KOMMT WAS BESSERES NACH?
Vermutlich nicht.
Eines ist schon eigenartig in den Medien: Da wird der Sturz einer Regierung, gar eines Diktators bejubelt, der eigentlich in den letzten 20 Jahren niemanden in der westlichen Hemisphäre gestört hat. Tunesien war kein Schurkenstaat, hatte keinen Bürgerkrieg, man hörte nichts darüber, daß Al Kaida dort Sympathisanten hatte, und es galt als ruhiger Hafen für Touristen und Schönheitsoperationen.
Eine Erfolgsstory der arabischen Welt sozusagen. Stabil und sonnig.
Vermutlich haben die meisten Zeitungs- und Rundfunkkonsumenten 2010 erstmals den Namen des jetzt hinausgeschmissenen Präsidenten gelesen bzw. gehört.
Und jetzt auf einmal erfahren wir, daß dort eine eine „Kleptokratie“ herrschte, die das Land ausgesaugt hat, ein Polizeistaat mit Unmengen von Spitzeln, mit Oppositionellen vollgestopfte Gefängnisse, eine hohe Arbeitslosigkeit, und von Meinungsfreiheit überhaupt keine Spur.
Das genaue Gegenteil einer guten Herrschaft, wo die Politiker nichts anderes als das Wohl ihrer Bürger am Hut haben, wird da ausgemalt. Demokratiedefizite, wohin man blickt.
Man fragt sich bloß, wo diese ganzen Journalisten und Korrespondenten eigentlich bisher hingeschaut haben, wenn es um Tunesien ging, sodaß ihnen diese schlimmen Zustände erst dann aufgefallen sind, als dieses „Regime“ bereits am Ende war.
Auch sonst ist der Medienhype ein wenig befremdlich. Während es in Europa nicht so gern gesehen wird, wenn Leute massenweise auf die Straße gehen, und gar wenn Steine geschmissen werden, wie es bei Antiglobalisierungs-Veranstaltungen manchmal vorkommt, da sind natürlich Chaoten am Werk, gegen die der Rechtsstaat sich wappnen muß!
In Tunesien hingegen ist das völlig in Ordnung, weil da sind/waren ja die Falschen an der Macht, und deshalb kann von Rechtsstaat keine Rede sein. Protest, den man hier nicht haben will, ist dort einfach super.
Jetzt sollen, so die einhelligen Kommentare, gute Führer an die Macht kommen, und alles wird eitel Sonnenschein.
Da ist einmal ein Präsident des Parlamentes, das eigentlich gar keines gewesen sein soll, als Interimspräsident, von dem man vernimmt, daß er einer der treuesten Gefolgsleute des abgehauten Ben Ali war.
Dann gibts noch einen Ministerpräsidenten, von dem man ähnliches liest.
Die Oppositionsparteien, sofern man manche kleine Grüppchen überhaupt so nennen will, haben wenig Anhänger, natürlich nur wegen der bisherigen Unterdrückung, und sind völlig untereinander zerstritten.
Über ihre Programme liest man wenig, und der Verdacht drängt sich auf, daß sie entweder keine besitzen, oder die nicht sehr attraktiv sind.
Dann gibt es noch einen im Ausland residierenden Islamisten-Scheich mit einer religiösen Partei namens „Wiedergeburt“, der aber selber zugibt, daß er fast keine Anhänger in Tunesien hat, und diese Partei eigentlich nicht mehr existiert. Er will aber bald zurückkommen nach Tunesien und sich einbringen.
So viel über die zukünftigen guten Führer, die die bisherigen schlechten ablösen sollen.
Was den sonstigen Zustand des Landes angeht: Tunesien hat 10 Millionen Einwohner, Landwirtschaft und (Textil-)Industrie sind in keinem guten Zustand, Öl ist keins da und die Haupt-Einnahmequelle ist der Tourismus, dessen Zukunft ungewiß ist, weil wer fährt schon gern in ein Land, in dem Bürgerkrieg herrscht?
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, und nur im Staatsapparat gabs sichere Arbeitsplätze, aber das wird sich auch vermutlich in nächster Zeit ändern.
Die Bewohner Tunesiens sehen also keineswegs einer leuchtenden Zukunft entgegen. Vielleicht wird das Land, über dessen „Selbstbefreiung“ gerade so gejubelt wurde, bald von einer internationalen „Friedenstruppe“ besetzt, wie der Libanon, zu einem Protektorat gemacht, wie Bosnien, oder versinkt in jahrelangen Bürgerkrieg, wie Algerien. Oder das geschieht alles auf einmal, wie in Afghanistan.
