäftsbeziehungen der gesamten kapitalistischen Gesellschaft hinein.
    Eingetretene Verluste mag der Staat mittels seiner Kreditmöglichkeiten teilweise kompensieren können. Nicht aber kann er die Erwartung auf zukünftiges Wachstum und auf zukünftige Profite auf solche Art und Weise aus sich heraus herstellen. Aber an dieser Erwartung hängt das kapitalistische Gesamtsystem.
    Im Detail setzen die Banken im Normalbetrieb quasi als Krisenbarometer und als Krisendynamo das Misstrauen in den Gang der Geschäfte auf die Tagesordnung. Dass der Kredit des Staates all dieses aufzukaufen in der Lage wäre, ist eine Beschwörung, zu der die Staatsagenten gerne zu militärischen Ausdrücken greifen: “Mit Bazookas” würde die Wirtschaft “gerettet”.
    In normalen Zeiten verrichten nun die Banken ihr Geschäft.
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/konkurrenz-kapitalisten-iii#section30
    W i e im Jahr 2020 die Krise sich verallgemeinert, ist auch hier Thema:
    https://gegen-kapital-und-nation.org/media/pdfs/seminarskript_wirtschaftskrise_2008_bis_2020.pdf

  160. Lohn von Supermarkt-Verkäuferinnen trotz Riesenansturm in der Krise gesunken
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144891.arbeitsbedingungen-lohn-von-supermarktverkaeufern-in-coronakrise-gesunken.html
    … selbst bei Paketdienstleistern …
    https://www.jungewelt.de/artikel/391101.prek%C3%A4re-arbeit-niedrigl%C3%B6hnen-ausgeliefert.html
    … und auch ansonsten ist Krisenbewältigung angesagt:
    “Bei Daimler schaukelt sich der Streit um die Kürzungspläne der Konzernführung um Vorstandschef Ola Källenius weiter hoch. Nachdem in den vergangenen Tagen Betriebsräte ihren Unmut geäußert hatten, reagierte die Konzernspitze am Mittwoch mit einem Schreiben an die Mitarbeiter. Darin droht sie den Beschäftigten mit einem Aus für das geplante »Kompetenzzentrum Elektromobilität« im Stammwerk Stuttgart-Untertürkheim, wenn die Gewerkschaften weiter auf ihren Forderungen beharrten.”
    https://www.jungewelt.de/artikel/391082.arbeitskampf-daimler-chefs-erpressen-besch%C3%A4ftigte.html
    Zusammenfassende Darlegung durch Stephan Kaufmann:
    “Zudem bauen die Firmen Jobs und damit Lohnkosten ab. Die steigende Arbeitslosigkeit verschlechtert die Verhandlungsposition der Gewerkschaften, was auf die Lohnentwicklung drückt. Und schließlich könnte das global schwächere Wachstum laut Natixis dazu führen, dass Länder ihre Kapitalsteuern weiter drücken, um Investoren anzuziehen. Seit 1990 ist der Steuersatz auf Unternehmensgewinne in den Industrieländern von durchschnittlich 42 auf 27 Prozent gesunken, was die Unternehmensgewinne stützt. So hat die Steuersenkung in den USA 2018 dazu geführt, dass die Gewinne der großen US-Aktiengesellschaften um 23 statt der erwarteten 13 Prozent zulegten,(…) Nach jeder Rezession fiel der Anteil der Löhne an der Wirtschaftsleistung weiter. »Dies wird auch nach der Covid-Krise der Fall sein.« Statt eines stärker »inklusiven« Wachstums, so die Bank, sei nach der Krise eher ein »brutalerer Kapitalismus« zu erwarten. »Das ist negativ für die Nachfrage der Haushalte, aber positiv für Aktien.«
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144081.wirtschaft-und-corona-schlecht-fuer-arbeitnehmer-aber-gut-fuer-aktien.html?sstr=Stephan%20Kaufmann
    Wobei gestiegene Nachfrage von Aktien – auch – Gewinnerwartungen an Unternehmen repräsentieren – und ob ungeachtet solcher Erwartungen andererseits aktuell die gigantischen Kreditpakete der Regierungen zu weiteren Kursfeuerwerken an den Börsen entflammen können? Oder wann wird die Börse selbstkritisch dagegen, dass nicht vor allem die Gewinnerwartungen der Unternehmen sondern diverse Papiere nämlich z.B. Aufkaufprogramme der EZB neue Anlagemöglichkeiten eröffnen?
    “Dass der Kapitalismus eine verrückte und ungesunde Art und Weise des Wirtschaftens ist, dafür liefert die derzeitige Corona-Pandemie auch in anderer Hinsicht einmal mehr eindrucksvolle Belege. Nachdem das Coronavirus zur Zeit noch nicht durch eine Impfung zu neutralisieren ist und es bei gravierendem Krankheitsverlauf noch kein sicheres Heilmittel gibt, ist die einzige Möglichkeit, dieses Virus Herr zu werden, ein möglichst vollständiges Herunterfahren aller Kontakte – nicht nur der privaten, sondern auch im Arbeitsleben. Gleichzeitig sind sich alle sicher, dass eine solche möglichst totale Quarantäne einfach nicht durchzuhalten ist. Zu groß sei der dadurch verursachte ökonomische Schaden. Nicht auffallen will denen, die so reden, dass der von ihnen genannte Schaden rein gar nichts damit zu tun hat, dass gewirtschaftet werden muss, seine Ursache vielmehr einzig in der herrschenden Art und Weise des Wirtschaftens – eines Wirtschaftens mit dem allseitigen Zweck, Geld zu verdienen – begründet ist. Nie hat es geheißen, es würde an Gütern mangeln, um die Leute zu versorgen. Im Gegenteil, Witze wurden über jene Zeitgenossen gerissen, die das Bedürfnis entwickelten, Gebrauchsgüter – vor allem das zu Berühmtheit gelangte Klopapier – in übergroßer Menge zu kaufen und für den Notfall einer befürchteten Unterversorgung zu horten. Alles, was Mensch so braucht, um es sich eine Zeitlang zu Hause gemütlich zu machen, war und ist vorhanden. Trotzdem waren bzw. sind sich alle aber sicher – und sie irren sich ja auch nicht – dass diese Wirtschaft einen solchen Lockdown so gut wie gar nicht verträgt.
    Wenn aber nichts fehlt und das Wirtschaften trotzdem Schaden nimmt, dann kann es bei diesem Wirtschaften nicht um die Versorgung der Menschen mit Gebrauchsgütern gehen. Worum es geht, ist kein Geheimnis. Allen geht es darum, Geld zu verdienen, weil man in unserer Welt ohne Geld nichts kriegt und das nicht, weil es das Benötigte nicht gäbe, sondern weil alles, was man möchte und braucht, jemand anderem gehört, der den von ihm verlangten Preis bezahlt sehen möchte. Genau das – das Verdienen, um bezahlen zu können – kommt aber durch einen Lockdown einigermaßen durcheinander. Weil das so ist, kann eigentlich nichts, was Menschen so treiben, um Geld zu lukrieren, unterbleiben. Der Gastronom, der sein Gasthaus schließen muss, leidet nicht daran, dass er seine Gäste unversorgt weiß, sondern daran, dass er im Verkauf von Speisen seine eigene Einkommensquelle weiß. Der Friseur kann es sich nicht gut gehen lassen, wenn seine Kundschaft sich die Haare selbst färbt, weil er damit seine Einkommensquelle verliert. Wenn weniger geflogen wird, dann ist das zwar gut für das Klima, nicht aber für die Fluggesellschaften, die ihres Geschäftes verlustig gehen. So war das mit dem beschworenen notwendigen Klimaschutz nicht gemeint. Die Liste ließe sich beinahe endlos fortsetzen. In der Marktwirtschaft, einer Wirtschaftsweise, in welcher für Geld gearbeitet wird, die Arbeitsteilung nur als Arbeit für Zugriff auf fremdes Geld kennt, können noch nicht einmal Dichterlesungen, Kabarettvorführungen, Theater- und Opernvorstellungen – das Erbauliche, das den Menschen ihren Alltag versüßt – auch nur einen Tag unterbleiben, um nicht irreparablen Schaden zu verursachen. Eine vernünftige Hierarchie der Bedürfnisse nach dem Motto, man konzentriert sich eine Zeitlang auf das absolut Nötige und verschiebt die Befriedigung der anderen Bedürfnisse auf einen günstigeren Zeitpunkt, ist in dieser Gesellschaft offensichtlich nicht möglich.”
    http://www.gegenargumente.at/aktuelle_sendung_inhalt.htm
    https://de.gegenstandpunkt.com/publikationen/buchangebot/arbeit-reichtum

  161. Die Frage, die sich immer wieder viele stellen, ist die: Warum schaffen es die alten Heimatländer des Kapitals nicht, die Pandemie einzudämmen, China hingegen schon?
    Es ist offenbar nicht der ganz gewöhnliche Kapitalismus, der dort zugegen ist, ein Stück des alten Versorgungsstandpunktes lebt fort.

  162. Sogar bei einem anderen Thema punktet China, dessen propagiertes Ziel es sein soll,
    “… das von Xi Jinping Ende September vor der UN-Generalversammlung per Videobotschaft angekündigte Ziel, bis zum Jahr 2060 “Kohlendioxid-Neutralität” zu erreichen. Mit dieser Zusage schwang sich der Hauptemittent vom Kohlendioxid weltweit mit 27 Prozent fast über Nacht zum globalen Vorreiter des Klimaschutzes auf.
    Wie China das Ziel erreichen will, ist bislang nicht bekannt. Aber man will Xi beim Wort nehmen: Zu groß ist die Hoffnung, China in der internationalen Klimapolitik ins Boot holen zu können. “Das Fehlen eines konkreten Fahrplans macht Xis Zusage umso bemerkenswerter”, schreibt das britische Wirtschaftsmagazin “Economist”. “Sein ehrgeiziges Vorhaben erfordert einen neuen Ansatz der wirtschaftlichen Entwicklung, der bald hervortreten muss.”
    Einblick in einen solchen neuen Ansatz erhofft man sich vom neuen chinesischen Fünfjahresplan, der von Montag (26.10.2020) an auf dem 5. Plenum des Parteitags in Peking beraten wird und Anfang kommenden Jahres vorgestellt werden soll.
    https://www.dw.com/de/china-unbeliebter-sieger-des-corona-jahres/a-55397730

  163. Dass der chinesische Staat bei Pandemie-Bekämpfung und sonstigen staatlichen Vorhaben so gut punkten kann, liegt nicht an irgendeiner größeren Menschenfreundlichkeit dort.
    Sondern historisch daran, dass der Staat dort erst vor kurzem den Kapitalismus installiert hat und als dessen roter Faden allseits und immerzu anders als hierzulande präsent geblieben ist. Während im Westen etliche früher mal staatliche Aufgaben deswegen der Konkurren überantwortet worden sind, um so ökonomisch die Wettbewerbssituation des eigenen Standorts stärken zu wollen. Ein schlanker Staat bedeute weniger Abgabenlast und weniger Steuern fürs Kapital, also spart man an den Gesundhitsämtern. In Spanien scheint es dgl. gar nicht mehr zu geben, und bei der Eurorettung war, um den Finanzern Anlass zum Investieren zu geben, der schlankere Staat immerzu ein Ideal. Das Ideal galt und gilt bis hin in Infrastruktur und selbst z.B. bei der Bildung, deren Kosten der Staat sparen wollte.
    In China hatte der Staat komplett von vornherein historisch die gesamte Zuständigkeit für all diese Bereiche, aufgrund des geerbten früheren staatssozialistischen Plansystems. Diese Zuständigkeit ist der Unterschied.
    Hierzulande erklärt der Staat sich mühsam für einige Kosten der Pandemie-Bewältigung zuständig. In den von Populisten regierten Staaten meines Wissens komplett noch weniger. Die verfechten pur das marktwirtschaftliche Ethos des kapitalistischen Stndortes. Negativ gegen alles andere, daher sogar mit einem prinzipiellen ethisch-fashistischen Schädigungsuftrag gegen alles Abweichende, das die eigene völkische Einheit zerstören wolle. Das seien beispielsweise Gesundheitsämter, Maskenpflicht etc. (Schwule, Lesben, Andersgäubige, Flüchtlinge ja sowieso…) Mit großen Schritten nähert sich auch mancher Querdenker dieser rassistisch-schwachsinnigen Volkstumsvorstellung, derzufolge Gesundheitsämter und das Impfen die Substanz des gesunden deutschen Volkes zerstören wollen täten …
    Und hierzulande wird schon von etlichen Hardlinern des Wirtschaftsflügels [und z.B. von dem Kanzlerkandidaten Merz] gegen die Rettungspakete gegiftet, dass der Staat so die Eckpfeiler seiner Ökonomie zerstören täte. Die AFD sagt dazu nur noch den Zusatzgedanken, dass das darin eine bewusste Schädigung Deutschland sein wolle.
    Dass es sich bei solchen Kreditpaketen eigentlich um Unpassendes für kapitalistische Ökonomie handele, ist staatlicherseits nämlich sogar in Paragraphen über Verschuldungsmodalitäten festgezurrt worden. Einerseits in der berüchtigten “Schwarzen Null”, andererseits auch z.B. bei fundamentalistischen Grundsätzen in deutschen Richtersprüchen über den Euro-Kredit. Oder damals bereits bei den offiziellen Maastricht-Kriterien für den Beitritt zum Euro-System. Die anderen europäischn Staaten sollen den Ruf des guten eigenen Nationalkredits ausweiten und so befördern – und ihn nicht schädigen. So der damalige deutsche Standpunkt, der gegenüber ganz Europa so als Angebot an Weltmachtgeltung und größerer Verschuldungsfähigkeit auftrat – (aber nur), wenn man die Devisen des deutschen Zuchtmeisters Europas (‘Schlanker Staat’, ‘Schwarze Null’) beherzigt.

    Dass der Staat ganz prinzipiell Wurzel allen Übels sei, das lässt sich nicht nur traditionell ordo-wirtschaftsfreundlich (Kandidat Merz) – sondern auch im modisch kritisch-grünen Vokabular hierzulande behaupten, wie z.B. von grünen Vordenkern hier:
    “… Dann zeigt sich der Staat in der Seuchenzeit genau als das Gegenteil: Der Covid-19-Staat ist der Würgeengel der kapitalistischen Produktionsweise, indem er Produktion und Konsumtion über weite Strecken verhindert – er macht also exakt das Gegenteil von dem, wozu er geschaffen wurde.”
    https://www.heise.de/tp/features/Seuchenzeit-4969100.html

  164. Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
    Die „schrecklichen Bilder von Moria“
    Eine humanitäre Katastrophe und ihre politmoralischen Lehren
    Im September stürzt ein Großbrand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos die ca. 15 000 Insassen in noch größere Not und stört für ein paar Tage die zynische Routine, in der Europas Staaten seit Jahren an ihrer Südost-Ecke unter reger öffentlicher Anteilnahme und in kompletter Ignoranz allfälliger Proteste von Hilfsorganisationen ihre Flüchtlingsfrage samt den alltäglichen Opfern ab­­wickeln.
    Vorabveröffentlichung aus dem im Dezember erscheinenden neuen Gegenstandpunkt
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/moria

  165. @Leser

    In China hatte der Staat komplett von vornherein historisch die gesamte Zuständigkeit für all diese Bereiche, aufgrund des geerbten früheren staatssozialistischen Plansystems. Diese Zuständigkeit ist der Unterschied.

    Na ja, das ist ja nicht so weit weg von dem, was ich behauptet habe.
    Es ist übrigens keine Frage von kurz oder lang, sondern ein anderer Standpunkt. China sagt: Der Staat ist für die Gesellschaft zuständig, auch für die Ökonomie. Die soll ja dafür taugen, den Staat stark zu machen.
    Die chinesische Führung sieht z.B. gar keinen Grund, so etwas wie eine Parteienkonkurrenz bei sich einzuführen.
    Sie hat auch nicht das Plansystem „geerbt“, sondern aktiv umgestaltet. 5-Jahrespläne machen sie ja noch immer.
    Während in der EU nach dem Fall des Eisernen Vorhanges alles an staatlichen Zuständigkeiten abgebaut wurde, wie du oben ausführst.
    Es ist nicht so, daß es eine notwendige Entwicklung wäre, vom einen zum anderen Standpunkt zu kommen. China z.B. hat keinen Anlaß, die Sache anders zu betreiben, zum Ärger der imperialistischen Konkurrenten.
    In der EU sollte die Kleinstaaterei und Staatenkonkurrenz ein Stück weit aufgehoben werden, um in der oberen Gewichtsklasse mitspielen zu können, und das ist inzwischen ziemlich in die Hose gegangen, wie Finanzkrise und Coronavirus zeigen.

  166. Ich hatte dich so verstanden, dass du im chinesischen Standpunkt zum Staat mehr Menschenfreundlichkeit (alter ‘Versorgungsstandpunkt’) als hierzulande analysiert hättest.
    Die Präzisierung, dass es erst einmal “ein anderer” staatlicher Standpunkt war und ist, ist zutreffend. Aber das ist etwas vage und leider bloß als Vergleichsunterschied formuliert.
    Das Einspannen der Massen für die Größe des Staates beinhaltete ja auch, dass z.B. Wanderarbeiter auf die Reise geschickt wurden, um Arbeitskräfte zu den Fabriken bewegen zu können. Dass dann im Reichtum der Fabriken der Reichtum der Produzenten läge – ist das nicht ein arger Zynismus? Und zu solchem Zynismus passt dann gut, dass es – irgendwie – doch um Versorgung und Sozialismus angeblich gehen täten würde …

  167. Menschenfreundlichkeit – das ist keine politische Kategorie. Das gehört eher in das christlich-moralphilosophische Eck.
    Der Sozialismus hatte eine andere Stellung zu den von ihm betreuten Volk. Dort war die Stellung: Wir erziehen die Menschen zu solidarischen Wesen, und dafür werden sie dann auch belohnt. Eine Art Volkserziehungsprogramm.
    Außerdem, und das war in China immer schon präsent, hatte die Partei das Ziel: Unser Volk ist unsere Stärke, das müssen wir versorgen – nicht nur mit Überlebensmöglichkeiten, sondern auch mit Industrie und Infrastruktur – damit der Staat vorankommt.
    Man soll sich nicht immer Illusionen über den Sozialismus machen, daß der aus ethischen Gründen „besser“ wäre für die Menschen.
    Es ist einfach ein anderes Programm, der Staatsbürger kommt dort in den Kalkulationen der Führung anders vor. Er hat deshalb auch nicht all die Freiheiten, die er in einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft hat.

  168. Russland wirft USA Grenzverletzung vor
    Moskau. Russland hat den USA eine Verletzung seiner Grenzen mit dem US-Zerstörer »USS John McCain« in seinen Hoheitsgewässern im Osten des Landes vorgeworfen. Das Schiff habe sich in der Peter-der-Große-Bucht im Japanischen Meer unzulässig nah an die russische Grenze bewegt, teilte das Verteidigungsministerium am Dienstag in Moskau mit. Der russische U-Boot-Zerstörer »Admiral Winogradow« habe das US-Schiff über die »Unzulässigkeit der Handlungen« und ein mögliches »Rammanöver« informiert. Danach habe der US-Zerstörer umgehend Kurs auf neutrale Gewässer genommen, hieß es. Die US-Flotte wies die russischen Vorwürfe als unbegründet zurück und erklärte statt dessen, dass Russland mehr Fläche beanspruche, als es nach dem Seerecht zulässig sei. Darauf habe die 7. US-Flotte hinweisen wollen, hieß es in einer Mitteilung. (dpa/jW)
    Im letzten Moment
    Russland vereinbart mit Sudan Marinebasis am Roten Meer. Stützpunkt ergänzt existierenden in Syrien
    Von Reinhard Lauterbach
    Russland und der Sudan haben sich offenbar grundsätzlich auf die Einrichtung einer Marinebasis am Roten Meer geeinigt. Nach einer vor etwa zwei Wochen veröffentlichten Anweisung von Präsident Wladimir Putin soll das Verteidigungsministerium Einzelheiten des Stationierungsvertrags ausarbeiten.
    Vorgesehen ist wohl, dass nahe der Hafenstadt Port Sudan eine Basis für maximal vier russische Marineschiffe zu Versorgungs- und Wartungszwecken entstehen soll. An Personal können maximal 300 Soldaten und Techniker stationiert werden. Die Basis – mutmaßlich auf dem Gelände eines bereits bestehenden Stützpunkts der sudanesischen Marine – würde weitgehend exterritorial sein. Russland erhält das Gelände vom Sudan unentgeltlich übertragen und verpflichtet sich nach Berichten russischer Medien dazu, der Regierung in Khartum moderne Flugabwehrsysteme zu liefern und bei der Bekämpfung von »Saboteuren« behilflich zu sein.
    Russland installiert auf dem Gelände der künftigen Basis zudem eigene Flugabwehrbatterien und Mittel für die elektronische Kampfführung. Der Vertrag soll nach russischen Presseberichten auf zunächst 25 Jahre mit der Option einer Verlängerung um weitere zehn Jahre geschlossen werden. Zu den Kosten gab es keine Angaben. Für die Modernisierung des russischen Marinestützpunkts im syrischen Tartus hat Moskau seit 2015 etwa 500 Millionen US-Dollar ausgegeben. Russland ist die letzte Großmacht, die sich am Horn von Afrika einen Stützpunkt sichert: Vor allem in Dschibuti am Ausgang des Roten Meeres unterhalten eine ganze Reihe von Staaten Marinebasen, darunter auch die Bundesrepublik.
    Strategisch ergänzt die künftige Basis in Port Sudan den russischen Stützpunkt im syrischen Tartus. Von dort lässt sich der nördliche Zugang zum Suezkanal kontrollieren, vom Sudan aus der südliche. Mit dem künftigen Stützpunkt gewinnt Russland eine Präsenz in Afrika zurück, die die Sowjetunion vormals bereits besessen hatte. Da das Abkommen auch die Landung atomar betriebener Einheiten erlaubt, liegt die Überlegung nahe, dass hier auch im Indischen Ozean patrouillierende russische Atom-U-Boote geparkt werden sollen. Freilich stieße dann wohl die Personalkapazität der Basis schnell an ihre Grenzen: Moderne russische U-Boote haben jeweils über hundert Mann Besatzung. Allerdings kann ohnehin vermutet werden, dass die Kapazität der Basis mittelfristig erhöht werden wird. Denn wie das Portal rbc.ru den Chefredakteur der Militärfachplattform arsenal-otechestva.ru zitierte, sei der große Vorteil solch entfernter Stützpunkte, dass dort Personal für »Spezialoperationen« stationiert werden könnte, welches dann zu möglichen Einsatzorten keine langen Wege habe. Dieses Szenario wiederum würde den Bau eines Flughafens voraussetzen.
    Anton Mardasow, Experte des offiziösen russischen »Rates für internationale Beziehungen«, sagte dem Portal rbc.ru, die Einrichtung der Basis bedeute in erster Linie die »Legalisierung« einer militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Sudan, die in den vergangenen Jahren über private Söldnertruppen gelaufen sei. Solche Söldner hatten 2019 beim Sturz des Präsidenten Omar Al-Baschir auf dessen Seite gekämpft. Es gab gemeinsame russisch-sudanesische Projekte in der Gewinnung und Raffinierung von Öl, und 2018 hatte die Firma des »Kremlkochs« Jewgeni Prigoschin – der angeblich Inhaber der Söldnertruppe »Wagner« ist – von der damaligen Regierung in Khartum eine Konzession über den Abbau von Gold im Land erhalten. Die Einigung über die Basis in Port Sudan zeigt, dass Moskau auch mit der Nachfolgeregierung ins Geschäft gekommen ist.
    Politisch kommt die Einigung zwischen Russland und dem Sudan im letzten möglichen Moment. Der Sudan stand lange als angeblicher »Terrorförderer« unter US-Sanktionen. Präsident Donald Trump hatte diese Strafmaßnahmen im Herbst aufgehoben, als sich die Regierung in Khartum bereit erklärt hatte, ihre Beziehungen zu Israel zu »normalisieren«. Mit einer den USA günstig gesinnten sudanesischen Regierung hätte Moskau diese Vereinbarung möglicherweise nicht mehr erzielen können.
    Boykott mit allen Mitteln
    Washington erhebt absurde Vorwürfe zu Gaspipeline Nord Stream 2. Moskau legt Gutachten vor. Gegner des Projekts in Deutschland werden lauter
    Von Reinhard Lauterbach
    Die USA halten ihren Druck auf die Unternehmen, die an der geplanten Ostseepipeline Nord Stream 2 beteiligt sind, aufrecht. Ein US-Regierungsvertreter nannte die Leitung gegenüber dpa ein »sterbendes Projekt« und erteilte den europäischen Partnern den »guten Rat«, sich unter Berufung auf »höhere Gewalt« zurückzuziehen, wie die Nachrichtenagentur am Sonntag berichtete. Washington wolle keine Sanktionen gegen europäische Unternehmen verhängen »müssen«, so der Beamte.
    In Berlin lösten die neuen Drohungen aus den USA Kritik bei Vertretern von SPD und Die Linke aus. Deren Abgeordneter Klaus Ernst sprach von »Mafia-Methoden«, die die EU mit Strafzöllen auf den Import von Flüssiggas aus den USA beantworten müsse. Ernst wiederholte das Argument, dass über die europäische Energiepolitik in Europa entschieden werde. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) scheint diesen Standpunkt dagegen nicht sehr engagiert zu vertreten. Von der neuen US-Regierung werde wohl keine Änderung der negativen Haltung gegenüber Nord Stream 2 zu erwarten sein, berichtete Bloomberg am Donnerstag – womit die Kommissionschefin eingestand, dass die Entscheidung über die Pipeline letztlich doch in Washington fallen wird.
    Vertreter der beteiligten europäischen Unternehmen bekräftigten derweil ihre Unterstützung für den Bau der Gasleitung. Dieser steht allerdings seit inzwischen fast einem Jahr still, nachdem im Dezember 2019 die schweizerische Rohrverlegefirma Allseas unter dem Eindruck US-amerikanischer Drohungen ihre Schiffe zurückgezogen hatte. Russland hat zwar eine Flottille von inzwischen vier Verlege- und Hilfsschiffen in der Ostsee zusammengezogen, die die Leitung angeblich in eigener Regie zu Ende bauen können. Aber geschehen ist nichts, als dass das wichtigste Element dieser Flottille, das Rohrverlegeschiff »Akademik Tscherski«, von der maritimen Sparte von Gasprom, Gasprom Flot, an einen bisher international nicht in Erscheinung getretenen Investmentfonds aus Samara überschrieben wurde – ein durchsichtiger Versuch, den Mutterkonzern aus der Schusslinie eventueller neuer Sanktionen zu holen, und damit ein Zeichen für die Furcht, die die Gasprom-Spitze vor solchen Sanktionen hat.
    Sollte sich die Bundesregierung entscheiden, Nord Stream 2 fallenzulassen, wie es die Grünen und immer mehr Stimmen aus der Union fordern, kämen auf die EU-Volkswirtschaften, die russisches Gas nutzen, erhebliche Mehrkosten zu. Eine Studie des Oxford Institute for Energy Research aus dem Jahr 2019 errechnete jährliche Mehrbelastungen in Höhe von 805 Millionen Euro, davon je 160 Millionen für Deutschland bzw. Italien. Andere Studien kommen zu noch höheren Ergebnissen. Außerdem gibt es in Deutschland bisher keine Infrastruktur für den Import von US-Flüssiggas. Es müsste von entsprechenden Terminals in den Niederlanden oder Polen importiert werden. Die Bundesregierung hatte den USA in einem Versuch, die Trump-Administration zu besänftigen, angeboten, den Bau zweier LNG-Terminals an der Unterelbe und in Rostock mit 500 Millionen Euro zu fördern, um so den Markteintritt des US-Gases zu erleichtern, das wegen der höheren Kosten für den Transport und die zweimalige Verwandlung in einen anderen Aggregatzustand gegenüber dem russischen Gas preislich nicht konkurrenzfähig ist.
    Parallel haben die USA einen neuen Argumentationsstrang gegen russisches Erdgas eröffnet. Neuerdings behaupten ihre Vertreter, bei der Förderung des Gases in Russland werde mehr Methan freigesetzt als in den USA, wo das für den Export vorgesehene Gas durch Fracking gewonnen wird. Das widerspricht Erkenntnissen ihrer eigenen Weltraumbehörde NASA. Diese kam, wie die Süddeutsche Zeitung 2018 berichtet hatte, zu dem Ergebnis, dass es gerade das Fracking ist, das den Methananteil an der Atmosphäre stark in die Höhe treibt. Gleichzeitig ist es der Hauptbestandteil von Erdgas. Russische Diplomaten bestreiten, dass das Gas in ihrem Land unter besonders klimaschädlichen Bedingungen gewonnen wird. Laut einer Berechnung des russischen Botschafters in den USA, Anatoli Antonow, betragen die Methanverluste bei der Gasförderung in Russland insgesamt 0,35 Prozent. Der Löwenanteil davon – 0,29 Prozent – entstehe beim Transport des Gases, und dies in weitgehend hermetischen Pipelines, berichtete das Onlineportal Energetyka 24 am Donnerstag. Beim eventuellen Transport des US-Flüssiggases über den Atlantik entstehen darüber hinaus klimaschädliche Emissionen und Schwerölbelastungen durch den Betrieb der Tanker selbst.
    Die Kosten des Krieges
    »Überdehnen und destabilisieren« – Thinktank des US-Militärs redet Klartext über Ziele der Russlandpolitik und beschränkte Möglichkeiten
    Von Reinhard Lauterbach
    Die Rand Corporation mit Sitz in Kalifornien gilt als der wissenschaftliche Arm des US-Militärs. Sie beschäftigt sich mit möglichen oder wirklichen Bedrohungen für die Weltherrschaft der USA und Wegen, diesen zu begegnen. Eine Russland gewidmete Studie trägt das Ziel der US-Politik – »Russland überdehnen und destabilisieren« – als Titel und hat den Anspruch, die »Wirkungen von kostenauferlegenden Optionen« der USA zu bewerten. Die ursprünglich bereits 2019 erschienene Studie – zumindest ihre im Internet zugängliche Kurzfassung – hat das Verdienst, mit einigen Illusionen aufzuräumen, die in der bürgerlichen Öffentlichkeit über die Ziele der westlichen Russlandpolitik verbreitet werden. Vor allem zeigt sie, dass westliche »Menschenrechtspolitik« nicht »werteorientiert«, sondern ein Element politischer Kriegführung ist. Gerade in bezug auf einige aktuelle Ereignisse ist die Studie oft visionär.
    Zweifelhafter Nutzen
    Was stört die USA eigentlich an Russland? Die Autoren machen es sich einfach: seine Existenz. Trotz seiner »Verwundbarkeiten und Ängste«, heißt es, bleibe Russland ein starkes Land, das den USA nach wie vor auf einer Reihe von Gebieten »ein Konkurrent auf Augenhöhe« sei. Es reicht also, den USA ebenbürtig zu sein, um sich ihre Feindschaft einzuhandeln. Ein »gewisses Maß an Wettbewerb« zwischen den den beiden Ländern sei unvermeidlich, deshalb müssten die USA sich bemühen, diese Konkurrenz auf die Felder zu lenken, in denen sie ohnehin stärker seien. Das sind nicht alle.
    Reihenweise haken die Autoren »geopolitische Optionen« als von zweifelhaftem Nutzen ab. Die Ukraine stärker aufrüsten? Das müsse sehr vorsichtig angestellt werden, denn wenn Russland dies zum Anlass für eine Eskalation nehme, habe es den Vorteil der Nähe zum Kriegschauplatz. Syrische Rebellen unterstützen? Wen denn, lautet die lakonische Antwort, die Anti-Assad-Opposition sei heute zersplittert und im Abstieg begriffen. Liberalisierung in Belarus unterstützen? Würde vermutlich sowieso nicht gelingen. Eine, wie sich herausstellt, prophetische Einschätzung. Mit Russland im Südkaukasus um Einfluss konkurrieren? Aus »geographischen und historischen Gründen« schwierig. Dito in Zentralasien. Russland zum Abzug aus Transnistrien zwingen? Das hätte den gegenteiligen Effekt, dass Moskau Geld sparen würde und der Westen welches aufwenden müsste, um die Region und ganz Moldau auf Linie zu bringen und wirtschaftlich nützlich zu machen. Man sieht an dem letzten Argument natürlich, dass ein Expertenratschlag nicht dasselbe ist wie tatsächliche Politik. Der Westen hat die Wahlsiegerin Maia Sandu im Präsidentenwahlkampf rhetorisch aus allen Rohren unterstützt, und er wird jetzt schon deshalb »liefern« müssen, um Sandu nicht vor den Moldauern als Märchenerzählerin dastehen zu lassen. Kritisch sind die Autoren auch gegenüber allen Kampagnen, Russland öffentlich zu diffamieren. Das könne man natürlich machen, aber die Wirkung im russischen Inland, um die es doch gehe, sei keinesfalls gesichert.
    Ebenso zurückhaltend sind die Autoren bei allen Optionen, die den Einsatz des US-Militärs voraussetzen. Mit Abstufungen im Detail gilt aus ihrer Sicht: Alles, was militärisch etwas bringen würde, berge auch das große Risiko, dass Russland dies »missverstehen« würde – also genau so auffasst, wie es von US-Seite gemeint ist. Mehr US-Kampfflugzeuge in der Nähe Russlands stationieren? Eher nicht. Die müssten mehrfach von ihren Basen starten können, und bis sie vom ersten Angriff zurück seien, könne Russland die Startplätze schon zerstört haben. Nicht zufällig forderte ein US-Luftwaffengeneral kürzlich, die Zahl der NATO-Flugplätze in Europa zu erhöhen. Mehr Manöver in der Nähe der russischen Grenzen? Russland könne darin ein Training für eine Eroberung der Region Kaliningrad – die andere westliche Militärschriftsteller ohnehin schon propagieren – sehen und seinerseits eskalieren. Weltraumwaffen? Finger weg, das könnten die Russen auch. Neue »unsichtbare« Flugzeugtypen entwickeln? Teuer und von Russland dadurch zu kontern, dass die Kommando­infrastruktur redundanter gestaltet wird. Außerdem strebe Russland keine Parität mit den USA um jeden Preis mehr an, es sei also gut möglich, dass Washington eine Menge Geld aufwendete, ohne wirklich einen Durchbruch zu erzielen.
    Weltmacht kein Selbstläufer
    Die Rand-Autoren sind demnach keine Kriegshetzer um jeden Preis. Für sie ist der Krieg Mittel der Politik und entscheidend ist, ob er es im Einzelfall wirklich ist. Das ist der größte Unterschied zum ersten kalten Krieg: damals spielte Geld keine Rolle, heute reden ausgerechnet die USA, die mehr für Rüstung ausgeben als der Rest der Welt zusammen, zumindest intern doch von den Kosten. Ihre Weltmacht ist kein Selbstläufer mehr.
    Russland einfach in Ruhe zu lassen, ist für die Autoren trotzdem keine Option. Sie plädieren für ein Vorgehen, das in den 80er Jahren schon einmal funktioniert habe: Die Energieproduktion der USA zu erhöhen, um die Preise zu drücken und dem vom Export von Energieträgern abhängigen Russland Ressourcen zu entziehen. Bei der Einschätzung der Kosten dieser Option für die USA selbst mogeln die Autoren: Wenn die Förderung eigener Energieträger ausgeweitet wird, entstehen nicht »sekundäre Wohlfahrtsgewinne«, wie sie schreiben, sondern es entgehen der Energiebranche Gewinne, und durch sinkende Öl- und Gaspreise würden genau diejenigen Sektoren als erste pleite gehen, aus denen der Zuwachs auf der Angebotsseite zu kommen hätte – aus der Fracking­industrie. Letztlich ist die Rand-Studie ein ungewolltes Kompliment an die russische Strategie der letzten Jahre. Wenn sich der potentielle Gegner solche Gedanken machen muss, ob alle seine Optionen zur »Überdehnung und Destabilisierung« überhaupt zweckmäßig sind, hat Russland zumindest einiges richtig gemacht.
    Hintergrund: »Open Skies« teilgesperrt
    Der Austritt der USA aus dem Rüstungskontrollabkommen »Open Skies« ist vor einer Woche wirksam geworden. Washington hatte diesen sechs Monate zuvor, Ende Mai, angekündigt. US-Präsident Donald Trump begründete ihn damit, dass Russland in den USA auch zivile Ziele überflogen habe, darunter einen Golfplatz, auf dem er sich aufgehalten habe.
    Der Grund dürfte nicht gewesen sein, dass Trump sein Handicap vor russischen Spähern geheimhalten wollte. Das US-Militär glaubt, auf bemannte Überflüge nicht mehr angewiesen zu sein, weil es genügend Satelliten im All hat. Auf dieser Grundlage war das mit der Mitgliedschaft verbundene Zugeständnis, auch Kontrollflüge anderer Staaten dulden zu müssen, aus ihrer Sicht entbehrlich. Zum Vertragsausstieg warnten die USA die verbliebenen Mitgliedstaaten des Vertrags – nicht nur Russland – vor dem Versuch, etwa US-Stützpunkte in Europa zu überfliegen. Das würde bedeuten, dass die Bundesluftwaffe zum Beispiel einen großen Bogen um die Basis Ramstein bei Kaiserslautern machen müsste.
    Russland stellte unterdessen den im Vertrag verbliebenen europäischen NATO-Staaten Bedingungen für die weitere Duldung ihrer im Rahmen des Abkommens vorgenommenen Überwachungsflüge. Dies setze voraus, dass sie »feste Garantien« gäben, die gewonnenen Informationen nicht an die USA weiterzuleiten. Sollten diese Garantien ausbleiben, werde auch Russland aus dem Vertrag aussteigen. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) äußerte sein Bedauern über den Vertragsausstieg der USA und kündigte an, die Bundesrepublik werde sich weiter an das 1992 abgeschlossene und 2002 in Kraft getretene Abkommen halten. Die Bundesluftwaffe hatte erst 2019 ein neues Beobachtungsflugzeug in Dienst gestellt, nachdem das Vorgängermodel, eine Tupolew »Tu-154« aus Beständen der NVA, vor Namibia von einer US-Maschine gerammt worden war. (rl)
    Zerrissen in den Krieg
    NATO-Außenministertreffen
    Von Jörg Kronauer
    Lebt sie doch noch? Gut ein Jahr nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der NATO den »Hirntod« diagnostiziert hatte, wollen die Außenminister des westlichen Kriegsbündnisses am Dienstag Maßnahmen zu ihrer Wiederbelebung diskutieren. Nein, natürlich war er nie wirklich tot, der nordatlantische Pakt: Die Truppen der Mitgliedstaaten operieren gemeinsam im Irak und in Afghanistan, im Kosovo und im Mittelmeer. Sie haben sich zudem an Russlands Westgrenze festgesetzt und üben dort den Krieg. Im Januar wird darüber hinaus ein US-Präsident ins Weiße Haus einziehen, der den Abstieg seines Landes nicht mehr per Alleingang im Kampf aller gegen alle zu verhindern suchen, sondern wohl stärker auf das Zweckbündnis mit Europa setzen wird. Damit ist der transatlantische Bruch, der zuweilen nicht mehr auszuschließen zu sein schien, erst mal vom Tisch.
    Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Bündnis des ersten Kalten Kriegs, das sich nun im zweiten in Stellung bringt, von tiefen Rissen durchzogen ist. Neben den transatlantischen Differenzen, die mit einem künftigen US-Präsidenten Joseph Biden wohl etwas zugekleistert werden, gibt es Bruchstellen in Europa: Dort muckt, durchaus ähnlich wie in der EU, Ungarn auf, blockiert die Zusammenarbeit mit der Ukraine, mit der es sich wegen der dortigen ungarischen Minderheit in den Haaren hat. Und dann ist da vor allem der Konflikt mit der Türkei. Zeigt der Zoff mit Budapest, dass zumindest einige unter den kleineren Mitgliedern es satt haben, ihre Interessen von den großen Mächten in deren großen Kämpfen ignoriert zu sehen, so hat der Streit mit Ankara eine prinzipielle Dimension: Die Türkei nutzt den Abstieg des alten Westens für ihre eigene Expansion. Sie ordnet sich nicht mehr unter, wenn NATO-Verbündete – Deutschland, Frankreich – ihr Waffenlieferungen nach Libyen untersagen wollen; sie geht bei Bedarf mit härtesten Bandagen gegen andere NATO-Verbündete wie Griechenland vor.
    Lässt sich das kitten, um wirklich geschlossen in den Machtkampf gegen Russland und China zu ziehen? Über Vorschläge dazu werden die NATO-Außenminister am Dienstag beraten. Vorgelegt hat sie ein Gremium, das auf Initiative von Bundesaußenminister Heiko Maas eingesetzt wurde. Sie sehen unter anderem vor, dass künftig nicht der NATO angehörende EU-Staaten enger eingebunden werden sollen; nun, das geschieht im Fall Finnlands und Schwedens schon längst. Zudem sollen demnächst NATO-Innenministertreffen zum Thema »Terrorismus« abgehalten werden. Wie das helfen soll, die Risse zuzukleben, erschließt sich nicht. Geplant ist, bei speziellen Entscheidungen das Veto einzelner Mitglieder abzuschaffen – also Länder wie Ungarn oder die Türkei in die Schranken zu weisen. Die werden dem Plan kaum zustimmen, ihn aber wohl in Erinnerung behalten. Das Kriegsbündnis zieht also mit bleibenden Rissen in den zweiten Kalten Krieg.

