Pressespiegel EL País, 30.9.: Russische Offensive in der Ukraine

DIE ANNEXION DER UKRAINISCHEN GEBIETE MACHT DEN KRIEG ZU EINER CHRONISCHEN ERSCHEINUNG

Ruth Ferrero-Turrión (Gastkommentar)

Zweifellos haben die Konsultationen, die vom 23. bis 27. September in den ukrainischen Regionen Donbass, Cherson und Saporischschja stattfanden, eine neue Phase des russischen Eroberungskriegs eingeläutet.
Diese sogenannten Unabhängigkeitsreferenden, die keinerlei rechtliche oder prozedurale Garantie hatten, haben in ihren Ergebnissen keine Überraschungen hervorgebracht: Die Option der Annexion hat mit großer Mehrheit gewonnen.

Die Abhaltung dieser Konsultationen sollte nicht als isoliertes Ereignis gesehen werden. So wurde der Befehl zur Fortsetzung der Referenden parallel zum Dekret über die teilweise Mobilisierung von Soldaten für den Fronteinsatz im Rahmen einer ukrainischen Gegenoffensive verwirklicht, die alle Alarme im Kreml auslöste.
Diese beiden Anordnungen, zusammen mit der Reform des Strafgesetzbuches, die die Strafen für diejenigen verschärft, die es wagen, sich der Einberufung zu entziehen, fielen auch mit dem Unbehagen zusammen, das mehrere der wichtigsten Partner Moskaus, China und Indien, wegen der Verlängerung des Krieges auf dem Gipfeltreffen in Samarkand (Usbekistan) zum Ausdruck gebracht hatten.

Die Referenden und die anschließende Eingliederung dieser Gebiete in die Russische Föderation bedeuten drei wesentliche strategische Ziele für den Kreml.

Erstens, der Öffentlichkeit die zumindest teilweise Verwirklichung eines der Ziele zeigen zu können, mit denen dieser Feldzug gestartet wurde, den Wiederaufbau von Noworossija (Neurussland), d.h. die imperiale Idee von Katharina der Großen, wodurch die östlichen und südlichen Gebiete der Ukraine in die russische Nation eingegliedert würden.
Mit dieser Ankündigung möchte man zeigen, dass der Krieg nicht umsonst war und dass die Mobilisierung des russischen Volkes unerlässlich ist, um diese vom Feind eroberten neuen Gebiete zu verteidigen.

Zweitens, das Risiko einer nuklearen Eskalation in den Blickpunkt zu rücken.
Die russische Militärdoktrin deckt den Einsatz von Atomwaffen für den Fall ab, dass ein Teil des russischen Territoriums angegriffen wird, und dies schließt die kürzlich eingegliederten Regionen ein, wie Außenminister Sergej Lawrow vor einigen Tagen erneut gegenüber den Vereinten Nationen betonte.

Das dritte Ziel, das hier erreicht wurde, betrifft das Einfrieren des Konflikts, etwas, das es Rußland ermöglicht, Zeit zu gewinnen, um seine Kräfte und Fähigkeiten neu zusammenzustellen.

Putin glaubt nach wie vor, dass seine klassischen Abschreckungsmanöver funktionieren können.

Aus verschiedenen Sphären westlicher und ukrainischer Macht scheinen die Drohungen aus Moskau jedoch wenig Wirkung zu zeigen. Vielmehr wird im Gegenteil eine Lesart vorgenommen, die in diesen Bewegungen einen offensichtlichen Beweis für die Schwäche von Putins Macht und ein Bekenntnis zur Verschärfung des Konflikts bis zur endgültigen Niederlage Russlands sieht. Sie glauben keiner der Drohungen des Kremls.

Es ist überraschend, dass diejenigen, die sich am meisten für Aufrüstung und Militarisierung einsetzen, diejenigen, die davor gewarnt haben, dass Putin es ernst meint, diejenigen, die damit prahlen, dass sie mit ihrer Vorhersage der Invasion Recht hatten, jetzt am wenigsten bereit sind, Moskau ernst zu nehmen.

Und doch hat Putin jede seiner Drohungen früher oder später auch wahr gemacht. Er tat dies im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, aber auch 2021 mit der Veröffentlichung eines im Juli letzten Jahres veröffentlichten Artikels, in dem er vor seinen Plänen in Bezug auf die Ukraine warnte und sogar seine bloße Existenz als Nation leugnete.

Vielleicht wäre es nicht unangemessen, seine jüngsten Bedrohungen zu berücksichtigen, um eine Strategie zu formulieren, die es zumindest ermöglicht, sie zu neutralisieren. In der Zwischenzeit wird Russland mit der Annexion dieser Gebiete die Dauerhaftigkeit und Verlängerung des Krieges erreicht haben.“

Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Rußland bezeugt hier seinen Willen, den Krieg weiterzuführen.
Allerdings wurden inzwischen die Kriegsziele neu formuliert und die Eroberung des Donbass als Minimalziel angegeben. Die „Entnazifizierung“ der Ukraine, d.h., das Auswechseln ihrer Führungsspitze, ist offenbar aufgegeben worden …
Demgegenüber steht die Verlautbarung der ukrainischen Politiker, alle besetzten Gebiete einschließlich der Krim zurückerobern zu wollen, für die sie auch die Rückendeckung ihrer westlichen Verbündeten – USA, Polen, GB – haben.