Alles im Interesse der Demokratie, selbstverständlich.
Kategorie: Recht und Gewalt
Zensuropfer Nr. 2:
RTL
Die neueste Maßnahme der ungarischen Medienbehörde gegen RTL lenkt die Aufmerksamkeit auf eine Form der Berichterstattung in den Medien, die keineswegs eine Besonderheit von RTL ist, und eigentlich bisher noch nie Gegenstand von Kritik war. Leider.
Das letzte Anschauungsbeispiel dafür war der Anschlag gegen koptische Christen in Alexandria, aber die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Das Schema ist immer gleich: Reporter eilen zur Unglücksstätte, filmen zerfetzte Körper, abgerissene Gliedmaßen und erschütterte Angehörige. Ein oder zwei von den Überlebenden werden vor die Kamera gesetzt und dürfen dann schluchzend berichten, wie schrecklich das alles ist.
Über die Gründe und Hintergründe solcher Gemetzel erfährt man sehr wenig, und auch das ist meistens falsch oder tendenziös aufgearbeitet.
Ähnlich geht es zu bei Gewalt im privaten Kreis: Blutflecken, verstümmelte Opfer, und irgendwelche aufgeregten Reporter, die Polizei-Kurzmeldungen ins Mikrofon stammeln.
Diese unappetitlichen Schauer-Bilder dienen dazu, bereits vorhandene und an anderer Stelle in Wort und Schrift verbreitete Urteile abzurufen, und zu bestärken.
Im Falle der Opfer von Alexandria, genauso wie bei Anschlägen im Irak oder Afghanistan, dienen sie der anti-islamischen Feindbildpflege: Muslims bringen Christen um! Sie schrecken vor nichts zurück!
Die Empörung in der muslimischen Welt über dergleichen Anschläge wird zwar nicht ganz verschwiegen, läuft aber unter ferner liefen. In den großen Massenmedien erhält sie keinen Platz. Al-Kaeda oder andere fundamentalistische, gewalttätige Strömungen werden mit „dem Islam“ gleichgesetzt, und damit die Angst geschürt, daß man nirgends auf der Welt vor dergleichen Wahnsinnigen sicher ist, und dem türkischen Greißler ums Eck mit Mißtrauen begegnen muß – vielleicht auch er??
Im Falle von Gewalt im familiären Bereich, oder Gewaltverbrechen aus sexuellen oder Eifersuchts-Motiven werden andere Gefühle geweckt und bestärkt: Sogar der eigene Vater! oder der ehemalige Geliebte! Schlimm geht es zu auf der Welt! Mörder sind überall! Wir müssen uns eigentlich in einem fort fürchten! Der eigene Nachbar kann der Feind sein! Man kann als Frau nicht mehr allein auf der Straße gehen! Alle Männer sind potentielle Gewalttäter! usw. usf.
Damit wird ein zur Konkurrenzgesellschaft passendes Bild vermittelt, demzufolge man sich vor jedem fürchten muß, und mündet stets in Aufforderungen an die Obrigkeit, doch dergleichen Einhalt zu gebieten. Mehr Polizei! Strengere Gesetze! Mehr Vollmachten für Sozialarbeiter, sich in die privaten Belange der Menschen einzumischen! Höhere Strafen! Mehr Verwahrungsanstalten für gefährliche Jugendliche! Alkoholverbot! Strengere Drogengesetze!
Die Bürger werden mit dergleichen Schauer-Fotos gegeneinander aufgehetzt, und auf die Staatsgewalt als ihren Beschützer verpflichtet.
Natürlich fehlt es nicht an Artikeln und Sendungen, die dergleichen mit entsprechenden Verurteilungen aktiv befördern. Das Bequeme an den Blut- und Graus-Bildern ist jedoch, daß dergleichen Urteile ohne alle Kommentare einfach bei den Zusehern abgerufen und bestärkt werden können, ohne irgendwelche Mühen des Kommentators.