  169. Ohje, welche Bleiwüsten …

    “Hilfe für Afghanistan”
    Die Amis sollen deswegen nicht aus Afghanistan abziehen, weil dann die deutschen Truppen dort völlig schutzlos wären. Ggf. müssten die deutschen Soldaten dann dort auch abziehen. Und dann hätten die Deutschen plus ein paar weitere europäische Truppensteller glatt gar keine Mitspracherechte mehr für die zukünftigen Verhältnisse in Afghanistan …
    So kurzgefasst lassen sich imperialistische Verhältnisse nämlich durchaus auch darstellen 🙂

    Übrigens war der dt. Truppeneinsatz in Afghanistan damals in deutscher Öffentlichkeit begründet worden mit Frauenrechten dortselbst, Kindergartenschutz, Brunnenbohrenförderung etcpp. Statt des bösen Heroins sollten die Bauern den guten Weizen anbauen.
    Das Jammern von Außenminister Maas über den US-Abzug unterstreicht übrigens noch einmal die völlige Irr-Relevanz dieser grandiosen (angeblich wichtigen) Entwicklungsziele.
    https://www.deutschlandfunk.de/nato-konferenz-aussenminister-maas-hofft-auf-konstruktive.1939.de.html?drn:news_id=1200514

    Auch bei Nordstream_2 sollen die USA deutsche Interessen bitte in Zukunft doch besser berücksichtigen. Und dafür werden nun Weichen gestellt und juristisch herumfuhrwerkt …
    https://www.heise.de/tp/features/Nord-Stream-2-Ab-Samstag-wird-weitergebaut-aber-nur-2-6-Kilometer-4975609.html

    “Nachrüstung” durch Lieferung von Drohnen aus Israel, und offizielles Abschminken von Friedensphrasen bei den Grünen – so werden dt. Hausaufgaben abgearbeitet.
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1145102.die-gruenen-baerbock-offen-fuer-staerkung-der-bundeswehr.html

  170. Trippelschritt voran
    Transaltantischer Streit um Nord Stream 2
    Von Reinhard Lauterbach
    Nach Monaten des Stillstands tut sich wieder etwas auf der Baustelle für Nord Stream 2. Das ist wohl kein Zufall. Wahrscheinlich will die russische Seite die Zeit des Interregnums in Washington nutzen, um Tatsachen zu schaffen – in der Hoffnung, möglichst weit zu kommen, bevor Joseph Biden sein Amt antritt, und wohl auch darauf setzend, dass Donald Trump in seinen letzten Amtswochen andere Sorgen hat, als sich um ein Projekt zu kümmern, von dem man sich fragen kann, ob er es auf einem Globus finden könnte.
    Das ist die optimistische Sichtweise. Denn ganz abgesehen davon, dass natürlich auch in den USA die Apparate nicht schlafen, wenn die Präsidenten wechseln, kann man auch Argumente dafür finden, dass einstweilen eher Symbolpolitik betrieben wird: 2,6 Kilometer in der deutschen Wirtschaftszone zu verlegen, trägt zum Baufortschritt nicht wesentlich bei. Das spricht dafür, dass hier getestet werden soll, wie Washington reagiert – ein Drittstaat ohne jeden Rechtsgrund für die Einmischung in das Bauvorhaben, der aber durch Anmaßung faktisch zur entscheidenden Instanz geworden ist. Selbst Russland scheut die direkte Konfrontation und hat geglaubt, das Verlegeschiff »Akademik Tscherski« von Gasprom auf einen obskuren Investmentfonds aus Samara überschreiben zu müssen, um den auf dem Kapitalmarkt notierten Konzern aus der Schusslinie zu nehmen. Geradezu rührend ist, dass in Mecklenburg-Vorpommern angeblich eine gemeinnützige Stiftung gegründet werden soll, die als Dach für das Projekt fungiert. Zudem noch mit dem angeblichen Stiftungszweck Natur- und Landschaftsschutz. Juristen haben die Konstruktion gegenüber dem NDR als »pfiffig« gelobt. Das ist sie sicherlich, mehr auch nicht. Wahrscheinlich wird diese Stiftung, wenn sie denn entsteht, alsbald nach Fertigstellung der Leitung auch wieder selig entschlafen.
    Solche Winkelzüge machen deutlich, dass weder die BRD noch die EU willens sind, sich die Einmischung der USA in ihre inneren Angelegenheiten mit dem gebotenen Nachdruck zu verbitten. Gerade die im politischen Berlin ausgebrochene Euphorie über die Wahl von Biden lässt erwarten, dass spätestens in dem Moment, wo dieser das Nein Trumps gegen Nord Stream 2 wiederholt, das Projekt gestorben sein wird – geopfert auf dem Altar der »transatlantischen Beziehungen«, für die die EU gerade einen Neuanfang ausgerufen hat. Wenn es nicht bis dahin zustandegekommen ist. Und das ist nicht sicher. Sollte es aber doch noch klappen mit der Leitung, dann haben die deutschen Gasverbraucher die damit verbundenen Preisvorteile beim Heizen und Produzieren nicht der Weisheit oder Entschlossenheit ihrer Regierung zu verdanken, sondern der Beharrlichkeit Russlands. Das muss nicht nur kurzfristig Biden zuvorkommen, sondern auch mittelfristig einer denkbaren schwarz-grünen Bundesregierung.
    Transatlantische Sanktionen (II) (02.12.2020)
    Arbeiten an Nord Stream 2 werden ab Samstag fortgesetzt. Maßnahmen gegen die US-Sanktionen sind in Vorbereitung.
    BERLIN/WASHINGTON/MOSKAU (Eigener Bericht) – Die Wiederaufnahme der Verlegearbeiten an der Erdgaspipeline Nord Stream 2 steht unmittelbar bevor. Wie die Betreiberfirma mitteilt, soll die Verlegung des nächsten Pipelinestücks nach rund einjähriger sanktionsbedingter Zwangspause an diesem Samstag beginnen. Washington arbeitet unterdessen an neuen Sanktionen, die noch in diesem Jahr in Kraft gesetzt werden sollen. Sie verdichten das unübersichtliche Sanktionsgeflecht, das die Vereinigten Staaten mit Drohungen im Mafiastil durchzusetzen suchen, noch mehr; es heißt über sie, sie seien womöglich geeignet, Nord Stream 2 den abschließenden Todesstoß zu versetzen. In Berlin haben die Arbeiten an Gegenmaßnahmen begonnen. Sie enthalten allgemeine Optionen zur Abwehr künftiger US-Sanktionen; zu ihrer Realisierung fehlt allerdings noch viel. Nord Stream 2 soll laut Plänen des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern mit einer sanktionsimmunen gemeinnützigen Stiftung geschützt werden. Für Berlin und die EU steht die strategische Autonomie und damit die Fähigkeit zu einer eigenständigen Weltpolitik auf dem Spiel.
    Das US-Sanktionsgeflecht
    Die Vereinigten Staaten sind dabei, das unübersichtliche Sanktionsgeflecht, das sie über Nord Stream 2 gelegt haben, noch weiter zu verdichten. In einem ersten Schritt hatte Ende vergangenen Jahres der Protecting Europe’s Energy Security Act (PEESA) die Unterbrechung der Pipeline-Verlegearbeiten erzwungen, indem er die Betreiber von Spezialschiffen, die sich an der Verlegung von Nord Stream 2 beteiligten, mit Zwangsmaßnahmen bedrohte. US-Präsident Donald Trump setzte den PEESA am 20. Dezember 2019 in Kraft, woraufhin die Schweizer Firma Allseas, deren Spezialschiffe als unverzichtbar galten, umgehend ihre Tätigkeit für Nord Stream 2 beendete. Das hatte zur Folge, dass Russland ein Ersatzschiff, die Akademik Tscherski, aus seinem äußersten Osten heranholen und aufwendig umrüsten musste; das kostete viel Zeit. Hinzu kam, dass US-Außenminister Mike Pompeo den schon seit dem 2. August 2017 geltenden Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) am 15. Juli 2020 einer Neuinterpretation unterzog. Der CAATSA sieht in Section 232 Zwangsmaßnahmen gegen alle vor, die den Bau russischer Pipelines auf die eine oder andere Art und Weise unterstützen. Pompeo setzte Section 232 nun per Verordnung auch rückwirkend für die Zeit vor seiner Verabschiedung in Kraft – ein Schritt, der mit allgemein anerkannten Rechtstraditionen bricht. Seitdem wird das Gesetz auch auf Nord Stream 2 angewandt, obwohl der Bau der Pipeline bereits vor dem 2. August 2017 vertraglich vereinbart wurde.
    Zusatzgesetze und Erweiterungen
    Die rückwirkende Inkraftsetzung des CAATSA für Nord Stream 2 hat den transatlantischen Sanktionskrieg auf eine neue Ebene gehoben, weil nun unter anderem der Fährhafen Mukran in Sassnitz auf Rügen mit Zwangsmaßnahmen belegt werden kann. Dies trifft nicht zuletzt den gewählten Bürgermeister von Sassnitz, der qua Amt Gesellschafter des Fährhafens ist. Dass US-Sanktionen die deutsche Infrastruktur sowie gewählte Amtsträger bedrohen, ist neu.[1] Ergänzend haben der US-Senat sowie das US-Repräsentantenhaus ein Zusatzgesetz zum PEESA (Protecting Europe’s Energy Security Clarification Act, PEESCA) auf den Weg gebracht, das noch dieses Jahr als Teil des National Defense Authorization Act (NDAA) verabschiedet werden soll. Richtete sich der PEESA gegen die Beteiligung an der Verlegung der Pipeline im engeren Sinne, so wird der PEESCA auch begleitende Arbeiten im weiteren Sinn mit Zwangsmaßnahmen belegen und dabei sogar Versicherungs- und Zertifizierungsleistungen umfassen. Beide Gesetze unterscheiden sich außerdem dadurch vom CAATSA, dass letzterer lediglich Arbeiten im Wert von mindestens einer Million US-Dollar bestraft; der PEESA wie auch der PEESCA enthalten keinerlei derartige Einschränkungen. Zuletzt hat das US-Außenministerium am 20. Oktober den CAATSA erneut ausgeweitet – auf Dienstleistungen für Schiffe, die sich am Pipelinebau beteiligen. Dies hat wiederum zum Ausstieg der norwegischen Zertifizierungsfirma DNV-GL geführt.[2]
    Im Mafiastil
    Für besonderen Unmut hat im Verlauf des vergangenen Jahres gesorgt, dass Washington seinen Zwangsmaßnahmen mit Drohbriefen, Drohanrufen sowie gezieltem diplomatischem Druck auf die betroffenen Firmen Nachdruck verleiht. Bereits Ende vergangenen Jahres hatte das Management des Schweizer Unternehmens Allseas ein Schreiben erhalten, in dem die US-Senatoren Ted Cruz und Ron Johnson erklärten, eine Fortsetzung der vertraglich vereinbarten Arbeit an Nord Stream 2 werde “die künftige finanzielle Überlebensfähigkeit Ihres Unternehmens zerstören”: “Stoppen Sie JETZT und lassen Sie die Pipeline unfertig zurück …, oder Sie riskieren, Ihr Unternehmen für immer aufzugeben”.[3] Ein ähnliches Drohschreiben war zum Beispiel im August beim Fährhafen Mukran eingegangen; Cruz, Johnson und der US-Senator Tom Cotton hatten dem Management darin “vernichtende Sanktionen” angekündigt und mitgeteilt, die Nichterfüllung ihrer Forderungen werde Mukran finanziell “zerstören”. Getroffen würden nicht nur die Hafen-GmbH, sondern auch “Vorstandsmitglieder, leitende Mitarbeiter, Gesellschafter und Angestellte”.[4] Aktuell wird aus Wirtschaftskreisen berichtet, die Trump-Administration arbeite systematisch eine lange Liste von Unternehmen ab, die jeweils individuell “von US-Vertretern auf bevorstehende Sanktionen hingewiesen werden”.[5] Von “Mafia-Methoden” ist die Rede. Betroffen sind rund 120 Firmen aus zwölf souveränen europäischen Staaten.
    Gegenmaßnahmen
    Mittlerweile zeichnen sich erste Gegenmaßnahmen ab. Gescheitert ist im August der Versuch von Bundesfinanzminister Olaf Scholz, Washington zu einem Deal mit Berlin zu bewegen: Scholz’ Angebot an seinen US-Amtskollegen Steven Mnuchin, den Bau zweier Flüssiggasterminals in Brunsbüttel und in Wilhelmshaven “durch die Bereitstellung von bis zu 1 Milliarde Euro” spürbar zu beschleunigen, um US-Flüssiggas einführen zu können, verpuffte.[6] Im August legten 24 EU-Staaten beim US-Außenministerium Protest gegen die Sanktionen ein – folgenlos.[7] Im Oktober publizierte der European Council on Foreign Relations (ECFR) ein langes Strategiepapier, in dem Instrumente zur Abwehr von US-Sanktionen bis hin zur Führung eines Wirtschaftskriegs skizziert wurden. Das Papier, dessen Erstellung vom Auswärtigen Amt auf Staatssekretärsebene begleitet wurde, soll nun von den EU-Gremien und den nationalen Parlamenten in der Union diskutiert werden.[8] Der jüngste Schritt: Das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern bereitet zur Zeit die Gründung einer gemeinnützigen Stiftung vor, unter deren Dach Nord Stream 2 dann fertiggestellt werden soll. Den Vorsitz der Stiftung, die mutmaßlich gegen US-Sanktionen immun ist, soll der einstige Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns Erwin Sellering (SPD) übernehmen. Experten sprechen von einem “geschickten rechtlichen Kniff”.[9]
    Die Weltpolitikfähigkeit der EU
    Wie jetzt berichtet wird, steht die Wiederaufnahme der Verlegetätigkeiten nach sanktionsbedingter einjähriger Unterbrechung unmittelbar bevor; die Nord Stream 2 AG hat ihn für diesen Samstag (5. Dezember) angekündigt.[10] An der Frage, ob es Berlin gelingt, den Bau der Pipeline gegen die Interventionen Washingtons durchzusetzen, hängt viel: Könnte Washington – als Präzedenzfall – Nord Stream 2 verhindern, dann unterlägen künftig selbst milliardenschwere Infrastrukturprojekte in der EU dem Vorbehalt, die Zustimmung der US-Administration finden zu müssen. Damit steht letztlich nichts Geringeres als die strategische Autonomie der EU zur Debatte – bzw. ihre Fähigkeit, eine eigenständige Weltpolitik treiben zu können.
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    “Damit Gewehre schießen” (01.12.2020)
    Grünen-Vorsitzende spricht sich für Aufrüstung aus. Berlin erhöht Militärhaushalt – auch mit Geld aus dem Corona-Konjunkturpaket.
    BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Mit Blick auf eine mögliche schwarz-grüne Koalition in Berlin plädiert die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock für die Fortsetzung der Aufrüstung und zieht Kriege ohne UN-Mandat in Betracht. Sollte der UN-Sicherheitsrat “blockiert” sein, müsse man gegebenenfalls einer “internationalen Schutzverantwortung” entsprechen, legt Baerbock nahe; mit dem Begriff wurden in der Vergangenheit Kriege ohne oder unter Bruch eines UN-Mandats legitimiert – etwa der Krieg in Libyen. Während die Grünen-Vorsitzende fordert, man müsse “mehr investieren, damit Gewehre schießen”, stockt der Bundestag den deutschen Militärhaushalt weiter auf – auch mit Mitteln aus dem Corona-Konjunkturpaket, aus dem Berlin 3,2 Milliarden Euro für die Aufrüstung abzweigt. Zu den 46,9 Milliarden Euro, die 2021 offiziell für die Bundeswehr vorgesehen sind, kommen inoffiziell mehrere Milliarden Euro hinzu, die in andere Budgetposten verschoben, aber intern gegenüber der NATO als Wehrausgaben klassifiziert werden. Lediglich auf EU-Ebene schreitet die Aufrüstung weniger rasch als von Berlin gewünscht voran.
    Offizieller und inoffizieller Militärhaushalt
    Der offizielle Verteidigungshaushalt der Bundeswehr wird im nächsten Jahr um zwei Milliarden Euro auf rund 46,9 Milliarden Euro steigen. Das hat der Haushaltsausschuss des Bundestags in der vergangenen Woche beschlossen. War im vergangenen Jahr in der mittelfristigen Finanzplanung noch vorgesehen, den Wehretat ab 2021 wieder zu senken (von 44,9 Milliarden Euro im Jahr 2020 auf rund 44,3 Milliarden Euro), so wird er nun nicht nur angehoben, sondern auch noch um einen Milliardenzuschuss aus dem Corona-Konjunkturpaket der Bundesregierung aufgestockt, woraus sich letztlich die 46,9 Milliarden Euro ergeben.[1] Dabei liegen die tatsächlichen Militärausgaben, die die Bundesregierung im kommenden Jahr tätigen wird, noch um mehrere Milliarden höher. Ursache ist, dass verschiedene einschlägige Ausgaben – darunter zum Beispiel diejenigen für die militärische “Ertüchtigung von Partnerstaaten” oder für den “Aufenthalt ausländischer Streitkräfte” – in anderen Haushaltsposten verborgen werden. Augenfälligster Beleg ist, dass die Wehrausgaben, die die Bundesregierung jährlich an die NATO meldet, stets deutlich höher als das Volumen des offiziellen Verteidigungshaushalts sind; dieses Jahr sind es laut dem FDP-Bundestagsabgeordneten Christian Sauter 51,5 Milliarden Euro, über 6,5 Milliarden Euro mehr als das offizielle Budget.[2] Von einer ähnlichen Differenz ist auch für 2021 auszugehen.
    Kampfschiffe, Kampfpanzer, Kampfjets
    Wie das Bundesverteidigungsministerium bestätigt, ist in der Planung die Finanzierung zahlreicher kostspieliger Rüstungsprojekte vorgesehen. Dazu zählt etwa die Beschaffung von vier Exemplaren des neuen Mehrzweckkampfschiffs MKS 180, deren Preis sich letztlich auf rund 5,3 Milliarden Euro belaufen soll.[3] Vorgesehen sind auch Mittel für eine erste Tranche von insgesamt 90 Eurofightern – ebenfalls ein Milliardenprojekt.[4] Geld wird zudem für neue Helikopter NH-90 sowie für die Eurodrohne bereitgestellt; auch sollen die Arbeiten an dem deutsch-französischen Kampfjet der nächsten Generation (Future Combat Air System, FCAS) und an dem neuen deutsch-französischen Kampfpanzer (Main Ground Combat System, MGCS) vorangetrieben werden. Für beide ist ein Einsatz im Verbund mit unbemannten Kampfsystemen geplant, etwa mit Robotern, Drohnen und Drohnenschwärmen.[5] Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat kurzfristig 114 Millionen Euro zusätzlich locker gemacht, damit die Bundeswehr neue Munition kaufen kann.[6] Mittel aus dem Corona-Konjunkturpaket der Bundesregierung hingegen verwendet die Truppe, um neue Transportfahrzeuge zu erwerben. So werden allein 389 Millionen Euro aufgewandt, um 150 Fahrzeuge mit einer Zuladung von 5 und 850 Fahrzeuge mit einer Zuladung von 15 Tonnen zu bezahlen. Geliefert werden sollen sie in den Jahren 2021 und 2022.[7]
    Kritik an PESCO
    Während Berlin die Aufrüstung energisch forciert, klagen Spezialisten über Rückschläge bei der Militarisierung auf EU-Ebene. Dies gilt zunächst für den EU-Haushalt. So hat Brüssel nach lange anhaltenden Auseinandersetzungen um den Unionsetat letztlich nicht – wie ursprünglich geplant – 13, sondern nur knapp acht Milliarden Euro für den Europäischen Verteidigungsfonds zur Verfügung gestellt, davon mehr als 2,6 Milliarden für Rüstungsforschung sowie 5,3 Milliarden für die Entwicklung von Kriegsgerät. Zur Verbesserung der “militärischen Mobilität” werden – anders als zunächst vorgesehen – nicht sechs, sondern lediglich 1,5 Milliarden Euro eingeplant; die “Europäische Friedensfazilität” wiederum, aus der EU-Operationen finanziert werden, wird fünf Milliarden Euro erhalten.[8] Als unzureichend stufen Militärkreise nicht nur die EU-Finanzmittel, sondern auch den realen Zustand der Aufrüstung ein. So verläuft das Projekt PESCO nicht wie gewünscht; nach herber Kritik haben die EU-Verteidigungsminister bei ihrem jüngsten Treffen am 20. November beschlossen, von den 47 aktuell laufenden PESCO-Teilvorhaben lediglich 26 “mit Priorität” zu verfolgen – eine euphemistische Formulierung dafür, dass die übrigen 21 vermutlich eingestellt werden. Mit Blick auf das als unzureichend eingestufte Militarisierungsniveau heißt es im jüngsten CARD-Bericht (Coordinated Annual Review on Defence), das erklärte Ziel der EU, “strategische Autonomie” zu erreichen, sei in Gefahr.[9]
    Schwerpunkt Weltraum
    Um die Aufrüstung zu beschleunigen, schlägt der CARD-Bericht die Fokussierung auf insgesamt sechs Schwerpunktfelder vor. So soll spezielles Gewicht auf die Entwicklung eines Kampfpanzers der nächsten Generation gelegt werden; Deutschland und Frankreich sind damit schon befasst. Einen weiteren Schwerpunkt soll die Herstellung eines neuen Überwasserschiffes der Patrol Class bilden, wobei “ein EU-weites Konzept für modulare Marineplattformen” geschaffen werden soll.[10] Im Mittelpunkt stehen zudem die Modernisierung der Infanteriesysteme und Maßnahmen zur “Abwehr unbemannter Luftfahrzeuge”; letzteren kommt große Bedeutung mit Blick auf künftige Drohnenkriege zu: Als exemplarischer Testlauf für Kriege dieser Art gilt Aserbaidschans Krieg gegen Armenien, den die aserbaidschanischen Streitkräfte vor allem dank ihrer von der Türkei und von Israel gelieferten Drohnen gewannen. Neben verstärkten Schritten zur Verbesserung der militärischen Mobilität empfiehlt der CARD-Bericht auch “die Entwicklung eines europäischen Konzepts für die Verteidigung im Weltraum”. Die Kriegführung im All rückt seit einiger Zeit nicht nur zunehmend in den Blick der NATO [11], sondern auch der Bundeswehr, die erst kürzlich ihre neue Operationszentrale für militärische Einsätze im Weltraum in Dienst gestellt hat [12].
    “Auch über Auslandseinsätze sprechen”
    Dass die Aufrüstung auch bei einem möglichen Regierungswechsel nach der Wahl im kommenden Jahr – weg von der Großen Koalition hin zu Schwarz-Grün – umstandslos fortgesetzt werden kann, geht aus einem aktuellen Interview mit Annalena Baerbock, einer der beiden Vorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, hervor. Baerbock bekennt sich zu konsequenter Aufrüstung: “In manchen Bereichen muss man mehr investieren, damit Gewehre schießen und Nachtsichtgeräte funktionieren.”[13] Für die NATO müssten in Zukunft “flexible, schnell verlegbare Einheiten im Bündnisgebiet” eine herausgehobene Rolle spielen, zudem “Gefährdungslagen wie Cyberattacken, eine neue Form der Kriegführung”. Kampfeinsätzen (“robuste Militäreinsätze”) könnten sich die Grünen keinesfalls prinzipiell verweigern; man müsse “auch über Auslandseinsätze … sprechen”: “Einfach wird das nicht”, erklärt Baerbock mit Blick auf die Vergangenheit mancher “Grüner” im Umfeld der Friedensbewegung, “aber wir dürfen uns nicht wegducken”. Baerbocks Äußerungen deuten nicht zuletzt auf eine prinzipielle Bereitschaft zu Kriegen ohne UN-Mandat hin. Befragt zu dem hypothetischen Fall, ein Genozid finde statt, und der UN-Sicherheitsrat sei “blockiert”, äußert die Grünen-Vorsitzende: “Es gibt eine internationale Schutzverantwortung.” Das Konzept der “Schutzverantwortung” (Responsibility to Protect, R2P) soll Kriegen ohne UN-Mandat Legitimität verleihen. Als Beispiel gilt der Krieg des Westens gegen Libyen im Jahr 2011. Die Folgen dieses Krieges sind bekannt.

