Über Sparprogramme, „Maßnahmen“, Staatshaushalte usw.

DIE BETRIEBSKOSTEN DES KAPITALISMUS
Angesichts der drohenden Zahlungsunfähigkeit Griechenlands kursieren alle möglichen Erklärungen durch die Medien, die größtenteils Unsinn sind, aber dennoch einiges darüber aussagen, wie Staat gemacht wird.
„Kein Wunder, daß die Griechen pleite sind! Kein Mensch zahlt dort Steuern!“
Sprüche dieser Art offenbaren 1. eine Unkenntnis über Staatshaushalte, und 2. eine Unkenntnis über
1. Steuern.
Wenn der österreichische Finanzminister sich darüber beklagt, daß viele Steuerpflichtige in Österreich keine Steuer zahlen, so trägt er auch zu diesem Mißverständnis bei.
Es gibt nämlich einerseits Steuern, die Löhne und Gehälter betreffen, Einkünfte aus Vermögen und Unternehmensgewinnen, also solche, die auf irgendeine Art von Einkommen berechnet sind; und andererseits Konsumsteuern. In Österreich halten sich diese beiden Steueraufkommen so ziemlich die Waage. Die Steuereinnahmen des Staates bestehen also zur Hälfte aus Einkommenssteuern, zur Hälfte aus Konsumsteuern. Diese letzteren aber zahlt jeder dauernd, auch die Griechen: Ob man eine Wurstsemmel kauft, ein T-Shirt oder tankt, überall führt man einen Teil des Kaufpreises an die Staatskassa ab.
Beide Arten von Steuern lassen sich nicht unbegrenzt erhöhen: Zieht man dem Normalverbraucher zuviel von seinem Lohn ab, so kann er sich nicht mehr reproduzieren und wird unbrauchbar, was vom Standpunkt des Staates heißt: Er fällt als Einnahmequelle aus.
Zieht man dem Unternehmer zuviel von seinem Gewinn ab, so kann er sein Kapital nicht mehr reproduzieren und erweitern, gerät gegenüber der ausländischen Konkurrenz, die unternehmerfreundlichere Steuersätze hat, ins Hintertreffen und geht schließlich als Unternehmer baden – auch hier Ausfall der Einkommensquelle.
Die Erhöhung der Konsumsteuern hingegen treibt die Preise in die Höhe und lähmt den Konsum und das Geschäftsleben. Die Zahl der Käufe und Verkäufe reduziert sich und der Effekt der Steuererhöhung läuft Gefahr, durch eine Verringerung der besteuerbaren Ereignisse zunichte gemacht zu werden.
Also noch bevor irgendein Lobbyismus oder Überlegungen über Wirtschaftsförderung oder soziale Not ins Spiel kommen, merkt der Staat bei seinem Bedürfnis nach Einnahmen, daß er sich beim Abzocken seiner Bevölkerung zurückhalten muß.
Gleichzeitig hat er aber jede Menge
2. Ausgaben,
die irgendwie finanziert werden müssen.
Dazu gehören einmal die Regierungskosten selbst: Gehälter für Politiker und Parlamentarier, jede Menge Gebäude, in denen sich diese herumtreiben, und auch an der Repräsentation darf nicht gespart werden, weil wie würde das aussehen!
Dann leistet sich fast jeder Staat ein Bundesheer mitsamt dem dazugehörigen Gerät, auch das ist nicht billig.
Als weiteres kommen hinzu: Polizei und Justiz, Unterricht und Bildung, Kunst und Kultur, ein flächendeckendes Gesundheitswesen, Infrastruktur, usw.