„Die Bilder sprechen für sich!“
RTL in Ungarn, und der Brudermord von Nagymanyok im Oktober 2010
Im Dorf Nagymanyok im Komitat Tolna hat ein Bruder den anderen mit der Axt erschlagen, zerteilt, die Teile mit Paprika eingeschmiert, und dann im Keller versteckt. Vorher hat er das Ganze noch gefilmt. Durch die Anzeige eines Besuchers, der die Blutflecken wahrnahm, kam das Ganze auf.
In der Tat, sehr unappetitlich.
Mit solchen wenigen Zeilen könnte man den Hergang der Tat beschreiben. Das nächste wäre, nachzufragen, was da eigentlich los war. Es gab ja auch Recherchen: Der Ältere, das Opfer, hat den Jüngeren jahrelang gequält und gedemütigt. Geld, um diese unerfreuliche Beziehung durch Auszug zu beenden, war offenbar keines da. Arbeit hatte keiner von beiden. Beide waren schon einmal im Gefängnis, und lebten von dem Geld, das die Mutter aus Deutschland heimschickte. Die verdiente es mit dubiosen Beschäftigungen, der Vater hat nie etwas gezahlt, usw. Und beide, Täter wie Opfer, konsumierten regelmäßig Drogen. Das heißt angesichts der Zahlungsfähigkeit der beiden: Irgendein chemisches Zeug, Klebstoff vielleicht, Tabletten, und Fusel, vermutlich Spiritus.
Man könnte hier ganz interessante Reportagen schreiben:
1. über die ganz normale kapitalistische Armut in der ungarischen Provinz, wo jede Menge Leute ohne Perspektive auf Beschäftigung vor sich hin vegetiert, und sich irgendwie zutörnt, bzw. ins Ausland geht, um sich dort mehr schlecht als recht weiterzubringen,
2. über die Zwangsgemeinschaft Familie, wo Leute einfach über ihre biologische Zusammengehörigkeit miteinander eingesperrt sind und einander aus materiellen Gründen nicht entkommen können, und
3. über die Armutsverwaltung in Ungarn – und nicht nur dort! –, die hauptsächlich aus Sozialhilfe – zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben – und Gefängnis besteht.
Das interessiert natürlich die freie Presse nicht. Es steht ihrem Auftrag entgegen – die Propagierung der Marktwirtschaft –, und bringt auch kein Geld.
Also hat RTL – genauso wie andere Sender – sich auf die inzwischen übliche und reißerische Berichterstattung verlegt, einen Kameramann hingeschickt, das Szenario gefilmt und ausgestrahlt. RTL war sicher nicht der einzige Sender, der vor Ort war, darauf berufen sich die Verteidiger. In der Tat, diese miese Art von Reportage ist europaweit üblich.
Die ungarische Zensurbehörde hat jetzt gesagt: So nicht! Dergleichen wird in Zukunft bestraft!
Daß sie sich ausgerechnet RTL ausgesucht haben, ist natürlich kein Zufall. Lokale Sender sind ähnlich vorgegangen. Aber Sender wie RTL haben dergleichen als Form der Berichterstattung eingeführt, es ist schon begreiflich, daß sie jetzt zur Verantwortung gezogen werden.
Die ungarische Regierung hat sich hier weit aus dem Fenster gelehnt, weil sie das Gesetz rückwirkend angewandt hat, und noch dazu gegen einen ausländischen Sender. Für eine Strafe für RTL wird es vermutlich nicht ausreichen, aber die Rute ist ins Fenster gestellt für andere Sender, von dergleichen Berichterstattung in Zukunft Abstand zu nehmen.
Und das ist gut.
Ungarns Zensuropfer Nr. 1:
TILOS RÁDIÓ, BUDAPESTS FREIES RADIO
Tilos Rádió, das „verbotene Radio“, sendet mit Unterbrechungen seit 1991. Es wird aus Spenden finanziert.
Tilos hat sich von Anfang an der Alternativ- bzw. Avantgarde-Kultur verschrieben, und da in erster Linie dem Punk, Techno, Rap und ähnlichen Musikrichtungen. Laut ihrem chaotischen Programm, dem man oft die Natur der Sendung überhaupt nicht entnehmen kann, (Beispiel: Sendungen am 9.12. 2010) kann man auf Blogs mit Unsinns-Gedichten kommen, improvisierte Jazzmusik hören, oder sich über Kunst-Events auf der ganzen Welt informieren. Dreht man in Budapest im Auto am Radiosender-Knopf und gerät an das Tilos Rádió, so dröhnt einem meistens irgendein Geschrei entgegen, mit relativ störender Musik-Begleitung.