  171. »Agenten« unter Druck
    Reaktion auf US-Vorgehen: Russland verschärft Kontrolle über Blogger und Journalisten, die vom Ausland finanziert werden
    Von Reinhard Lauterbach
    Russland hat schärfere Regeln gegen die »ausländischen Agenten« in der Medienlandschaft verabschiedet. Wichtigste Neuerung ist, dass sich nicht mehr nur Organisationen, die sich mit Finanzierung aus dem Ausland politisch oder journalistisch betätigen, als solcherart Agent kennzeichnen müssen – dieselbe Pflicht soll auch für natürliche Personen gelten, die für entsprechende Agentenmedien arbeiten oder gegen Bezahlung »oder andere Vermögensvorteile« deren Inhalte weiterverbreiten. Letztere Bestimmung soll eine Praxis vereiteln, dass solche aus dem westlichen Ausland finanzierten Medien sich formal auflösen, aber die vorher dort tätigen Journalisten die Informationen weiterhin »privat«, als Blogger zum Beispiel, publizieren. Diese Rechtslücke ist jetzt geschlossen worden.
    Die Kennzeichnung aus dem Ausland finanzierter »Nichtregierungsorganisationen« (viele werden von diversen Regierungen durchaus mitfinanziert) als ausländische Agenten wurde in Russland bereits 2012 – ein Jahr nach den vom Westen heftig geschürten und unterstützten Protesten gegen die Wahl Wladimir Putins für eine dritte Amtszeit – eingeführt. Formal folgt sie einer Regelung in den USA, wo es eine solche Meldepflicht schon seit 1938 gibt. Während jedoch im Englischen das Wort »Agent« in diesem Kontext meist bedeutet, als »Vertreter« zu agieren, hat es im Russischen direkt geheimdienstliche Konnotationen, und die davon ausgehende abschreckende Wirkung ist auch beabsichtigt.
    Die US-amerikanisch kontrollierte Einmischungsorganisation »Human Rights Watch« (HRW) kritisierte denn auch, »Menschenrechtsaktivisten« würden sich weiter »von der russischen Gesellschaft isolieren«, wenn ihre Mitarbeiter sich auch individuell als Agenten kennzeichnen müssten. Nicht ohne Grund versicherte der Vorsitzende des Ausschusses der Staatsduma für Informationspolitik, Leonid Lewin, beschwichtigend, die Bestimmungen des Gesetzes würden »nicht gegen Blogger oder russische Publizisten« eingesetzt werden. Das Problem an dieser Zusicherung ist: Nur gegenüber diesen entfalten sie abschreckende Wirkung, nur ihnen gegenüber sind sie damit auch im gesetzgeberischen Sinne sinnvoll. Und damit kann auch an ihrer Ehrlichkeit gezweifelt werden. Da das Gesetz außerdem viel mit Kann-Bestimmungen arbeitet, die Ermessensspielräume eröffnen, schafft es eher Rechtsunsicherheit.
    Noch weiter gehen die Konsequenzen, die der Status als »Auslandsagent« für den einzelnen Bürger mit sich bringt. So muss er künftig in jedem Schriftverkehr mit Behörden – etwa, wenn er als Journalist amtliche Informationen verlangt – auf seinen entsprechenden Status hinweisen. Agenten sind von der Beschäftigung im öffentlichen Dienst und von der Kandidatur für öffentliche Ämter ausgeschlossen. Solche Beschränkungen des passiven Wahlrechts gab es in der russischen Rechtsordnung bisher nur für rechtskräftig verurteilte Strafgefangene während der Dauer ihrer Haft.
    Bei derselben Gelegenheit wurden auch die Berichtspflichten für juristische Personen – Vereine, Stiftungen usw. – mit ausländischer Finanzierung verschärft. Mussten sie bisher alle halbe Jahre angeben, ob sie Geld aus ausländischen Quellen erhalten haben, so sind sie nun verpflichtet, derartige Berichte künftig erstens alle drei Monate vorlegen und zweitens darin auch offenzulegen, wieviel Geld sie erhalten und wofür sie es ausgegeben haben. Insgesamt sind in der Russischen Föderation derzeit rund 150 Organisationen als »ausländische Agenten« registriert. Ihre Tätigkeitsgebiete reichen vom Umweltschutz über die Rechtsberatung von Wehrpflichtigen bis zur Durchführung von Meinungsumfragen (das fachlich durchaus angesehene Lewada-Institut) und antisowjetischer Geschichtspolitik (Memorial). Der US-Sender Radio Liberty, selbstverständlich ein derartiger ausländischer Agent, liefert sich mit den Behörden ein Katz- und Maus-Spiel, indem er immer neue Portale unter neuen Namen online stellt.
    Auf einer anderen Schiene operiert ein zweites Gesetzesprojekt, das jetzt in die Staatsduma eingebracht wurde. Es droht ausländischen IT-Konzernen mit der Blockierung ihrer Dienste in Russland, wenn sie ihrerseits Inhalte russischer Seiten blockiert haben. Dies richtet sich gegen Mediengiganten wie Facebook, Google oder dessen Tochter Youtube, die auf Anweisung der US-Regierung die Seiten staatlicher russischer Medien wie Russia Today oder Sputnik blockiert oder entsprechend gekennzeichnet haben. Russland hat nach eigenen Angaben seit April etwa 20 Fälle registriert, in denen seine Medien auf diese Weise behindert oder gebrandmarkt wurden. Dass die russischen Gegenmaßnahmen die Medienunternehmen an einem empfindlichen Punkt treffen, machte die windelweiche Reaktion der selbsternannten Menschenrechtswächter von HRW auf das Projekt deutlich: Man bestreite ja gar nicht, dass Internetkonzerne ihre Löschungspolitik nach undurchsichtigen Kriterien betrieben (was ja schon eine Beschönigung ist – die Aufgabenstellung ist klar und wird von niemandem bestritten: im politischen Auftrag »Desinformation« zu bekämpfen), aber dafür ihre Dienste gleich ganz abzuschalten, schieße über das Ziel hinaus und beraube die Russen wichtiger Informationen. Offenbar darf nur einer zensieren.

  172. Na, das ist ja viel auf einmal.

    Frauenrechte …, Kindergartenschutz, Brunnenbohrenförderung etcpp. Statt des bösen Heroins sollten die Bauern den guten Weizen anbauen.
    Das Jammern von Außenminister Maas über den US-Abzug unterstreicht übrigens noch einmal die völlige Irr-Relevanz dieser grandiosen (angeblich wichtigen) Entwicklungsziele.

    Natürlich auch das Scheitern der gesamten Afghanistan-Politik und -Besetzung.
    Statt dort blühende oder zumindest befriedete Landschaften zu schaffen, ist lediglich ein Dauer-Kostenfaktor für die Besatzer entstanden.
    Die Befürchtung Deutschlands und der EU ist vor allem, daß im Falle eines Sturzes der Regierung Ghani – der im Falle eines Trupppenabzugs so sicher ist wie das Amen im Gebet – das Schubabkommen mit Afghanistan Makulatur wäre.
    Und die afghanischen Flüchtlinge landen in der EU, nicht in den USA.

  173. @NN

    Sollte sich die Bundesregierung entscheiden, Nord Stream 2 fallenzulassen, … kämen auf die EU-Volkswirtschaften, die russisches Gas nutzen, erhebliche Mehrkosten zu.

    Nun ja.
    Österreich bezieht seit den 70-er Jahren russisches (damals noch „sowjetisches“) Gas über die Ukraine, da war von North Stream noch gar keine Rede. Es hat einen großen Verteiler in Baumgarten:
    https://www.gasconnect.at/fileadmin/Broschueren-Folder/Baumgarten/GasConnect_Erdgasstation_Baumgarten.pdf
    Seit den Schwierigkeiten mit der Ukraine läuft das Erdgas auch in andere Richtungen, aber m.E. kommt immer noch einiges auch von Osten.
    North Stream II wäre für einen gesteigerten Bedarf und möglicherweise auch die Versorgung Südwesteuropas gedacht gewesen, und als Druckmittel gegen ukrainische Korrumpanten, die sich am Gastransit bereichern wollen.
    An den derzeitigen Vertriebswegen ändert aber die Absage von North Stream nichts, daher auch an den Preisen nicht.
    Deutschland müßte nur seine Ambitionen begraben, sich zum Energieverteiler für die EU zu machen.

  174. Atomvereinbarung: Biden muss sich beeilen
    Iran: Nach dem tödlichen Anschlag auf den Atomphysiker Fachrisadeh werden Fristen für die Rückkehr zum JCPOA gesetzt
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    Nowitschok: Lebenszeichen von Julia Skripal?
    Die Skripal-Tochter, die angeblich noch in UK getrennt von ihrem Vater lebt, soll ihre Kusine Viktoria angerufen haben. Anlass auch, die Nowitschok-Fälle Nawalny, Skripal und in Amesbury noch einmal zu betrachten
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    Die Zukunft der Kriegführung (04.12.2020)
    Berliner Experten dringen auf engere Rüstungskooperation mit Großbritannien. Es geht unter anderem um High-Tech-Kriegführung.
    BERLIN/LONDON (Eigener Bericht) – Deutschland soll seine Rüstungs- und Militärkooperation mit Großbritannien intensivieren und dabei insbesondere die Kriegführung der Zukunft mit Hilfe von Robotern und Künstlicher Intelligenz in den Blick nehmen. Dies fordern Experten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Rahmen eines Programms, das von der Hanns-Seidel-Stiftung (CSU) finanziert und am renommierten Londoner King’s College realisiert wird. Hintergrund ist das Bemühen, das Vereinigte Königreich trotz seines Austritts aus der EU militärisch möglichst eng an die EU anzubinden, um die Schlagkraft der britischen Streitkräfte für künftige EU-Operationen nutzen zu können. Während die Militärkooperation zwar längst offiziell vereinbart ist, aber in der Praxis nicht recht in Gang kommt, plädieren die DGAP-Experten für einen Ausbau der Rüstungskooperation – etwa eine gemeinsame Entwicklung von Raketen – sowie für eine deutsche Beteiligung an britischen Programmen, die die umfassende Nutzung modernster Technologien von Kampfmaschinen bis zu Künstlicher Intelligenz ausloten.
    “Beziehungen ausbauen”
    Bemühungen um eine Intensivierung der deutsch-britischen Militärkooperation gibt es bereits seit Jahren. Hintergrund ist, dass einerseits Deutschland und Frankreich, andererseits Frankreich und Großbritannien militärisch eng zusammenarbeiten, letztere im Rahmen der am 2. November 2010 geschlossenen Lancaster House Treaties [1], dass jedoch unter den drei großen westeuropäischen Mächten ein deutsch-britisches Element bis heute fehlt. Ein Ausbau der Zusammenarbeit wurde schon vor dem Brexit-Referendum in den Blick genommen, so zum Beispiel beim Antrittsbesuch des damaligen britischen Verteidigungsministers Michael Fallon am 12. August 2014 in Berlin sowie bei einem Gegenbesuch der damaligen deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am 11 Dezember 2014 in London. Großbritanniens im November 2015 verabschiedete Militärstrategie (“Strategic Defence and Security Review”) hielt explizit fest: “Wir streben eine Intensivierung unserer sicherheits- und verteidigungspolitischen Beziehungen zu Deutschland an.” Umgekehrt heißt es im “Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr” von 2016, man wolle “die sicherheitspolitische Partnerschaft mit Großbritannien … in allen Bereichen unserer gemeinsamen Interessen weiter ausbauen”.
    E3-Kooperation
    Auch nach dem Brexit-Referendum haben beide Seiten ihre Absicht, militärpolitisch enger zu kooperieren, mehrfach bekräftigt. So unterzeichneten von der Leyen und ihr damaliger britischer Amtskollege Gavin Williamson am 5. Oktober 2018 eine Absichtserklärung (“Joint Vision Statement”), die konkrete Schritte vorsieht, darunter eine Verbesserung der Interoperabilität beider Streitkräfte, eine engere Ausbildungs- und Trainingskooperation sowie regelmäßige bilaterale Treffen auf unterschiedlichen Ebenen. Am 28. Februar 2019 trafen Williamson und von der Leyen zum ersten offiziellen britisch-deutschen Verteidigungsministerrat zusammen; am 16. Januar 2020 tauschten sich ihre beiden Amtsnachfolger Ben Wallace und Annegret Kramp-Karrenbauer aus. Eine enge Anbindung des Vereinigten Königreichs nach dessen Austritt aus der EU gilt laut deutscher Auffassung als überaus wünschenswert, weil gemeinsame Operationen mit den als stark eingeschätzten britischen Streitkräften den Handlungsspielraum für EU-Einsätze klar ausweiten. Globale Schlagkraft soll auch das mittlerweile mehrfach erprobte Auftreten im “E3”-Rahmen (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) bieten, das den Interessen des Vereinigten Königreichs in mancherlei Hinsicht klar entspricht: So steht London im Konflikt mit Iran auf Seiten von Paris und Berlin, nicht von Washington.[2]
    Am King’s College
    Weil die Militärkooperation in der Praxis noch nicht die gewünschten Fortschritte macht, hakt Berlin nach – mit Hilfe der vom Auswärtigen Amt finanzierten Hanns-Seidel-Stiftung (CSU), die seit 2019 ein Büro in London unterhält. Die Einrichtung des Büros ist mit dem expliziten Ziel geschehen, die bilateralen Beziehungen nach dem britischen Austritt aus der EU zu pflegen und in diesem Zusammenhang “Kontakt-Netzwerke” in Regierungskreise, Parlament, Wirtschaft und Wissenschaft aufzubauen und zu pflegen.[3] Dazu arbeitet das Londoner Büro der Seidel-Stiftung mit mehreren Think-Tanks und dem “Policy Institute” am renommierten Londoner King’s College zusammen. Aktuell finanziert die Stiftung ein Projekt, in dem sie gemeinsam mit dem “Policy Institute” die Erstellung sowie die Publikation von Analysen zum Ausbau der Militärkooperation finanziert. Bislang erschienen sind unter anderem mehrere Papiere, in denen drei Experten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) Vorschläge zur Intensivierung der Zusammenarbeit präsentieren.[4]
    Europäische Cruise Missiles
    Dabei zielen die Vorschläge zum einen auf die Aufrüstung. Deutschland und Großbritannien, heißt es, sollten sich bemühen, gemeinsame Fähigkeitslücken zu schließen – nicht zuletzt mit Blick auf die Stärkung der europäischen NATO-Streitkräfte. So seien gemeinsame Anstrengungen in Sachen Luft- und Raketenabwehr erwägenswert; dabei könne es darum gehen, einerseits die Abwehr von Drohnen voranzutreiben, andererseits die Abwehr ballistischer Raketen.[5] Gleichzeitig komme es in Betracht, dass sich die Bundesrepublik an ausgewählten Teilprojekten eines britischen Rüstungsprogramms (“Complex Weapons Programme”) beteilige, bei denen die Entwicklung von neuen Raketensystemen im Mittelpunkt stehe. Beide Länder könnten sogar über eine Entwicklung “europäischer” Cruise Missiles nachdenken. Neben diversen weiteren Vorschlägen legen es die DGAP-Experten der Bundesrepublik nahe, Seefernaufklärungsflugzeuge vom Typ P8-Poseidon zu leasen; dadurch erreiche man optimale Interoperabilität mit Großbritannien und Norwegen, die beide ebenfalls das vom US-Konzern Boeing produzierte Modell beschafften. Allerdings solle das Leasing enden, sobald – vielleicht in zehn bis 15 Jahren – der neu geplante deutsch-französische Seefernaufklärer einsatzreif sei.[6] Nicht zuletzt schlagen die Autoren vor, die jeweiligen Projekte zum Bau eines Kampfjets der nächsten Generation zu verbinden; dabei handelt es sich um das deutsch-französische Future Combat Air System (FCAS) und das britisch-schwedisch-italienische Modell Tempest (german-foreign-policy.com berichtete [7]).
    Kampfmaschinen mit Künstlicher Intelligenz
    Zum anderen zielen die Vorschläge auf gemeinsame Schritte bei der “militärischen Innovation” sowie bei Planungen für die “Zukunft der Kriegführung”.[8] Inhaltlich geht es dabei um die Frage, wie künftige Waffengänge unter Einsatz modernster Technologien geführt werden. Es sei davon auszugehen, heißt es etwa, dass perfektionierte Aufklärungstechnologien Schlachtfelder mehr oder weniger durchsichtig machten, während zugleich perfektionierte Waffen immer tödlicher würden. Dies werfe die Frage auf, welche Rolle Menschen auf solchen Schlachtfeldern einnehmen sollten, wenn nicht nur ihre Überlebenschancen zusehends sänken, sondern auch menschliche Aktivitäten von Maschinenoperationen – möglicherweise durch Künstliche Intelligenz getriebenen – an Wirksamkeit übertroffen würden. Tatsächlich reichen die Szenarien, wenngleich immer wieder behauptet wird, letztlich bleibe die Entscheidung über Kriegsoperationen beim Menschen, immer näher an autonome Kriegführung von Kampfmaschinen heran. In derlei Sphären, urteilen die DGAP-Experten, sei die britische Rüstungsforschung und -industrie deutlich besser aufgestellt als die deutsche, die sich zu stark allein auf Cyberoperationen konzentriere. An britischen Projekten teilzunehmen, das könne der deutschen Seite die notwendige Vorbereitung auf die Zukunft der Kriegführung erleichtern.
    Mit Milliardensummen
    Die britische Regierung hat erst kürzlich angekündigt, in den kommenden Jahren 16,5 Milliarden Pfund zusätzlich für das Militär auszugeben. Profitieren sollen unter anderem Programme zur Cyber- und zur Weltraumkriegführung sowie zur militärischen Nutzung Künstlicher Intelligenz.[9]

  175. @NN

    BND soll Datensammeln an die NSA outsourcen dürfen

    Perfekt. Die Datenverarbeitung ist ja schon größtenteils an die NSA outgesourct.
    Da es sich um recht sensible Dinge handelt, wäre dieses Verhalten der deutschen Bundesregierung (des Kanzleramts) so etwas Ähnliches wie das Verhalten einer Katze, die sich auf den Rücken wirft und sagt: kraul mich!
    Glauben die Verantwortlichen für solche Pläne, daß sie dann bei den USA mit North Stream II durchkommen?
    Oder können sie stolz sagen: Wir haben wieder Geld gespart, weil die Amis machen das ganz kostenlos für uns! –?

  176. Mit Faust in der Tasche
    Sanktionen gegen Nord Stream 2
    Von Reinhard Lauterbach
    Die Behauptung, Nord Stream 2 sei ein »rein kommerzielles Projekt« der beteiligten Energiekonzerne, hat nie so gestimmt, wie sie die Bundesregierung vorgetragen hat. Es ist nicht richtig, dass sie mit dem Bau der Leitung nichts zu tun hat. Rein kommerziell sind solche milliardenschweren Unternehmungen nie, zumal nicht, wenn sie in strategischen Bereichen wie der Energieversorgung stattfinden. Was Nord Stream 2 aber immer war, ist ein wegen seines kommerziellen Nutzens politisch gefördertes Projekt. Der Nutzen bestand und besteht darin, die deutsche und die mit ihr durch Anschlussleitungen verbundenen Volkswirtschaften anderer EU-Staaten mit einem im Vergleich zu denkbaren Alternativen kostengünstigen und nach jahrzehntelanger Erfahrung verlässlich zur Verfügung stehenden Rohstoff zu versorgen. Gegen diese ökonomischen Tatsachen kommen auch die USA nicht an. Ihr Militär-Thinktank »Rand Corporation« schrieb erst kürzlich wieder, US-Flüssiggas müsse gegenüber dem Pipelinegas aus Russland erst noch »preislich wettbewerbsfähig« werden, wenn die »europäischen Alliierten« vom Gasbezug aus Russland mit der Aussicht auf Erfolg abgebracht werden sollten. Dazu wird es schon aus technischen Gründen nicht kommen, und schließlich wollen auch US-Frackingfirmen Gewinn machen und nicht »strategische Rabatte« gewähren müssen.
    Die Änderungen, die jetzt im US-Kongress an dem Sanktionsgesetz vorgenommen wurden, sehen ganz danach aus, als würde Washington das zähneknirschend einsehen, wenn auch »unter Wahrung seines (Un-)Rechtsstandpunktes«, um nicht das Gesicht zu verlieren. Einerseits verhängen die USA verschärfte Sanktionen gegen beteiligte Firmen. Die Maßnahmen zielen auf die Geschäftskalkulationen der Firmen und sollen erreichen, dass diese sich von sich aus aus dem Projekt Nord Stream 2 zurückziehen. Das hat ja auch mehrfach geklappt. Auf der anderen Seite steht der ausdrückliche Verzicht auf Sanktionen gegen Beamte »verbündeter« Staaten. Diese wären ohnehin kaum durchsetzbar. Das Bergamt Stralsund als Genehmigungsbehörde hat in seiner Arbeit keine Beziehung zu den USA, die durch Sanktionen geschädigt werden könnte.
    Damit ist aktuell das Szenario absehbar, dass Russland unter Nutzung der vorliegenden deutschen und dänischen Genehmigungen die Leitung fertigbaut – unter Beteiligung von Unternehmen, die die Sanktionsdrohung ignorieren können. Teilweise wurden diese eigens zu diesem Zweck gegründet. Womöglich werden die in Mukran lagernden Vorräte an Röhren in einen russischen Hafen transportiert, und die Nord-Stream-2-Baustelle wird von dort aus beliefert. Das verzögert und verteuert das Projekt, aber es wird nicht gekippt. Im übrigen müsste sich jede Bundesregierung gut überlegen, ob sie bereits rechtskräftig erteilte Genehmigungen zurücknehmen kann und sollte. Denn dann stünden ihr milliardenschwere Schadenersatzforderungen ins Haus.
    Poker mit Moskau
    Gewählte moldauische Präsidentin Sandu verlangt Abzug russischer Friedenstruppe aus Transnistrien
    Von Reinhard Lauterbach
    Die gewählte moldauische Präsidentin Maia Sandu hat den Abzug der russischen Friedenstruppen aus der 1992 von Moldau abgespaltenen »Pridnestrowischen Moldauischen Republik« (Transnistrien) gefordert. Sie sollten durch zivile OSZE-Beobachter ersetzt werden, sagte sie am Montag in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehen. Der »weiche Ansatz«, dem die früheren Regierungen von Moldau gefolgt seien, habe nichts gebracht, so Sandu. Zusagen über den künftigen Status Transnistriens nach einer eventuellen Vereinigung des Landes machte sie keine. Insbesondere lehnte sie die Forderung Transnistriens nach einer Föderalisierung des Landes ab.
    Der Präsident von Transnistrien, Wadim Krasnoselski, reagierte auf Sandus Äußerungen mit der Aufforderung, sie möge »sich abregen«. Das Land sei zu einem Dialog mit Moldau bereit, aber nur »auf Augenhöhe«. Diese Gleichberechtigung werde von Moldau verweigert. Transnistrien ist mit 3.576 Quadratkilometern etwas größer als das Saarland und zählt mit einer Bevölkerungszahl von 480.000 etwa halb so viele Einwohner wie dieses. Moldau ist etwa so groß wie das Bundesland Nordrhein-Westfalen und hat 3,5 Millionen Einwohner, von denen sich allerdings etwa eine Million als Arbeitsmigranten dauerhaft im Ausland aufhält.
    Russland kritisierte die Forderungen Sandus als »Hindernis für den Regulierungsprozess« und »destabilisierend«. Die derzeitige albanische OSZE-Präsidentschaft verwies darauf, dass bei der in Wien ansässigen Organisation noch keine offizielle Anfrage eingegangen sei. Ein Beschluss über die Entsendung einer Mission nach Transnistrien würde allerdings die Einstimmigkeit der 57 Mitgliedstaaten voraussetzen. Zu diesen zählt auch Russland. Die russische Friedenstruppe zählt derzeit etwa 1.000 Soldaten. Sie ist das Überbleibsel der 14. Armee Russlands, die Anfang der 90er Jahre den Bürgerkrieg in Moldau beendete. Derzeit besteht die wesentliche Beschäftigung der russischen Soldaten darin, alte sowjetische Waffenlager zu bewachen. Dort liegen noch rund 20.000 Tonnen Munition und anderes Kriegsmaterial.
    Unklar ist, welche Druckmittel Sandu hat, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Im selben Interview, in dem sie den Rückzug verlangte, erklärte sie auch, sie werde die Gasschulden Transnistriens gegenüber Russland nicht anerkennen. Moskau hat seit Jahren die Region mit Gas versorgt und der moldauischen Regierung die Rechnungen geschickt. Die hat allerdings angeblich auch unter Sandus Vorgänger Igor Dodon die Zahlung abgelehnt. Die Schulden werden auf etwa 7,5 Milliarden US-Dollar geschätzt. Beobachter in der Region nahmen Sandus Erklärungen zum Anlass für Spekulationen über mögliche Tauschgeschäfte: Entweder könne Russland das Geld bekommen – das ohnehin wohl von Brüssel oder Washington bezahlt würde –, wenn es seine Truppen abziehe, oder umgekehrt seine Truppen im Land lassen, aber die ausstehenden Milliarden vergessen.
    Unbestreitbar ist, dass sich mit der prowestlichen Wende in der Ukraine und dem Wahlsieg von Sandu in Moldau die strategische Position der russischen Truppen in Transnistrien und auch die der Republik selbst erheblich verschlechtert hat. Chisinau und Kiew wäre es in einer gemeinsamen Aktion unschwer möglich, durch eine Grenzblockade die Wirtschaft von Transnistrien – das ohnehin überwiegend von Schmuggelgeschäften lebt – zum Erliegen zu bringen. Um einen Landkorridor nach Transnistrien zu etablieren, müsste Russland aber Odessa erobern, was gegenwärtig völlig unrealistisch erscheint. Insofern könnte es für Moskau durchaus eine Option sein, sich möglichst gesichtswahrend aus Transnistrien zurückzuziehen. Militärisch haben die 1.000 russischen Soldaten dort nicht den geringsten Wert.
    Donbass: Eine „rein militärische Lösung“ in Sicht?
    Panzer, Truppentransporter, Raketenwerfer und Artillerie – die Spähaufklärer der Volksrepubliken Donezk und Lugansk stellen fest, dass Kiew seine Kräfte an der Kontaktlinie in der Ostukraine seit Wochen verstärkt. Menschen in den Gebieten befürchten, Kiew setze sich in Bewegung, um den Donbass gewaltsam zu besetzen.
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    Fuß auf der Bremse
    Russland, Saudi-Arabien und 21 andere Erdölstaaten wollen ihre Gesamtförderung angesichts der unsicheren Wirtschaftslage nur geringfügig erhöhen
    Von Knut Mellenthin
    Die »OPEC plus«-Länder haben sich am Donnerstag geeinigt, ihre Ölförderung im Januar um insgesamt 500.000 Barrel pro Tag zu erhöhen. Davon sollen angeblich 125.000 Barrel pro Tag auf Russland entfallen. Ein Barrel entspricht 159 Litern. Die Interessengemeinschaft besteht aus den 13 Staaten der OPEC und zehn Nichtmitgliedern, von denen Russland bei weitem am bedeutendsten ist. Die 23 Länder bemühen sich seit 2017 um eine regelmäßige Koordination ihrer Förder- und Preispolitik.
    Im Vorfeld der jetzt vereinbarten Maßnahme hatte es außergewöhnlich kontroverse und langwierige Diskussionen gegeben. Sie hatten zur Folge, dass die Entscheidung, die eigentlich schon am Dienstag fallen sollte, um zwei Tage verschoben werden musste. Hintergrund der Gegensätze ist die Ungewissheit über die künftige Entwicklung der internationalen Wirtschaft und der Nachfrage nach Erdöl und Ölprodukten unter den Bedingungen der Coronapandemie. Während einerseits die Hoffnungen auf eine schnelle Freigabe und Einsetzbarkeit von Impfstoffen für einen gewissen Optimismus sorgen, geben andererseits die Zahlen der Schwerkranken und der Todesfälle nach wie vor Grund zur Zurückhaltung bei der Festlegung der Fördermengen. Von zentraler Bedeutung für die Nachfrage nach Ölprodukten ist die Tatsache, dass der Flugverkehr bisher noch nicht wieder normal in Gang gekommen ist.
    Daraus ergeben sich relativ niedrige Ölpreise. Zwar zeigten sie am Donnerstag und Freitag mit fast 50 Dollar (41 Euro) pro Barrel für den international wichtigsten Richtwert Brent (Nordseeöl) einen deutlichen Anstieg, liegen aber rund 20 Prozent unter denen des gleichen Zeitraums 2019. Während der ersten Phase der Pandemie im Frühjahr war der Brent-Preis im April mehrmals unter 20 Dollar pro Barrel gefallen. Er hatte sich dann im Juli – nicht zuletzt aufgrund einer beispiellos drastischen Senkung der »OPEC plus«-Fördermenge – auf über 45 Dollar erholt, war aber seit Anfang Oktober unter dem Eindruck der sich abzeichnenden »zweiten Welle« auf durchschnittlich etwa 35 bis 36 Dollar pro Barrel gesunken.
    Die 23 »OPEC plus«-Länder hatten sich am 12. April nach einem harten Verhandlungspoker zwischen Saudi-Arabien und Russland, der sich kurzzeitig sogar zu einem Preiskrieg entwickelt hatte, darauf verständigt, ihre gemeinsame Ölförderung um 9,7 Millionen Barrel pro Tag zu senken. Das entsprach fast einem Zehntel des Weltverbrauchs. Die Maßnahme sollte zunächst bis Ende Juni gelten, wurde dann aber um einen Monat verlängert. Aufgrund des Anstiegs der Ölpreise erhöhte die »OPEC plus« ihre Förderung ab 1. August wieder um zwei Millionen Barrel pro Tag. Die nächste Ausweitung in derselben Höhe sollte nach damaliger Planung am 1. Januar 2021 in Kraft treten.
    Um dieses Vorhaben wurde jetzt von Montag bis Donnerstag gestritten. Vor allem Saudi-Arabien setzte sich dafür ein, die im Juli festgelegte Senkung der Förderung um insgesamt 7,7 MillionenBarrel pro Tag noch drei Monate lang beizubehalten. Auf der Gegenseite drängten hauptsächlich Staaten, die mit wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, auf eine Erhöhung der Fördermengen. Zu den Befürwortern eines solchen Schritts gehörten Nigeria, der Irak und die Vereinigten Arabischen Emirate. Unterstützt wurden sie angeblich von Russland. Vorübergehend sollen die Saudis mit dem Rücktritt des von ihnen gestellten Vorsitzenden der »OPEC plus« und einem neuerlichen Preiskrieg gedroht haben.
    Die am Donnerstag angekündigte Steigerung der Ölproduktion um insgesamt 500.000 Barrel pro Tag, die am 1. Januar in Kraft treten und lediglich für einen Monat gelten soll, stellt unter diesen Bedingungen einen anscheinend für alle Beteiligten erträglichen Kompromiss dar. Der stellvertretende russische Ministerpräsident und frühere Energieminister Alexander Nowak erklärte dazu am Donnerstag: »Das ist eine gute Entscheidung. Sie erlaubt uns, eine Denkpause einzulegen und zu prüfen, was getan werden muss, um den Markt nicht zu beschädigen.«
    Gleichzeitig teilte Nowak mit, dass die Fachminister der »OPEC plus«-Staaten sich von Januar bis April einmal im Monat treffen wollen, um auf Veränderungen der Weltwirtschaft und insbesondere des Ölmarktes schnell und zielgenau mit einer Anpassung der Fördermenge reagieren zu können. Das könne je nach Lage sowohl nach unten als auch nach oben geschehen, erläuterte Nowak. Ein Anstieg der gemeinsamen Förderung dürfe aber monatlich nicht über 500.000 Barrel pro Tag liegen.
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    Grüne Aufrüstung
    Von Arnold Schölzel
    Auf Seite eins verkündete die Süddeutsche Zeitung am Montag: »Baerbock will Bundeswehr stärken«. Die Schlagzeile fasste den Inhalt eines Interviews mit der Kovorsitzenden der Grünen zusammen, das die Zeitung im Innenteil veröffentlichte und mit den Worten einleitete: »Zehn Monate vor der Bundestagswahl proben die Grünen den Ausbruch aus angestammten Territorien.«
    Nun ja. 1999 schickten die Grünen zusammen mit ihrem Koalitionspartner SPD die Bundeswehr nach Jugoslawien, in den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945. Ihr Außenminister Joseph Fischer begleitete das mit »Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus«, womit der antifaschistische Anstrich gesichert war. 1995 hatte ein Grünen-Parteitag noch den Austritt aus der NATO gefordert.
    25 Jahre danach sind Tarnfarben nicht mehr nötig, nun wird auch die Vergangenheit der einstigen »Ökopaxe« neu lackiert. Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am 18. November in der Rheinischen Post: »Die Grünen haben auch pazifistische Wurzeln, waren aber noch nie eine pazifistische Partei.« Aber sie machten sich die Entscheidung über Auslandseinsätze »nicht leicht«. Wer Grüne wählt, wählt den Krieg, der schwerfällt. Das lange »Ringen« und das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Abgeordneten, wenn sie wieder einmal einen »Völkermord« mit Bomben verhindern, sind ihre Spezialität. So stimmen sie seit mehr als 20 Jahren für jeden Feldzug, haben Erfolg bei Wählern und das Wohlwollen nicht nur der Süddeutschen Zeitung, die vom »Ausbruch« schreibt. Das klingt bei deutscher Kriegspolitik besonders lustig: Von hier aus wurde noch nie ein Krieg angezettelt, die brechen nur grundlos aus.
    Bei solcher Vorlage muss Frau Baerbock zu den Waffen rufen: Die Ukraine-Krise habe gezeigt, »dass die eigene Bündnisverteidigung zentral für unsere polnischen und baltischen Partner ist«. Es gehe also »um flexible, schnell verlegbare Einheiten im Bündnisgebiet, genauso um Gefährdungslagen wie Cyberattacken, eine neue Form der Kriegführung«. Der Lüge von der russischen Bedrohung folgt alles weitere wie am Schnürchen: »Europa kreist seit Jahren um sich selbst, die Trump-Administration hat der Welt den Rücken zugekehrt. Die Lücke, die entstanden ist, füllen autoritäre Staaten.« So werden Russland und die Türkei »in unserer Nachbarschaft aktiv« und sei »die EU wie im Fall Bergkarabach außen vor«. Wenn Russland im Kaukasus Frieden stiftet, dann ist das »für die Menschen in der Region und den demokratischen Prozess in Armenien fatal, aber auch für die Friedensrolle, die sich die EU mal gegeben hat«. Die Russen hindern die EU an ihrer angestammten Rolle und bedrohen die Demokratie in Armenien. Da hilft nur Aufrüstung.
    Also in die Bundeswehr investieren, »damit Gewehre schießen und Nachtsichtgeräte funktionieren«. Atomwaffen? Über Abzug kann geredet werden. »Robuste europäische Einsätze«, wie Macron sie verlangt? »Wir dürfen uns nicht wegducken.« UN-Mandat? »Einen Genozid kann die Weltgemeinschaft nicht ignorieren.« Hat sich doch bewährt, dass die NATO sich 1999 zur Weltgemeinschaft erklärte und selbst das Kriegsmandat erteilte. China? Die EU ist Opfer: »Während Europa mit sich selbst beschäftigt ist, schafft China gerade neue geostrategische Abhängigkeiten.« Denn wenn die EU z. B. in Belarus wieder mal einen Regime-Change vorhat, schafft sie keine neue Abhängigkeit wie in der Ukraine, in Westafrika oder wo sie sonst aufmarschiert.
    Kanzler- oder Außenamt, fragt da die Süddeutsche Zeitung – Achtung, Kalauer! – entwaffnet. Antwort: »Nächstes Jahr ist alles möglich.« Mit Grünen in der Regierung wird was aus jedem Krieg.

