TUNESISCHE FLÜCHTLINGE STRÖMEN NACH LAMPEDUSA
Vor Jahren war die weit vorgelagerte italienische Insel öfter einmal Thema in den Zeitungen. Da waren es Flüchtlinge aus Schwarzafrika, die versuchten, über diese Insel in die Festung Europa vorzudringen, da die meisten anderen Zugänge von den Festungswarten schon ziemlich dicht gemacht worden waren. Also bemühte sich die damalige italienische Regierung unter Prodi, auch dieser Pforte einen Riegel vorzuschieben.
Unter Berlusconi schließlich schloß Italien mit Libyen 2008 einen Freundschaftsvertrag, im Zuge dessen sie einen Haufen Geld an Libyen überwies – als „Wiedergutmachung“ für die Kolonialherrschaft – und Ghadaffi sorgte von da an dafür, daß durch Libyen kein Transit mehr erfolgen konnte, durch Errichtung von Flüchtlings-KZs in der libyschen Wüste. Die EU hat seither auch noch ein bißchen Geld draufgelegt, damit Libyen auch Flüchtlinge übernimmt, die es dennoch bis nach Lampedusa geschafft haben oder auf offenem Meer aufgegriffen werden. Was mit diesen Leuten in Libyen passiert, kann man hier nachlesen.
Mit Tunesien war die Sache noch viel glatter gelaufen: 1999, unter dem zum Demokraten gewendeten Kommunisten D’Alema schloß die italienische Regierung mit der tunesischen ein Abkommen über „Flüchtlingsabwehr“. Ein schönes Wort, gell? Als handle es sich bei Menschen, die versuchen, Hunger und Elend, Militärdienst, Folter und Bürgerkrieg zu entkommen, um feindliche Heerscharen, gegen die man sich wappnen muß.
Es ist anzunehmen, daß die italienische Regierung oder die EU hier auch etwas springen ließ, entweder Bargeld oder irgendwelche für die Familie Trabelsi vorteilhafte Export-Import-Geschäfte.
Seither fing die tunesische Küstenwache selbst Flüchtlinge auf dem Meer ab, und nahm auch Flüchtlinge „zurück“, die Italien unbedingt loswerden wollte.
Auch mit Ägypten und Algerien wurden ähnliche Abschiebungsverträge abgeschlossen.
Lampedusa war dadurch die letzten 2 Jahre praktisch von Flüchtlingen verschont geblieben, und das Auffanglager wurde geschlossen.
Und jetzt das. In Nordafrika gibt’s Demokratiebewegungen, Staatsoberhäupter werden aus ihren Ämtern gejagt, und die erfolgreich gestopften Löcher in der EU-Außengrenze gehen wieder auf. Und die Regierungen der Europäischen Union, diesem Hort der Menschenrechte, deren Regierungen Flüchtlinge vor allem aus Afrika und der muslimischen Welt am liebsten gleich an der Grenze erschießen würden, wenn dieses Vorgehen nicht verfassungs- und rechtsstaatsmäßig ausgeschlossen wäre, weswegen sie dergleichen Praktiken lieber an Ghadaffis, Ben Alis und andere Diktatoren delegieren, müssen sich jetzt überlegen, wie sie jetzt mit dieser neuen Lage umgehen.
Und ausgerechnet in Italien, mit einem Regierungschef, der schon einmal mit der Mafia kooperiert, um ein Pogrom gegen Zigeuner zu veranstalten, und einem Außenminister, der ein Programm Null-Immigration verkündet hat, und wo Armee und Polizei hin und wieder Treibjagden auf Illegale in Italiens Städten veranstalten – dort stranden jetzt wieder massenhaft Flüchtlinge.
Es ist unbestreitbar: Die ganze EU-Außenmauer Richtung Süden bröselt vor sich hin. Einzig Ghadaffi hält noch die Stellung. Und Marokko.
Zunächst einmal wird die EU-Grenzschutztruppe Frontex aufgestockt und ihr Einsatzgebiet erweitert. Aber das ist auch keine Dauerlösung. Die ganzen Diktaturen in Nordafrika sind ja der EU sehr recht gewesen zur Wahrung ihrrer Interessen, nicht nur in Fragen der Immigration. Was tun jetzt ohne die? Den ganzen Grenzschutz in Eigenregie übernehmen? Und wie schauts aus mit den Schubabkommen?
Spannend ist auch der argumentative Spagat, den jetzt Regierung und Presse schon vollziehen und in Zukunft auch noch bewältigen müssen: Sie können ja schlecht sagen: Was brauchen denn die da unten Demokratie! Das ist nur etwas für die Kolonisatoren, nicht für die Kolonisierten! Das entspräche zwar ihrer Überzeugung, stünde aber im Gegensatz zu ihrer Propaganda, daß es sich um das beste aller Regierungssysteme handelt, das überallhin exportiert gehört, vor allem nach Rußland, China und Venezuela.
