Marktwirtschaft im Postsozialismus

Verkaufserfolge bei einem Mobiltelefon
In der Népszabadság erschien heute ein Artikel mit folgendem Titel: „Die armen Ungarn reißen sich um das Millionentelefon. Die Ungarn kauften ca. 100 Stück des Luxustelefons. Wo ist hier die Krise? Von dem Tag Heuer Meridiis Telefon, das 1 Million Forint (= 3.612 Euro) kostet, wurden bereits 100 Stück verkauft … Es wird in begrenzter Stückzahl und händisch gefertigt.“
Was lernen wir daraus?
Erstens: Es gibt ein teures Handy, das für Leute, die Wert auf Statussymbole legen, verkauft wird. Weil telefonieren kann man ja schnell einmal mit einem Handy. Die Funktion ist offensichtlich nicht das, worauf es ankommt. Aber eines, das mit Diamanten besetzt ist, und wegen einer teuren Speziallegierung garantiert kratzfest ist, hat eben nicht jeder, sondern nur der, der es sich leisten kann. Und die leisten es sich, damit sie damit zeigen können: Wir sind keine Loser, sondern wir haben die Zeichen der Zeit verstanden, und es durch unsere persönliche Tüchtigkeit zu etwas gebracht.
Zweitens: Der Artikelschreiber der Népszabadság (es ist kein Autor angegeben, der Artikel ist also in völliger Übereinstimmung mit der Blattlinie) meint einen Widerspruch zwischen dem allgemein schlechten Zustand der ungarischen Wirtschaft und der Armut im Lande einerseits und dem Verkauf dieses Mobiltelefons andererseits festhalten zu müssen.
Das ist eine wirkliche ideologische Schweinerei.
Ungarische Paupers und Sozialhilfeempfänger, aufgemerkt: Ihr seid gar nicht arm, weil es gibt im Lande Reiche, die für einen teuren Schmarrn jede Menge Geld hinlegen.
Nach zwanzig Jahren Kapitalismus im Land hat sich in Ungarn, genauso wie anderswo auch, eine Klassengesellschaft entwickelt. Es gibt Eigentümer, Unternehmer, die aus Handel und Ausbeutung von Lohnabhängigen Geld verdienen und reich geworden sind. Die haben jede Menge Kohle, und ihre Geschäfte gehen so gut, daß sie Geld in solchem Überfluß haben, daß sie es für jeden Tand zum Fenster hinauswerfen können.
Das erscheint dem Autor der Népszabadság als Widerspruch. Er will offenbar damit die Illusion nähren, daß Kapitalismus, pardon, Marktwirtschaft, etwas ist, das jedem im Lande zugutekommt. Wenn es nicht so ist, so muß es korrupte Politiker oder sonstige Betrüger geben, die die Segnungen der Marktwirtschaft verhindern.
„Krise“, darüber belehrt uns die Népszabadság, ist ein nicht vorhergesehender Betriebsunfall des besten aller Wirtschaftssysteme. Im Grunde, so tut der Artikel, gibt es ja gar keine Krise, sondern Geld ist eh da. Es wird nur für das Falsche ausgegeben.
Schließlich fällt der Tonfall dieses Artikels auch in den Chor derjenigen ein, die meinen, die Menschen hätten sowieso die falschen Bedürfnisse. Es wäre ja genug für alle da, aber die Leute geben ihr Geld für irgendeinen Unfug aus, und deshalb haben sie kein Geld für Milch, Brot und Schuhe. Die Botschaft ist die: Wären die Leute doch vernünftig, so gäbe es gar keine Armut, und jeder könnte sich alles leisten. Aber weil das Volk so deppert ist, deswegen fehlt es vielen am Nötigsten.
Es werden also die Luxus- und Angeberei-Bedürfnisse der frischgebackenen Kapitalisten und demokratisch gewählten Politiker Ungarns für eine Beschimpfung des blöden Völkes verwendet.
Zusammenfassend kann man sagen: Die Népszabadság meint, die Sache mit der Armut in Ungarn ist einerseits erfunden, eigentlich hätte eh jeder Geld. Weiters, sofern doch vorhanden, ist sie selbstverschuldet, weil im Grunde kann man sich das Geld, das man hat, ja einteilen. Das schaffen aber die dummen Ungarn nicht, und deswegen kommen sie zum Handkuß. Im Grunde ist der Artikel eine Publikumsbeschimpfung, und zwar der Armen über die Bedürfnisse der Reichen.
Dieser Artikel behandelt die angebliche Unfähigkeit des postsozialistischen Bürgers für die Marktwirtschaft anhand des Konsums. Es gibt immer wieder auch Artikel, die die Unfähigkeit des Ungarn für Geschäftstätigkeit behandeln. Vielleicht find ich dafür auch einmal etwas für diesen Blog. In beiden Fällen geht es um den gleichen (rassistischen) Beweis: Die Ungarn sind für die Marktwirtschaft deformiert, aufgrund ihres langen Schmachtens unter dem Joch des Sozialismus. Das ist der Grund, warum es in Ungarn Armut und Elend gibt: Die Leute können einfach dieses Super-Wirtschaftssystem nicht begreifen und seine Vorzüge nicht anwenden und verwerten. Umso mehr sind wir, die Apologeten der Marktwirtschaft, dazu aufgerufen, dieses feine System weiter zu propagieren und zu versuchen, die armen verkümmerten Ungarn dazu zu erziehen!
Für Leute, die sich in Ungarn nicht auskennen: „Népszabadság“ bedeutet „Volksfreiheit“. Die Népszabadság war das offizielle Parteiorgan der „Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei“, der Staatspartei Ungarns. (Von Kommunismus wollten diese Partei in ihrer Namensgebung nix wissen.) Im ungarischen Medienspektrum gilt sie als „links“, sogar als die linke Tageszeitung per se.
Ha magyar anyanyelvűek is szeretnének részt venni ebben a blogban, de nem tudnak eléggé jól németül – semmi gond! Nyugodtan szóljanak hozzá magyarul, én majd fordítom és németül válaszolok.
Für Deutschsprachige: Der obige Text heißt nur, daß Ungarn sich auch beteiligen sollen.