  177. Bei Nord Stream 2: Neue Methoden, altes Ziel
    Generell bei den verschiedenen US-Handelskriegen sollen zukünftig anscheinend eher Unternehmen sanktioniert werden. Und nicht in erster Linie Staaten.
    “Auf den ersten Blick scheint der US-Kongress auf Entspannung zu setzen: Wegen der zwischen Deutschland und Russland in Bau befindlichen Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 soll es künftig keine Sanktionen geben. Doch der Schein trügt: Gleichzeitig sollen Strafen gegen beteiligte Firmen ausgeweitet werden. Man darf sich also keine Illusionen machen, dass die Handelskonflikte mit Joe Biden als US-Präsidenten verschwinden werden.”
    https://www.neues-deutschland.de/artikel/1145385.nord-stream-neue-methoden-altes-ziel.html

  178. Also der Lauterbach-Artikel zu Moldau fällt ein bißl gegenüber seinen sonstigen zurück.
    Sandu ist nur die zweitbeste Lösung für die EU, die hatte schon ganz andere Sachen mit Moldau vor, die aber nichts geworden sind – weil eben auch in Moldau keineswegs alle für die EU sind.
    Wer da als Regierungschef zu hoch pokert, kann schon auch einmal gewaltsam entfernt werden, wie die jüngere Geschichte Moldawiens ahnen läßt.
    Auch ein Anschluß weiterer Gebiete an Transnistrien ist durchaus möglich. Die Gagausen haben schon mit dergleichen gedroht.
    Wenn die moldauische Regierung die Gasrechnungen für Transnistrien nicht anerkennt, so gibt sie damit offiziell Transnistrien als Staatsgebiet auf.
    Rußland wird dieses Gebiet auf keinen Fall fallenlassen. Natürlich ist es militärisch wichtig, aber auch sonst gibt Rußland keine Verbündeten auf – die Zeit ist vorbei. Bei dergleichen Unterstützung werden auch keine Erbsen gezählt.

  179. Bei North Stream II weise ich noch einmal darauf hin, daß das Projekt aus einer Zeit stammt, als mit steigendem Energieverbrauch gerechnet wurde und Deutschland sich den als Drehscheibe zu Nutzen machen wollte.
    In dem Maße, wie dieser fraglich wird, und z.B. Polen dezidiert gegen den Bezug von russischem Gas ist, ist auch das Projekt für den Initiator selbst zusehends unattraktiv.

  180. Zu Änderungen in den Ideologien der sog. “Entwicklungshilfe”:
    Die große Koalition arbeitet am Lieferkettengesetz
    Eine Plüschgranate gegen weltweite Ausbeutung
    Der Entwicklungsminister prangert die Sauereien des globalen Kapitalismus an. Er fordert nicht nur das Ende der „Ausbeutung von Mensch und Natur“, sondern hat im Unterschied zu anderen wohlmeinenden Weltverbesserern als Politiker auch ein unbestreitbares Machtmittel dazu in der Hand: Ein Gesetz muss her, das die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht…
    https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/lieferkettengesetz

    Zu den generelleren ‘Paradigmenwechseln’ des Ministers Müller merkt Kritische Politik an …
    https://tages-politik.de/Aussenpolitik/Deutsche_Entwicklungspolitik-2020.html

  181. Die Weltenrichter (II) (08.12.2020)
    EU bekommt neues Sanktionsregime – angeblich gegen Menschenrechtsbrecher, tatsächlich aber als Instrument im globalen Machtkampf.
    BRÜSSEL/BERLIN (Eigener Bericht) – Die EU inszeniert sich mit einem neuen Sanktionsregime als globaler Richter und Rächer bei tatsächlichen oder angeblichen Menschenrechtsverbrechen. Ein entsprechendes Sanktionsgesetz, das sich weitgehend am US-amerikanischen “Global Magnitsky Act” orientiert, haben die EU-Außenminister am gestrigen Montag gebilligt. Es gestattet es der Union, Bürger fremder Staaten, denen schwere Menschenrechtsverstöße vorgeworfen werden, mit dem Einfrieren von Guthaben und mit Visasperren zu bestrafen. Dabei zielt es politisch nur auf Vertreter nicht verbündeter Staaten; Verantwortliche für Folter und staatliche Morde im Westen müssen mit keinerlei Folgen rechnen. Zuletzt hatte das Kosovo, dessen Eliten seit Jahren schwerste Menschenrechtsverbrechen vorgeworfen werden, einen “Magnitsky Act” mit Sanktionen gegen tatsächliche oder angebliche Missetäter im Ausland beschlossen. Ein EU-Diplomat wurde schon im vergangenen Jahr mit der Aussage zitiert, das neue Sanktionsgesetz solle vor allem zeigen, “dass wir Muskeln haben”. Es ist als Instrument im Kampf um die Weltmacht konzipiert.
    Böcke als Gärtner (I)
    Vorbilder für das neue EU-Sanktionsgesetz, das die EU-Außenminister am gestrigen Montag gebilligt haben, sind zwei US-Gesetze: der “Magnitsky Act” aus dem Jahr 2012 sowie der “Global Magnitsky Act” aus dem Jahr 2016. Der Magnitsky Act, den US-Präsident Barack Obama am 14. Dezember 2012 unterzeichnete, richtet sich gegen Bürger Russlands, denen Washington vorwirft, Menschenrechte verletzt zu haben. Ihnen wird die Einreise in die USA verweigert; sollten sie Guthaben in den Vereinigten Staaten besitzen, werden diese eingefroren. Der Global Magnitsky Act, den Obama am 23. Dezember 2016 unterzeichnete, dehnt die Maßnahmen des Magnitsky Act auf Bürger sämtlicher Staaten weltweit aus. Faktisch schwingt sich Washington mit dem Gesetz zum globalen Richter in Sachen Menschenrechte auf: ein durchaus bemerkenswerter Schritt, stellt man die zahlreichen Menschenrechtsverbrechen in Rechnung, die die USA verantworten – von der weltweiten Verschleppung von Terrorverdächtigen in Folterverliese ab dem Herbst 2001 über die diversen Kriegsverbrechen von US-Truppen unter anderem im Irak, für deren Publikation der WikiLeaks-Gründer Julian Assange von der US-Justiz verfolgt wird [1], bis zum Drohnenmord an dem iranischen General Qassem Soleimani am 3. Januar 2019 am Flughafen in Bagdad [2]. Die Liste ließe sich erheblich verlängern.
    Böcke als Gärtner (II)
    Einen “Magnitsky Act” haben inzwischen mehrere weitere Staaten eingeführt. Zu ihnen zählen die drei baltischen Staaten, von denen zwei – Estland und Lettland – nach wie vor einer hohen Zahl fest ansässiger Einwohner die Staatsangehörigkeit verweigern, weil sie russische Vorfahren haben; in Estland sind bis heute laut Angaben von Experten rund sieben Prozent, in Lettland rund 14 Prozent der Gesamtbevölkerung staatenlos.[3] Beide Länder, die einer sechsstelligen Zahl Einwohnern die grundlegendsten Bürgerrechte verweigern, inszenieren sich mit ihrer jeweiligen nationalen Version des Magnitsky Act als Wahrer der Menschenrechte weltweit. Dasselbe tut die Regierung des Kosovo, das sich unter Bruch des internationalen Rechts von Serbien abgespalten hat; einem Teil der kosovarischen Eliten, darunter mehrere Präsidenten und Ministerpräsidenten, werden schwerste Kriegs- und andere Menschenrechtsverbrechen vorgeworfen.[4] Die kosovarische Regierung hat dessen ungeachtet am 29. Januar 2020 ebenfalls eine Version des Magnitsky Act verabschiedet.[5] Neben Kanada und Großbritannien zieht nun auch Australien einen solchen Schritt in Betracht. Das Land wird gegenwärtig von Berichten über schwerste Kriegsverbrechen australischer Soldaten in Afghanistan erschüttert; zu ihnen gehören mindestens 39 Morde an wehrlosen Zivilisten.[6]
    Von Berlin forciert
    Pläne für eine eigene EU-Variante des Magnitsky Act kursieren bereits seit Jahren. Am 14. März 2019 verlangte das Europaparlament in einer Resolution, die mit 447 Ja- gegen 70 Nein-Stimmen verabschiedet wurde, ausdrücklich die Einführung eines “European Magnitsky Act”.[7] Am 9. Dezember 2019 sprachen sich die EU-Außenminister dafür aus, die Vorbereitung für ein solches Gesetz konkret auf den Weg zu bringen; übertragen wurden die dazu notwendigen Arbeiten dem Europäischen Auswärtigen Dienst. Die Bundesregierung machte sich in besonderem Maße für ein eigenes EU-Sanktionsgesetz stark. Bereits im November 2019 hatte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Andreas Michaelis angekündigt, Berlin wolle “die Umsetzung eines EU-weiten Menschenrechtssanktionsmechanismus” während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft “weiter voranbringen”.[8] Im Programm für die deutsche Ratspräsidentschaft hieß es dann, man setze sich “dafür ein, die Kapazitäten der EU zur Verhängung und Umsetzung von Sanktionen zu erweitern”. Tatsächlich ist es Ende November gelungen, ein Gesetz zu erstellen, dem am Mittwoch die EU-Botschafter der Mitgliedstaaten ausdrücklich zustimmten. Am gestrigen Montag wurde sie abschließend von den EU-Außenministern gebilligt.
    “Eine weite Auslegung”
    Formal richtet sich das EU-Sanktionsgesetz vor allem gegen schwere Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord, Folter, Sklaverei, staatliche Morde (“extralegale Tötungen”) sowie willkürliche Verhaftungen. Im Fall “systematischer und weitreichender Verstöße” sind Sanktionen auch bei Menschenhandel, sexueller Gewalt und dem Bruch der Vereinigungs-, Versammlungs-, Meinungs- und Religionsfreiheit vorgesehen. “Damit hat sich eine weite Auslegung durchgesetzt”, heißt es.[9] Wer Folter oder die Nichtahndung von Menschenrechtsverstößen verantworte, “der soll künftig nicht mehr sorgenlos in Europa shoppen gehen können”, ließ sich Außenminister Heiko Maas am gestrigen Montag zu dem neuen Sanktionsgesetz zitieren, das – wie seine Vorbilder – das Einfrieren etwaiger Guthaben der Betroffenen in der EU sowie Visasperren vorsieht.[10] Dabei sind, anders als Maas suggeriert, nicht tatsächliche Verbrechen der Maßstab, ob Sanktionen angewandt werden, sondern politische Opportunität. So wird kein Mitglied der rot-grünen Bundesregierungen aus der Zeit nach dem 11. September 2001 Strafmaßnahmen fürchten müssen, obwohl zumindest einige damalige Regierungsmitglieder Verantwortung für die deutsche Zuarbeit für CIA-Verschleppungen von Verdächtigen in Folterverliese tragen.[11] CIA-Direktorin Gina Haspel, die im Jahr 2002 ein CIA-Folterverlies in Thailand leitete, wird ebensowenig belangt werden wie die Mörder des iranischen Atomwissenschaftlers Mohsen Fakhrizadeh.
    “Muskeln zeigen”
    Genutzt werden sollen die Sanktionen allerdings zum Kampf gegen politische Gegner. Schon Ende vergangenen Jahres wurde ein EU-Diplomat mit der Äußerung zitiert, das neue Sanktionsregime solle vor allem zeigen, dass “wir Muskeln haben”.[12] Nun sind erste Sanktionen gegen Bürger der Türkei und Chinas im Gespräch. Sanktionen gegen die Türkei werden besonders von Frankreich forciert, das neben Griechenland und Zypern am schärfsten im Konflikt mit Ankara liegt (german-foreign-policy.com berichtete [13]). Außenminister Maas hat gestern angedeutet, Berlin könne sich – nach längerem Widerstreben – auf Sanktionen gegen die Türkei einlassen; Grund sei, dass es aus Ankara “viel zu viele Provokationen” gegeben habe.[14] Was politische “Provokationen” gegen die EU mit schweren Menschenrechtsverbrechen zu tun haben, mit denen die neuen Sanktionen theoretisch begründet werden sollen, ist nicht ersichtlich. Darüber hinaus suchen transatlantische Hardliner neuen Streit zwischen der EU und China zu schüren, um Berlin sowie Brüssel im großen Machtkampf zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik möglichst eng an die Seite Washingtons zu führen. Zwangsmaßnahmen gegen Chinesen könnten mit “Unterdrückungsorgien” in Hongkong und mit der Festsetzung von Uiguren in Lagern in Xinjiang begründet werden, ließ sich schon in der vergangenen Woche der Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer (Bündnis 90/Die Grünen) zitieren.[15] Bütikofer gilt als besonderer Scharfmacher gegen Beijing.[16]
    “Angriff auf die Vormacht des Silicon Valley” (07.12.2020)
    EU unternimmt Vorstöße zur Begrenzung der Marktmacht der großen US-Internetkonzerne in Europa.
    BERLIN/BRÜSSEL/WASHINGTON (Eigener Bericht) – Die EU beginnt langjährige Drohungen wahrzumachen und unternimmt konkrete Vorstöße zur Begrenzung der Marktmacht der großen US-Internetkonzerne in Europa. So hat die EU-Kommission ein Wettbewerbsverfahren gegen den Onlinehändler Amazon eingeleitet, dem der Missbrauch seiner Marktmacht vorgeworfen wird. Praktiken des Konzerns sollen im Rahmen des derzeit in Brüssel ausgearbeiteten Digitale-Dienste-Gesetzes explizit untersagt werden. Darüber hinaus soll ein Gesetz zur Datenkontrolle, wie EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton erklärt, Europa zum “Datenkontinent Nummer eins” machen sowie den US-Konzernen den europäischen Datenstrom und damit einen wesentlichen Teil ihrer Geschäftsgrundlage in Europa entziehen. In Berlin wird die Hoffnung laut, man könne womöglich mit dem künftigen US-Präsidenten Joe Biden zu einer einvernehmlichen Lösung kommen, da Washington ebenfalls gegen die Marktdominanz der Internetgiganten vorgehen wolle. Unterdessen prescht Frankreich mit einer Digitalsteuer vor, die vor allem US-Konzerne trifft.
    “Self-Preferencing” im Visier
    Begleitet von Lobbyismusvorwürfen geht die Europäische Union daran, ihre langjährigen Drohungen wahrzumachen und die Marktmacht US-amerikanischer Internetkonzerne in Europa zu begrenzen. Mitte November leitete die EU-Kommission ein Wettbewerbsverfahren gegen den Internetkonzern Amazon ein, dem unfaire Praktiken auf seinem digitalen Marktplatz vorgeworfen werden. Amazon soll laut EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager seine beherrschende Marktposition missbraucht haben, um sich Vorteile gegenüber Mitbewerbern zu sichern. Konkret wird dem US-Internetgiganten vorgeworfen, die Verkäufe von Händlern auf dem Amazon-Marktplatz systematisch ausgewertet zu haben, um anschließend die eigenen Produkte taktisch besser platzieren zu können. Diese Praxis digitaler Plattformanbieter wird in der Branche als “Self-Preferencing” bezeichnet. Die EU-Kommission sieht nun den schon vor längerer Zeit geäußerten Verdacht auf Marktverzerrungen durch Self-Preferencing bei Amazon bestätigt. Der Konzern werte die Umsätze von über 800.000 Verkäufern mit rund einer Milliarde Produkten aus, um “automatisiert den Preis eigener Produkte anzupassen und neue Produkte auf den Markt zu bringen”, heißt es.[1]
    “Gewisse Regeln”
    Die EU-Kommission hat nun kürzlich dem Amazon-Management eine Aufforderung geschickt, diese Praxis unverzüglich einzustellen. Ihr weiteres Vorgehen gegen den Internetriesen, der von dem einflussreichen US-Oligarchen Jeff Bezos geführt wird, ist in zwei Verfahren aufgesplittet worden: Neben dem Verfahren wegen mutmaßlichen Datenmissbrauchs nimmt die EU auch die Logistik des US-Konzerns ins Visier. “Gewisse Regeln” des führenden Onlinehändlers bevorzugten diejenigen Verkäufer, die “Amazons konzerneigene Lieferinfrastruktur verwendeten”, heißt es unter Verweis auf Vorwürfe von EU-Wettbewerbskommissarin Vestager.[2] Die nun eingeleiteten Ermittlungen gegen Amazon folgen Ermittlungen in Deutschland und in Österreich, bei denen belastendes Material gesammelt wurde – auch wenn ein Verfahren des Bundeskartellamts gegen den Internetkonzern nach der Änderung beanstandeter Vertragsklauseln im vergangenen Jahr eingestellt wurde. Daneben bemängelt Brüssel weitere Amazon-Geschäftspraktiken, etwa die Datennutzung der Konzerntochter Ring sowie die weit verbreitete Praxis einer strikten Überwachung von Beschäftigten in Amazon-Lagerhäusern. Die Praxis des Self-Preferencing wird nun zudem in eine “schwarze Liste” verbotener Geschäftspraktiken aufgenommen, die Teil des derzeit in Brüssel ausgearbeiteten Digitale-Dienste-Gesetzes werden soll. Das Vorgehen der EU gegen Amazon sei, heißt es, lediglich ein “Puzzleteil im Kampf der EU gegen die großen US-Internetkonzerne.
    Der Lobbyriese Google
    In diesem Zusammenhang wird inzwischen zunehmend Kritik an der Lobbytätigkeit der Internetriesen in Brüssel laut. So ist insbesondere Google bemüht, auf EU-Gesetzesvorhaben wie insbesondere das Digitale-Dienste-Gesetz Einfluss zu nehmen. Brüssel wolle mit dem Gesetz, das in Wirklichkeit der marginalisierten Digitalwirtschaft Deutschlands und anderer EU-Staaten Marktanteile verschaffen soll, “mehr Transparenz, mehr Wettbewerb, mehr Vielfalt” schaffen, heißt es, was den dominanten US-IT-Konzernen “natürlich nicht passt”.[3] Insbesondere Google sei dabei bemüht, im Hintergrund eine “gewaltige Kampagne” zu führen, um das Gesetzesvorhaben “möglichst zu verwässern”, heißt es unter Verweis auf Recherchen der Nichtregierungsorganisation LobbyControl. Mit direkten Aufwendungen von “fünfeinhalb bis sechs Millionen Euro” investiere der Suchmaschinenbetreiber derzeit mehr Kapital in die Brüsseler Politmaschine als “alle andere Unternehmen”, berichtet LobbyControl; überdies verfüge Google über ein breites Netzwerk an Personen und Think-Tanks in Brüssel, das kaum überschaubar sei. Viele Denkfabriken mit oftmals nicht offengelegten Verbindungen zu IT-Konzernen wirkten zwar unabhängig, seien es aber nicht, moniert die Organisation: “Google hat also auch ein Transparenzproblem bei seiner Lobbyarbeit”.
    Frankreich geht voran
    Unterdessen haben Frankreichs Behörden Berichten zufolge Ende November begonnen, im Rahmen einer neuen Digitalsteuer US-amerikanischen IT-Konzernen erste Steuerbescheide zuzustellen. In Wirtschaftsmedien heißt es dazu, die EU gehe zu einem “Angriff auf die Vormacht des Silicon Valley” über.[4] Dies geschehe ungeachtet der Verhandlungsblockade um eine international abgestimmte Digitalsteuer und ungeachtet etwaiger Strafzölle, die die Washington angedroht habe. Tatsächlich hatte der scheidende US-Präsident Donald Trump in Reaktion auf Frankreichs Digitalsteuerpläne Strafzölle auf französische Produkte wie Kosmetika und Handtaschen angekündigt, die Waren im Wert von rund 1,3 Milliarden US-Dollar umfassen sollten; die Maßnahmen waren wegen laufender Verhandlungen im Rahmen der OECD allerdings vorläufig ausgesetzt worden. Da die OECD-Gespräche bislang jedoch keine konkreten Ergebnisse gezeitigt haben, hat Frankreich nun – während der konfliktbehafteten Amtsübergabe im Weißen Haus – die Digitalsteuer eingeführt. Paris erhebt eine Umsatzsteuer von drei Prozent auf Onlinewerbung, die rund 30 Unternehmen betrifft, bei denen ein globales Umsatzvolumen von mindestens 750 Millionen Euro mit einem Umsatz von mindestens 25 Millionen in Frankreich zusammenfällt. Die Steuer trifft fast ausschließlich US-Konzerne.
    “Frontalangriff auf die großen vier”
    Ende November hat die EU-Kommission nun den nächsten Angriff auf die Dominanz der US-IT-Riesen gestartet – mit dem Entwurf für ein Gesetz zur Datenkontrolle (“Data Governance Act”), den Vestager und EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton in Brüssel vorgelegt haben. Laut Breton zielt das Gesetz ausdrücklich darauf ab, in Wechselwirkung mit einer geschickten Investitionsstrategie Europa zum “weltweiten Datenkontinent Nummer eins” zu machen. Man wolle vor allem sicherstellen, dass der europäische “Datenstrom nicht über US-Konzerne wie Amazon, Google oder Facebook” fließe, sondern über “unabhängige Datentreuhänder”, die ihren Sitz in der EU haben müssten, heißt es.[5] Diese von der EU kreierten Institutionen sollen die Daten nicht kommerziell nutzen, sondern lediglich als “Vermittler” beim Datentausch zwischen den “Datenproduzenten und den Datennutzern” auftreten. Dadurch würde – unter dem Deckmantel des Datenschutzes – den bislang dominanten US-Internetkonzernen ihre wichtigste Geschäftsgrundlage in der EU entzogen. Darüber hinaus will Brüssel sogenannten Gatekeepern – faktisch den führenden US-Internetkonzernen – verbieten, auf ihren Plattformen ihre eigenen Angebote zu bevorzugen und sich an Daten von Mitbewerbern zu bereichern.[6] Google dürfte dann nicht mehr ohne Weiteres auf YouTube oder auf Google Maps verlinken; Apple müsste die Umgehung seines Bezahlsystems in seinem Online-Shop durch EU-Konkurrenten zulassen. Dies sei, heißt es unter Verweis auf Amazon, Google, Facebook und Apple, “ein Frontalangriff auf die großen vier, ein tiefer Eingriff in ihre Geschäftsmodelle”.
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    Offene Putschpläne
    Spanien: Ultrarechte Militärs machen gegen Koalitionsregierung mobil und lassen Vernichtungsphantasien gegen Linke freien Lauf
    Von Carmela Negrete
    Mittlerweile fast 400 spanische Offiziere im Ruhestand haben in mehreren Briefen König Felipe VI. aufgefordert, aktiv zu werden. In diesen warnten sie das Staatsoberhaupt beispielsweise vor der »sozial-kommunistischen Koalitionsregierung«, die von Freunden der baskischen Untergrundorganisation ETA sowie anderen »Independentisten« unterstützt werde und Spaniens »nationale Einheit zersetzt«. Unter den Unterzeichnern finden sich auch Mitglieder des spanischen Geheimdienstes CNI, die am »schmutzigen Krieg« der Jahre 1983 bis 1987 gegen die ETA beteiligt gewesen sein dürften.
    Der am Sonnabend bekanntgewordene Briefinhalt ist nicht nur brisant, weil in den vergangenen Wochen bereits zwei weitere solche öffentlich geworden waren. Es kann zudem als Putschvorbereitung gelesen werden, dass ehemalige Generäle und Offiziere den König, also den Oberbefehlshaber der spanischen Armee, zum »Handeln« gegen die gewählte Regierung drängen, während sie dem Staatschef gleichzeitig ihre Loyalität im Falle eines Staatsstreichs zusichern.
    Wie sich die Armeeangehörigen das »Handeln« konkret vorstellen, wird aus einer Chatgruppe ersichtlich, die dank der Recherchen des Onlinemediums Infolibre Anfang der vergangenen Woche öffentlich wurde. In der Whats-App-Gruppe tauschten sich demnach mehr als 70 Exoffiziere untereinander aus. »Wir haben keine andere Wahl, als damit zu beginnen, 26 Millionen Hurensöhne zu erschießen«, äußert beispielsweise ein Armeeangehöriger seine Vernichtungsphantasien. Im Verlauf des Chats wird klar, dass mit den 26 Millionen insbesondere Wähler des sozialdemokratischen PSOE und des Linksbündnisses Unidas Podemos sowie Feministinnen, Homosexuelle und Befürworter einer baskischen und katalanischen Unabhängigkeit gemeint sind. Ein anderes Mitglied erklärt: »Ich will nicht, dass diese Schurken die Wahl verlieren. Nein. Ich will, dass sie alle und ihre gesamte Sippe sterben.«
    Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen, die königliche Familie äußerte sich bislang nicht. Unterdessen kritisierte die sozialdemokratische Verteidigungsministerin Margarita Robles die Briefe und ihre Verfasser scharf, erklärte jedoch, die Armee habe kein strukturelles Problem. Die Chefin der Volkspartei (PP) in der Region Madrid, Isabel Ayuso, zeigte hingegen »Verständnis« für die Verfasser der Briefe und erklärte am Sonntag: »Es gibt viele Spanier, die sich Sorgen über das Abdriften der Politik machen.« »Natürlich sind das unsere Leute«, erklärte hingegen die Parlamentsabgeordnete der immer offener faschistisch auftretenden Partei Vox, Macarena Olona. Laut Infolibre soll sich auch ihr Chef, der Vox-Vorsitzende Santiago Abascal, persönlich an die Mitglieder der Chatgruppe gewendet haben.
    In den vergangenen Monaten ist vermehrt zu beobachten, dass der Diskurs der Rechtsaußenpartei von immer mehr Teilen der Armee übernommen wird. Insbesondere die angebliche Bedrohung von Spaniens »nationaler Einheit« sowie die »Gefahr« durch die vermeintliche »Masseneinwanderung«, mit Hilfe derer die Regierung »Spanien vernichten« wolle, finden Anklang. Vor allem seit dem Regierungsantritt der Koalition zwischen PSOE und UP wird die Bedrohung durch die radikale Rechte deutlicher. Dabei schreckt diese auch vor persönlichen Angriffen nicht zurück. So steht der Wohnsitz des Vizeregierungschefs Pablo Iglesias sowie der Gleichstellungsministerin Irene Montero schon länger im Fokus von Ultranationalisten und wird regelmäßig von einem Mob aufgesucht. Im Sommer musste das Paar seinen Urlaub in Asturien abbrechen, wo sie einige Tage in einer Wohnung des Generalsekretärs der Kommunistische Partei (PCE), Enrique Santiago, verbringen wollten.

