„Notleidende“ Kredite in Ungarn

VOM GRUNDEIGENTUM
„Die Exekutoren bereiten sich vor, die, die nicht zahlen können, zittern. In 2 Monaten endet – dem Prinzip nach – das Moratorium für Delogierungen. Das gefürchtete Datum ist der 15. April .Bis dahin darf niemand auf die Straße gesetzt werden. Die Gemüter erhitzen sich mehr und mehr. Einerseits kochen diejenigen, die regelmäßig ihren Kredit bedienen – was haben sie davon, daß sie pünktlich zahlen? Andererseits leben die, die mit ihren Zahlungen in Verzug sind, in banger Erwartung des Augenblicks, an dem sie aus ihrer Wohnung hinaus müssen. Die Zahl derer, die ihre Kreditverpflichtungen nicht erfüllen können, ist um 40% gestiegen. Die bevorstehenden Delogierungen können bis zu 150.000 Familien betreffen. Die Verschuldung der ungarischen Bevölkerung in Fremdwährungen ist innerhalb von 6 Jahren von 20 Milliarden auf 2800 Milliarden gestiegen. Die Anzahl derer, die zahlungsunfähig werden, steigt mit jeder Minute.“
(TV2, 20.2. 2011)
Was ist da los?
Erstens einmal das ganz normale des Kapitalismus: Alles kostet was, und so ist es auch klar, daß der Mensch Geld dafür ablegen muß, ein Dach über dem Kopf zu haben. Das Privateigentum, das nach langer Zeit der Unfreiheit inzwischen auch in Ungarn eingerichtet worden ist, macht es möglich, daß derjenige Teil der Menschheit, der über Grundeigentum verfügt, den anderen, die das nicht tun, Geld dafür abknöpfen kann, daß sie auch einen Platz auf der Erde haben.
Damit jedoch so etwas wie ein Immobilienmarkt und eine ordentliche Immobilienspekulation zustande kommt, braucht es so etwas wie Zahlungsfähigkeit. Mit ein paar handverlesenen Neureichen und lauter armen Schluckern läßt sich so etwas nicht bewerkstelligen. In den 90-er Jahren wurden die staatlichen Mietwohnungen den Mietern als Eigentum überschrieben, womit sie auch verantwortlich für den Erhalt der Häuser waren, die dementsprechend verfielen. Wohnungen wurden getauscht: Wer etwas mehr Geld hatte, tauschte gegen einen entsprechenden Aufpreis mit solchen, die sich als Pensionisten eine große Wohnung nicht mehr leisten konnten. Wohnungen, Häuser waren vergleichsweise billig, da ihre bisherigen Besitzer aufgrund der geänderten Einkommensverhältnisse entweder eine große Wohnung nicht mehr erhalten konnten, oder sich verkleinerten, um an Bargeld für andere Anschaffungen zu kommen. Umgekehrt wollten Leute, die es zu etwas gebracht hatten, nicht mehr in 8-15-stöckigen Plattenbauten residieren und stießen ihre Wohnungen relativ günstig ab. Neue Bautätigkeit für Wohnzwecke fand praktisch nicht mehr statt. Die Wohnungsnot wuchs. Um ihr abzuhelfen, vor allem, um jungen Familien zu Wohnungen zu verhelfen, wurde unter der vorherigen FIDESZ-Regierung 1998-2002 ein Wohnungskredit-Programm in die Wege geleitet. Die Banken stiegen mit großem Elan ein. Anfänglich gab es vermutlich Starthilfe von Seiten der Regierung, später verselbständigte sich die Angelegenheit. Die Banken vergaben großzügig Hypothekarkredite. Sie erweiterten damit ihr Geschäftsfeld. Als Folge ihrer eigenen Kalkulationen schufen sie damit die Zahlungsfähigkeit, die Immobilienfirmen brauchten, um ihre Investitionen und Spekulationen anzuleiern, und die Baufirmen dazu anstachelte, groß in das Geschäft mit dem Wohnbau einzusteigen.
Für Leute auf Wohnungssuche war das ein tolles Angebot. Schließlich ist es in der fortschrittlichen westlichen Welt üblich, alles mögliche auf Kredit zu kaufen, vor allem Immobilien und Autos, also ist es höchste Zeit, daß das bei uns auch üblich wird – so dachten sicher die meisten. Daß ein Kredit problematisch werden kann, dieser Gedanke wurde offenbar als unmodern verworfen, und die Banken ihrerseits bemühten sich sicherlich, diesbezügliche Bedenken zu zerstreuen, falls sie einmal doch auftraten. Die Banken wollten schließlich ihr Geschäftsfeld, ihren Kundenstock und ihr Kreditvolumen erweitern, und jeder Filialchef bemühte sich, für seine Filiale möglichst viel Expansion hinzukriegen.