Kategorie: Recht und Gewalt
Von der guten und der schlechten Herrschaft
DEMOKRATIE! WAHLEN! – FORDERUNGEN AUS TUNESIEN UND ÄGYPTEN
In der „arabischen Welt“, zumindest in 2 Staaten von ihr, hat sich das Volk erhoben und einmal seinen Präsidenten gestürzt, im anderen Fall ist es kurz davor.
Und von der freien Presse bekommen sie viel Beifall, weil sie sagen in beiden Fällen laut und deutlich, daß sie nichts Böses vorhaben, sondern nur diejenigen Segnungen des Umgangs zwischen Obrigkeit und Volk genießen wollen, die bei uns auch üblich sind: Freie Wahlen sollen her, wirklich freie, und bei denen soll sich das Volk, die Wähler, ihre Regierung selbst bestellen dürfen.
Deswegen kommt diese Volksrevolte gut an, und es gibt zwar warnende Stimmen in verschiedenen Medien, ob solch eine freie Wahl nicht womöglich die Falschen an die Macht bringt, wie das ja in Algerien schon einmal vorgekommen ist.
Aber im Grunde wäre es schwer, dagegen etwas zu sagen. Freedom and Democracy, das sind doch unsere höchsten Werte, wenn die Bevölkerung eines Landes die flächendeckend einklagt, so kann da doch wirklich niemand etwas dagegen haben, oder?
Die Revolten in Tunesien, Ägypten und …? unterscheiden sich übrigens sehr von den „Systemwechseln“ in verschiedenen Staaten des Realen Sozialismus, wo keineswegs Freiheit und Demokratie von den Massen auf der Straße gefordert, sondern entweder von oben „Umbau“, Grenzöffnung und Ähnliches verordnet wurden, oder einfach eine Bevölkerung, wie in Rumänien, ihren Vampir loswerden wollte, aber ohne große Forderungen für den Tag danach. Die Bevölkerung Ägyptens und Tunesiens ist also viel „demokratiereifer“ als diejenige des seinerzeitigen „Ostblocks“, wo der Übergang zur Demokratie mehrheitlich Sache einiger Dissidenten, Pfaffen und ähnlicher Kräfte, oder der Regierungen selber war.
Auch in einer anderen Frage unterscheiden sich diese vielen – betontermaßen „friedlichen“! – Demonstranten sehr wohltuend von dem, was man sonst von Demonstrationen dieser Art gewohnt ist: Sie schwenken keine kommunistischen oder anarchistischen Fahnen, sie fordern nicht ein anderes Wirtschaftssystem, sondern nur mehr „Gerechtigkeit“, sie wollen nicht mehr von ihrer eigenen Regierung beklaut werden, sie wünschen sich ein Ende der „Korruption“: Niemand soll sich also mit Hilfe eines höheren Amtes am Elend und der Not seiner Mitbürger bereichern dürfen.
Sofern man den Berichten in den Medien und im Internet Glauben schenken darf, so sehen sie ihre eigene Herrschaft als das erste und scheinbar auch einzige Hindernis ihres Wohlergehens. Die Kumpanei, die die USA, aber vor allem die EU jahrzehntelang mit Ben Ali und Mubarak getrieben hat, ist kein Thema ihrer Proteste – im Gegenteil, sie sehen diejenigen Staaten, die ihre jetzt (bald) vertriebenen Häuptlinge jahrzehntelang gestützt und deren Bürger mit ihnen blendende Geschäfte gemacht haben, als Vorbild für ihre gesellschaftliche Umgestaltung an.
Im Grunde sagen diese vielen begeisterten Demonstranten eines: bitte, wir wollen dieses erfolgreiche Herrschaftssystem, mit dem ihr ja in Europa sooo zufrieden seid (da haben sie recht!) und das deshalb wirklich gut sein muß, bei uns auch haben!
Die Revolten in Tunesien und Ägypten sind also Manifestationen eines sehr untertänigen und – bei aller Aufmüpfigkeit gegen ihre bisherigen Herren – gehorsamen Standpunktes.
Sie werden entweder enttäuscht werden, wenn sie sich von diesem Wechsel eine Verbesserung ihrer Lebensumstände erwartet haben, oder sie nehmen etwaige Armut und Elend in Zukunft leichteren Herzens in Kauf, weil sie nämlich gerecht ist und alle betrifft.
Für Länder wie Ägypten und Tunesien, und die ganze „arabische Welt“ ist nämlich im imperialistischen Weltsystem nichts anderes vorgesehen, als Rohstofflieferanten zu sein, Markt für kapitalistische „Überproduktion“, und ein großer Teil der Bevölkerung dieser Staaten ist schlicht überflüssig.