  182. Bemerkungen zu NNs Postings nach Themen:
    1. Sanktionsregime
    Die angestrebten universelle Sanktions-Trickkiste der EU ist als eine Art Zurckschrauben der Globalisierung zu betrachten.
    Während des Kalten Krieges wurde von den Verwaltern von Freiheit und Kapital beklagt, daß die sozialistischen Staaten aufgrund des Außenhandelsmonopols ihrer jeweiligen Regierungen und ihrer sonstigen Verfaßtheit für das internationale Kapital nicht zugänglich waren.
    Jetzt werden mit der Sanktionspolitik von der anderen Seite Schranken aufgezogen: Die von den mißliebigen Staaten dürfen bei uns nicht so herumfuhrwerken wie sie wollen!
    Das zieht natürlich Gegenmaßnahmen bei der anderen Seite nach sich, und befördert die gegenseitige Integration der störenden Staaten.
    Mit Sanktionen gegen die Türkei würde man diesen nicht eben unbedeutenden Staat noch mehr in die Arme Rußlands und Chinas treiben.
    2. Die EU möchte die US-Internet-Riesen zur Kasse bitten
    Ob das gelingt?
    Bei Amazon hat dieses Unternehmen inzwischen eine solche Marktmacht erreicht, daß es schwierig sein wird, es zurückzudrängen.
    Deutschland hat versucht, mit Zalando eine Konkurrenz aufzubauen. Das Unternehmen erhielt sehr günstige Investitionsbewilligungen in den Nebulae. Aber um Amazon das Wasser abzugraben, fehlt es noch weit, und es ist auch in den südlichen Mitgliedsstaaten der EU nicht besonders etabliert.
    Eher putzig wirkt die Vorstellung, den ganzen Internet-Riesen die Datenerfassung und den Datenhandel wegzunehmen, wo dafür in der EU und gerade in Deutschland alle Voraussetzungen fehlen.
    Um die Datenverarbeitung in der EU fit zu machen, müßte sehr viel Geld in die Hand genommen werden, um erstens eigene Spezialisten aufzubauen und sie zweitens anderen Unternehmen abzuwerben.
    Vielleicht müßte man großflächig Hacker entkriminalisieren und mit fetten Gehältern locken. 😉
    (Eine erheiternde Vorstellung, daß in Zukunft rumänische, serbische, ukrainische und russische Internet-Kapazitäten die Daten der europäischen Bürger verwalten. Natürlich alles Agenten Rußlands … )
    Von der Hardware, also Servern, Stromaggregaten und der sonstigen Infrastruktur ganz zu schweigen. Und das in einer EU, die in einigen ihrer Kernstaaten nach wie vor damit kämpft, eine ordentliche Breitband-Internetversorgung hinzukriegen …
    3. AfD und Rußland
    Daß russische Politiker sich mit der AfD zusammensetzen, ist kaum erklärungsbedürftig: Es ist die einzige Partei in Deutschland, die nicht in das antirussische Horn stößt.
    Das ist auch ein nicht zu unterschätzendes Moment in der Parteienkonkurrenz: Wie ich aus Österreich weiß, hatte auch die die FPÖ viele Sympathisanten unter Leuten, denen die antirussische Politik der EU seit der Ukraine-Krise gegen den Strich geht. Es ist also nicht bloß das Flüchtlings-Thema, das diese Parteien für viele Wähler attraktiv macht, sondern auch ihre außenpolitische Ausrichtung. Bei der FPÖ kam auch noch ihre dezidiert pro-serbische Haltung dazu.

  183. Widersprüche allerorten
    25 Jahre »Barcelona-Prozess«
    Von Jörg Kronauer
    Manchmal schärfen unscheinbare Jahrestage den Blick auf die Gegenwart. 25 Jahre nach dem Start des »Barcelona-Prozesses« würden die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am heutigen Freitag diskutieren, wie man die Beziehungen zu den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainern wieder verbessern könne – so wurde es vor dem aktuellen EU-Gipfel angekündigt. Der Barcelona-Prozess war 1995 mit der Absicht initiiert worden, die Union mit einem Ring stabiler Kooperationspartner in Nordafrika und im Nahen Osten zu umgeben; und man sollte denken, die Chancen für die EU, dieses Ziel zu erreichen, hätten damals gar nicht schlecht gestanden: Schließlich strotzte sie Ende der 1990er, vor allem aber in den 2000er Jahren vor Kraft. Heute zeigt sich freilich: Der Plan ist nicht aufgegangen. Zuletzt sind die Versuche, in Syrien sowie in Libyen durch Umsturz und Krieg loyale Regierungen an die Macht zu bringen, gescheitert. Der Einfluss der Union in Nordafrika und in Nahost erodiert. Zu allem Überfluss hat die erstarkende Türkei begonnen, das Schwächeln der EU zu nutzen und mit Gewalt auf deren Kosten zu expandieren. Dabei hatte Brüssel doch ursprünglich geplant, Ankara mit Blick auf sein Einflusspotential einzubinden – per Mitgliedschaft oder doch mit exklusiver Zusammenarbeit.
    Und als wäre die missliche Lage im Süden für Deutschlands herrschende Kreise, die sich über die EU Weltgeltung verschaffen wollen, nicht peinlich genug: Das Scheitern des Barcelona-Prozesses lässt, wie es Pleiten im Äußeren so häufig tun, den Druck auch im Innern der Union kontinuierlich steigen. Frankreich kollidiert bei seinen Bestrebungen, sich rings um das Mittelmeer nun eben national Einfluss zu sichern, mit der expandierenden Türkei – in Libyen etwa, im Libanon. Es dringt deshalb auf einen harten Kurs gegenüber Ankara. Deutschland hingegen dämpft nach Kräften, nicht zuletzt, um die Türkei als Türsteher zur Abwehr von Flüchtlingen nicht zu verlieren. Das Resultat: deutsch-französischer Zwist um Sanktionen gegen Ankara, mit denen sich der EU-Gipfel am Donnerstag zum wiederholten Mal befassen sollte. Nebenbei, die Mehrheit der Schutzsuchenden flieht aus Staaten, die ursprünglich – siehe »Barcelona« – einen stabilen Ring um Europa bilden sollten. Die Frage, wie man mit den Flüchtlingen denn nun umgehen soll, entzweit ebenfalls.
    Immerhin ist es Berlin gelungen, kurz vor dem Gipfel Druck aus dem Kessel zu nehmen und mit Warschau und Budapest, mit denen es Ärger wegen der Flüchtlinge gibt, wenigstens eine Lösung im Streit um die Freigabe des EU-Haushalts sowie der Coronahilfen zu finden. Nun, »Lösung« ist wohl ein wenig übertrieben; der Konflikt ist mit der gewundenen Zusatzerklärung, die ihn beilegen soll, wie so oft in der EU nur zugekleistert worden, in der dürren Hoffnung, dass der Kleber eine Weile hält. Von der schlagkräftigen Einheit, wie sie den Berliner Eliten vorschwebt, ist die Union noch weit entfernt.
    Kein Wahrheitsministerium
    EU will Meinungs- und Informationsfreiheit mit Strafmaßnahmen gegen »ausländische Akteure« schützen
    Von Knut Mellenthin
    Sie wolle »kein Wahrheitsministerium« schaffen, erklärt die stellvertretende Präsidentin der EU-Kommission, Vera Jourova, immer wieder, wenn sie für die »Desinformationsbekämpfung« der Union wirbt. Die 56jährige Tschechin spielt damit auf den 1949 erschienenen Roman »Nineteen Eighty-Four« von George Orwell an. Die mit Propaganda und Gehirnwäsche befasste Behörde trägt dort den Namen Wahrheitsministerium.
    Künstliche Aufregung
    Am 3. Dezember stellte Jourova, die auch EU-Kommissarin für Werte und Transparenz ist, den »Europäischen Aktionsplan für Demokratie« vor. Mit ihm soll, wie es offiziell heißt, »die Handlungsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger und die Widerstandsfähigkeit der Demokratien in der gesamten EU gestärkt werden«. In der Presseerklärung zur Präsentation des Aktionsplans erklärte die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen (CDU), den Zweck der geplanten und angestrebten Maßnahmen so: »Angesichts der digitalen Revolution müssen die Bürgerinnen und Bürger in der Lage sein, in einem Umfeld Entscheidungen zu treffen, in dem sie ihre Meinung frei äußern können. Man muss Fakten von Fiktion unterscheiden, und den freien Medien und der Zivilgesellschaft muss es möglich sein, sich ohne böswillige Einmischung und Einflussnahme an offenen Debatten zu beteiligen.«
    Wie aber unterscheidet man zuverlässig zwischen Wahrem und Falschem? Wie hält man böse Einflüsse fern? An diesen Punkten will die EU-Spitze verstärkt und verschärft eingreifen, um die ungestörte Meinungs- und Entscheidungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen.
    Der »Aktionsplan für Demokratie« ist in drei Punkte gegliedert: »Förderung freier und fairer Wahlen«, »Stärkung der Medienfreiheit und des Medienpluralismus« und »Bekämpfung von Desinformationen«. Der erste Punkt erklärt sich aus der fragwürdigen Behauptung, »ausländische Einmischung« spiele bei Wahlen in Europa eine relevante Rolle und gefährde sogar deren »Integrität«. Angeblich wird von Russland, China und Iran Einfluss ausgeübt. Das Thema sorgte schon im Vorfeld der EU-Parlamentswahl 2019 für künstlich produzierte Aufregung, ohne dass die Substanz der Befürchtungen deutlich gemacht wurde. Um der unterstellten Einmischung zu begegnen, wird an »Rechtsvorschriften zur Transparenz gesponserter politischer Inhalte« und »Vorschriften für die Finanzierung politischer Parteien« gearbeitet.
    Im zweiten Punkt ist hauptsächlich davon die Rede, dass Journalisten besser vor körperlicher Gewalt – insbesondere bei der Beobachtung von Demonstrationen – und Drohungen im Internet geschützt werden sollen. Ideen zur Umsetzung dieser Absicht sind noch nicht zu erkennen. Außerdem soll ein »neuer Überwachungsmechanismus für die Eigentumsverhältnisse im Medienbereich« geschaffen werden.
    Ausländische Akteure
    Der dritte Punkt ist offensichtlich der wichtigste. Nach EU-offizieller Darstellung werden die Mitgliedsländer durch »ausländische Akteure« mit einer Flut von »Desinformationen« überschwemmt, die zu einer »gefühlten Distanz zwischen den Menschen und den Politikern« führen, wie es in der Presseerklärung zum Aktionsplan heißt. Sogar die Impfbereitschaft der Bevölkerung werde zum »Schlachtfeld«, hatte Jourova schon am 10. Juni während einer Videokonferenz geklagt.
    Sanktionen geplant
    Der Aktionsplan sieht vor, »das bestehende Instrumentarium der EU zur Bekämpfung ausländischer Einmischung und Einflussnahme zu verbessern, unter anderem durch neue Instrumente, die es ermöglichen, den Tätern Kosten aufzuerlegen«. Gemeint sind, wie die EU-Spitze freimütig durchsickern lässt, als erster Schritt Sanktionen gegen »ausländische Akteure«. Einige EU-Mitglieder, insbesondere die baltischen Staaten, haben auch schon das Erscheinen bestimmter russischer Medien verboten. Der am 3. Dezember präsentierte Aktionsplan hat durch die Maßnahmen gegen die Coronapandemie starken Auftrieb bekommen. In Arbeit ist er aber schon seit März 2015, nachdem die Krim ein Jahr zuvor in die Russische Föderation aufgenommen worden war.

  184. Vor dem Ende
    Venezuela: Guaidó klammert sich an internationale Unterstützung. Konflikte im rechten Lager immer stärker
    Von Frederic Schnatterer
    Nachdem sie bei der Parlamentswahl in Venezuela am Sonntag auch ihre letzte Bastion verloren hat, treten die Konflikte innerhalb der rechten Opposition immer stärker zutage. Die Riege um den selbsternannten »Übergangspräsidenten« Juan Guaidó versucht dennoch die internationale Unterstützung aufrechtzuerhalten. Am Mittwoch reiste Guaidós Ziehvater Leopoldo López nach Kolumbien. Wie das Presseteam des rechten Politikers in einer Mitteilung bekanntgab, wird er dort den kolumbianischen Präsidenten Iván Duque sowie »alle politischen Kräfte« treffen. Ziel sei es, eine »internationale Einheitskoalition« mit Kolumbien als »Schlüsselverbündetem« zu bilden, um Druck auf die Regierung des venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro auszuüben.
    Zudem plant López laut der Mitteilung, der Regierung in Bogotá »persönlich« für ihr »Engagement und ihre Unterstützung für Guaidó seit dessen Übernahme des Interimsmandats zu danken«. Wie diese Unterstützung aussieht, machte die Duque-Regierung zuletzt am Dienstag deutlich. Kurz bevor ein Flugzeug mit internationalen Wahlbeobachtern, die die Parlamentsabstimmung am Sonntag in Venezuela begleitet hatten, von Caracas aus nach Mexiko-Stadt abheben wollte, sperrte sie kurzerhand den kolumbianischen Luftraum und verhinderte so den Start der Maschine.
    Teile der rechten Opposition hatten die Wahl zum Parlament, der sogenannten Nationalversammlung, mit dem Argument boykottiert, diese sei von vornherein gefälscht. Wie der Nationale Wahlrat (CNE) am Montag bekanntgab, stimmten laut vorläufigem Endergebnis 30,5 Prozent der Wahlberechtigten ab. Davon wählten 68,43 Prozent den »Großen Patriotischen Pol«, dem auch die Regierungspartei PSUV angehört. 2,7 Prozent der Stimmen entfielen auf das links-chavistische Bündnis »Revolutionäre Volksalternative« (APR), etwa 22 Prozent gingen an rechte Oppositionskräfte.
    Mit der Konstituierung der neuen Nationalversammlung am 5. Januar 2021 verliert die Opposition somit die Kontrolle über die letzte Institution in Venezuela, in der sie noch über eine Mehrheit verfügte. Guaidó, der im Inland immer weiter ins Hintertreffen gerät, setzt auf eine von ihm initiierte »Volksbefragung« über die Zukunft der legitimen Regierung. Ihren Höhepunkt soll die Kampagne am kommenden Sonnabend in einer »Massenmobilisierung« finden. Angesichts des geringen Echos auf derartige Aufrufe in letzer Zeit ist jedoch mindestens fraglich, ob die Demonstration zum von der Rechten erhofften Zeichen der Stärke wird.
    Ungeachtet seines geringen Einflusses in Venezuela kann Guaidó weiterhin auf die Unterstützung westlicher Regierungen setzen – zumindest vorerst. Zwar kritisierte beispielsweise die Bundesregierung am Montag die Parlamentswahl als »weder frei noch gerecht« und »nicht dazu geeignet, die seit geraumer Zeit in Venezuela zu beobachtende Krise zu beenden«. Auf die zukünftige Rolle von Guaidó angesprochen, erklärte die Sprecherin des Auswärtigen Amtes jedoch, die Position zum von Berlin als »Übergangspräsident« anerkannten Oppositionspolitiker habe sich nicht geändert, man müsse allerdings abwarten, »wie sich der Prozess in Venezuela weiterentwickelt«.
    Auch wie die Venezuela-Strategie Washingtons nach Amtsantritt des designierten Präsidenten Joseph Biden am 20. Januar 2021 aussehen wird, ist noch nicht genau abzuschätzen. Vertraute von Biden hatten jüngst angedeutet, er könne zumindest direkte Kontakte zu Maduro wieder aufnehmen. Darauf, dass die kommende US-Regierung ihren Kurs ändert und die konfrontative Unterstützung für Guaidó aufgibt, setzt unterdessen auch der zweimalige rechte Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles. In einem am Mittwoch veröffentlichten Interview mit BBC Español erklärte er, Guaidó sei »gescheitert«. Nun gehe es darum, mit Hilfe der USA sowie der EU »Bedingungen für faire Wahlen« auszuhandeln. Dann stehe auch er selbst für das Amt des Präsidenten bereit.
    Völkerrechtliche Absurditäten (10.12.2020)
    Berlin erklärt Wahl in Venezuela für “nicht frei und fair” und erkennt weiterhin einen gescheiterten Putschisten als “Präsident” des Landes an.
    BERLIN/CARACAS (Eigener Bericht) – Die Bundesregierung hält auch nach den Wahlen in Venezuela an der Anerkennung des selbsternannten Präsidenten und gescheiterten Putschisten Juan Guaidó als Staatsoberhaupt seines Landes fest. “Unsere Unterstützung” für “Interimspräsident” Guaidó werde fortgeführt, teilt der Staatsminister im Auswärtigen Amt Miguel Berger mit. Guaidó, der sich am 23. Januar 2019 selbst zum “Präsidenten” erklärt hatte, dessen Putschaufrufe in der folgenden Zeit aber trotz starker Unterstützung der westlichen Mächte erfolglos geblieben waren, gilt mittlerweile in der rechten venezolanischen Opposition als zunehmend isoliert. Mit Blick auf das Scheitern der Umsturzpolitik ruft der spanische Ex-Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero die EU zum Kurswechsel gegenüber Venezuela auf. Es führe zur “größten Absurdität in der Geschichte des internationalen Rechts”, wenn man weiterhin weder den gewählten Präsidenten Nicolás Maduro noch das jetzt gewählte Parlament, stattdessen aber den nicht gewählten Guaidó anerkenne, warnt Zapatero.
    Parlamentswahl in Venezuela
    In Venezuela hat das Wahlbündnis der Regierungspartei PSUV, der Gran Polo Patriótico Simón Bolívar, die Wahl am Sonntag mit großem Abstand gewonnen. Es erzielte 69,3 Prozent der Stimmen; die rechten Oppositionsbündnisse Alianza Democrática und Alianza Venezuela Unida folgten mit 18,8 bzw. 4,2 Prozent, während das linke Bündnis Alternativa Popular Revolucionaria auf 2,7 Prozent kam. Die rechte Opposition war gespalten in die Wahl gegangen; der Flügel um Juan Guaidó, der seit Anfang vergangenen Jahres vergeblich versucht hatte, einen Putsch zu realisieren, hatte zum Boykott aufgerufen, während andere Teile der venezolanischen Rechten mit Verweis auf die Erfolglosigkeit der Umsturzbestrebungen eine Kandidatur vorzogen. Mit gerade einmal 30,5 Prozent war die Wahlbeteiligung äußerst gering – ähnlich der Wahlbeteiligung in Rumänien (33,3 Prozent), wo ebenfalls am 6. Dezember das Parlament gewählt wurde. Dies wird weithin nicht nur auf den oppositionellen Boykottaufruf zurückgeführt, sondern auch auf die verheerende wirtschaftliche Lage, die den Kampf ums Überleben für viele alles dominieren lässt, sowie auf die Covid-19-Pandemie, die in Venezuela, dank drastischer Maßnahmen der Regierung, deutlich glimpflicher verlief als in vielen anderen Ländern Lateinamerikas, insbesondere in den Nachbarstaaten Kolumbien und Brasilien.
    Internationale Standards
    Wie erwartet wird die Wahl von der Bundesregierung und der EU scharf kritisiert. Eine Delegation der Comisión de Expertos Electorales de Latinoamérica (Rat lateinamerikanischer Wahlexperten) hatte den Vorlauf des Urnenganges bereits Ende November als “transparent” eingestuft; ihm hätten “alle politischen Organisationen … bestätigt, dass das Wahlsystem extrem vertrauenswürdig ist”, teilte der Vorsitzende des Rates, Nicanor Moscoso aus Ecuador, mit.[1] Nach Abschluss der Wahl zog auch das Komitee der rund 200 internationalen Wahlbeobachter ein positives Fazit; der Urnengang habe internationalen Standards entsprochen, hieß es. US-Außenminister Mike Pompeo hingegen kritisierte die Wahl als “Farce” – eine interessante Einschätzung vor dem Hintergrund der jüngsten Auseinandersetzungen um die Präsidentenwahl in den USA.[2] Die EU wiederum teilte mit, die Wahl in Venezuela habe nach Brüsseler Auffassung “den internationalen Mindeststandards für einen glaubwürdigen Prozess” nicht entsprochen, während eine Sprecherin des Auswärtigen Amts in Berlin urteilte:”Aus unserer Sicht waren die Wahlen nicht frei und fair und genügten auch nicht internationalen Mindeststandards.” Der Wert der Behauptungen Berlins und Brüssels leidet freilich ein wenig darunter, dass die EU Caracas’ Einladung, Wahlbeobachter zu entsenden, abgelehnt hatte und daher bei dem kritisierten Ereignis gar nicht zugegen war.
    Mehr tote Zivilisten als in Afghanistan
    Tatsächlich hält der transatlantische Westen, der in diversen anderen Fragen teils ernste Konflikte untereinander austrägt [3], gegenüber Venezuela bislang an einer einheitlichen Blockade- und Umsturzpolitik fest. Brüssel hatte sich im November 2017 mit ersten eigenen Sanktionen der US-Embargopolitik gegen das südamerikanische Land angeschlossen; zuletzt hat es seine Maßnahmen am 12. November um ein Jahr bis zum 14. November 2021 verlängert. Sie umfassen – neben dem Einfrieren der Vermögenswerte von bislang 36 Venezolanern und Einreiseverboten für sie – ein Lieferverbot für Waffen und für Geräte, die zur inneren Repression verwendet werden können.[4] Auch den US-Sanktionen wird, weil sie völkerrechtswidrig extraterritorial Geltung beanspruchen, in der EU in der Praxis Rechnung getragen; so haben etwa die Konzerne Repsol (Spanien) und Eni (Italien) Anfang November nach dem Auslaufen einer US-Ausnahmegenehmigung den Kauf von Erdöl in Venezuela gestoppt.[5] Das faktische Mittragen der US-Sanktionen wiegt umso schwerer, als diese einer Studie des Washingtoner Center for Economic and Policy Research (CEPR) zufolge allein in den Jahren 2017 und 2018 zum Tod von mutmaßlich 40.000 Venezolanern geführt haben.[6] Zum Vergleich: Die Vereinten Nationen beziffern die im Krieg in Afghanistan getöteten Zivilisten für die Jahre 2017 und 2018 mit insgesamt 7.242.
    Berlins gescheiterter Putschist
    Während nicht einmal die Covid-19-Pandemie die westlichen Mächte veranlassen konnte, ihre mörderischen Sanktionen gegen Venezuela wenigstens zeitweise aufzuheben, führen diese darüber hinaus ihre Umsturzpolitik gegenüber der gewählten Regierung in Caracas weiter. So hat der Staatsminister im Auswärtigen Amt Miguel Berger am 4. Dezember auf Twitter ausdrücklich bekräftigt, die Bundesregierung setze “unsere Unterstützung” für “Interimspräsident” Juan Guaidó fort. Der venezolanische Regierungsgegner Guaidó hatte sich am 23. Januar 2019 selbst zum Präsidenten Venezuelas erklärt und war daraufhin als solcher von den Regierungen der USA, der Bundesrepublik und einer Reihe weiterer westlicher Länder anerkannt worden – ein vollkommen haltloser Akt; eine völkerrechtliche Grundlage dafür, eine Amtsanmaßung in einem fremden Land nach Belieben als rechtmäßig zu erklären, gibt es nicht.[7] Guaidó hatte im Anschluss an seine Amtsanmaßung mehrere Monate lang versucht, venezolanische Militärs zum Putsch zu bewegen, und war auch dabei von der Bundesregierung unterstützt worden [8], die sich offiziell gewöhnlich “Demokratie” auf die Fahnen schreibt. Ungünstig für Berlin ist freilich, dass Guaidó selbst in der venezolanischen Opposition immer weiter an den Rand gedrängt wird: Berlins “Präsident” in Caracas, ein gescheiterter Putschist, ist dort mittlerweile eine marginale Figur.
    “Wie ein Kolonialherr”
    Angesichts des Scheiterns der völkerrechtswidrigen, zunehmend peinlichen Umsturzpolitik nimmt in der EU die Kritik an der anhaltenden Unterstützung für Guaidó zu. So wird ein Vertreter des Europäischen Auswärtigen Diensts mit der Aussage zitiert, es habe diesbezüglich “bei Beratungen zuletzt keinen Konsens unter den EU-Mitgliedstaaten gegeben”; “die Mehrheit der EU-Staaten” habe sich – anders als Berlin – bezüglich Guaidó jüngst nicht “auf ein bestimmtes Vorgehen festlegen wollen”.[9] Mit Blick auf die Nichtanerkennung der venezolanischen Parlamentswahl durch die EU monierte die irische Europaabgeordnete Clare Daly, der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell führe sich auf “wie ein Kolonialherr”; die Union müsse endlich “das Recht respektieren”.[10] Der Kritik an der Sanktions- und Umsturzpolitik schließt sich inzwischen auch der ehemalige spanische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero an. Zapatero erklärte, es führe zur “größten Absurdität in der Geschichte des internationalen Rechts”, sollte Brüssel daran festhalten, dem am Sonntag gewählten Parlament wie auch dem am 20. Mai 2018 gewählten Präsidenten Nicolás Maduro die Anerkennung zu verweigern, zugleich aber weiter Guaidó als “Präsident” zu behandeln.[11] Zapatero rief die EU zu einer “unaufgeregten und gelassenen Reflexion” über ihre Politik gegenüber Venezuela auf.