Ein Arschloch weniger auf der Welt

TOD EINES MARKTWIRTS

Heute ist der Jegor Gaidar abgenibbelt.

Viele Russen werden sagen: Endlich!
Obwohl, allen Schaden, den er anrichten konnte, hat er schon lange angerichtet gehabt. Er hat sich sozusagen, wie man so schön zu sagen pflegt, selbst überlebt.

Wofür stand der „Vater der russischen Marktwirtschaft“?

Mit der von ihm als Regierungschef beschlossenen Freigabe der Preise im Januar 1992 leitete er endgültig die Herrschaft des Geldes in Rußland ein. Was die Perestrojka, das „trockene Gesetz“ und die Pavlovsche Reform geleistet hatten – eine gründliche Zerstörung des sowjetischen Wirtschaftssystems – das führte Gaidar zu Ende: Er verpflichtete alle Leute darauf, in Zukunft mit allen Mitteln an Geld zu kommen, indem er ihnen erst einmal alles wegnahm. Wer nicht irgendwo schon Devisen in der Matratze gehortet hatte, verlor durch die galoppierende Entwertung des Rubels sein ganzes Geldvermögen und wurde dadurch mittellos.

Gaidars Reform schuf die eine Voraussetzung einer erfolgreichen Marktwirtschaft: flächendeckende Armut, es lag aber nicht in seiner Macht, sich um die andere Seite des funktionierenden Kapitalismus’ zu kümmern: Akkumulation von Reichtum auf der anderen Seite, um dann diese Armut produktiv einsetzen zu können, mit Ausbeutung nämlich. Das war dann in den nächsten Jahren das Geschäft der Oligarchen, der Paten – „gesetzlichen Diebe“, mit einem Wort, der neuen Unternehmerklasse, die in den westlichen Medien oft mit dem häßlichen Namen „russische Mafia“ bedacht wurde.

Die Figur Gaidars wirft allerdings auch ein schlechtes Licht auf die untergangene Sowjetunion, wenngleich anders, als die Nachrufe es vermelden. Wie ist es möglich, daß jemand, der 1978 mit Auszeichnung als Ökonom auf der Lomonossow-Universität promovierte und dann als Wirtschaftsexperte für die Pravda schrieb, schließlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Einführung der Marktwirtschaft die Zukunft der russischen Wirtschaft sah? Was haben die ihm eigentlich beigebracht auf der Lomonossow-Uni? Was hat er als ultima ratio der Ökonomie im Sprachorgan der Kommunistischen Partei Rußlands verbreitet? Offenbar eine große Bewunderung des Geldes als Zwangsmittel für die Bevölkerung, und eine ebenso große Bewunderung der „Effizienz“ desjenigen Wirtschaftssystems, das es versteht wie kein anderes, seine Bevölkerung für den Dienst am Kapital einzuspannen. Typen wie Gaidar gab es zuhauf als Absolventen und Lehrende sozialistischer Ökonomie-Lehrstühle, die ihre Bewunderung für die westliche Reichtumsproduktion im offiziellen Diskurs mit einem marxistisch-leninistischen Phrasenkostüm verhüllten und ihre Unzufriedenheit über die Unzulänglichkeiten ihrer eigenen „Planwirtschaft“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit heraushängen ließen.