Aber vielleicht lassen sie sich das alles in Zukunft lieber gefallen, wenn sie sich ihre Herren selber aussuchen dürfen.
Tunesiens Präsident gestürzt
KOMMT WAS BESSERES NACH?
Vermutlich nicht.
Eines ist schon eigenartig in den Medien: Da wird der Sturz einer Regierung, gar eines Diktators bejubelt, der eigentlich in den letzten 20 Jahren niemanden in der westlichen Hemisphäre gestört hat. Tunesien war kein Schurkenstaat, hatte keinen Bürgerkrieg, man hörte nichts darüber, daß Al Kaida dort Sympathisanten hatte, und es galt als ruhiger Hafen für Touristen und Schönheitsoperationen.
Eine Erfolgsstory der arabischen Welt sozusagen. Stabil und sonnig.
Vermutlich haben die meisten Zeitungs- und Rundfunkkonsumenten 2010 erstmals den Namen des jetzt hinausgeschmissenen Präsidenten gelesen bzw. gehört.
Und jetzt auf einmal erfahren wir, daß dort eine eine „Kleptokratie“ herrschte, die das Land ausgesaugt hat, ein Polizeistaat mit Unmengen von Spitzeln, mit Oppositionellen vollgestopfte Gefängnisse, eine hohe Arbeitslosigkeit, und von Meinungsfreiheit überhaupt keine Spur.
Das genaue Gegenteil einer guten Herrschaft, wo die Politiker nichts anderes als das Wohl ihrer Bürger am Hut haben, wird da ausgemalt. Demokratiedefizite, wohin man blickt.
Man fragt sich bloß, wo diese ganzen Journalisten und Korrespondenten eigentlich bisher hingeschaut haben, wenn es um Tunesien ging, sodaß ihnen diese schlimmen Zustände erst dann aufgefallen sind, als dieses „Regime“ bereits am Ende war.
Auch sonst ist der Medienhype ein wenig befremdlich. Während es in Europa nicht so gern gesehen wird, wenn Leute massenweise auf die Straße gehen, und gar wenn Steine geschmissen werden, wie es bei Antiglobalisierungs-Veranstaltungen manchmal vorkommt, da sind natürlich Chaoten am Werk, gegen die der Rechtsstaat sich wappnen muß!
In Tunesien hingegen ist das völlig in Ordnung, weil da sind/waren ja die Falschen an der Macht, und deshalb kann von Rechtsstaat keine Rede sein. Protest, den man hier nicht haben will, ist dort einfach super.
Jetzt sollen, so die einhelligen Kommentare, gute Führer an die Macht kommen, und alles wird eitel Sonnenschein.
Da ist einmal ein Präsident des Parlamentes, das eigentlich gar keines gewesen sein soll, als Interimspräsident, von dem man vernimmt, daß er einer der treuesten Gefolgsleute des abgehauten Ben Ali war.
Dann gibts noch einen Ministerpräsidenten, von dem man ähnliches liest.
Die Oppositionsparteien, sofern man manche kleine Grüppchen überhaupt so nennen will, haben wenig Anhänger, natürlich nur wegen der bisherigen Unterdrückung, und sind völlig untereinander zerstritten.
Über ihre Programme liest man wenig, und der Verdacht drängt sich auf, daß sie entweder keine besitzen, oder die nicht sehr attraktiv sind.
Dann gibt es noch einen im Ausland residierenden Islamisten-Scheich mit einer religiösen Partei namens „Wiedergeburt“, der aber selber zugibt, daß er fast keine Anhänger in Tunesien hat, und diese Partei eigentlich nicht mehr existiert. Er will aber bald zurückkommen nach Tunesien und sich einbringen.
So viel über die zukünftigen guten Führer, die die bisherigen schlechten ablösen sollen.
Was den sonstigen Zustand des Landes angeht: Tunesien hat 10 Millionen Einwohner, Landwirtschaft und (Textil-)Industrie sind in keinem guten Zustand, Öl ist keins da und die Haupt-Einnahmequelle ist der Tourismus, dessen Zukunft ungewiß ist, weil wer fährt schon gern in ein Land, in dem Bürgerkrieg herrscht?
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, und nur im Staatsapparat gabs sichere Arbeitsplätze, aber das wird sich auch vermutlich in nächster Zeit ändern.
Die Bewohner Tunesiens sehen also keineswegs einer leuchtenden Zukunft entgegen. Vielleicht wird das Land, über dessen „Selbstbefreiung“ gerade so gejubelt wurde, bald von einer internationalen „Friedenstruppe“ besetzt, wie der Libanon, zu einem Protektorat gemacht, wie Bosnien, oder versinkt in jahrelangen Bürgerkrieg, wie Algerien. Oder das geschieht alles auf einmal, wie in Afghanistan.
Alles im Interesse der Demokratie, selbstverständlich.