  185. Der digital-militärische Komplex (15.12.2020)
    Deutsch-französische Spannungen überschatten die Entwicklung des “europäischen” Kampfjets der nächsten Generation.
    BERLIN/PARIS (Eigener Bericht) – Berliner Regierungsberater warnen vor einem Scheitern der gemeinsamen deutsch-französischen Entwicklung eines Kampfjets der nächsten Generation. Das “Future Combat Air System” (FCAS), das neben dem Kampfjet Drohnen und Drohnenschwärme umfassen und mit Hilfe einer “Air Combat Cloud” gesteuert werden soll, sei “Europas bedeutendstes Rüstungsvorhaben”, heißt es in einer aktuellen Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Gefährdet sei es jedoch von zahllosen deutsch-französischen Differenzen. Dasselbe trifft auf Arbeiten an einem neuen deutsch-französischen Kampfpanzer (“Main Ground Combat System”, MGCS) zu. Beide Systeme sollen die Streitkräfte nicht nur Deutschlands und Frankreichs, sondern möglichst vieler Staaten Europas für künftige High-Tech-Kriege mit einem hohen Grad an Automatisierung rüsten und ab 2040 einsatzbereit sein. Dabei weisen Experten darauf hin, dass die Entwicklung vor allem des FCAS exklusive digitale Fähigkeiten erforderlich macht: Sie könne für die EU als “Katalysator ziviler digitaler Technologien” nützlich sein.
    Air Combat Cloud mit Künstlicher Intelligenz
    Wichtigster Baustein der deutsch-französischen Rüstungskooperation ist das Future Combat Air System (FCAS), ein Luftkampfverbund, der um einen neuen Kampfjet der “sechsten Generation” zentriert ist und weitere Elemente beinhaltet, insbesondere Drohnen bzw. Drohnenschwärme. Die unterschiedlichen Elemente sind online über ein Cloudsystem (“Air Combat Cloud”) verbunden, das präzise abgestimmte Kampfhandlungen des gesamten FCAS ebenso ermöglicht wie die Einbindung weiterer Flugzeuge – etwa des Eurofighter – oder sonstiger Waffensysteme. Das FCAS wird in der Air Combat Cloud nicht zuletzt Künstliche Intelligenz (KI) nutzen und damit “einen hohen Grad an Automatisierung” erreichen, wie Dirk Hoke äußert, Vorstandsvorsitzender von Airbus Defence and Space; “die entscheidende Frage” in diesem Zusammenhang werde sein, “wie wir sicherstellen können, dass eine automatisierte Entscheidung eine menschliche Entscheidung bleibt”.[1] Hoke deutet damit nicht bloß die Möglichkeit einer weitestgehend automatisierten Kriegführung mit Hilfe des FCAS an; er weist auch darauf hin, dass die Entwicklung des Systems “zivile Kompetenzen in den Bereichen Künstliche Intelligenz und Cloud-Technologien stärkt”; es könne sich damit als militärischer “Katalysator ziviler digitaler Technologien” erweisen. Deren forcierte Weiterentwicklung ist aktuell ein weiteres Ziel Berlins und der EU.[2]
    Kampfsysteme als Technologietreiber
    Die enge Verbindung zwischen dem FCAS und offiziell zivilen EU-Vorhaben wird auch in einer aktuellen Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) thematisiert. Dem Think-Tank zufolge sind Entwicklung und Produktion des FCAS nicht nur “ein Lackmustest dafür, inwiefern Europa in der Lage ist, sicherheitspolitisch zusammenzuarbeiten, eigene Fähigkeiten zu entwickeln und zu diesem Zweck nationale Interessen in den Hintergrund zu stellen”.[3] Das Hightech-Kampfsystem habe zudem “den Anspruch, innerhalb Europas technologische Exzellenz zu entwickeln und zu kultivieren, die geeignet” sein solle, “weit über den militärischen Sektor hinaus zu wirken”, erläutert die SWP. “Anwendungen wie sichere europäische Cloud-Services” – Berlin und Paris treiben zur Zeit mit ihrer Initiative “Gaia-X” den Aufbau einer “europäischen” Cloud voran [4] – “oder unbemannte autonome Flugsteuerung” seien “Technologie-Treiber, deren Potenziale gleichermaßen für eine zivile Nutzung von hoher Relevanz sind”. Es gelte daher, das “FCAS als Gesamtsystem zu betrachten”: Es sei nicht lediglich ein beliebiges “weiteres teures Rüstungsvorhaben” – “es ist viel mehr”.
    Ab 2040 kriegsbereit
    Die Vorarbeiten für das FCAS, dessen Entwicklung offiziell im Juli 2017 beschlossen wurde [5], schreiten unterdessen – wenngleich mit nicht nur pandemiebedingter Verzögerung – voran. So steht die Zuteilung von Teilaufträgen an die Industrie mittlerweile im Grundsatz fest. Das FCAS-Kernelement – Entwicklung und Bau des Kampfjets – wird federführend von Dassault (Frankreich) unter Mitwirkung von Airbus (Deutschland, Spanien) organisiert; auch bei den Triebwerken soll Frankreich (Thales) die Führung innehaben. Bei den Begleitdrohnen und den Cloudlösungen wiederum wird die Leitung bei Airbus Defence and Space (Ottobrunn bei München) liegen. In den Bereichen Sensorik (Indra Sistemas) und Tarnung (Airbus) stehen spanische Firmen an der Spitze, während die siebte Säule (Simulation) von Unternehmen der drei beteiligten Staaten gemeinsam in Angriff genommen wird. Ein erster Prototyp des Kampfjets soll bis 2026 oder 2027 fertiggestellt werden und anschließend Probeflüge durchführen. Den Abschluss der Entwicklungsarbeiten haben Berlin und Paris für das Jahr 2035 im Visier. In Betrieb genommen werden, also für Kriege zur Verfügung stehen soll das FCAS in den Jahren ab 2040.
    Interventionen vs. Kontinentalkrieg
    Ebenfalls ab 2040 einsatzbereit sein soll das deutsch-französische Gegenstück zum FCAS für die Landstreitkräfte: das Main Ground Combat System (MGCS), das um einen Kampfpanzer der nächsten Generation zentriert ist und gleichfalls in einem vernetzten System, möglicherweise mit Kampfrobotern, operieren soll. Nach längeren Vorbereitungen inklusive anhaltender Streitigkeiten [6] haben im Dezember die deutschen Panzerbauer Krauss-Maffei Wegmann und Rheinmetall sowie die französische Waffenschmiede Nexter Systems eine “Arbeitsgemeinschaft” (“ARGE”) gegründet, die das MGCS entwickeln sowie produzieren soll. Jedes der drei Unternehmen hält ein Drittel der Anteile an der ARGE [7], die im Mai den offiziellen Auftrag erhalten hat, binnen 18 Monaten eine Studie zu erstellen, die alle bisherigen Vorarbeiten bündeln sowie anschließend eine gemeinsame “Architektur” für das Landkampfsystem vorschlagen soll. Die Anteile an der Studie entfallen dabei je zur Hälfte auf Deutschland und Frankreich, ein erneuter Beleg, wie nationale Interessen das vorgeblich “europäische” Projekt dominieren. Eine aktuelle Analyse des Comité d’études des relations franco-allemandes (Cerfa) aus Paris weist darauf hin, dass die französische Seite gezielt auf “Interventionsfähigkeit … etwa in Nordafrika” setze – “also eher leichtes Gewicht für die Verlegbarkeit” -, während die deutsche Seite für “einen europäischen Kontinentalkrieg” plane. Wie daraus “ein gemeinsames System entstehen” solle, sei noch recht unklar.[8]
    Die Frage der nuklearen Bewaffnung
    Derlei Differenzen sind nicht neu. Die deutsch-französische Rüstungskooperation sei zwar “schon lange intensiv”, heißt es in der Cerfa-Analyse; dennoch seien “viele Großprojekte gescheitert oder haben erhebliche Probleme bereitet”. So sei die Bundesrepublik im Jahr 1982 aus dem deutsch-französischen Projekt “Kampfpanzer 90” ausgestiegen – wegen Differenzen, die denjenigen stark ähnelten, die heute Entwicklung und Bau des MGCS überschatteten.[9] Frankreich wiederum habe sich schon einmal aus einem gemeinsamen Kampfjetprojekt verabschiedet – dem Eurofighter. Es gebe heute nicht nur Auseinandersetzungen um das MGCS, sondern auch um das FCAS, etwa darum, ob sein Export künftig locker (Frankreich) oder eher restriktiv (Deutschland) gehandhabt werden solle. Die SWP wiederum konstatiert, dass das FCAS aus französischer Perspektive in der Lage sein müsse, französische Atomwaffen zu transportieren, was für die deutsche Seite eventuell mit Blick auf die “nukleare Teilhabe” von Bedeutung sei; beides führe allerdings zu verschiedenen, sich gegenseitig ausschließenden technischen Anforderungen.[10] Vor allem aber weist die SWP darauf hin, dass dringend Fragen des geistigen Eigentums geklärt werden müssten; dieses solle im günstigsten Fall geteilt werden: Es gelte, “Black Boxes in der Technik … möglichst gering zu halten”, sie “im Idealfall ganz zu vermeiden”. Dass die beteiligten Konzerne sich darauf einlassen, ist allerdings wenig wahrscheinlich.
    Verzögerungen
    Die SWP warnt mit Blick auf die andauernden deutsch-französischen Differenzen vor Illusionen: “Man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass es selbstverständlich zu Verzögerungen kommen wird.”[11] Allerdings müsse ein Scheitern insbesondere des FCAS – es handle sich um “Europas bedeutendstes Rüstungsvorhaben” – dringend verhindert werden. “Gelingt es nicht, dieses Projekt im europäischen Rahmen zu realisieren”, urteilt die SWP, dann könne sich dies als Präzedenzfall auswirken: “Größere gemeinsame Rüstungsanstrengungen in Europa” könnten dann “zunehmend unwahrscheinlich” werden.
    Kampf um “digitale Souveränität” (II) (14.12.2020)
    Berlin und Paris initiieren EU-Programm zur Schaffung einer “europäischen” Halbleiterproduktion. Ziel: Unabhängigkeit von Asien und Nordamerika.
    BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Im Rahmen ihrer technologischen Aufholjagd kündigt die EU Milliardensubventionen zur Schaffung einer “europäischen” Halbleiterproduktion auf dem aktuellen Stand asiatischer und nordamerikanischer Konkurrenten an. Der Anteil der EU-Staaten an der globalen Halbleiterproduktion beträgt derzeit lediglich rund zehn Prozent; die Union ist deshalb auf einem Zukunftsfeld der Industrie weitgehend vom Import abhängig. Dies müsse nun geändert werden – auch, um zu verhindern, dass künftig “große Teile der Wertschöpfung … außerhalb Europas stattfinden”, erklärt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Ein entsprechendes “Programm von gemeinsamem europäischem Interesse” (IPCEI) haben vergangene Woche 17 EU-Staaten in Angriff genommen. Es handelt sich um ein überaus ehrgeiziges Projekt: Branchenkreise schätzen den Rückstand der EU-Industrie auf zehn Jahre und beziffern die Kosten, die notwendig seien, um ihn wettzumachen, auf gut 50 Milliarden US-Dollar. Für die gesamte “digitale Transformation” der EU werden 145 Milliarden Euro bereitgestellt – aus dem Coronahilfsprogramm der Union.
    “Europäische Champions”
    Eine Reihe von EU-Staaten gibt sich entschlossen, den Rückstand der Union in der Halbleitertechnologie mittels eines langfristigen, umfassenden Investitionsprogramms wettzumachen. Das Anfang Dezember auf einer Videokonferenz der für Telekommunikation und Digitales zuständigen EU-Minister beschlossene Programm wird von bislang 17 EU-Staaten unterstützt, die, wie berichtet wird, “Synergien zwischen nationalen Forschungs- und Investmentinitiativen” erzielen wollen.[1] Zu den Unterstützern des ehrgeizigen Vorhabens gehören neben den Initiatoren – Deutschland und Frankreich – Italien, die Niederlande und Spanien.[2] Die Initiative, die es der EU ermöglichen soll, an den Stand der globalen Spitzentechnologie bei Prozessoren und Speichern anzuschließen, wird als sogenanntes IPCEI (Important Project of Common European Interest) umgesetzt. Der Hintergrund: Die Deklarierung der massiven Staatssubventionen für die abgeschlagene EU-Halbleiterindustrie als Projekt von strategischer Bedeutung ermöglicht es, EU-Vorschriften gegen Staatssubventionen an die Privatwirtschaft zu umgehen; auf diese Weise sei es einfacher, “Staatshilfen zu bekommen”, heißt es zur Erklärung.[3] Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier betonte bei der Vorstellung des Programms, es sei von “europäischem Interesse”, “mittels staatlicher Förderung einen wichtigen Beitrag zu Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und Wirtschaft” zu leisten. Damit forciert Berlin seine bereits vor geraumer Zeit angekündigte Strategie zum Aufbau “nationaler” bzw. “europäischer Champions”, bei der staatliche Industriesubventionen mit strategischer Industriepolitik gekoppelt werden.[4]
    Öffentlich finanzierte Industrieallianzen
    Der Anteil der EU am globalen Halbleitermarkt beträgt Berichten zufolge nur zehn Prozent; die Union ist deshalb von außereuropäischen Lieferanten abhängig. Diese Abhängigkeit werde seit dem Beginn der Pandemie verstärkt thematisiert, da sie viele sensible Bereiche betreffe, heißt es: Es gebe “Sicherheitsbedenken” etwa bei Prozessoren, die in “Autos, medizinischen Geräten, Mobiltelefonen und Netzwerken” zum Einsatz kämen.[5] In den kommenden Jahren soll der Rückstand, so heißt es weiter, durch eine “kollektive Anstrengung” überwunden werden. Dabei würden “Investitionen zusammengelegt” und “Handlungen öffentlicher und privater Akteure” koordiniert. Es sei vorgesehen, Konzerne zu benennen, die Teil einer solchen öffentlich finanzierten Industrieallianz sein könnten. Diese Hightech-Unternehmen sollen dann mit den notwendigen Finanzmitteln versorgt werden, um entsprechende Computer-Prozessoren zu entwerfen und zu produzieren.Dazu sollen die umfassenden EU-Krisenprogramme bzw. -Konjunkturpakete genutzt werden, die auf dem Brüsseler EU-Gipfel im vergangenen Juni beschlossen wurden. Von den insgesamt 750 Milliarden Euro aus den einschlägigen EU-Programmen fließen demnach 145 Milliarden Euro in die “digitale Transformation” der EU.[6]
    “Extrem teuer”
    Erste Schritte zur Festigung der “digitalen Souveränität” der EU, wie sie insbesondere die Bundesregierung und deutsche Denkfabriken propagieren [7], sind im Rahmen der European Processor Initiative (EPI) bereits erfolgt [8]. Hierbei bemühen sich seit 2018 mehr als 20 öffentliche und private Akteure aus zehn Eurostaaten, einen konkurrenzfähigen, stromsparenden Mikroprozessor zu entwickeln. Die hohen Subventionen, die in den kommenden Jahren in die Branche fließen sollen, seien “dringend notwendig”, wolle man tatsächlich aufschließen, heißt es: Moderne Fabrikationsstätten für Mikroprozessoren seien “extrem teuer”. Selbst im internationalen Vergleich rückständige Werke, in denen mit einer Strukturbreite von 130 nm (Nanometer) bis 65 nm gearbeitet werde, kosteten mehr als eine Milliarde Euro. Der technologische Rückstand der EU zeige sich in dem Umstand, dass Europas modernste Halbleiterfabrik mit 28 nm operiere, während es in den avancierten “Fabs” inzwischen 5 nm seien. Führend in der Halbleiterherstellung, die mit immer niedrigeren Strukturbreiten immer kapitalintensiver wird, sind derzeit Taiwan (TSMC), Südkorea (Samsung) und die USA (Intel). Der taiwanische Hersteller TSMC gibt an, der Aufbau seiner mit Strukturbreiten von 5 nm arbeitenden Produktionsstätte habe rund 24 Milliarden US-Dollar verschlugen. Die EU plant nun, im Rahmen des IPCEI-Subventionsprogramms nicht nur 5 nm zu erreichen, sondern sogar Fertigungsverfahren von 2 nm zu beherrschen.
    Zehn Jahre, 50 Milliarden US-Dollar
    Da europäische Unternehmen viele der technischen Verfahren, Maschinen und Werkzeuge lieferten, die beim Aufbau hochmoderner Halbleiterfabriken Anwendung fänden, sei eine Aufholjagd durchaus möglich, heißt es in der Branche. EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bezeichnete das digitale IPCEI-Programm unlängst als einen “wichtigen Schritt für Europas digitale Souveränität”, der die Abhängigkeit von den globalen Konkurrenten – den USA und China – mindern solle. Allerdings verlangen die entsprechenden Bemühungen laut einer aktuellen, nicht veröffentlichten McKinsey-Studie allen Beteiligten “viel Geduld” ab, warnen Wirtschaftskreise.[9] Amerika und Asien seien der EU “in fast allen Bereichen voraus”; um tatsächlich technologisch aufschließen zu können, seien “mindestens 50 Milliarden Dollar nötig”. Die EU hinke in Kernbereichen der Halbleitertechnologie um Jahre hinterher, sodass es rund 10 Jahre dauern werde, bis sie etwa bei Prozessoren zum Stand der Technik aufschließen könne. Um in die technologische Weltspitze vorzustoßen, seien sogar 15 Jahre erforderlich. Der technologische Abstand zu Intel, AMD oder Qualcomm werde immer größer, heißt es in der unveröffentlichten McKinsey-Studie; doch sei die Aufholjagd der EU “nicht aussichtslos”.
    Die Achse Berlin-Paris
    Allein in Deutschland sollen laut Altmaier im Rahmen des EU-Programms “mehrere Milliarden Euro” investiert werden.[10] Das IPCEI setzt dabei faktisch deutsche Industriepolitik auf EU-Ebene um; nur sind die Dimensionen um einiges größer. Das Bundeswirtschaftsministerium resümierte bereits im Oktober zur Berliner Industriepolitik im Bereich der Mikroelektronik, es seien binnen eines Jahres gut 522 Millionen Euro aufgewendet worden, um die “technologische Souveränität Deutschlands” zu sichern.[11] Die Steuergelder seien dabei in “Forschung, Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien” geflossen. Konkret haben 18 deutsche Unternehmen und Konzerne wie Bosch, ZEISS, Osram und Infineon die Subventionsgelder erhalten, um damit “moderne Chip-Fabriken zu errichten”. Auch die deutschen Industriesubventionen werden vom Wirtschaftsministerium als ein “Projekt von europäischem Interesse” (IPCEI) ausgewiesen. Den Motor der EU-Halbleiter-Offensive bildet freilich laut Aussage der Wirtschaftsminister Deutschlands und Frankreichs die Achse Berlin-Paris.[12] Beide Länder sind bemüht, mit staatlichen Subventionen eine aktive Industriepolitik zu betreiben, um den technologischen Rückstand Europas aufzuholen. Es handle sich um die “wichtigsten gemeinsamen Initiativen seit Airbus”, heißt es. Neben der Halbleiterbranche, der Subventionierung der Herstellung von Elektrobatterien [13] und Investitionen in Netzwerke wie diejenigen mit dem neuen Standard 5G soll auch die im Entstehen begriffene Wasserstoffindustrie [14] von der EU gefördert werden. Man wolle “mit gemeinsamen Technologieprojekten die Konjunktur ankurbeln” sowie die “Souveränität” der EU sichern, heißt es. Die Stützung der heimischen Industrie möge “ihren Preis haben”, auch für die Steuerzahler, konstatiert Altmaier: Er müsse aber gezahlt werden – denn man sei nicht bereit zu akzeptieren, dass “große Teile der Wertschöpfung der Zukunft komplett außerhalb Europas stattfinden”.
    Wirtschaft als Waffe (II) (11.12.2020)
    Deutsche Strategen schließen US-Sanktionen gegen die EU auch unter Biden nicht aus und fordern die Schaffung von Abwehrinstrumenten.
    BERLIN/BRÜSSEL (Eigener Bericht) – Trotz des bevorstehenden Regierungswechsels in den USA dringen deutsche Strategen auf die Schaffung von Instrumenten zur Abwehr ökonomischer Zwangsmaßnahmen seitens fremder Mächte. Auch unter einem Präsidenten Joe Biden seien US-Sanktionen gegen Deutschland und die EU, wie Trump sie verhängt habe, nicht auszuschließen, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme aus dem European Council on Foreign Relations (ECFR). Darüber hinaus sei es durchaus denkbar, dass in den sich zuspitzenden globalen Machtkämpfen auch China dereinst ökonomische Druckmittel gegen Deutschland und die EU anwende. Berlin und Brüssel könnten zudem quasi Kollateralschäden im US-amerikanisch-chinesischen Wirtschaftskrieg erleiden. In all diesen Fällen sei es dringend geboten, sich mit Gegenmaßnahmen zur Wehr setzen zu können. Eine “Task Force” des ECFR hat dazu, unterstützt auch vom Auswärtigen Amt, eine Reihe konkreter Vorschläge vorgelegt. Besonderen Wert legt der ECFR auf eine Stärkung des Euro; dazu könne beitragen, dass die EU zur Finanzierung der Coronahilfen nun Anleihen ausgebe.
    “Peripher und zentral zugleich”
    Hintergrund für die Warnung vor ökonomischen Zwangsmaßnahmen fremder Mächte gegen Deutschland und die EU ist der anhaltende Machtkampf zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China. In diesem Machtkampf sei die EU “peripher und ein zentrales Schlachtfeld” zugleich, heißt es in einer soeben publizierten Stellungnahme aus dem European Council on Foreign Relations (ECFR).[1] Im Zentrum des Ringens zwischen Washington und Bejing befinde sich – fernab von Europa – der “Indo-Pazifik”, urteilen der Autor und die Autorin des Papiers; doch auch dort könnten europäische Interessen ins Kreuzfeuer der beiden Mächte geraten und Schaden nehmen. Schwer wiege zudem, dass die EU der einzige Markt von ähnlicher Größe wie derjenige Chinas bzw. der USA und deshalb für beide von erheblichem Interesse sei. Die EU sei für viele Lieferketten zentral, beherberge “kritische globale Infrastruktur”, darunter etwa das internationale Zahlungssystem SWIFT, und sei “eine riesige Quelle wertvoller Daten für große IT-Konzerne” – “alles Felder, auf denen Beijing und Washington konkurrieren”, konstatiert der ECFR. Das chinesische wie US-amerikanische Interesse an der EU habe freilich seinen Preis.
    Überparteiliche Sanktionen
    Zum einen weisen der Autor und die Autorin des ECFR-Papiers darauf hin, dass die kommende Biden-Administration zwar beabsichtige, wieder enger mit den europäischen US-Verbündeten zu kooperieren. Die EU solle das als Chance nutzen, um die transatlantischen Beziehungen “so eng wie möglich” zu gestalten. Zugleich solle sie aber beginnen, Widerstandsfähigkeit gegen etwaige neue US-Zwangsmaßnahmen aufzubauen; man dürfe sich keinerlei Illusionen hingeben: “Die Geo-ökonomischen Spannungen zwischen den USA und Europa werden mit dem Amtsantritt einer neuen Administration nicht einfach verschwinden.”[2] So werde der Senat wohl unter republikanischer Kontrolle bleiben; der Kongress aber spiele “bei der Annahme von Sanktionen” und sonstigen Zwangsmaßnahmen eine zentrale Rolle. Davon abgesehen würden eine Reihe von US-Zwangsmaßnahmen, die europäische Interessen verletzten, von beiden großen US-Parteien unterstützt. Tatsächlich trifft dies etwa auf die US-Sanktionen gegen Nord Stream 2 [3] wie auch auf die Sanktionen gegen China [4] zu. Der ECFR ruft schließlich in Erinnerung, dass auch die demokratische Clinton-Administration einst extraterritoriale Sanktionen verhängt hat – zum Schaden europäischer Unternehmen: mit dem Helms-Burton Act von 1996.[5]
    Chinas Gegenwehr
    Zum anderen heißt es in der ECFR-Stellungnahme, es könne künftig durchaus auch zu harten Wirtschaftskämpfen mit China kommen, dessen “immer stärkere Stellung” es ihm erlaube, “seine Marktmacht auszunutzen”.[6] Die Volksrepublik hat in der Tat begonnen, sich gegen Angriffe anderer Staaten mit wirtschaftlichen Mitteln zur Wehr zu setzen – vor allem gegen Australien, das sich in den vergangenen Jahren zunächst mit massiver antichinesischer Agitation im Innern, dann mit einer führenden Rolle in der US-Kampagne gegen Huawei, mit dem Bemühen, militärische Bündnisse gegen China zu schmieden, und diversen weiteren Attacken den Ruf erworben hat, als “Hilfssheriff” der Trump-Administration in der Asien-Pazifik-Region zu agieren.[7] Beijing nimmt dies nicht tatenlos hin, sondern hat begonnen, Strafzölle auf bestimmte Importe aus Australien zu erheben und manche Einfuhren gänzlich zu stoppen. Darüber hinaus hat die Volksrepublik, um gegen die immer weiter ausgreifenden US-Sanktionen nicht wehrlos zu sein, im Oktober ein neues Exportkontrollgesetz verabschiedet, das zum 1. Dezember in Kraft getreten ist. Damit ist es nun möglich, die Ausfuhr bestimmter in China hergestellter Produkte zu reglementieren.[8] Dies trifft prinzipiell auch Güter, die deutsche Unternehmen in der Volksrepublik herstellen.
    Unterstützt vom Auswärtigen Amt
    Es sei dringend angeraten, “starke Instrumente zu schaffen, um Europa gegen wirtschaftlichen Zwang zu schützen”, heißt es in der Stellungnahme aus dem ECFR.[9] Die Autorin und der Autor verweisen dazu auf ein umfangreiches Papier, das der ECFR im Oktober unter dem Titel “Europas wirtschaftliche Souveränität verteidigen” veröffentlicht hat.[10] Es basiert auf der Arbeit einer “Task Force”, deren Kern aus Mitarbeitern des ECFR bestand, die aber von der deutschen und der französischen Regierung unterstützt wurde; so war auf deutscher Seite etwa das Auswärtige Amt involviert, dessen Staatssekretär Miguel Berger unter anderem die Auftaktsitzung der Task Force geleitet haben soll. Beteiligt gewesen seien, so wird berichtet, weitere Spitzenbeamte, zudem Abgeordnete aus dem Bundestag und aus der französischen Assemblée nationale; außerdem seien Vertreter von Wirtschaftsverbänden eingebunden worden.[11] Das Papier schlägt diverse konkrete Schritte vor, darunter die Gründung einer “Europäischen Exportbank”, die sanktionsimmun sein solle, um Auslandsgeschäfte unabhängig etwa von extraterritorialen US-Sanktionen abwickeln zu können. Auch solle eine neue EU-Behörde für wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen geschaffen werden. Nicht zuletzt sei über Gegensanktionen zu diskutieren.
    Der Euro als Alternative
    Besonderen Wert legt der ECFR aktuell darauf, die Stellung des Euro in der Weltwirtschaft zu stärken. Je geringer die Bedeutung der EU-Währung im internationalen Handel sei, desto verwundbarer sei Brüssel gegenüber ökonomischen Zwangsmaßnahmen, stellt der Think-Tank fest: Die Drohung, etwa bei Nichteinhaltung extraterritorialer US-Sanktionen keinen Zugang zum US-Dollar mehr zu erhalten und damit faktisch vom massiv dollardominierten internationalen Geschäft ausgeschlossen zu sein, mache Unternehmen und Politiker “anfällig für Erpressung”.[12] Dem könne man nur entkommen, indem man die globale Rolle des Euro aufwerte. Eine überraschende Chance biete das Coronahilfsprogramm der EU: Die Tatsache, dass Brüssel zur Finanzierung des Programms erstmals im großen Stil Anleihen auf den Finanzmärkten ausgebe, könne beitragen, den Euro weltweit stärker als Alternative zum US-Dollar zu etablieren. Das müsse dann systematisch weiter ausgebaut werden. Darüber hinaus dringt der ECFR darauf, die Einführung eines “Digital-Euro” in hohem Tempo voranzutreiben. China bereite den “E-Yuan” vor, während in den USA künftig etwa auf Facebooks “Libra” zurückgegriffen werden könne; die EU dürfe auf keinen Fall in Rückstand geraten. Tatsächlich arbeitet die EZB mittlerweile auf die Einführung eines “Digital-Euro” hin (german-foreign-policy.com berichtete [13]). Freilich bremst ausgerechnet die Bundesbank.

  186. Geschichte weitergesponnen
    »Recherchen« identifizieren angebliche russische Geheimdienstmitarbeiter, die Nawalny vergiftet haben sollen
    Von Reinhard Lauterbach
    Der rechte russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hat am Montag behauptet, er kenne jetzt die Namen derjenigen Mitarbeiter des russischen Geheimdiensts FSB, die hinter dem Versuch gesteckt hätten, ihn im August zu vergiften. Er stützt sich dafür auf Berichte des britischen »Rechercheportals« Bellingcat, das seit 2014 mit antirussischen Artikeln auf sich aufmerksam gemacht hat. Außerdem sind das Magazin Spiegel, der US-Fernsehsender CNN und das russische Portal The Insider involviert.
    Demnach sollen an dem mutmaßlichen Anschlag in der russischen Stadt Tomsk am 20. oder 21. August etwa zehn Mitarbeiter des FSB beteiligt gewesen sein, die einer Einheit mit Verbindung zu Chemiewaffen angehören sollen. Die Beteiligten stünden auf der oberen Ebene im Generalsrang, auf der operativen Ebene dagegen hätten alle eine Ausbildung als Mediziner oder Chemiker. Einige von ihnen sollen früher in dem Entwicklungslabor für das Nowitschok-Nervengift in Schichany im Gebiet Saratow tätig gewesen und nach dessen Auflösung in die Dienste eines Speziallabors des FSB nach Moskau versetzt worden sein.
    Die genannten Medien zeichnen auf Grundlage von Telefonmetadaten nach, wie drei dieser Personen – zwei davon unter falschem Namen – seit Jahren Nawalny observiert hätten. Das wird dokumentiert durch Flugdaten, die mit denen des Politikers aus den Jahren 2017, 2019 und 2020 auffällig oft übereinstimmten. Nawalny sagte in seinem Videoblog vom 14. Dezember, es sei nicht unwahrscheinlich, dass der FSB gelernte Mediziner und Chemiker mit einfachen Observationsaufgaben betraue. Er warf dem Geheimdienst vor, schon in der Vergangenheit mindestens zweimal Giftanschläge auf ihn versucht zu haben: einmal 2017 und einmal im Juli dieses Jahres, während er mit seiner Frau Urlaub im Gebiet Kaliningrad gemacht habe. Damals habe seine Frau einen rätselhaften Schwächeanfall gehabt – ohne Schmerzen, aber mit Lähmungserscheinungen.
    Das seien dieselben Symptome gewesen, die auch bei ihm bei dem ersten Anschlag und dann wieder auf dem Flug von Tomsk nach Moskau im August aufgetreten seien. Diese Ausführung ist deshalb interessant, weil es in ersten Darstellungen von Nawalnys mitreisender Pressesprecherin noch geheißen hatte, er habe im Flugzeug vor Schmerzen geschrien. Auch ein an Bord aufgenommenes Handyvideo, das in den ersten Tagen nach dem Vorfall zirkulierte, hatte jemanden gezeigt, der sich schreiend auf dem Flugzeugboden wälzt. Hier hat sich also die Darstellung geändert.
    Auch zum angeblichen Modus operandi des Anschlags hat Nawalny seine Version geändert. Ursprünglich hatte er erklären lassen, er sei auf dem Tomsker Flughafen vergiftet worden. Dann hatten seine Mitarbeiter behauptet, die Vergiftung müsse über zwei Wasserflaschen in seinem Hotelzimmer geschehen sein. Nun konkurrieren zwei weitere Versionen: die eines angeblich vergifteten Drinks in der Hotelbar am Vorabend und die kontaminierter Unterwäsche, die Nawalny ebenfalls am Vorabend aus einer Reinigung in Tomsk ins Hotel geliefert bekommen habe.
    Die Argumentation Nawalnys und der genannten Medien beruht dabei auf Indizien: Mobiltelefone der angeblichen Täter seien zu bestimmten Zeiten und Orten im Netz eingeloggt gewesen, und die angeblichen Agenten hätten mit Kollegen oder Vorgesetzten telefoniert. Zum Inhalt der Gespräche machen die Berichte keine Angaben.
    Den Großteil der Arbeit machte dabei offenbar Bellingcat. Gründer Eliot Higgins bestreitet regelmäßig, dass das Portal eine Außenstelle des britischen oder ukrainischen Geheimdienstes sei: obwohl dessen Mitarbeiter beispielsweise bei ihren Untersuchungen zum Hergang des Abschusses der malaysischen Passagiermaschine über dem Donbass 2014 auf Abhörprotokolle von Telefongesprächen zurückgegriffen haben, die sie nur aus geheimdienstlichen Quellen bekommen haben können.
    An die Telefonmetadaten will Bellingcat durch »geringfügige Korruption« gekommen sein. Es sei in Russland nicht schwierig, an große Datensätze von Telefongesellschaften, Kfz-Zulassungsstellen und Melderegistern zu kommen. Das koste nicht mehr als ein paar hundert Euro – allerdings in Kryptowährungen, behauptete das Portal am Montag.
    Hintergrund: Operation der Zersetzung
    Auf den ersten Blick wirkt das Netz von Indizien, das die »Rechercheure« von Bellingcat – jetzt einmal egal, wer möglicherweise hinter ihnen steht – in Sachen Alexej Nawalny zusammengetragen haben, beeindruckend. Allerdings, wie die Autoren in einer Art Hausmitteilung zu ihrer Arbeitsweise selbst einräumen: Nachvollziehbar seien die Hinweise nicht. Das liege in der Natur der abgerufenen Daten, da sie im nächsten Monat schon wieder bearbeitet sein könnten. Man muss ihnen also glauben.
    Vielleicht sollte man das nicht unbedingt. Denn zumindest etliche ihrer Indizien wären auch leicht zu fabrizieren. Erstes Beispiel: Die Zuordnung eines der mutmaßlichen Verfolger zum russischen Inlandsgeheimdienst soll dadurch zustande gekommen sein, dass er im Adressbuch irgendeines in Russland registrierten Handys mit vollem Namen und dem Zusatz »FSB« eingetragen (gewesen) sei. Nichts leichter als das, sich in Russland ein Handy zu kaufen, das Adressbuch mit dem vollzuschreiben, woran man interessiert ist, und das dann von einem Algorithmus »finden« zu lassen. Genauso könnte jemand »Bordell Reinhard Lauterbach« eintragen, um den Autor dieser Zeilen als Zuhälter dastehen zu lassen.
    Noch ein Beispiel: Einer der Beteiligten an der mutmaßlichen FSB-Operation soll, obgleich für den Einsatz in Tomsk mit einem legendierten Diensthandy ausgestattet, mehrfach sein eigenes auf seinen Klarnamen zugelassenes Telefon eingeschaltet haben. Immer nur für eine Minute, aber lang genug, um passende Standortdaten beim Mobilfunkbetreiber zu hinterlassen. Geht’s noch? Ist das Dummheit oder schon Provokation? Soll man sich den FSB jetzt als eine verbrecherische Organisation vorstellen oder als einen Sauhaufen? Als zu allem fähig oder zu nichts in der Lage?
    Vielleicht ist ja genau dies der wahre Zweck der Bellingcat-Operationen: Verunsicherung in den russischen Geheimdiensten zu säen. Bekanntlich gelten die als politische Heimat des Präsidenten Wladimir Putin und als der Teil des Apparats, dem er noch am ehesten vertraue. Hier ein bisschen Zwietracht zu stiften, wäre schon einigen geheimdienstlichen Aufwand wert. Dass dabei Datenschutzmängel, Korruption und alles, was Bellingcat zum Zustandekommen seiner Ergebnisse mitteilt, helfen – geschenkt. Schwächen des Gegners auszunutzen – genau darin besteht das Geschäft. (rl)
    _________________
    Auswurf des Tages: Grüner Schleim
    Von Jan Greve
    Wohin man auch schaut, überall grinsende Grüne. Die Homies von Habeck schleimen die Buddies von Baerbock voll und umgekehrt. Zwischen die führenden Köpfe der Partei passt kein einziges recyceltes Blatt Papier. Das liegt aber nicht daran, dass die vorgeblichen Ökos vom ganzen Baumumarmen mit klebrigem Harz überzogen sind. Nein: Diejenigen, die bis zuletzt versuchten, die Rodung des Dannenröder Waldes zu verhindern, wurden unter freundlicher Mithilfe der grünen Regierungspartei in Hessen brutal geräumt. Längst hat man die Seiten gewechselt und erfreut sich an profaneren Genüssen, die einem mit der politischen Macht zufallen.
    2021 wollen die Grünen endlich auch wieder im Bundestag auf der Regierungsbank sitzen, wenn Kriegseinsätze und Sozialkürzungen beschlossen werden. Vorbild ist die grüne Eminenz aus dem Ländle, Winfried Kretschmann. Seit 2011 Ministerpräsident von Baden-Württemberg, wurde der Freund der heimischen Autoindustrie am Wochenende auf dem Landesparteitag mit 91,47 Prozent zum Spitzenkandidaten für die Wahl im März gekürt. Zeitgleich ging der 72jährige Hoffnungsträger auf Schmusekurs mit dem notorischen Rassisten Boris Palmer, Oberbürgermeister Tübingens. Weil der im April zu Protokoll gab, in der Pandemie lohne sich nicht die Rettung eines jeden Älteren oder Vorerkrankten, legte ihm der Landesvorstand den Parteiaustritt nahe. Kumpel Kretschmann sagte dagegen am Wochenende: »Ich bin immer für Versöhnung.« Leute wie Palmer werden noch gebraucht.
    Feingeist Habeck umgarnte derweil im Spiegel-Doppelinterview den CSU-Vorsitzenden Markus Söder. Der beweise bei seiner Coronapolitik Kondition und erinnere ihn an »ein Kamel – im positiven Sinn«. Söder dankte: Habeck habe diesen »anderen, philosophischen Blick auf die Politik«. Schleim überall. Die kommende Bundesregierung könnte laufen wie geschmiert