Zum Unterschied von anderen freien Radios in Österreich, Deutschland oder Spanien sucht man im Programm von Tilos Rádió vergeblich nach politischen, gesellschaftskritischen oder über die Probleme der Minderheiten informierenden Sendungen. Es ist auch unmöglich, solche dort unterzubringen, wie die Verfasserin dieser Zeilen aus eigener Erfahrung weiß. Ebenso verschließt sich die Mannschaft dieses Radios wissenschaftlichen Inhalten, seien sie jetzt geisteswissenschaftlicher Natur, oder über neuere naturwissenschaftliche und technologische Entwicklungen.
Die Betreiber des „verbotenen Radios“ repräsentieren ein Element der Subkultur, die einem eigentümlichen Begriff von Freiheit huldigt: Gerade der Nonsens, die Abwesenheit jeglichen Sinns stellt für sie die wahre individuelle Entfaltung dar. Der Geist, der sich an Inhalte bindet, Zusammenhänge festhalten und darstellen möchte, ist für sie unfrei, und bereits Teil des „Establishments“, was immer das sein mag. Das gleiche gilt für die Musik: die darf nicht auf Harmonie oder angenehmes Hören ausgelegt sein, dann ist sie schon falsch, korrupt, im Dienste fremder Gewalten. Freiheit heißt: frei sein, los von allem, keine Erklärungen, keine Annehmlichkeiten, keine Gegenwart, keine Zukunft, und das ist für das Tilos Rádió echt international, multikulturell, und fortschrittlich.
Die Leute von Tilos Rádió durchstöbern offenbar ständig das Internet, Podcast-Sendungen, Indymedia, YouTube usw. nach neuen Juwelen der Disharmonie und Protestkultur in ihrem Sinne.
Jetzt sind sie wegen eines Liedes eines amerikanischen Rappers ins Schußfeuer der Zensurbehörde geraten.
Eine Kostprobe aus dem Text des Liedes:
Turn up the mic, dog
So I can get off
Find me Charlton Heston and we might
Cut his head off
I’m not to be fucked with
Step in the range of my guage and get bucked quick
Niggas, hoes, I don’t know who you are
My friends or foes
Smile in my face
And plot to kill me behind doors
I got a new attitude
No trust
Got me in a corner
All a nigga can do is bust
It may be you
There’s gonna be a lot of dead before I’m through
I’m ’bout to break off niggas who play me and dis me
Try to switch from side to side like the ??? ???
The damage is done
Source magazine
You’re the first one
You try to dis Chuck, Cube and me
How the fuck you pick us 3?
You punk motherfuckers ain’t shit
You’re just a bunch of hoes
Makin’ money off the pros
And when I see I get you in my sights
I give yo’ ass a story to write
Cause it’s on
[Chorus:]
It’s on motherfucker
And you can’t turn the shit off
Catch you in the streets and your ass’ll get tossed
Bang! Bang! Bang! cause it ain’t no thang
To put in work and watch your head burst
(Voller Text)
Na ja. Love it or leave it.
Wegen dieses Songs hat Tilos Rádió jetzt ein Verfahren wegen der Verbreitung obszöner und jugendgefährdender Inhalte am Hals. Die Verantwortlichen rechtfertigen sich damit, daß ohnehin niemand von ihren Hörern gut genug Englisch kann, um den Text zu verstehen. Und damit haben sie vermutlich recht. Ob sie auch Recht bekommen, wird sich erst erweisen.
(Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich keiner von denen, die die betreffende Sendung gemacht haben, den Text jemals angehört hat. Es stünde ja im Gegensatz zu ihrem Subkultur-Programm, sich mit irgendwelchen Inhalten, wie dumm auch immer, auseinanderzusetzen.)
Etwas Besseres hätte diesem Insider-Klub gar nicht passieren können. So sind sie international bekannt geworden, und können sich – und das ist sehr bezeichnend für die meisten, die gegen die neue Zensurbehörde Sturm laufen – als Kritiker präsentieren und so richtig aufblasen. Diese Stilisierung zum kritischen Geist aus einem rein negativen Moment her – aus Verfolgung oder Behinderung von Seiten der Behörden – ist immer verdächtig, denn die Inhalte, die diese Leute verbreiten, geben das Etikett „kritisch“ offenbar schwer her.