Pressespiegel Komsomolskaja Pravda, 22.7.: Coronavirus in Rußland

DAS EPIZENTRUM DER CORONAVIRUS-ERKRANKUNGEN VERLAGERT SICH VON MOSKAU IN DIE REGIONEN
„Das Risiko einer COVID-19-Infektion in Russland ist nach wie vor hoch
Sogar das Coronavirus erwies sich vor so einer machtvollen Erscheinung wie dem russischen Vertrauen ins eigene Glück als schwächlich. Nach dem Ende der Zeit der Selbstisolation ignorieren die Menschen geradezu genießerisch Sicherheitsmaßnahmen: Sie vergessen die medizinischen Masken, feiern den Sieg über das Coronavirus in zahlreicher Gesellschaft und ignorieren die Anforderungen der sozialen Distanzierung.
Ist es nicht zu früh, um die Zügel derartig schleifen zu lassen? Diese Frage haben wir Artyom Gil gestellt, Professor am Institut für Gesundheitsmanagement an der Setschenov-Universität.
Wenn Sie sich die Statistiken ansehen, dann ähnelt die Situation dort einer Fläche mit einem sehr langsamen, kaum wahrnehmbaren Aufwärtstrend – sagt Artyom Jurjevitsch.
Es besteht jedoch das Gefühl, dass eine beträchtliche Anzahl infizierter Personen gar nicht in die Statistik eingeht (z. B. gehen sie nicht mit leichten Atemwegsbeschwerden zum Arzt). Darüber hinaus sind sogar die offiziellen Zahlen – etwa 6500 neu registrierte Fälle im Land pro Tag – sehr hoch. Es gibt in der Tat immer noch ein hohes Infektionsrisiko. Es gibt Regionen, in denen eine angespannte Situation bezüglich der Bettenkapazität besteht. Daher glaube ich, dass Menschen völlig grundlos aufhören, vorbeugende Maßnahmen zu beachten. Dies schafft das Potenzial für einen zukünftigen Ausbruch. Wenn in solchen Regionen, in denen die Bettenversorgung bereits jetzt nicht ausreichend ist, auch nur ein kleiner Ausbruch auftritt und die Anzahl der Patienten zunimmt, kann das Gesundheitssystem eine solche Belastung nicht bewältigen.
KP: Die Ansicht ist weit verbreitet, dass die Coronavirus-Epidemie in Moskau nachlässt, aber das Epizentrum sich in die Regionen verlagert. Ist das wirklich so?
Zum Teil ja, die Infektion hat sich im ganzen Land verbreitet. Nach meinen Vermutungen begann die Ausbreitung des Coronavirus außerhalb Moskaus nach den Maifeiertagen. Jedes Jahr gibt es Anfang Mai eine massive Abreise aus Moskau von denen, die in die Hauptstadt gezogen sind, um dort zu arbeiten. Das gleiche passierte dieses Jahr. Heute sehen wir wirklich mehrere lokale Epizentren, hauptsächlich im Norden Russlands – den Autonomen Kreis Chanty-Mansi, den Autonomen Kreis Yamalo-Nenzien, das Gebiet Murmansk …
Das bestätigt übrigens die Hypothese der Saisonalität von Covid-19. Im Norden ist es jetzt, anders als in Zentralrussland, feucht und kühl, und das Virus verbreitet sich dort schneller. Im Herbst trägt das Wetter nach unseren Maßstäben zur Situation vor der Krise bezüglich der Bettenkapazität und des Mangels an medizinischem Personal bei. In Moskau gibt es zwar eine überdurchschnittliche Sterblichkeit, aber wir beobachten keine Überlastung des Gesundheitssystems.
KP: Was ist, wenn die zweite Welle des Coronavirus kommt?
Selbst wenn es eine zweite Welle gibt, ist die Überlastung des Moskauer Gesundheitssystems kaum zu erwarten, da die Hauptstadt einen Mechanismus für den raschen Einsatz von Covid-Betten eingerichtet hat. Es ist klar, daß wir Todesfälle nicht vermeiden können, weil es noch keine wirksame Behandlung für diese Infektion gibt.
Andererseits gibt es Anzeichen für eine Mutation des Virus, es gibt Hinweise darauf, dass es weniger bösartig wird. Daher kann man erwarten, dass die zweite Welle weniger tödlich ist als die erste. In Moskau gibt es immer noch keine Anzeichen für die ernsthafte Situation, die am Anfang stand. Aber in der Provinz entstehen neue Epizentren. Deshalb kann man nicht Entwarnung geben, das Infektionsrisiko ist immer noch sehr hoch.“
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In Rußland wurde lange das Augenmerk auf diejenigen Personen gelegt, die von China einreisten – ob zu Land oder in der Luft.
Das Coronavirus wurde jedoch von russischen Touristen aus Westeuropa eingeschleppt und verbreitete sich in Moskau, bevor die Quarantäneregeln in Kraft traten.
Und von dort eben offenbar weiter.
Die Zahlen aus Rußland lauten:
Bestätigte Fälle: 789.190
Genesen: 572.053
Todesfälle: 12.745
Durchgeführte Tests: 25 704.372
Neue nachgewiesene Infizierte seit dem Vortag: 5862
Quelle: Jandex, „Coronavirus in Rußland“
Auffällig ist die hohe Testrate und die geringe Todesrate.
Wenn man Rußland (146.877.088 Einwohner mitsamt Krim, nach der Volkszählung 2018)) mit den USA (geschätzte 330 Millionen) vergleicht, wird das besonders auffällig:
Bestätigte Fälle: 3 903.684
Genesen: 1,888,787
Todesfälle: 142,095
Durchgeführte Tests: 47 224 382
Neue nachgewiesene Infizierte seit dem Vortag: 4,473
Quelle: United States COVID-19 Statistics
Die USA testen auch sehr viel, aber sowohl die Zahl der noch aktiven Fälle als die der Todesfälle ist weitaus höher, sowohl im Vergleich mit der Einwohnerzahl als auch im Vergleich mit den bestätigten Fällen. Lediglich der Anstieg der Infiziertenzahlen ist geringer.

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