  187. Beruf Kremlkritiker
    In Russland politisch eher unbedeutend, in Deutschland hofiert. Zur Rolle von Alexej Nawalny
    Von Theo Wentzke
    Nachdem Kremlkritiker Alexej Nawalny nach Deutschland transportiert worden ist, genießt er in der Charité eine gründliche Betreuung inklusive Merkel-Besuch, beinahe wie ein kranker Staatschef. Man fragt sich, was an seiner Tätigkeit in Russland dran ist, dass er eine solche Würdigung erfährt.
    Inszenierung als Volksanwalt
    »Augenöffner« Nawalny
    Konkurrenz um den Wählerwillen
    Deutschland mischt sich ein

  188. Deutschland versucht offenbar auf den Zug aufzuspringen, der in GB lange herumfuhr: Man sucht sich irgendwelche Putinkritiker, umgarnt sie, gewährt ihnen Asyl und versucht sie in irgendeiner Form für sich einzusetzen.
    Zakajew, Beresovski, Litvinenko, und weitere Lichtgestalten tummelten sich in GB, auch Chodorkowski hat sich anscheinend dort niedergelassen.
    Nachdem Deutschland sich bisher mt Uiguren und Tschetschenen aus der 2. Reihe begnügen mußte, wäre Navalny offenbar für manche Russland-gegner eine ideale Besetzng für ständige Klagen über verfolgte Regimekritiker. Man könnte ihn in diversen Talkshows herumreichen als Zeugen dafür, daß es in Rußland nicht mit rechten Dingen zugeht.

  189. Was den Technologierückstand angeht, den die EU, zumindest D & Fr, jetzt aufholen wollen, da muß ich sagen: reichlich spät.
    Erst den Amis jede Menge Daten geben und ihnen sagen: Arbeitet die doch bitte für uns auf, dann weder eine eigene Suchmaschine generieren, die halbwegs mit Google mithalten kann, noch sonst irgendwelche Social Media, die jemanden begeistern, sich dann auch noch das Huawei miesmachen lassen und dann auf einmal feststellen: Huch, wir sind technologiemäßig hinten! Wir müssen was tun!

  190. Neue Qualität der Angriffe
    Nawalny macht russischen Präsidenten direkt für mutmaßlichen Giftanschlag auf ihn verantwortlich
    Von Reinhard Lauterbach
    Bisher hatte der rechte russische Politiker Alexej Nawalny Russlands Präsident Wladimir Putin und anderen hohen Offiziellen vor allem Korruption vorgeworfen. Am Montag setzte er noch einen drauf und machte Putin in einem veröffentlichten Video direkt für den mutmaßlichen Giftanschlag auf ihn verantwortlich und führte an, auch seine Frau habe im Juli 2020 während einer Privatreise nach Kaliningrad ähnliche Symptome gezeigt, sich aber kurz danach wieder besser gefühlt. Ohne hierfür Beweise zu haben – die Vorwürfe beruhen durchweg auf Indizien –, werden Bilder Putins und des Chefs des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Alexander Bortnikow, unter anderem von der britischen »Rechercheplattform« »Bellingcat« und dem Magazin Spiegel zusammenmontiert, wobei behauptet wird, der Befehl den Politiker aus dem Weg zu räumen, müsse nicht nur von ganz oben gekommen sein, sondern sei von ganz oben gekommen. Für Nawalny ist das eine Tatsache, nicht eine Vermutung oder Schlussfolgerung.
    Das ist eine neue Qualität der Angriffe des Politikers auf den russischen Präsidenten. Er stellt Putin auf eine Stufe mit dem saudischen Königshaus, nur von geringerer krimineller Effizienz. Schließlich lebt Nawalny noch, im Unterschied zu dem saudischen Regimekritiker Dschamal Chaschukdschi (englische Umschrift: Jamal Kashoggi). Das Motiv, das Nawalny Putin unterstellt, wird immer unpolitischer und geht in Richtung »niedrige Beweggründe«: seine eigene Bereicherung und die seiner oligarchischen Günstlinge decken zu wollen.
    Putin habe, höhnt Nawalny über die Datenlecks, die ihm das Material für seine neuen Vorwürfe geliefert haben, sogar sein eigenes Milieu, die Sicherheitsdienste, ruiniert. Natürlich: Wer den Schaden hat, muss für den Spott nicht mehr sorgen. Aber Russland erscheint ihm nun explizit als Schurkenstaat. Nawalny appelliert sogar an die »ehrlichen Professionellen« in den Diensten, dieses System nicht mehr durch ihre Mitarbeit zu unterstützen. Es ist eine Putschagitation, auch wenn er nach außen für die Wahlen im Herbst 2021 für sein Modell des »klugen Abstimmens« zugunsten des jeweils stärksten Kremlgegners vor Ort eintritt.
    Zwar warnen Analytiker aus dem Westen eher davor, auf eine Liberalisierung der politischen Verhältnisse unter einem potentiellen Putin-Nachfolger zu hoffen – Nawalny wird dieser Nachfolger nicht sein, soviel steht fest. Und obwohl sie eher erwarten, dass sich die autoritären Tendenzen im Lande noch verstärken könnten, fällt eines auf: Die Bundesregierung, die Nawalny als »Gast der Bundeskanzlerin« aufgenommen hat, duldet, dass er solche Tiraden von der BRD aus verbreitet.
    Nach einem Spiegel-Artikel vom Montag hält sich Nawalny nach wie vor zur »Erholung« in einem süddeutschen Mittelgebirge auf. Von einer Forderung der Gastgeber an den Russen, sich auf deutschem Boden auszukurieren, aber politische Zurückhaltung zu üben, ist nichts bekannt. Das lässt vermuten, dass es in Deutschland Institutionen gibt, die mit dem Oppositionellen noch etwas vorhaben. Indem die Bundesregierung Nawalnys Aktivitäten von der BRD aus duldet, muss sie sich dessen Angriffe politisch selbst zurechnen lassen. Berlin setzt offenbar auf einen Regimewechsel in Russland und die direkte Konfrontation. Wie auf dieser Grundlage noch mit der gegenwärtigen russischen Regierung das politische Alltagsgeschäft betrieben werden soll, wäre ein gutes Thema für eine parlamentarische Anfrage im Bundestag. Nicht dass von der Antwort aus dem Hause des Außenministers Heiko Maas (SPD) irgend etwas Konkretes zu erwarten wäre, aber es könnte der Öffentlichkeit diese bewusst angetriebene Dynamik zum Schlechteren kenntlich machen.

  191. Setzen, Sechs!
    UN-Sicherheitsrat: Russland und China stellen nichtständigem Mitglied Deutschland schlechtes Zeugnis aus
    Von Jörg Kronauer
    Herbe Vorwürfe gegen die Politik der Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat haben am Mittwoch (Ortszeit) die UN-Vertreter Russlands und Chinas erhoben. Auslöser waren wüste Verbalattacken des deutschen UN-Botschafters Christoph Heusgen gegen Moskau und Beijing, die sich auf einen älteren Streit um Hilfslieferungen nach Syrien bezogen. Russlands Vize-UN-Botschafter Dmitri Poljanski wies die Angriffe zurück und warf den westlichen Mächten seinerseits »heuchlerisches Verhalten« vor. Mit Blick auf Heusgens Auftreten in den vergangenen zwei Jahren, in denen die Bundesrepublik einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat innehatte, äußerte Poljanski: »Sie werden uns nicht fehlen.«
    Der Sache nach ging es in dem ungewöhnlich heftigen Schlagabtausch um die Frage, wie humanitäre Hilfe in die von aufständischen, oft dschihadistischen Milizen kontrollierten Gebiete im Norden Syriens gelangen soll. Die Frage hatte den UN-Sicherheitsrat während der nichtständigen deutschen Mitgliedschaft intensiv beschäftigt. Moskau hebt gewöhnlich hervor, dass humanitäre Hilfe laut Resolution 46/182 der UN-Generalversammlung unter Wahrung der »Souveränität, territorialen Integrität und nationalen Einheit« der betroffenen Staaten zu gewähren ist. Und das aus gutem Grund: Die politische Instrumentalisierung humanitärer Hilfe etwa zu Umsturzzwecken soll so verhindert werden. Russland fordert deshalb seit geraumer Zeit, direkte Hilfslieferungen aus der Türkei nach Nordsyrien zu reduzieren und Unterstützung verstärkt in Kooperation mit den zuständigen Stellen in Damaskus zu organisieren. Dies freilich passt den westlichen Staaten nicht, die nach wie vor auf Umsturz setzen und deshalb ihre Sanktionen gegen Syrien nicht nur aufrechterhalten, sondern sie – so die USA – sogar noch verschärft haben. Die Folge ist schwerer Mangel unter anderem an Lebensmitteln und Medikamenten im ganzen Land.
    Den Streit am Mittwoch hatte nun Heusgen mit der Behauptung ausgelöst, Russland und China verhielten sich »zynisch«, weil sie unter Berufung auf Resolution 46/182 durchgesetzt hatten, die Direktlieferungen aus der Türkei nach Nordsyrien von einst vier Grenzübergängen auf einen zu reduzieren. Heusgen hatte dies wortreich ausgeschmückt und Moskau direkte Schuld an »Leiden und Tod« in Syrien unterstellt. Poljanski und Chinas UN-Vertreter Yao Shaojun verwahrten sich dagegen – nicht zuletzt mit Blick auf die mörderische Sanktionspraxis des Westens, die die Bevölkerung nicht nur Syriens, sondern auch Irans, Venezuelas und anderer Länder schwer trifft. Yao erklärte, Heusgens knapp zweijähriges Wirken in dem UN-Gremium bilanzierend, das »Auftreten Deutschlands im Sicherheitsrat« habe »nicht den Erwartungen der Welt und den Erwartungen des Rats entsprochen«. Mit Blick auf die seit beinahe zwei Jahrzehnten offensiv vorgebrachte Forderung Berlins nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat urteilte Yao, der Weg dahin werde »schwierig sein«.
    Tatsächlich hatte das Auswärtige Amt unter Minister Heiko Maas die auf zwei Jahre begrenzte nichtständige Mitgliedschaft der Bundesrepublik im UN-Sicherheitsrat auch als eine Art Werbephase für einen ständigen, am besten auch mit Vetorecht ausgestatteten deutschen Sitz geplant. Das ist misslungen; bereits im Juli hatte Maas einräumen müssen, die Bilanz der Berliner Politik in dem UN-Gremium sei »durchwachsen«. Allerdings setzte eine allseitige Zustimmung zu einem ständigen deutschen Sitz eine auf Ausgleich und Konfliktreduzierung bedachte Politik der Bundesregierung voraus. Von einer solchen kann keine Rede sein.
    “Ein Weckruf für Europa” (17.12.2020)
    Berliner Regierungsberater fordern “geschlossene Haltung der EU” gegen den “Krisengewinner” China.
    BERLIN/BEIJING (Eigener Bericht) – Berliner Regierungsberater stufen China in der Coronakrise als “Krisengewinner” ein und verlangen “eine starke und geschlossene Haltung der EU” gegenüber der Volksrepublik. Beijings “effektive Krisenbewältigung” habe ihm wirtschaftlich und politisch größeren Einfluss in der Welt verschafft, heißt es in einer aktuellen Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). War es der Westen lange gewohnt, die internationale Politik zu dominieren, so muss er nun der SWP zufolge damit rechnen, dass China “selbstbewusster” auftritt. Tatsächlich hat die Volksrepublik nicht nur die Covid-19-Pandemie im eigenen Land erfolgreich bekämpft und so die Grundlage für eine wirtschaftliche Erholung geschaffen, die jetzt ihr Gewicht gegenüber der EU und den USA weiter erhöht. Sie kann auch mit der Lieferung von Covid-19-Impfstoffen ihre Stellung in diversen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ausbauen, deren Not von den selbst pandemiegeplagten westlichen Mächten weithin ignoriert wird. Nicht zuletzt trägt das neue Freihandelsabkommen RCEP dazu bei, den Schwerpunkt der Weltwirtschaft perspektivisch nach Asien zu verschieben.
    Erfolgreich im Kampf gegen die Pandemie
    Grundlage für Chinas Machtzuwachs im zu Ende gehenden Krisenjahr ist, dass die Volksrepublik, wie es die vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer aktuellen Analyse konstatiert, die Pandemie “augenscheinlich … hinter sich gelassen” hat.[1] Tägliche Ansteckungen im niedrigen zweistelligen Bereich – mehrheitlich Einreisende aus dem Ausland – und nur ganz vereinzelte Todesfälle stehen fünfstelligen Ansteckungs- und zeitweise beinahe vierstelligen Todeszahlen pro Tag alleine in Deutschland gegenüber. Während die Feiertage zum Jahresende in der Bundesrepublik von drastischen Einschränkungen überschattet werden, waren, wie die SWP berichtet, schon “während der arbeitsfreien ‘goldenen Woche’ Anfang Oktober” in ganz China “Hunderte Millionen Chinesen auf Reisen”. Der offensichtliche Erfolg wird im Land auch als solcher wahrgenommen. “Die Maßnahmen”, die Beijing im Kampf gegen die Pandemie ergriffen habe, “stoßen bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Zustimmung”, heißt es bei der SWP: Laut einer Umfrage des YouGov-Cambridge Globalism Project “sind 88 Prozent der Chinesen von der Führungsstärke ihrer Regierung in der Covid-19-Krise überzeugt”. Man könne in China eine “politische Stärkung im Innern” erkennen.
    Verschobene Kräfteverhältnisse
    Ähnlich positiv entwickelt sich die chinesische Wirtschaft, die laut SWP die vielbeschworene, aber so gut wie nirgends erreichte “V-förmige Konjunkturerholung” verzeichnen kann. Tatsächlich ist es der Volksrepublik gelungen, den dramatischen ökonomischen Einbruch im ersten Quartal um 6,8 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum aufzufangen und rasch erneutes Wachstum zu erreichen; laut jüngsten Prognosen der OECD wird sie als einziger G20-Staat das Krisenjahr 2020 mit einer größeren Wirtschaftsleistung abschließen können als 2019 – mit einem Plus von 1,8 Prozent. Das Jahresminus der Vereinigten Staaten schätzt die OECD auf 3,7 Prozent, dasjenige Deutschlands auf 5,5 Prozent, dasjenige der Eurozone auf 7,5 Prozent. Während – ebenfalls laut OECD-Prognosen – die Bundesrepublik erst 2022 ihr ökonomisches Vorkrisenniveau erreichen wird, die Eurozone vermutlich sogar erst 2023, wird China seine Wirtschaftsleistung im Jahr 2022 um erstaunliche 15 Prozent gegenüber 2019 steigern können; die US-Wirtschaft wird dann lediglich um magere 3 Prozent über dem Vorkrisenniveau liegen.[2] Damit werden sich, hält die SWP fest, “die Kräfteverhältnisse in der Weltwirtschaft … zugunsten [Chinas] verändern”.[3]
    Der neue Schwerpunkt der Weltwirtschaft
    Unabhängig von der Coronakrise ist es Beijing im vergangenen Jahr gelungen, handelspolitisch einen womöglich langfristig wirksamen Erfolg zu erzielen – mit der Unterzeichnung des Freihandelsvertrages RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) am 15. November. Das Abkommen verbindet China mit den zehn Mitgliedern des südostasiatischen Staatenbundes ASEAN, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland. Es gilt als nicht besonders ehrgeizig; so schafft es, gestreckt über Jahre, lediglich 90 Prozent der Zölle im Warenhandel ab und bringt auf dem Dienstleistungssektor erheblich weniger Liberalisierungen als andere Vereinbarungen. Dafür umfasst es fast ein Drittel der Weltbevölkerung und steht für 30 Prozent der gesamten globalen Wirtschaftsleistung, mehr als die Länder des United States-Mexico-Canada-Agreement (USMCA, Ex-NAFTA) und deutlich mehr als die EU. Vor allem aber fasst es zum ersten Mal die Staaten der asiatisch-pazifischen Boomregion ohne direkte Beteiligung des alten transatlantischen Westens zusammen. Dies ist von Bedeutung, weil Experten RCEP zutrauen, mit seinem Gewicht auf lange Sicht weltwirtschaftliche Standards zu setzen. “Als einer der Haupttreiber” unterstreiche Beijing “seine Rolle als globale Gestaltungsmacht”, konstatiert der BDI: RCEP sei “ein Weckruf für Europa”.[4]
    Impfstoffe für die nichtwestliche Welt
    Hinzu kommen neue weltpolitische Einflussgewinne, die sich aus Chinas aktiver Rolle im globalen Kampf gegen die Covid-19-Pandemie ergeben. Während die westlichen Staaten – ungeachtet aller anderslautenden verbalen Bekenntnisse – den größten Teil der verfügbaren Covid-19-Impfstoffe für sich selbst reserviert haben und sich wenig um die ärmeren Staaten bemühen, hat die Volksrepublik längst begonnen, Impfstoffe in Länder jenseits der wohlhabenden westlichen Welt zu exportieren und Pharmakonzerne und -institute unter anderem in Indonesien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Brasilien mit Lizenzen zur Herstellung chinesischer Vakzine für die jeweilige Region auszustatten (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Für die Länder Afrikas baut Cainiao, die Logistiktochter des chinesischen Konzerns Alibaba, in Kooperation mit Ethiopian Airlines, der größten Fluggesellschaft des afrikanischen Kontinents, die notwendige Lieferkette zur Verteilung der Vakzine auf. Ethiopian Airlines hatte schon zuvor, in Kooperation mit der Stiftung von Alibaba-Gründer Jack Ma, mehr als 3.000 Tonnen Covid-19-Hilfsgüter aus China ausgeflogen, nach Afrika, Asien und Lateinamerika. Dass die Volksrepublik ärmere Staaten unterstützt, denen der Westen Hilfe verweigert, bleibt nicht ohne Folgen.
    Kooperationspartner und Rivale
    “Chinas effektive Krisenbewältigung”, urteilt die SWP, “weist das Land am Jahresende 2020 als Krisengewinner aus.”[6] War der Westen es lange Zeit gewohnt, in der Weltpolitik zu dominieren, so warnt der Berliner Think-Tank nun, Beijing werde künftig womöglich “noch selbstbewusster auftreten …, als das jetzt bereits der Fall” sei. “Umso wichtiger” sei “eine starke und geschlossene Haltung der EU gegenüber China”. Auch die Bundesrepublik müsse “die europäische Strategie praktisch zur Geltung bringen …, wonach China Kooperationspartner und wirtschaftlicher Wettbewerber, aber auch systemischer Rivale” sei. Perspektivisch zielt die SWP damit darauf ab, bei Beibehaltung der für die deutsche Industrie unverzichtbaren wirtschaftlichen Zusammenarbeit (China als “Kooperationspartner” [7]) den politischen und möglicherweise auch den militärischen Druck auf Beijing (“systemischer Rivale”) zu intensivieren. Entsprechende Bemühungen sind bereits im Gang – german-foreign-policy.com berichtete [8].

  192. Putin zu neuen „Ermittlungen“ im Fall Nawalny: „Wenn man gewollt hätte, dann…“
    Russlands Präsident Wladimir Putin hat bei seiner Großen Pressekonferenz die Medienberichte über den angeblichen Giftanschlag auf den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny durch Agenten des russischen Sicherheitsdienstes FSB kommentiert. Putin zufolge ist das „die Legalisierung der Arbeit der US-Geheimdienste“.
    „Am meisten stört mich…“: Gysi nimmt „Spiegel“-Story über mutmaßliche Nawalny-Attentäter aufs Korn
    Der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion Gregor Gysi zeigt sich nicht besonders beeindruckt von der neulichen „Spiegel“-Recherche zu den angeblichen Tätern im Fall Nawalny. Als erfahrener Rechtsanwalt wirft er viele offene Fragen auf, die das Magazin womöglich ausblendet oder „einfach abtut“.
    Claas Relotius schreibt wohl wieder für den „Spiegel“ – Haarsträubende Story über den Fall Nawalny
    Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ hat in einer als Eilmeldung deklarierten und in dramatischem Tonfall gehaltenen mehrseitigen Geschichte die angeblichen Schuldigen für den Anschlag auf Kreml-Kritiker Alexej Nawalny präsentiert. Allerdings ist auch diese Sensationsstory nichts weiter als peinliche antirussische Hetze in Reinkultur. Ein Kommentar.

