Pressespiegel Komsomolskaja Pravda: 100 Jahres-Jubileum der Gründung der Sowjetunion

„EIN LAND GROSSER TATEN ODER EIN TRAGISCHES EXPERIMENT: WAS WAR DIE UDSSR WIRKLICH?

Am 30. Dezember jährt sich die Entstehung der UdSSR zum 100. Mal
Wir kennen die UdSSR als eine der größten Mächte ihrer Zeit. Doch weniger als 70 Jahre sind vergangen, seit das Land, das immer noch Millionen mit Nostalgie erfüllt und das zu einem Symbol für Stabilität und Macht geworden war, zusammenbrach. So schnell wie sie geboren worden war.“

Nun ja. Zur Entstehung waren 2 Revolutionen (die von 1917) bzw. 4 (wenn man die von 1905 und 1912 dazuzählt) und ein mehrjähriger Krieg und Bürgerkrieg vonnöten. Für den Zerfall genügte ein feuchtfröhlicher Abend zu dritt auf einer Datscha in Weißrußland.

„Was war also die UdSSR? Ein großes und tragisches Experiment, das den Schlußstrich unter das Russische Reich zog, oder eine glänzende Zukunft, in der wir lebten, aber sie nicht verstanden, weil wir ihr nicht gewachsen waren?
Wir haben darüber mit dem Historiker Pavel Pryanikov und dem Autor des Buches »Der Geheimcode der UdSSR« Alexander Myasnikov gesprochen.

Mit Austrittsrecht geködert

KP: Für den Umstand, daß die Sowjetunion schließlich zusammenbrach, beschuldigen viele ihre Gründer: Lenin und Stalin.
Sie gewährten jeder Republik das Recht, auf eigenen Wunsch aus der UdSSR auszutreten. Wovon die Republiken 1991 Gebrauch machten. Warum also stimmten sie vor 100 Jahren solchen Bedingungen für die Gründung der Union zu? Wussten sie nicht um die zerstörerische Kraft dieses Austrittsrechtes?

PP: Versetzen Sie sich kurz in die damalige Situation. 1922 hat das Land bereits Finnland, das Baltikum, Polen und die Hälfte Moldawiens verloren. Russland war so schwach, dass es sogar gezwungen war, Esten und Letten einen Teil seines Territoriums (Isborsk) zu überlassen und Reparationen (mehrere Tonnen Gold) zu zahlen. Alles lag in Trümmern. An der Staatsspitze standen Menschen, die noch nie mit Staatsführung zu tun hatten. Der Erste Weltkrieg, dann die Revolution und der Bürgerkrieg hatten die dünne Schicht der Regierungsbeamten – 2 Prozent der Bevölkerung – weggespült.

KP: Und dann beschlossen die verbleibenden Republiken, sie mit einem solchen „Zuckerbrot“ in die gemeinsame Union zu locken?

PP: Natürlich. Sie mussten sie zumindest unter allen Umständen vereinen – mit der Verlockung: Wenn es dir nicht gefällt, kannst du gehen.
Damals war es wichtig, einfach ein einheitliches wirtschaftliches und politisches Gebilde zu schaffen. Denn einige der Republiken waren strategisch wichtig: Ohne die Ukraine hätte Russland nicht überlebt – als Hauptkornkammer plus Kohle und Stahl. Es ging darum, Armut und Hoffnungslosigkeit hinter sich zu lassen. Deshalb kam es zu großen Zugeständnissen.

Die Alternativen und die Kompromißformel

KP: Wer hat die Gründung der Union in dieser Form initiiert? Haben Stalin und Lenin verstanden, dass nationale Republiken eine schlechte Option sind?

AM: Lenin hatte eine Ansicht darüber, wie der neue Staat eingerichtet werden sollte, Stalin hatte eine andere.
Laut Lenin sollte dies die UdSREuA sein – die Union der Sowjetrepubliken Europas und Asiens. Diese Konstruktion unterstützte Leo Trotzki. Sie entsprach den Zielen der Komintern, also der künftigen Weltrevolution.
Stalin schlug eine alternative Option vor: Alle Republiken sollten als autonom Regionen Teil Rußlands werden, ohne Austrittsrecht.
Das heißt, die UdSSR erwies sich als Kompromiss zwischen der UdSREuA und der RSFSR.“

Die Leninsche Konstruktion bleibt in diesem Gespräch unklar. Es scheint, daß er noch mehr Teilrepubliken vorgesehen hätte, wobei Rußland noch weniger Gewicht gehabt hätte, und alles mit Austrittsrecht.
Demzufolge ist es nur Stalin zu verdanken, daß die UdSSR überhaupt 70 Jahre bestehen konnte.
Man darf an dieser Stelle nicht vergessen, daß dieser Unions-Gründungsvertrag der SU zum Vorbild für die Verfassungen Jugoslawiens (von 1974) und der Tschechoslowakei wurde.