Ungarn ist hoch verschuldet und hat deshalb vergleichsweise hohe Kreditzinsen, die außerdem stark schwanken. Einen Kredit zum Zins von 10% aufzunehmen, wäre für die meisten Kunden nicht in Frage gekommen, um so mehr, als er genauso gut ein paar Monate später 9%, aber auch 12% oder 14% betragen könnte. Die Lösung aus diesem Dilemma brachten die Fremdwährungskredite: Sie wurden vor allem in Euro oder Schweizer Franken, in geringerem Ausmaß auch in Yen und US-$ vergeben, da alle diese Währungen einen niedrigen Zinsfuß hatten. Außerdem war vor 10 Jahren die Hoffnung groß, daß Ungarn ohnehin bald einmal den Euro einführen würde – dann würden zumindest die Euro-Kredite problemlos in die neue Landeswährung überführt werden. Diese Fremdwährungskredite waren ein solcher Schlager, oder vielmehr derart alternativlos, daß 70% aller vergebenen Kredite und 90% aller Hypothekarkredite Fremdwährungskredite sind.
Seit 2005 ist der Kurs des Forint gegenüber dem Euro gefallen. 2009 war auf seinem Tiefpunkt, seither hat er sich wieder etwas erholt. Die Euro-Einführung in Ungarn ist in weite Ferne gerückt bzw. wird immer weniger als reale Möglichkeit gehandelt. Im Grunde streben weder Ungarn noch die EU sie an.
Außerdem ist der Euro in den letzten Jahren kontinuierlich gegenüber dem Franken gefallen. Die Kredite haben sich also wesentlich verteuert. Die Kunden stehen mit einer weitaus größeren Summe in der Kreide, als sie eigentlich aufgenommen haben. Das heißt, daß sich die monatlich zu zahlende Summe – sowohl Zinsen als auch Tilgung – bedeutend erhöht hat. Gleichzeitig hat die Krise Ungarn stark getroffen und Entlassungswellen zur Folge gehabt. Und so sind ein Haufen Schuldner „säumig“ geworden. Sie können ihre Kredite nicht mehr bedienen. Umschuldung geht offenbar auch nicht, weil ihre Einkommenslage gar keine zusätzlichen Zahlungen über die unmittelbaren Lebensnotwendigkeiten hinaus hergibt, oder nicht in einer Höhe, die noch irgendwie mit den Interessen der Bank vereinbar wäre.
Angesichts der sich häufenden Delogierungsklagen hat die ungarische Regierung im Spätherbst ein Moratorium verhängt: Über den Winter darf niemand delogiert werden. Die diesbezügliche Frist bis 15. April wurde angeblich dieser Tage verlängert.
Das Problem aber bleibt:
Gibt die Regierung irgendwann einmal dem Recht der Kreditgeber statt und setzt ihre Organe – Gerichtsvollzieher und Polizei – für die Durchführung dieser flächendeckenden Delogierungen ein, so verliert sie sofort an Popularität, riskiert den Verlust ihrer Mehrheit im Parlament (durch Wechseln ihrer Mitglieder zu anderen Parteien) und ruft damit womöglich auch Ausschreitungen gegenüber staatlichen Organen und Banken hervor. Ein solches Vorgehen wäre auch völlig gegen ihre Absichten, da die Delogierungen vor allem gerade diejenigen jungen Familien betreffen, die FIDESZ unbedingt fördern möchte.
Sagt die Regierung entschieden „Nein“ und erklärt damit im Grunde diese ganzen Verträge im nachhinein für ungültig, so hätte das einen Bankenzusammenbruch zur Folge, und den Absturz des Forint gegenüber allen wichtigen Währungen.
Es kann auch schlecht der Staat selbst als Zahler einspringen und sein Budget belasten, um die Gewinne des Immobilien- und Banksektors zu garantieren. Für ein solches Manöver ist ein Staat wie Ungarn und eine Währung wie der Forint nicht geeignet.
So bleibt nicht viel anderes als das Hinausschieben des Problems, so lange es eben geht. Offenbar hoffen alle Beteiligten auf einen baldigen Aufschwung, der die Bedienung dieser Kredite wieder möglich macht.

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