Alles das verteuert sich noch zusätzlich dadurch, daß der Staat nicht nur als normaler Käufer auftritt und den Marktpreis bezahlt, sondern auch noch im Versuche, seine Wirtschaft zu fördern, besonders gut zahlt, also über Marktpreis, bzw. durch seinen gesteigerten Bedarf und seine solide Zahlungsfähigkeit den Marktpreis in die Höhe treibt, z.B. im Falle der Medikamente.
Ein moderner Staat hat also einen großen Geldbedarf und beschränkte Einkünfte aus der Besteuerung seiner Bevölkerung.
Und so hat es sich eingebürgert, auch nicht gerade in neuerer Zeit, sondern seit ein paar Jahrhunderten, den fehlenden Geldbetrag durch Ausgabe von Anleihen zu ergänzen, also durch
3. Schulden
Diese Anleihen der verschiedenen Staaten haben inzwischen in den Bankschätzen der Nationalbanken die Edelmetalle ersetzt. Das gesamte Weltwährungssystem beruht also auf dem Vertrauen, das die Anleihen der wichtigen kapitalistischen Länder in der Finanzwelt genießen.
Ein Anleger, der Staatsanleihen kauft, worauf vertraut der eigentlich? Er vertraut darauf, daß der Staat 1. weiterbesteht und 2. zahlungsfähig bleibt. Die Zahlungsfähigkeit dieses Staates beruht jedoch auf seiner Verschuldungsfähigkeit. Ein Staat ist also nur so lange zahlungsfähig, als er vertrauenswürdig ist und seine Anleihen gekauft werden. Jeder Staat finanziert seine Verschuldung durch Neuverschuldung, und die Staatsschuld als ganze wächst. Kredit schafft weiteren Kredit.
Auch das ist alles kein Geheimnis, und galt solange als unbedenklich, als auch die nationale Wirtschaft, die ein solcher Staat verwaltet, prosperiert und sich das „Wirtschaftswachstum“ – eine volkswirtschaftliche Größe, von der eigentlich niemand so genau weiß, was in ihr eigentlich ausgedrückt ist – irgendwie proportional zur Verschuldung verhält. Während also niemand in Staatsanleihen von Zimbabwe investieren würde, galten diejenigen anderer Staaten bis vor nicht allzulanger Zeit als die solidesten Wertpapiere, die sich in diversen Portfolios finden können.
Es gab da zwar einen kleinen Betriebsunfall, Argentinien, der wurde aber seltsam cool als kleiner Kollateralschaden des Kreditsektors verbucht und man ging wieder zur Tagesordnung über.
Wenn es jetzt heißt, Griechenland (und auch andere Länder) müßten „Sparmaßnahmen ergreifen“, „ihren Haushalt in Ordnung bringen“ und „ihren Schuldenberg abbauen“, so ist das seltsam widersprüchlich angesichts der Ausgangslage: daß Schulden immer deshalb gemacht werden, um den Unterschied zwischen Einnahmen und Ausgaben zu überbrücken, und durch weitere Verschuldung finanziert werden.
Jetzt sollen auf einmal alle Staaten ihre Schuldenberge durch Sparen und Steuererhöhungen abtragen?
Wie soll das gehen?
Schulen zusperren, Ärzte entlassen, bestellte Panzer und Abfangjäger wieder abbestellen, Autobahnen nicht fertigbauen?
Und dabei Steuern erhöhen oder dort eintreiben, wo schon bisher nichts zu holen war?
Da bin ich aber neugierig, ob diese Maßnahmen „vertrauensbildend“ auf die „Märkte“ wirken werden, ganz unabhängig davon, wie die Bevölkerung vor Ort dagegen aufbegehrt.
Die Kosten des Kapitalismus, die der Staat bestreitet, sind nämlich zu dessen Aufrechterhaltung notwendig: Unterbleibt diese Hilfeleistung, so bricht das kapitalistische Geschäft zusammen.