Damit kann man über den untergegangenen Realsozialismus einmal eines erschließen: Wohlstand für Alle! war nicht sein Programm, sondern die werten Werktätigen sollten mit ihrer Arbeit nationalen Reichtum mehren und den Staat groß machendafür wurde dort geplant und schließlich diese Planwirtschaft endgültig kaputtrefomiert.
In den Nachrufen auf Gaidar wurde behauptet, die Freigabe der Preise hätte eine Hungersnot verhindert.
Wie soll denn das gehen? Wie soll der Umstand, daß man die Leute nötigt, alles für Geld zu kaufen, gleichzeitig aber eine völlige Entwertung dieses Geldes einleitet – wie soll das Hunger verhindern?

Das Gegenteil ist doch der Fall: Die Preisreform hat dafür gesorgt, daß in den nächsten Jahren jede Menge Leute verhungert und erfroren sind. Aber sie waren über das ganze Land verstreut, alt, krank und isoliert, oder Kinder, sie machten keinen Aufstand, sondern starben still, sie gefährdeten das zarte Pflänzchen der russischen Marktwirtschaft nicht.
Es waren auch keine UNO-Organisationen zur Stelle, oder NGOs, keine Medienfritzen, die Hunger, Armut und Krankheit in Sibirien vor die laufenden Kameras brachten und zu Spendenaktionen aufriefen. Denn diese Hungertoten Rußlands waren keine „unschuldigen Opfer“ von Naturkatastrophen oder „Regimes“, sondern die notwendigen Unkosten der Einführung des besten aller Systeme, des Kapitalismus, in einem Land, das sich ihm verbrecherischerweise jahrzehntelang verweigert hatte.
Gaidar ist tot, aber sein Werk hat ihn überlebt.

Was kann sich ein Nationalökonom Schöneres wünschen!