  193. Putin nimmt Stellung
    Russlands Staatschef äußert sich auf Jahrespressekonferenz zu Fall Nawalny
    Von Reinhard Lauterbach
    Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich erstmals zu den im Westen publizierten Vorwürfen rund um die Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny geäußert. Auf seiner im Fernsehen übertragenen Jahrespressekonferenz sagte er, der Bericht der sogenannten Rechercheplattform Bellingcat und Nawalnys selbst sei eine »unlesbare Kompilation«, die auf US-Geheimdienstinformationen beruhe. Die Vorwürfe eines Mordkomplotts von seiten des Geheimdienstes FSB würden damit aber nicht belegt. »Wenn wir gewollt hätten, dann hätten wir die Sache zu Ende gebracht«, sagte Putin wörtlich. Statt dessen habe er der Bitte von Nawalnys Ehefrau, ihn zur medizinischen Behandlung in die BRD ausreisen zu lassen, sofort stattgegeben.
    Putin bestätigte damit die Echtheit wesentlicher Punkte der Beweisführung von Bellingcat, beispielsweise der Veröffentlichung von Telefonmetadaten. Er widersprach auch nicht der Darstellung der Plattform, dass es sich bei den Personen, deren Daten Bellingcat anführte, um FSB-Mitarbeiter gehandelt habe: »Unsere Geheimdienstmitarbeiter wissen, dass die US-Kollegen solche Standortdaten auswerten, und sie berücksichtigen das in ihrer Tätigkeit«, so Putin. »Wenn sie es für nötig halten, schalten sie ihre Telefone ein.« Aus den Veröffentlichungen ergebe sich der Nachweis, dass Nawalny die Unterstützung der US-Dienste genieße. Dies sei es auch, was seine Überwachung rechtfertige. »Aber dies bedeutet nicht, dass man ihn hätte vergiften sollen. Schließlich hat er Angehörige.«
    Putin warf Nawalny, den er nur »unseren notorischen Blogger« oder »den Berliner Patienten« nannte, vor, er verfahre nach einem in der Politik bekannten Trick: sich einen Gegner oberhalb des eigenen Niveaus auszusuchen, um aus dieser Auseinandersetzung Vorteile für das eigene Image zu ziehen. An späterer Stelle warf er den »westlichen Partnern« vor, sich gemeinsamen Ermittlungen mit russischen Spezialisten zu verweigern.
    Neben dem Fall Nawalny äußerte sich Putin auch noch zum Konflikt im Donbass und zu Fragen um Nord ­Stream 2. Russlands Staatschef erläuterte zudem den gegenwärtigen Umgang mit den aktuellen wirtschaftlichen Problemen des Landes und den Folgen der Coronapandemie.
    US-Vorwürfe gegen Russland
    »Ernste Gefahr«: Washington klagt über andauernden »Cyberangriff«
    Die US-Behörde für Cyber- und Infrastruktursicherheit (CISA) stuft den jüngsten angeblichen Hackerangriff auf US-Regierungseinrichtungen als »ernste Gefahr« ein. Sie teilte am Donnerstag (Ortszeit) in einer Warnmitteilung mit, das Entfernen des Angreifers aus betroffenen Systemen werde sich voraussichtlich »hochkomplex« gestalten. Der Cyberangriff dauere mindestens seit März an. Der oder die Täter hätten »Geduld, operative Sicherheit und komplexe Handwerkskunst« gezeigt.
    Gefährdet seien die Bundesregierung, Regierungen von Bundesstaaten und Kommunen, kritische Infrastruktur und Organisationen des Privatsektors. Washington hatte vergangene Woche erklärt, es gebe einen großangelegten, monatelang andauernden Cyberangriff auf mindestens zwei Institutionen, darunter laut Medienberichten auch das Finanzministerium. Die US-Tageszeitungen Washington Post und New York Times hatten berichtet, bei den Angreifern handele es sich um Hacker mit Verbindungen zum russischen Geheimdienst. Beweise wurden keine vorgelegt. Die russische Regierung wies die Vorwürfe zurück.
    Vieles wisse man noch nicht über die Angelegenheit, so die führenden Senatoren der Republikaner und Demokraten am Donnerstag im Verteidigungsausschuss, James Inhofe und John Francis Reed. »Aber wir wissen, dass der Cyberangriff anscheinend andauert und die Merkmale einer russischen Geheimdienstoperation trägt. Die US-Regierung muss alles tun, um dem entgegenzuwirken.«
    Der amtierende US-Präsident Donald Trump äußerte sich zunächst nicht. Auf seinem Terminplan stand für Freitag ein Treffen mit dem geschäftsführenden Verteidigungsminister Christopher Miller, das aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden sollte.
    Der künftige US-Präsident Joseph Biden kündigte am Donnerstag an, »solche Angriffe« würden unter seiner Regierung nicht unbeantwortet bleiben. Verantwortliche würden in Abstimmung mit Verbündeten zur Rechenschaft gezogen werden. »Unsere Gegner sollten wissen, dass ich als Präsident Cyberangriffen auf unsere Nation nicht tatenlos zusehen werde.« Was über den jüngsten Angriff bekannt sei, sei sehr besorgniserregend. (dpa/AFP/jW)
    Feindbilder festbetoniert
    »Cyberattacken« auf US-Behörden
    Von Knut Mellenthin
    Mehrere Teile der US-Regierung, vor allem das Finanz-, das Handels- und am Donnerstag auch das Energieministerium haben in dieser Woche »Cyberattacken« auf ihre Netzwerke gemeldet. Letzteres ist besonders problematisch, weil ihm auch die Atomwaffen zugeordnet sind. Diese seien aber von den Hackerangriffen nicht betroffen, hieß es zur Beruhigung aus dem Ministerium. Auch der Internetriese Microsoft berichtete am Donnerstag, dass er »bösartige Software«, vermutlich sogenannte Viren, in seinen Systemen entdeckt habe. Am selben Tag sah sich auch die zuständige Aufsichtsbehörde der USA, die Cybersecurity and Infrastructure Security Agency (CISA), zur Veröffentlichung eines Warnhinweises veranlasst.
    Cyberangriffe gehören zur »schönen neuen Normalität«, die uns in den nächsten Jahren vermutlich nicht verlassen wird. Genauer betrachtet sind es allerdings nicht die Netzwerkattacken als solche, mit denen wir konfrontiert sind, sondern deren Widerspiegelung in den Presseerklärungen der Regierungsstellen, den quasiamtlichen Agenturmeldungen und letzten Endes vor allem in den mehr oder weniger sensationell und alarmistisch aufgemachten Berichten der Medien. Denn die aktuell beklagten feindlichen Aktivitäten, denen jetzt plötzlich »verheerende Ausmaße« zugeschrieben werden, wurden schon seit März immer wieder gemeldet. Die einzelnen Vorgänge an irgendeinem scheinbar beliebig gewählten Zeitpunkt für mehrere Tage zum Nachrichtenmittelpunkt zu verdichten, ist eine politische Entscheidung, deren exakte Hintergründe uns einstweilen unzugänglich bleiben werden.
    Es kommt aber auf die Details und die Wege dieser Entscheidung auch nicht unbedingt an. Denn festzustellen und festzuhalten bleibt vor allem, dass Feindbilder jetzt schon nicht mehr nur konstruiert, sondern systematisch festbetoniert und auf der Ebene der Massenbeeinflussung eingeübt, in ihrer Wirkung überprüft und aufgrund der so gewonnenen Erkenntnisse weiter verfeinert und perfektioniert werden.
    Was die Intensität der Propaganda betrifft, befinden wir uns schon jetzt in einem hochgefährlichen Vorkriegszustand, von dem nicht einmal hinreichend sicher ist, dass der Vergleich mit dem Kalten Krieg der 1950er und frühen 1960er Jahre nicht vielleicht sogar ein bisschen verharmlosend ist. Gearbeitet wird zweifellos und ungeniert an der Verfestigung gezielter Feindbilder. Russland, China und im Beifang auch der Iran. Dass die »Cyberattacker«, über die man unterm Strich bisher absolut gar nichts weiß, »Verbindungen zum russischen Geheimdienst« hätten, liegt außerhalb des Beweisbaren und wird bisher noch nicht einmal durch materielle Indizien gestützt. Der Beweis reduziert sich auf: »Wir behandeln Russland als Feind. Also reagieren die Russen darauf.«
    Das aber ist, nach den Maßstäben der menschlichen Vernunft, zu wenig.
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    Europäischer Konkurrenz entledigt
    Bundesregierung beteiligt sich an Rüstungshersteller Hensoldt. Technik soll nicht Paris in die Hände fallen
    Von Jörg Kronauer
    Das wird teuer: Bemerkenswerte 450 Millionen Euro lässt sich die Bundesregierung, wie das Verteidigungsministerium am Mittwoch ausdrücklich bestätigte, den Staatseinstieg beim Rüstungsunternehmen Hensoldt aus Taufkirchen bei München kosten. Dafür wird sie von dem US-Finanzinvestor Kohlberg Kravis Roberts (KKR), der zur Zeit noch 68 Prozent an der Firma hält, 25,1 Prozent der Hensoldt-Anteile bekommen. Fast eine halbe Milliarde Euro ausgerechnet für ein Rüstungsunternehmen, und dies auch noch in Zeiten der Coronakrise – das hat, seit die ersten genaueren Informationen über den Deal Ende vergangener Woche die Runde machten, für erhebliches Stirnrunzeln gesorgt, und zwar nicht nur bei Rüstungsgegnern. Ihm sei nicht wirklich klar, was die Regierung zu ihrem Schritt veranlasst habe, wurde etwa Alexander Müller, verärgerter Obmann der FDP-Fraktion im Verteidigungsausschuss des Bundestages, zitiert.
    Worum geht’s bei dem Deal? Nun, Hensoldt ist – noch? – keines der weithin bekannten Unternehmen der deutschen Rüstungsindustrie, kein Heckler & Koch, kein Rheinmetall. Das mag zum einen daran liegen, dass die Firma bislang als Zulieferer auftritt. Ihre Produkte kommen in den großen, Schlagzeilen machenden Kampfpanzern, Kampfjets und Fregatten von Krauss-Maffei Wegmann (KMW), dem Eurofighter-Konsortium oder Thyssen-Krupp Marine Systems (TKMS) zum Einsatz, fallen aber, wenn man sich mit derlei Kriegsgerät nicht im Detail befasst, von außen nicht groß auf. Hinzu kommt, dass die Firma Hensoldt in ihrer heutigen Form noch ziemlich jung ist. Eigentlich handelt es sich um die ehemalige Elektroniksparte von Airbus Defence & Space, die der Konzern im Jahr 2017 an KKR verkaufte, wobei sie den Nachnamen des im 19. Jahrhundert wirkenden deutschen Optikers Moritz Carl Hensoldt annahm. Das Unternehmen hat seither einige Konkurrenten aufgekauft, ist auch finanziell recht erfolgreich: Im vergangenen Jahr erwirtschaftete es mit über 5.400 Beschäftigten einen Umsatz von mehr als 1,1 Milliarden Euro und erzielte dabei einen operativen Gewinn von 216 Millionen Euro. Dieses Jahr strebt es, wie das Handelsblatt am Donnerstag berichtete, trotz Coronakrise einen operativen Gewinn von sogar 250 Millionen Euro an.
    Das ist möglich, weil Hensoldt-Produkte nicht nur heute schon eine exklusive Rolle in zahlreichen Waffensystemen spielen, sondern weil ihre Bedeutung wohl noch zunehmen wird. Hensoldt stellt optische und optronische Geräte her, Avioniksysteme, Radare, auch Systeme zur elektronischen Kampfführung. Hensoldt-Radare werden auf der Fregatte F125 und im Eurofighter genutzt; Hensoldt-Zieloptik kommt im Leopard 2 und im Kampfhubschrauber Tiger zum Einsatz. »An der Technologie kommt in Europa kaum jemand vorbei«, ließ sich der Luftfahrtexperte Michael Santo im Sommer zitieren, und Hensoldt-Chef Thomas Müller verkündete stolz: »Wir sind der Porsche der Verteidigungsindustrie. Teuer, aber technisch führend.« Hinzu kommt: Hensoldt beackert eine rüstungsindustrielle Zukunftsbranche. Militärs sprechen, wenn sie über die Zukunft des Krieges diskutieren, heute weithin von automatisierten Robotern, die elektronisch vernetzt auf »gläsernen« – sprich: vollständig durchleuchteten – Gefechtsfeldern kämpfen. Wer, wie Hensoldt, Radare und Optik zur Aufklärung sowie die Technologie zur Störung feindlicher Elektronik liefert, ist in den Kriegen der nächsten Jahrzehnte industriell ganz vorn dabei.
    Hensoldt lässt in diesem Zusammenhang gern die Geschichte verbreiten, wie seinen Spezialisten ein bemerkenswerter Coup auf einem Ponyhof in Brandenburg gelang. Die Story spielte Ende April 2018, als in Berlin die Internationale Luft- und Raumfahrtausstellung ILA stattfand. Der US-Konzern Lockheed Martin hatte eigens zwei Tarnkappenbomber des Typs F-35 einfliegen lassen. Das Flugzeug galt – und gilt – mit seinen Tarneigenschaften als Topmodell der Branche. Beobachter stellten damals enttäuscht fest, dass die F-35 anders als erwartet am Boden blieben und nicht die üblichen Vorführrunden flogen. Gerüchte machten die Runde, es liege daran, dass Hensoldt mit seinem neuen Passivradar Twinvis zugegen sei. Wie auch immer: US-Fachportale berichteten später, findige Hensoldt-Mitarbeiter hätten sich die Tatsache zunutze gemacht, dass die F-35 ja schließlich in die Vereinigten Staaten heimfliegen mussten. Sie hätten ihr Twinvis-Gerät heimlich auf einem nahegelegenen Ponyhof installiert und die Tarnkappenbomber, als sie in Richtung USA abhoben – siehe da! – erfolgreich über gut 150 Kilometer getrackt: Essig war’s demnach mit der Tarnung – dank Hensoldt.
    Dass die Bundesregierung Wert darauf legt, Hensoldt nicht unter ausländische Kontrolle geraten zu lassen, liegt nahe – um so mehr, als sie Sensorik sowie elektronische Kampfführung zu »nationalen Schlüsseltechnologien« erklärt hat. Als KKR 2017 die Airbus-Elektroniksparte kaufte, sicherte Berlin sich seinen Einfluss mit einer »goldenen Aktie« und mit Verträgen, die die Veräußerung von Technologien untersagten. Komplexer wurde die Lage, als KKR Hensoldt im September 2020 an die Börse brachte und auszusteigen begann. Die Bundesregierung sicherte sich daraufhin das Recht auf Erwerb eines 25,1-Prozent-Anteils und damit einer Sperrminorität, allerdings nur bis Jahresende befristet. Mit einem Einstieg chinesischer Unternehmen war nicht zu rechen. Dies könnte Berlin dank verschärfter Investitionskontrollen jederzeit verbieten. Allerdings wurde zuweilen berichtet, europäische Konkurrenten – namentlich genannt wurde Thales (Frankreich) – hätten Interesse, seien womöglich sogar schon dabei, Aktienpakete zu erwerben. Das hat die Bundesregierung offenbar veranlasst, eine schlappe halbe Milliarde zu investieren. Um auf Nummer sicher zu gehen: Dass der angebliche Hauptverbündete jenseits des Rheins sich die Technologie für die Kriege der Zukunft schnappt, das muss man nun wirklich verhindern. Nationale Interessen gehen – wie kann’s auch anders sein – auch unter stolzen »Europäern« immer vor.

  194. US-Außenminister macht Russen für Hackerangriff auf US-Regierung verantwortlich
    Laut Außenminister Pompeo ist “ziemlich klar”, dass Russland hinter dem Hackerangriff auf US-Behörden steckt. Details nennt er nicht, sie sind ohnehin geheim.
    Gaia-X: Big-Data-Firma Palantir aus den USA ist bei EU-Cloud vorn mit dabei
    Der als Big-Brother-Ausrüster kritisierte US-Konzern Palantir hat stolz bekannt gegeben, vom Start weg beim europäischen Prestigeprojekt Gaia-X mitzumischen.

  195. Mob statt Lesern und Hörern
    Von Arnold Schölzel
    Siehe da: Die Weigerung der CDU Sachsen-Anhalts, der Erhöhung des Rundfunkbeitrages zuzustimmen, war kein Zwergenaufstand, sondern Teil von Größerem. Am Dienstag legte jedenfalls der »Bundesfachausschuss Wirtschaft, Arbeitsplätze, Steuern« der CDU ein Papier vor, aus dem der Spiegel zitierte: »Langfristig sollten die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten schrittweise privatisiert werden.« Die Privatisierungserlöse wollen die Christdemokraten in einen Medienfonds geben, aus dem einzelne Programminhalte finanziert werden könnten. Bis es so weit ist, »sollte der öffentlich-rechtliche Rundfunk (ÖRR) auf Aufgaben beschränkt werden, die private Anbieter nicht oder nur unzureichend gewährleisten können«. Als Beispiele werden Information, Bildung und Kultur genannt. In Zukunft dürften nicht mehr ganze Sender, sondern nur noch Senderinhalte gefördert werden. Das geht über AfD-Forderungen hinaus und entspricht den Forderungen der Medienmonopole.
    Zwischen ihnen soll der ÖRR, der neulich noch als heiliger Gral der Bundesrepublik und ihrer parlamentarischen Demokratie galt, aufgeteilt werden. Springer, Burda, Bertelsmann, Holtzbrinck und Co. wittern zusammen mit einer US-Schattenbank wie KKR, die bei Springer mit Milliarden Euro beteiligt ist, Morgenluft. Reaktionen der Parteien? Null. Dabei geht es beim ÖRR um eine Institution, für die das Bundesverfassungsgericht 1986 das Stichwort »Grundversorgung« fand. Gemeint waren »die essentiellen Funktionen des Rundfunks für die demokratische Ordnung ebenso wie für das kulturelle Leben in der Bundesrepublik«.
    Nun schließt sich die CDU der AfD-Parole »Weg vom links-grün-rot verseuchten 68er-Deutschland« (Jörg Meuthen 2016 in Stuttgart), die nicht zuletzt dem ÖRR galt, an.
    Wolfgang Michal, freier Autor und Journalist, skizziert im Freitag die Geschichte solcher Attacken auf den ÖRR. Überschrift: »Ein deutsches Fox News droht«. Unterzeile: »Schon immer wollte der Medienkonzern Springer die Öffentlich-Rechtlichen schlagen. Mit Flankenschutz der CDU und Hilfe von Pro sieben/Sat. 1 könnte es bald soweit sein.« Damit ist fast schon alles gesagt. Springer hat seit den 60er Jahren versucht, einen eigenen Fernsehsender zu etablieren, scheiterte aber immer wieder. Der Wahlerfolg Donald Trumps 2016 und dessen Beinahesieg am 3. November sind nun offenbar Anlass, den finalen Angriff zu starten. Michal schreibt, Vorbild dürfte »Rupert Murdochs Fox Corporation sein, die neben Sport und lokaler Berichterstattung jenen berüchtigten News Channel betreibt, der als Tea-Party-Sender, Irak-Kriegstreiber, Trump-Lautsprecher und Covid-Verharmloser Furore machte und mit parteiischer Krawallstrategie zum meistgesehenen Nachrichtenkanal in den USA wurde.« Vor allem aber: Der deutsche und europäische Konzentrationsprozess beschleunige sich angesichts der US-Internetmonopole. Springer und Pro sieben/Sat. 1 stünden »unter gewaltigem Zugzwang«. Es könne sich eine Fusion anbahnen, die vom Umsatz her an die ÖRR heranreiche. Bereits im Januar 2021 wird Claus Strunz (Sat. 1-»Frühstücksfernsehen«) laut Michal in die Bild-Chefredaktion wechseln. Der Freitag-Autor schreibt: »Springer könnte, wenn die Union den etwa in Sachsen-Anhalt angekündigten Flankenschutz durchhält, das ›Linkskartell‹ endlich herausfordern.«
    Ob es so kommt, ist offen, aber die Tendenz eindeutig: Das Magdeburger Verweigererkartell aus CDU und AfD war Vorhut einer reaktionären Strategie. Medienmogul Alfred Hugenberg, der 1933 Adolf Hitler mit zum Reichskanzler machte, liefert das Vorbild: CDU, Springer und KKR sagen offen, dass sie den Mob statt Lesern oder Hörern wollen. Sie benötigen sie.

  196. Machtpoker in Belarus
    Weiter Demonstrationen gegen Lukaschenko. Sicherheitschef warnt vor russischer Einflussnahme
    Von Reinhard Lauterbach
    In Belarus gehen die Behörden nach wie vor mit Festnahmen und Arreststrafen gegen die regierungsfeindlichen Demonstranten vor. Am Sonntag, dem letzten angekündigten Kundgebungstermin vor dem Jahreswechsel, wurden nach Angaben der Polizei rund 100 Demonstranten festgenommen. Das oppositionelle Menschenrechtszentrum Wesna nannte höhere Zahlen. Dabei werden die Repressalien immer wahlloser: Nach Augenzeugenberichten traf es auch Autofahrer, die »unbegründet gehupt« (und so ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht) hatten, wie das Portal Lenta.ru meldete. In Nowopolozk wurde ein Mann mitgenommen, der als Weihnachtsmann verkleidet Kinder unterhalten hatte – vermutlich weil jemand seine rote Mütze mit weißem Bommel als politische Anspielung wahrnahm.
    Was durchaus so gemeint gewesen sein kann. Die Demonstrationen werden kreativer, auch wenn immer weniger Menschen teilnehmen: Videos vom Sonntag, die vom oppositionellen Portal Tut.by dokumentiert wurden, zeigen Gruppen von einigen Dutzend, maximal 200 Teilnehmern mit weiß-rot-weißen Fahnen. Genaue Zahlen werden von keiner Seite mehr veröffentlicht. Die Stimmung bei den Gegnern des Präsidenten Alexander Lukaschenko schlägt offenbar ins Resignative um. In einer vergangene Woche im Deutschlandfunk Kultur gesendeten Reportage wurde eine Aktivistin mit der Aussage zitiert, die Stimmung im Lande sei »frostig« geworden, mit raschen Veränderungen rechne niemand mehr. Viele Aktivisten der ersten Stunde hätten das Land inzwischen verlassen. Eine indirekte Bestätigung liefern von Tut.by am Sonntag veröffentlichte Aufnahmen im Livestream. Die Solidaritätskundgebungen von im Ausland lebenden Belarussen von Moskau über Polen bis in die Niederlande wirkten fast zahlreicher als die Aktionen im Land selbst.
    Im Hintergrund scheint es Gespräche über die Freilassung des noch vor der Präsidentenwahl inhaftierten Exbankers Wiktor Babariko zu geben, der gegen Lukaschenko hatte antreten wollen. Ein ehemals inhaftierter Oppositionsaktivist sagte in einer Sendung des belarussischen Fernsehens, Lukaschenko habe Babariko die Freilassung angeboten, wenn dieser »das Geld zurückzahlt, das er ins Ausland geschafft hat«. Dazu müsste sich der ehemalige Banker allerdings schuldig bekennen, damit er anschließend begnadigt werden könnte. Laut Anklage geht es um eine Summe von mehreren hundert Millionen US-Dollar.
    Über eine solche Lösung soll nach russischen Medienberichten der russische Außenminister Sergej Lawrow unlängst mit Lukaschenko verhandelt haben. Belarussische Medien behaupten, Babariko könnte freigelassen werden, wenn er anschließend nach Zypern emigriere – also sich selbst als potentieller Konkurrent für Lukaschenko aus dem Spiel nehme. Das US-amerikanische »Institute for the Study of War« nannte Babariko am Wochenende bereits Moskaus Wunschkandidaten für die Ablösung Lukaschenkos.
    Solche Spekulationen gewinnen an Plausibilität angesichts einer Rede, die der Chef des belarussischen KGB, Iwan Tertel, vor einigen Tagen vor Beschäftigten der Chemiefabrik Grodno Asot hielt. Dort kündigte er laut Lenta.ru an, die »russischen Strippenzieher« hinter Babariko zu enttarnen, und warnte vor der Gefahr, dass Belarus unter russische Kontrolle geraten könne. Dies wäre dann, so Tertel, eine »sehr ernste Situation«. Im Klartext: Lukaschenko scheint durch den Mund seines Sicherheitschefs darum zu werben, dass ihn der Westen als kleineres Übel gegenüber der Option größeren russischen Einflusses in Belarus unterstützen oder wenigstens tolerieren möge. Einstweilen sieht es nicht danach aus: Die EU hat vergangene Woche ihre Sanktionsliste gegen Belarus ausgeweitet. Sie umfasst inzwischen acht Unternehmen vorwiegend aus dem Sicherheitsbereich sowie etwa 25 Einzelpersonen aus Lukaschenkos Umfeld.

  197. Festival der Demagogie
    Konfliktpunkt Nationalbank: Parlament von Moldau steht vor seiner Auflösung. Designierte »proeuropäische« Präsidentin Maia Sandu unter Druck
    Von Reinhard Lauterbach
    Am Donnerstag soll die »proeuropäische« Maia Sandu als neue moldauische Präsidentin vereidigt werden, nachdem sie im November die Wahl gewonnen hatte. Aber noch haben die bei der Präsidentenwahl unterlegenden Sozialisten die Mehrheit im Parlament. Diese nutzen sie, um der neuen Staatschefin noch ein paar unwillkommene Eier ins Nest zu legen.
    So wurde am vergangenen Mittwoch ein folgenreiches Gesetz beschlossen: Die Steuerzahler des Landes müssen für den Bankenskandal von 2014 zahlen. Damals hatten die größten Banken von Moldau, die Banca Sociala, die Banca de Economii und die Unibank, Geld ins Ausland transferiert und standen deshalb kurz vor dem Konkurs.
    Insgesamt ging es um 13,6 Milliarden Lei (seinerzeit etwa eine Milliarde US-Dollar). Die Profiteure dieses Deals waren die oligarchischen Eigentümer der Banken. Dennoch malten sie das Schreckgespenst einer Bankenkrise an die Wand. Sie warnten davor, dass durch einen Konkurs die ­Republik Moldau ihre Kreditwürdigkeit verlieren könnte.
    Die Regierung reagierte: Die Nationalbank sollte für die Schulden der drei Banken Garantien abgegeben. Allerdings überstiegen diese das Eigenkapital der Staatsbank. Damit wurde die Notenbank faktisch zur »Bad Bank«. Das wäre kein Problem gewesen, wenn man die Banken hätte zwingen können, die Garantien in den nächsten Jahren zurückzahlen. Aber wie hätten die Banken das tun sollen? Das Geld war weg. In der Folge machten der IWF und die Weltbank Druck und drängten die moldauische Regierung dazu, die Verluste der Banken in Staatsschulden umzuwandeln.
    Die Regierung fügte sich. Technisch ging man so vor: Die Regierung gab Staatsanleihen in Höhe der Garantien aus und überschrieb sie der Nationalbank. Diese neuen Staatsschulden müssen in den nächsten Jahrzehnten bei der Nationalbank begleichen werden – natürlich durch die Steuerzahler des Landes. Die Konditionen der Anleihen waren moderat. Sie haben eine Laufzeit von 25 Jahren. Für Papiere, die eine Laufzeit von bis zu neun Jahren haben, liegen die Zinsen bei 1,4 Prozent. Und bei 5,2 Prozent für Anleihen, die erst später zurückgezahlt werden sollen. Die lachenden Dritten waren die Banken, die sich aus öffentlichen Mitteln rekapitalisieren konnten – sehr zur Freude der Eigentümer Vladimir Plahotniuc und Ilan Shor.
    Die moldauischen Sozialisten hatten in den letzten Jahren die parlamentarische Mehrheit, aber erst jetzt entdecken sie ihr Herz für die gebeutelten Steuerzahler. Zuvor wollten sie sich offenbar nicht mit den internationalen »Geldgebern« anlegen. Die russische Nesawisimaja Gaseta vermutet, dass sich die moldauischen Parlamentarier bereits im Wahlkampfmodus befinden. Denn Sandu hat vor, das Parlament möglichst schnell aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Sie hat die Hoffnung, ihren Erdrutschsieg vom 21. November zu wiederholen. Anschließend könnte sie das Land Richtung EU, NATO und Rumänien steuern.
    Mit Blick auf die Wahlen haben die Sozialisten mit ihrer Mehrheit gegen eine Sanierung der Nationalbank mit Mitteln aus dem Staatshaushalt gestimmt. Des weiteren haben sie einige populäre Gesetze beschlossen – die Absenkung des Rentenalters auf 54 Jahre etwa. Und Gelder, die aufgrund der Aussetzung des Schuldendienstes für die Sanierung der Nationalbank frei geworden waren, wurden als Dürrehilfe für moldauische Agrarunternehmer ausgegeben, die jüngst mit ihren Traktoren die Straßen der Hauptstadt Chisinau blockierten.
    Mit diesen populären Maßnahmen setzen die Sozialisten die designierte Präsidentin Sandu unter Zugzwang. Die Opposition hatte kürzlich vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf Agrarprodukte zu erhöhen, um die Sanierung der Nationalbank fortzusetzen. Solche Vorschläge sind unpopulär, bei Bauern und Verbrauchern gleichermaßen. Nur: Der plötzliche Aktivismus der sozialistischen Parlamentarier wirkt wie eine Politik der Wahlgeschenke – und damit unglaubwürdig. Es ist fraglich, ob sie im Wahlkampf weiterhin so auftreten werden. So oder so: Der Wahlkampf in Moldau mit der Kontroverse um die Nationalbank dürfte ein »Festival der Demagogie« werden.

  198. Ich entnehme dem Beitrag zu Moldawien, daß es dort sehr unseriös zugeht.
    Aber was da genau mit den Banken war und dem ins Ausland „transferierten“ Geld, erschließt sich mir nicht. Wurde da Geld geklaut und in Zypern oder Lettland verstaut?
    Und warum der IWF das offenbar gut findet? und Druck macht?
    Den Beitrag über die Drohnen habe ich dorthin verschoben, wo er hingehört. Bitte etwas genauer posten, weil das macht Arbeit.

  199. Auch die wiederholten, etwas halbseidenen Hinweise des Autors, daß Rußland Lukaschenko gerne los wäre, werden durch meine Lektüre russischer Zeitungen nicht gestützt.
    Der ist irgendwie unersetzlich. Also, es gibt niemanden, der die gleiche Autorität im Lande hätte, um seinen Job zu übernehmen.
    Es geht der russischen Führung darum, ihn auf einen rußlandkompatibleren Kurs zu bringen.

  200. Ein anderer Twitter-Nutzer erregt sich: “Unglaublich. Wieso schicken wir nicht gleich alle unsere Daten an die CIA?”

    Ich wäre nicht so sicher, daß das bisher nicht geschehen ist.

    Etwa in Bezug auf die Ukraine sei es Bidens Einstellung, dass es eine Art Schutzschild Europas vor der “russischen Aggression” sei und vor den Angriffen eines “autoritären Mordor” geschützt werden müsse.

    War da nicht etwas mit seinem Sohn und irgendwelchen Unternehmungen desselben in der Ukraine?
    Die USA betrachten seit Clinton die Ukraine als eine Art Stützpunkt und Trampolin für anti-russische Aktivitäten, und Biden Junior scheint da eine Art Oligarchen-Köder zu sein.

  201. Das Sanktionsregime der USA unter Trump (z.B. gegen Iran, z.B. gegen Cuba) hatte seine innere Logik ja darin, dass Sanktionen nur dann funktionieren können, wenn sie gleichzeitig Kompensations- bzw. Ersatzmaßnahmen ausschließen (anstatt so neue Geschäftsmöglichkeiten für z.B. Europäer zu eröffnen).
    https://amerika21.de/2020/10/244845/schweizer-banken-blockade-kuba
    Insofern waren davon unter anderem auch europäische Banken, Wechselstuben, Geldtransfers etc. betroffen. Darin wurden europäische Staaten mitverpflichtet, und so mitgetroffen, damit die nicht dadurch ihr Süppchen köcheln lassen können sollen…
    Trumps offizielle Position ging in die Richtung, dass man Cubas staatliche Politik viel stärker behindern müsse, damit so der cubanische Staat zerstört werde. Obama sei darin halbherzig vorgegangen, wenn nicht sogar gegen amerikanische Interessen. Statt einer “Lockerung” sei eine “Verschärfung” angebracht, denn man müsse nun die letzten Sargnägel auch wirklich mal dort einschlagen. (So ähnlich lautete seine Rhetorik.)
    Beim Thema Iran schien er es auch auf eine Eskalation ankommen lassen zu wollen. Zumindstens, nachdem ein neuer Kriegsminister ins Amt gehievt wurde, dem solche Ambitionen vorausgingen.
    https://www.dw.com/de/iran-kommt-ein-atomabkommen-plus/a-55956445
    Getrennt davon gab es aber sowieso auch Wirtschaftssanktionen gegenüber den “Verbündeten”, die immerzu Amerika hätten schädigen wollen, und deswegen mit neuen Zöllen auf französischen Käse, deutschen Stahl o.ä. bestraft werden müssten.
    Biden will angeblich weniger Staaten mit Sanktionen belegen. Sondern vor allem die entsprechenden Unternehmen, die eben Amerika schädigen würden. (Wieso sollen Weltmarktunternehmen, die die USA als Markt benutzen wollen, den Zweck haben können, die USA schädigen zu wollen?)
    Versteht jemand die Differenz zwischen den Positionen von Trump und Biden? Biden will sich anscheinend zunächst mal nicht so frontal mit “Verbündeten” anlegen. Sondern anstatt des “unberechenbaren” Trump’schen Sanktionsregimes ein allseitiges Überprüfungsregime installieren. (Oder was ist gemeint?)
    vgl. auch diese US-Debatten bzgl. Politikwechsel gegenüber Kuba
    https://amerika21.de/2020/12/246310/us-experten-fordern-neue-kubapolitik
    https://amerika21.de/pressespiegel/24

  202. @Leser

    Wieso sollen Weltmarktunternehmen, die die USA als Markt benutzen wollen, den Zweck haben können, die USA schädigen zu wollen?

    So geht eben die imperialistische Konkurrenz, daß jeder Staat Zugriff auf den Reichtum der anderen haben will.
    Wenn ein Unternehmen aus Staat X den Staat Y als Markt benützt, so heißt das, daß es dort Geschäfte macht, Kaufkraft an sich zieht und möglicherweise die Gewinne repatriiert.
    Der IWF sorgt mit seinen Maßnahmen dafür, daß das auch möglich ist und die Währungen in diesem Sinne konvertibel sind.
    Wenn also ein deutsches Unternehmen etwas nach Kolumbien verkauft oder dort eine Fabrik hinstellt, so muß gewährleistet sein, daß es die Gewinne wieder in einer Weltwährung abtransportieren kann.
    Wenn also ein Land dauerhaft als Markt hergerichtet wird – siehe Lateinamerika –, so heißt das auch, daß dort keine entsprechenden Produktionsanlagen „nötig sind“, weil alles importiert wird.
    Dagegen habe sich ja Chávez und andere zur Wehr zu setzen versucht.
    Trump hat das gleiche für die USA machen wollen – Konkurrenten raus und eigene Produktion hochziehen! Er mußte feststellen, daß das aufgrund der sehr verflochtenen Weltwirtschaft nicht so einfach ist.
    Biden hat m.E. noch gar kein diesbezügliches Programm.

  203. Es ging mir um die angebliche Differenz zwischen den Programmen, Staaten sanktionieren zu wollen. Oder eben Unternehmen sanktionieren zu wollen. Diese Differenz wurde aus dem Umfeld von Biden als Neuerung seiner Politik gemeldet. Und den Gehalt dieser Differenz verstehe ich nicht. (Gegen deine Ausführungen habe ich aber gar nichts.)
    Dass auch Biden verkünden lässt, dass es ihm um die amerikanische Bevölkerung dabei gehe, stimmt ja.
    “Er wolle “Außenpolitik für die Mittelschicht” machen, hat Biden oft gesagt. Seine Handelspolitik, so lässt sich das verstehen, soll nicht nur den globalisierten Eliten gefallen, sondern auch dem “Heartland”, dem amerikanischen Kernland nützen. Das könnte aus Sicht der Europäer bedeuten, dass die Zeit der Zölle noch lange nicht vorbei ist.” (ARD, tagesschau)

  204. Es hat sich allgemein in den Medien eingebürgert, daß Prophezeiungen als wahre Wissenschaft gelten, wohingegen tatsächliche Fakten kaum interessieren.
    So sind Zukunftsforscher und Trend-Aufspürer hoch im Kurs, und man macht Leute mit Werbesprüchen: Kaufen sie sich heute eine Immobilie, morgen ist sie schon teurer! – zu Kunden der Immobilienhaie und der Banken.
    Voraussagen und Perspektiven zu BIP und Unternehmensgewinnen lassen die Börsen tanzen, wen interessiert schon das fade Heute oder das noch fadere Gestern!
    Man sollte sich dem nicht allzusehr anschließen.
    Was Biden und seine zukünftige Mannschaft vorhaben, weiß man nicht.
    Man kann nur sagen, daß der nächste Präsident vor den gleichen Herausforderungen wie Trump steht, Amerika angesichts seiner Rivalen „wieder groß“ zu machen oder zumindest den Abstieg zu bremsen.

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