Aus der Schatztruhe der Lösungsvorschläge zur Euro-Krise

HORST KÖHLERS „INSOLVENZORDNUNG“
„Der Vorstoß von Bundespräsident Horst Köhler für eine Insolvenzordnung für Staaten kommt nicht von ungefähr. Die Idee war ursprünglich von einem Gremium ersonnen worden, dem Köhler einst selbst vorstand. Der Bundespräsident war bis 2004 geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Doch die Insolvenz-Idee des Fonds zu Beginn dieses Jahrzehnts fand nie den Weg in die reale Politik. Grund waren Bedenken, dass mit einer Insolvenzordnung weitreichende Eingriffe in die Souveränität von Staaten verbunden seien. Der Plan liegt daher seitdem “wie eine lebende Leiche im Keller“, wie Mitarbeiter des IWF sagen.“ (Handelsblatt, 22.3.)
Eine innerstaatliche Insolvenzordnung, also rechtliche Grundlagen zur Abwicklung eines Bankrotts, bedeutet zunächst einmal, daß Mißerfolg in der Geschäftswelt als notwendiges Moment der Konkurrenz aufgefaßt wird. Es wird also damit anerkannt, daß ein Unternehmen, das zum Zwecke des Gewinnemachens angeleiert worden ist, dabei baden gehen kann. Die rechtsförmliche Abwicklung eines Bankrotts umfaßt Regelungen, wie die eingegangenen Verbindlichkeiten aus der Konkursmasse zu bedienen sind, welche Gläubiger Vorrang vor anderen haben, und wie Vergleiche zustandekommen können – daß also Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten, um überhaupt etwas von ihrem Geld zu sehen. In Insolvenzordnungen wird auch die Rangordnung der Gläubiger festgelegt: Banken, Lieferanten und Gehaltsforderungen haben einen unterschiedlichen Stellenwert. Im bürgerlichen Recht hat ein Masseverwalter, der vom Gericht bestellt wird, die Forderungen zu prüfen und über ihre Rechtmäßigkeit und das Ausmaß, in dem sie zu befriedigen sind, zu entscheiden.
Wenn jetzt Köhler laut darüber nachdenkt, ein Insolvenzrecht für Staaten zu entwerfen, so will er damit dieses Element des Zivilrechts in die Sphäre des Völkerrechts übertragen. Das hieße, daß eine allgemeine Instanz – sei es der IWF oder der angedachte EWF – sich über einen souveränen Staat stellt und diesen zu einem schiefgegangenen Unternehmen erklärt. Das erste, was einem bei diesem Vorschlag ins Auge springt, ist ein Angriff auf die Souveränität der Staaten, der sich gewaschen hat. Das betrifft einmal die Seite des Schuldners. Wer ist der Masseverwalter, und wie geht er vor gegen den Schuldner? Was ist die Konkursmasse, was geht alles in diese ein? Im Falle Griechenlands: Inseln, also Territorium? Infrastruktur? Private Unternehmen?
Zweitens, auch auf der Seite der Gläubiger hat es dieser Vorschlag in sich. Der vorgestellte übernationale Masseverwalter würde damit nämlich eine Einstufung der Gläubiger vornehmen, Welche Gläubiger haben Vorrang vor anderen? Andere Staaten, die Anleihen des betroffenen Schuldners in ihrem Staatsschatz haben; Hedgefonds, Pensionsfonds, Banken, aber auch private Unternehmen, die mit Unternehmen des betroffenen Staates Geschäfte gemacht haben, würden nach diesen Insolvenzregelungen eingestuft. Wer kriegt was, und wer schaut durch die Finger? Eine solche Insolvenzordnung macht einen vorgestellten Masseverwalter zum Herren über die gesamte Staatenwelt und über das gesamte internationale Kapital.
Als Köhler Chef des IWF war, hat er also ein solches ambitiöses Projekt ausgearbeitet. Warum daraus nichts geworden ist, ist klar: Es wäre eine Kampfansage an das internationale Geschäft und die gesamte Staatenwelt gewesen.
Diese „Leiche im Keller“ des IWF hat dennoch Folgen gehabt: Der IWF hat seinen Musterschüler Argentinien 2001/2002 pleite gehen lassen. Und das, nachdem Argentinien sich über ein Jahrzehnt lang allen Austerity-Programmen des IWF unterworfen, unter der Ägide des IWF sein Currency Board – die 1:1-Parität des Peso zum Dollar – eingerichtet, und alle Auflagen des IWF erfüllt hatte.
Die Folgen dieses Staatbankrotts für Argentinien selbst und für ganz Lateinamerika sind hier nicht Thema. Interessant ist hier die Frage, wie sich diese Zahlungsunfähigkeit Argentiniens für den internationalen Anleihenmarkt ausgewirkt hat. Staatsanleihen gelten generell als relativ risikofreie Anlage. Staaten, die nicht so vertrauenswürdig sind, müssen einen höheren Zins zahlen als solche, die als völlig solid eingestuft werden. Argentinien hatte zwar ein schlechteres Rating als die Länder der Eurozone, oder der EU, galt aber bis kurz vor seinem Konkurs als relativ verläßlicher Schuldner, vor allem wegen seiner engen Zusammenarbeit mit dem IWF.
Und auf einmal konnte es seine Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen. Seine Staatsanleihen waren junk bonds. Eine Menge Investoren in diese Staatsanleihen schauten durch die Finger.
Bemerkenswerterweise ist es dem internationalen Finanzkapital, dem IWF, den Medien gelungen, Argentiniens Staatsbankrott zu einem Sonderfall zu erklären und als solchen zu behandeln. Die betroffenen Gläubiger traten in Verhandlungen ein, und versuchten, zu retten, was zu retten war.
Es kam jedoch zu keiner internationalen Verunsicherung bezüglich Staatsanleihen. Der Umstand, daß ein Staat seine Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen konnte, hat zu keiner Verunsicherung oder Neubewertung von Staatsanleihen überhaupt geführt. Das völlig allgemeine Moment der Probleme Argentiniens – daß ein Staat sich über Verschuldung auf internationalen Finanzmärkten seine Zahlungsfähigkeit verschafft – wurde nicht in Zweifel gezogen.
Eine ähnliche Schadensbegrenzung versuchen deutsche Politiker jetzt an Griechenland zu vollziehen. Griechenland muß sich sanieren, sich selber aus der Scheiße ziehen – oder untergehen.
Den einen Umstand übersehen sie allerdings: Daß Griechenland Teil der Eurozone ist. Ein griechischer Staatsbankrott würde das Ende des Euro bedeuten.
Es ist in den letzten Monaten schon einiges an Unsinn über Griechenland, den Euro, Staatshaushalte, Anleihen usw. in den Medien verbreitet worden. Die deutschen Politiker schießen allerdings, was die Verbreitung von Blödsinn betrifft, den Vogel ab. Ihr Versuch, zu behaupten: Griechenland soll sich um sich selber kümmern und geht uns nix an, ist nichts weniger, als das ganze Projekt der Gemeinschaftswährung – ein vor allem ursprünglich deutsches Projekt! – scheitern zu lassen.
Es gibt also bei deutschen Häuptlingen anscheinend die Vorstellung: Wenn der Euro als Währung zerbröselt, macht uns das gar nix, und die DM ersteht wieder wie Phönix aus der Asche als starke und unangreifbare nationale Währung. Und das ist, gelinde gesagt, verrückt.