Neue Gefahren fürs Vaterland

STERBEN DIE UNGARN AUS?
In einem Artikel in der „Népszabadság“ wurde kürzlich der bedenkliche Umstand vermeldet, daß die Bevölkerung Ungarns immer weniger wird und dann folgten besorgte Überlegungen, wo das denn hinführen möge!
Da solche und ähnliche Meldungen regelmäßig in den Medien aller Länder auftauchen, oft auch mit der einhergehenden Gefahr der „Überfremdung“ verbunden, so einmal ein paar Gedanken zu diesem Thema angebracht.
Erstens: Die Staaten haben allesamt ein Problem. Sie brauchen zwar Staatsbürger, die den nationalen Reichtum erarbeiten, Steuern und Abgaben zahlen und als Soldaten zur Verfügung stehen, aber sie können bzw. wollen die nicht selber machen. So wie in Huxleys „Schöner Neuer Welt“, wo die Kinder in der Retorte erzeugt werden, geht es in modernen Staaten nicht zu, obwohl das heute nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft und Technik durchaus möglich wäre.
Nein, die Politiker weltweit halten es aus moralischen und staatsnützlichen Erwägungen für weitaus besser, kostengünstiger und zielführender, die gesellschaftliche Reproduktion im Privatbett geschehen zu lassen. Eltern sollen sich selber bemühen, die Kosten auf sich nehmen und ihren Nachwuchs selber Mores lehren. Völlig der Willkür der Eltern wird es zwar nicht überlassen, mit ihren Kindern zu machen, was sie wollen, deshalb gibt es eine Schulpflicht, und falls das alles nicht so recht hinhaut, auch eine Jugendfürsorge und ein Vormundschaftsgericht.
Aber das allgemeine Urteil der Politiker aller Parteien ist, daß die Familie als Keimzelle des Staates sich bewährt hat, und auch ihre modernen Verlängerungen wie alleinerziehende Mütter, Patchwork-Familien oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften immer noch der fließbandmäßigen Produktion von Retortenbabys vorzuziehen sind.
Bei dem regelmäßigen Gejammer von verantwortlichen Denkern aus Politik und Wissenschaft, daß die lieben Staatsbürger leider zu wenig Kinder machen und die Familien doch besser gefördert gehören, um diesen Trend aufzuhalten, ist ein leichter Widerspruch zu dem Umstand festzuhalten, daß am Arbeitsmarkt immer „zu viele Leute“ da sind. Arbeitslosigkeit wird beklagt, und es fehlt nicht an Informationen darüber, daß unsere Wirtschaftsordnung, – die Marktwirtschaft bzw. der Kapitalismus –, in einem fort Menschen überflüssig macht.
Also was jetzt? Gibt es zu wenig oder zu viele Staatsbürger?
Es bleibt daher an der Klage um zu wenig Neuzugänge im Staatsbürgerverband der Zynismus festzuhalten, mit dem einerseits das Schrumpfen des Staatsvolks beklagt wird, andererseits aber auch klar ist, daß gleichzeitig ein jeder schauen muß, wo er bleibt und Arbeitslose, Sozialfälle und Sandler in großen Mengen erzeugt werden. Es ist also recht und wahrscheinlich auch erwünscht, daß es immer eine große „industrielle Reservearmee“ gibt, die auf den Preis der Arbeit der Beschäftigten drückt und letztere noch stärker erpreßbar macht, jede Arbeit für jeden Lohn zu machen. Zweitens kann man an diesen Zynismus auch noch die in der Demokratie sehr populäre Lüge anhängen, daß es ja eigentlich genug Arbeit für alle gäbe, wenn die Leute „nur arbeiten wollten“ und daß die Ausgesteuerten an ihrer unerfreulichen Lage im Grunde selber schuld sind.
Schließlich ist als Bilanz der letzten 2 Jahrzehnte festzuhalten, daß die Geburtenrate in ganz Europa, zumindest was die „Einheimischen“ angeht, rückläufig ist: Lohndrückerei, Arbeitshetze, der Umstand, daß eine Familie selten mit einem Gehalt zu ernähren ist und in den meisten Fällen beide Eltern arbeiten müssen, haben vielen den Kinderwunsch verleidet, oder den Nachwuchs auf ein Exemplar pro Eltern reduziert.
In Staaten, in denen die Kapitalakkumulation funktioniert und flotte Gewinne gemacht werden, zieht der doch noch aufsaugfähige Arbeitsmarkt jede Menge Habenichtse aus aller Herren Länder an, die dann dort in oft sehr prekären Arbeitsverhältnissen ihr täglich Brot verdienen. Der Bevölkerungsschwund erhält also durch Zuzug ein Gegengewicht, was wieder das Wasser auf die Mühlen rechter Politiker treibt, die den Rassismus in der Bevölkerung schüren, um in der demokratischen Parteienkonkurrenz zu punkten.
In den meisten postsozialistischen Staaten, so auch in Ungarn, ist das nicht der Fall. Der Vormarsch des Kapitalismus hat dort die sozialistische Industrie und Landwirtschaft zerstört und einige Produktionsinseln errichtet, verlängerte Werkbänke erfolgreicher Unternehmen aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich usw. Man kann gar nicht mehr sagen: „westlich“, weil inzwischen ist ja alles „westlich“, also kapitalistisch. Mit unterschiedlichen Erfolgsraten allerdings.
Es strömen deshalb in Staaten wie Ungarn verhältnismäßig wenig zusätzliche Bewohner hin, viele Ungarn suchen jedoch ihr Glück im Ausland, weil sie das Hungerleiderdasein zu Hause satt sind. Zur rückläufigen Geburtenrate gesellt sich also auch noch eine hohe Abwanderung.