Pinnwand zu heißen Themen

IMPERIALISMUS, NATIONALISMUS UND PROPAGANDA RUND UM DEN UKRAINE-KRIEG

Es ist wieder einmal nötig, zu diesen Themen eine Pinnwand zu erstellen, da es offenbar viel Interesse daran gibt und auch genug Material.

Ich werde mich hier wenig einbringen, aber ich bin überzeugt, andere werden das schon übernehmen.

Vor allem, da der Blog von Neo jetzt verschwunden ist, bleibt sein Fanclub offenbar mir. 🙂

Was hat Rußland in der Ukraine eigentlich vor?

UNKLARES KRIEGSZIEL

Putin hat in seiner Rede vom 24. Februar das Ziel seines Einmarsches angegeben:

„Russland kann sich unter der Bedrohung durch die moderne Ukraine nicht sicher fühlen. Die Umstände erfordern entschlossenes Handeln. Die Volksrepubliken Donbass baten um Hilfe. (…)
Und dafür werden wir die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine anstreben. Sowie diejenigen vor Gericht zu bringen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen Zivilisten begangen haben, darunter Bürger der Russischen Föderation. Gleichzeitig beinhalten unsere Pläne nicht die Besetzung ukrainischer Gebiete.“

Das ist im Grunde ein widersprüchliches Unterfangen. Man muß sich vor Augen halten, was die angestrebte „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ bedeuten würde, nämlich das Auswechseln der gesamten Verwaltung, des Sicherheitsapparates, der Militärführung usw. usf., was ohne Besatzung gar nicht zu machen wäre. Ein Land von der Ausdehnung der Ukraine dauerhaft zu besetzen, liegt jedoch aus verschiedenen Gründen außerhalb der Möglichkeiten Rußlands.
Als Putin diese Kriegsziele formulierte, ging er offenbar davon aus, daß die „gute“ Bevölkerung der Ukraine von einer „bösen“ Nazi-Clique beherrscht wird(*1), die sie lieber heute als morgen abschütteln würde, und deshalb die russische Armee als Befreier betrachten würde.
Da hat aber der FSB sehr schlecht gearbeitet, wenn er dem Chef dieses Bild vermittelt hat. Und einiges an Wunschdenken dürfte hier auch unterwegs gewesen sein, aber auch die realsozialistische Erziehung, die immer von einer guten, aber verführten Bevölkerung ausging, einem klassenbwußten Proletariat, das von bösen Führern fehlgeleitet wurde und wird. Und natürlich, Verrätern und 5. Kolonnen im eigenen Land, die es zu vernichten gilt.

Bald zwei Monate und gewaltige Zerstörungen und viele Tote später dürfte sich herausgestellt haben, daß dieses Kriegsziel nicht zu erreichen sein wird, weil es auf falschen Voraussetzungen beruht hat.

Seither toben offenbar Kämpfe innerhalb des Kreml, was mit dieser „Spezialoperation“ eigentlich zustande kommen soll?

Die russische Führung muß sich nämlich darüber im Klaren sein, daß erobertes Gebiet so aussehen wird wie Mariupol, d.h. einiges an Wiederaufbau nötig sein wird, falls sich die russische Macht dauerhaft dort festsetzen wird.
Sie muß sich ebenfalls darüber im Klaren sein, daß alle Gebiete, aus denen es sich zurückzieht, von den ukrainischen Streitkräften einer Säuberung unterzogen wird, wo dortige Verräter und 5. Kolonnen ausfindig gemacht, und vertrieben oder liquidiert werden.

Man erinnere sich an die Jugoslawienkriege und die bis damals größte Vertreibungsaktion seit 1945, die 200.000 Vertriebenen aus der Krajna.

Alle Gebiete, die Rußland erobert und aus denen es sich nachher wieder zurückzieht, würden also weitere Flüchtlingswellen zur Folge haben. Bereits jetzt ist nach russischen Angaben mehr als eine halbe Million Menschen nach Rußland geflüchtet, oder mußte aus zerstörten Gebieten nach Rußland evakuiert werden.

Weiters muß sich die russische Führung in Betracht ziehen, daß der Westen nie die Eroberung von Odessa zulassen würde, weil dieser Hafen das einzige Ausfallstor für die inzwischen sehr beträchtliche landwirtschaftliche Produktion der Ukraine ist. Durch Land-Grabbing und Investitionen von europäischem Agrarkapital hat sich hier eine sehr profitable Geschäftsshäre entwickelt, die die ganze Welt mit Nahrungsmitteln versorgt. Odessa hat dadurch die Rolle zurückerhalten, die es in zaristischen Zeiten gespielt hat.
Da es eine mehrheitlich russisch bewohnte Stadt ist, ist im Falle eines Verbleibes bei der Ukraine mit einer Vertreibungswelle durch die ukrainischen Behörden zu rechnen.

Putin wäre also gut beraten, bei einer Neuformulierung seiner Kriegsziele die militärischen und ökonomischen Mittel Rußlands in Betracht zu ziehen.

Bevor aber keine Entscheidung gefallen ist, was Rußland dort erreichen will und auch erreichen kann, gibt es nichts, worüber es mit der ukrainischen Führung verhandeln könnte.

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(*1) Natürlich gab und gibt es viel Unzufriedenheit in der Ukraine wegen der Armut und des Elends, die dort teilweise herrscht (=> Leihmütter) und den korrupten Eliten, die sich schamlos die Taschen füllen.
Aber diesbezüglich ist ja die Lage in Rußland nicht so viel besser, daß die russischen Truppen deshalb als Retter begrüßt werden würden.