Die Auswirkungen der Krise in Rußland

PIKALJOVO — EINE BANKROTTE STADT

Die 22.000-Einwohner-Stadt im Bezirk Leningrad wurde erst im letzten Jahr in Rußland so richtig bekannt.
Sie zählt zu denjenigen Städten, für die in den letzten Jahren der Name „Mono-Stadt“ populär geworden ist. Mono-Stadt deshalb, weil die ganze Stadt aus sowjetischen Zeiten her sich um einen einzigen Großbetrieb herum abspielte, ja oft rund um ihn erst gebaut wurde. So ging die sowjetische Planwirtschaft seinerzeit vor: An dieser Stelle gibt es irgendwelche natürlichen Ressourcen, und/oder sie liegt auch transportmäßig günstig, da stellen wir ein So-und-so-Kombinat hin. Oft wurden Straßen oder Eisenbahnen dann erst direkt hin- oder nahe vorbeigebaut.

Solange das sowjetische System noch in Kraft war, also bis zur Mitte der 80-er Jahre, bevor die Perestrojka ihre zerstörerische Wirkung entfaltete, funktionierten diese Städte auch halbwegs. Die sozialen und kommunalen Aufgaben wurden entweder aus dem zentralen Budget oder über das Kombinat direkt finanziert.

Seither hat es erstens eine Privatisierung gegeben. Das Kombinat von Pikaljovo ging irgendwann um die Jahrtausendwende in den Besitz des Oligarchen Oleg Deripaska über. Er spaltete es in mehrere Betriebe auf: für Zement, Tonerde, Soda, Pottasche u.ä. Alle gehören zu Deripaskas Gruppe „Basic Element“, die auf der Kanalinsel Jersey und auf den Virgin Islands registriert ist.