Und daher jetzt Sorgenfalten bei ungarischen Patrioten: Gehen „wir“ unter im slawischen Meer? Werden „wir“ überwuchert von Zigeunern, die eigentlich gar nicht zu „uns“ gehören?
In der Népszabadság macht sich zunächst wieder einmal András Gerő Gedanken über den Bevölkerungsschwund. (Der Mann wäre ein chancenreicher Kandidat für einen publizistischen Dummheitspreis, wenn er unter den Beitragsleistern für ungarische Zeitungen nicht so viele Konkurrenten hätte.) Er macht sich auf die Suche nach Gründen für die mangelnde Fortpflanzungslust:
„Das größte Übel in Ungarn ist, daß die Menschen früher sterben und bei weitem nicht auf einem solchen Niveau leben wie in der Union. Wir verstehen es nicht, gut zu leben, und das ist nicht nur eine wirtschaftliche Frage.“
Was soll man sich dazu denken? Wenn man früher stirbt, macht das bei einer scheinbar durchschnittlichen Reproduktionsrate von einem Kind pro Jahr – wie es ja offenbar durchaus üblich zu sein scheint – im Schnitt natürlich weniger Kinder aus. Oder meint Gerő, daß es zu wenig alte Leute gibt in Ungarn und daraus das demographische Problem entsteht? Der erste Teil seiner scharfsinnigen Analyse bleibt im Dunkeln. Um so mehr, als er etwas weiter unten fragt: „Wer wird einmal die Pensionisten erhalten?“
Dann ist die Lebensqualität in Ungarn angeblich schlechter als in der „Union“. Hierbei scheint es Gerő entgangen zu sein, daß Ungarn bereits seit mehr als 5 Jahren Mitglied der Europäischen Union ist, und daß der mickrige Lebensstandard im Land durchaus etwas mit diesem Umstand zu tun hat. Der EU-Beitritt hat nämlich auf Produktion, Preisniveau und Beschäftigung in Ungarn alle möglichen negativen Folgen gehabt. Davon wollen aber so Typen wie Gerő nichts wissen, denn für die ist der Kapitalismus und die EU eine feine Sache, und wenn in Ungarn keine blühenden Landschaften entstehen, sind natürlich die Ungarn selber schuld, weil sie mit den Segnungen der Marktwirtschaft nicht richtig umgehen können. Unter anderem verstehen sie es eben nicht, „gut zu leben“:
„Wir trinken zum Beispiel zu viel und essen zu wenig Obst, obwohl der Alkohol teurer ist als der Apfel“. Was den Kilopreis betrifft, könnten den Herrn Gerő viele ungarische Alkoholkonsumenten eines besseren belehren. Auch sonst hinkt der Vergleich: Man nimmt ja diese beiden Produkte aus unterschiedlichen Gründen zu sich. Aber wurscht. Die Botschaft ist klar: Der dumme, ungebildete Ungar ernährt sich falsch, macht sich krank und stirbt früher als nötig.
Als Gegenmaßnahme schlägt Gerő zunächst einmal flächendeckende Salatwerbung vor, offenbar zur Hebung der Lebenserwartung.
Um die Kinderkriegfreude zu erhöhen, fordert er die Möglichkeit für die Eltern, von einem eventuell erwünschten zweiten Kind das Geschlecht zu bestimmen, wodurch er sich 15.000 weitere Kinder erwartet. Wäre interessant, herauszukriegen, mit welchen Methoden er das errechnet. Aber er ist anscheinend der Meinung, wenn er Zahlen anführt, wirkt das Ganze irgendwie wissenschaftlich.
Es kommen in diesem Artikel noch andere Leute zu Wort. Eine macht die allgemeine Einstellung, die mangelnde Unterstützung der Familien verantwortlich und plädiert auch für eine Art Medienkampagne, damit „die Familie wieder zu einem Wert“ wird.
Der letzte Befragte, der seinen Senf dazu geben darf, meint, eigentlich gibt es größere Probleme im Land, und dass ungefähr 2 Millionen Ungarn unter oder an der Armutsgrenze leben, ist eigentlich schlimmer. Der gequälte Leser atmet auf und denkt sich, es hat sich doch ausgezahlt, den Artikel bis zum Ende durchzulesen. Aber nein, als nächstes folgt die Warnung vor Populismus und Fremdenfeindlichkeit, also unerwünschten Folgen von Armut und Bevölkerungsschwund, und damit ist das Thema auch erledigt.
Die Zeitung begnügt sich aber nicht mit diesem Sammelsurium aus schlauen Sprüchen von ein paar „bekannten Personen“, sondern widmet noch einen eigenen Artikel den „demographischen Katastrophen“, die Ungarn im Laufe seiner Geschichte widerfahren sind. Der hier befragte Wissenschaftler, der z.B. den ersten Weltkrieg als großes demographisches Problem betrachtet, schlägt als Lösung eine liberale Einwanderungspolitik vor.
Ja, so geht’s, und nicht nur in Ungarn: Jeder der Befragten, und mehr noch die Zeitungsschmierer selbst, wissen, dass es jede Menge arme Leute in Ungarn gibt, und dass das der Hauptgrund ist, warum die Bevölkerung schrumpft. Anstatt aber dann der Sache auf den Grund zu gehen und zu untersuchen, warum das so ist, wird ein Problem der Nation draus gemacht: Es geht uns alle an! und: Wir alle sind aufgerufen, etwas dagegen zu tun!
Und dann kann, nach einigen besorgten Tönen, wieder ein jeder ruhig schlafen.
Wer nicht mindestens zwei Kinder gemacht hat, braucht auch nicht traurig sein. Auch er/sie kann noch viel Richtiges und Wichtiges tun:
Eine nicht-zigeunerfeindliche Partei wählen und mehr Salat essen!