Die Krise in Rußland erfaßte auch die Bau- und Schwerindustrie, und die in Pikaljovo hergestellten Grundstoffe wurden auf einmal nicht mehr nachgefragt. Ende 2008 und in den ersten Monaten von 2009 schlossen die 3 größten Betriebe Pikaljovos und setzten ihre Arbeiter auf die Straße, nachdem sie ihrnen vorher oft monatelang keinen Lohn gezahlt hatten – etwas, was in der Jelzin-Ära gang und gäbe war, und wogegen aufgrund der russischen Arbeitsverträge auch keine Handhabe gegeben ist. Der Arbeiter kann ausstehende Löhne bei keinem Arbeitsgericht einklagen, sondern höchstens auf Provinzebene Beschwerde einlegen. Das russische Arbeitsrecht ist nämlich absichtsvoll sehr diffus formuliert und auch sehr verschwiegen darüber, welche Instanzen überhaupt für Beschwerden zuständig sind. Es wird mehr oder weniger dem Ermessensspielraum der Regionalbehörden überlassen, wie sie Arbeitskonflikte regeln und wann sie wo die Augen zudrücken, eventuell gegen ein kleines oder größeres Bakschisch.

Diese elastischen rechtlichen Bestimmungen sind eines der Ergebnisse der Ära Putin und seiner Versuche, das Kapital der Oligarchen wieder ins Land zu locken, indem er ihnen günstige Ausbeutungsbedingungen zur Verfügung stellte.

Also, Deripaska gehören die Betriebe, er hat sie zugesperrt, mit einem Haufen Schulden gegenüber der Belegschaft, den Zulieferern, der Gemeinde und den Energieversorgern. Was soll man machen?! Deripaska ist heutzutage beinahe ein armer Schlucker … Ihn pfänden geht auf keinen Fall.

Außer der Privatisierung hat es in Rußland seit den 90-er Jahren auch noch eine Verwaltungsreform gegeben, innerhalb derer die Unkosten, die ein modernes Staatswesen so hat, vom staatlichen Budget nach unten, zu den Regionen, Landkreisen und Gemeinden verlagert wurden. Begleitet, ähnlich wie in anderen postsozialistischen Staaten, von den Schalmeienklängen in der Presse, daß hiermit endlich die Gängelung der Bürger durch die Zentralverwaltung aufhöre, und sich das Individuum in seiner gewohnten Umgebung endlich frei entfalten könne.

Woher nahm also Pikaljovo das Geld für seine Gemeindeausgaben?
Kindergärten, Bibliotheken, Straßenausbau und -ausbesserug, Autobusverkehr usw. will ja auch irgendwie bezahlt werden.
Solange bei den Betrieben von Pikaljovo der Schornstein noch rauchte, kam über Lohnsteuern und Verbrauchssteuern noch einiges herein. Körperschaftssteuer wird Herr Deripaska wohl kaum gezahlt haben, weil wenn er ein Bedürfnis dazu verspürt hätte, so hätte er seine Sub-Firmen ja gleich in Rußland registrieren lassen können und nicht in irgendeinem Steuerparadies.

Seit aber alles zugesperrt ist, kommt weder in die individuellen Haushaltskassen noch in die Gemeindekassen, noch in die Kassen der Energieversorger auch nur ein müder Rubel. Die Einwohner Pikaljovos hatten eine Zeitlang kein heißes Wasser, nahmen Löwenzahn-Salat und ähnliche (kostenlose) Delikatessen in ihr Menü auf und blockierten schließlich die wichtige Fernstraße, die Petersburg mit Vologda verbindet. Der Stau zog sich über ein paar 100 Kilometer, in beide Richtungen.
Pikaljovo hatte sich in ein Ordnungsproblem verwandelt.

Und die Regierungsspitze rückte an. Putin persönlich gab sich die Ehre und stellte erst einmal gegenüber den ausgesteuerten Arbeitern klar: Das letzte, was sie sich erlauben dürfen, ist, gegen die Gesetze zu verstoßen.
Im Anschluß daran machte er alle anwesenden Bezirks- und Gemeindefunktionäre zur Schnecke, einschließlich des etwas kleinlauten Deripaska – wofür eigentlich? Letzterer hatte Gewinne gemacht, und als er keine mehr machte, die Betriebe zugesperrt. Ganz normal, wie es in der Marktwirtschaft üblich ist und wie auch die Gewerkschaften überall inzwischen einsehen.
Und die lokalen Behörden: Sie hatten mit dem Geld gewirtschaftet, das ihnen zur Verfügung stand, und als keins mehr da war, was hätten sie tun sollen? Sie sind ja auf Marktwirtschaft verpflichtet worden, und darauf, daß sie ihre Einnahmen aus dem Wirtschaftsleben zu beziehen hätten, und nicht aus irgendeinem zentralen Geldreservoir. Gleichzeitig wurden ihnen aber alle Möglichkeiten beschnitten, in Form von Steuern und Abgaben legal an den Gewinnen der Unternehmen vor Ort mitzuschneiden, weil man damit die Unternehmer, die neuen Messiasse, womöglich vergrausigt hätte.

„Die überflüssige Bevölkerung wird vielmehr durch die Konkurrenz der Arbeiter unter sich erzeugt, die jeden einzelnen Arbeiter zwingt, täglich so viel zu arbeiten, als seine Kräfte ihm nur eben gestatten. Wenn ein Fabrikant täglich zehn Arbeiter neun Stunden lang beschäftigen kann, so kann er, wenn die Arbeiter zehn Stunden täglich arbeiten, nur neun beschäftigen, und der zehnte wird brotlos. Und wenn der Fabrikant zu einer Zeit, wo die Nachfrage nach Arbeitern nicht sehr groß ist, die neun Arbeiter durch die Drohung, sie zu entlassen, zwingen kann, für denselben Lohn täglich eine Stunde mehr, also zehn Stunden zu arbeiten, so entläßt er den zehnten und spart dessen Lohn.“

Oder, wie Deripaska, läßt alle eine Zeitlang weiterarbeiten, zahlt aber gar nichts.
Wenn es aber partout keine Käufer für die Produkte gibt, nützen alle Methoden der Mehrwertsteigerung nichts. Die Versilberung der Ware gelingt nicht.

„Wie hier im kleinen, so geht es bei einer Nation im großen. Die durch die Konkurrenz der Arbeiter unter sich auf ihr Maximum gesteigerten Leistungen jedes einzelnen, die Teilung der Arbeit, die Einführung von Maschinerie, die Benutzung der Elementarkräfte werfen eine Menge Arbeiter außer Brot. Diese brotlosen Arbeiter kommen aber aus dem Markte; sie können nichts mehr kaufen, also die früher von ihnen verlangte Quantität Handelswaren wird jetzt nicht mehr verlangt, braucht also nicht mehr angefertigt zu werden, die früher mit deren Verfertigung beschäftigten Arbeiter werden also wieder brotlos, treten vom Markte ebenfalls ab, und so geht es immer weiter, immer denselben Kreislauf durch“ (Engels, die Lage der arbeitenden Klassen in England, Die Konkurrenz) –

es sei denn, woanders gibt es wieder einen Aufschwung, was derzeit in Rußland nicht abzusehen ist.

Die Schulden Deripaskas bei den Arbeitern usw. wurden schließlich irgendwie aus Budgetmitteln der Region, mit Garantien aller Art, beglichen.

Das eigentlich Problem aber blieb bestehen: Was wird aus Pikaljovo, und ähnlichen Städten dieser Art, in Zukunft? Absiedeln? Wohin? Woanders ist ja auch keine Arbeit da. Die Überflüssigen werden sogar jeden Tag mehr.

Die Umstellung auf die Marktwirtschaft hat Rußland gebracht:
1. Eine willige und billige Arbeiterklasse, die durch die Entbehrungen der letzten 20 Jahre zu fast allem bereit ist, vorausgesetzt, sie wird angewandt,
2. eine Unternehmerklasse, die auf der ganzen Welt zuhause ist und sehr wählerisch, wo sie wie investiert oder auch, wann sie wo zusperrt,
3. einen Verwaltungsapparat, der dem Ideal, das IWF, EU-Institutionen und Marktwirtschafts-Gurus verbreiten – funktionieren soll alles, aber kosten solls nix – sehr nahe kommt, und
4. eine Staatsführung, die im Zweifelsfall klarstellt, daß sie alle ihr zur Verfügung stehende Gewalt einsetzen wird, damit das alles auch so bleibt, Krise hin oder her.