„PP: Lenin war Maximalist, er glaubte, dass wir weiter expandieren würden, dass es eine »Republik Zemshara« (= Erdkugel) geben würde. Stalin bewegten eher taktische Überlegungen.
Ende der 1930er Jahre gestand er: »Was bin ich im Vergleich zu Lenin? Ein bloßes Insekt.« Das sagte er in seinem berühmten Trinkspruch am 7. November 1937 in Woroschilows Wohnung.

Im Kaukasus rumorte es

KP: Die Grenzen der Unionsrepubliken – wer zog die?

PP: Formal das Ministerium für Nationalitäten. Das unterstand Stalin. Aber die Koordination ging immer noch über Lenin, über das Zentralkomitee. Es war eine schwierige Aufgabe. Damals wußte niemand, wie man das anstellen sollte.“

Das ist heute noch genauso, nicht nur in Rußland.

„Sie zogen sie ungefähr dort, wo die ethnische Mehrheit war. Und später wurden die Grenzen noch ein paar Mal geändert.

KP: Damals gab es noch die Transkaukasische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (TSFSR). Es umfasste Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Abchasien.

AM: Ja. Sie gehörte zusammen mit Weißrussland, der Ukraine und der RSFSR zu den vier Gründern der UdSSR. Die Bolschewiki glaubten, dass die Vereinigung Transkaukasiens in der TSFSR notwendig sei, um dort nationalistische Aufstände zu verhindern. Dies war die unruhigste Region. Der armenisch-aserbaidschanische Krieg von 1918 bis 1920 bereitete große Sorgen. Damals gab es Massaker und ethnische Säuberungen.

Lenin blendete die Ukraine

KP: Wie kamen sie auf die Idee, ganz Neurußland an die Ukraine zu übergeben?

AM: Auf Beschluss Lenins. Die Ukrainische SSR wurde 1919 auf einem Kongress in Charkow (der Hauptstadt der damaligen Republik Donezk-Kriwoj Rog) proklamiert. Es wird traditionell so angesehen, dass sie auf dem Territorium von Kleinrußland gebildet wurde. Aber in Wirklichkeit umfasste sie auch den größten Teil von Neurußland – das Gebiet von Chisinau bis Lugansk, d.h. die gesamte Schwarzmeerküste und die Küste des Asowschen Meeres.“

Hier ist natürlich auch eine gewisse Geschichtsklitterung bzw. Verlegenheit zu beobachten, denn dieses Gebiet war damals umstritten zwischen den Machnowzy, Kosaken und den Interventionsarmeen. Die Kongreßdelegierten in Charkow vertraten also ein Territorium, das sie nicht kontrollierten.

„Sehen wir die Fakten an: Im Januar 1918 unterzeichneten Vertreter der ukrainischen Zentralrada einen separaten Friedensvertrag mit Deutschland und Österreich. Die Besetzung der Ukraine begann. Bis Mai besetzten sie das Territorium der Sowjetrepublik Donezk-Krivoy Rog, Teile von Taurien und der Volksrepublik Odessa vollständig. Aber als nach der Kapitulation Deutschlands und Österreichs im Ersten Weltkrieg die Gebiete befreit wurden, verbot Lenin kategorisch ihre Rück-Eingliederung in das Territorium Rußlands. Er bestand darauf, sie der Ukraine anzuschließen.
Und sobald die Ukrainische SSR gegründet wurde, begann das, was als Politik der Ukrainisierung („Verwurzelung“) in die Geschichte eingegangen ist. Das heißt, die übereilte Schaffung der „ukrainischen Sprache“ und ihre gewaltsame Einführung.
Charkow blieb übrigens bis 1934 Hauptstadt der Ukraine.

Die nationale Frage

KP: Wer zog die Grenzen innerhalb der Russischen Föderation?

AM: Am Tag, nachdem die Welt von der Gründung der UdSSR erfahren hatte, schrieb Lenin in sein Notizbuch:
»Internationalismus … sollte nicht nur in der Einhaltung der formalen Gleichheit der Nationen bestehen, sondern auch in einer solchen Ungleichheit, die seitens der Unterdrückernation, einer großen Nation, die im Leben tatsächlich entstehende Ungleichheit kompensieren würde.«“

Das heißt also als Antwort auf die eigentlich unbeantwortete Frage: Die anderen Republiken wurden auf Kosten der russischen Föderation bevorzugt, in strittigen Fragen entschied man gegen russische Bevölkerungsmehrheiten.

„KP: Hat die nationale Frage als Ergebnis die UdSSR zum Einsturz gebracht?

AM:  Stalin hat vor dieser Gefahr gewarnt. Er wies darauf hin, dass es notwendig sei, dem Spiel der »nationalen Unabhängigkeit« ein Ende zu setzen, alle Republiken fest Moskau unterzuordnen und sie in Zukunft insgesamt zu liquidieren und einen einheitlichen Sowjetstaat zu schaffen.
Lenin kritisierte diesen »stalinistischen Plan«. Und sehr scharf …

KP: Wieso denn?

PP: Lenin hatte wirklich Angst vor russischem Großmachts-Chauvinismus. Deshalb wurden nicht nur angestammte Territorien Rußlands abgetrennt, sondern Rußland war auch das einzige Mitglied der Föderation, das im Gegensatz zu anderen Republiken weder eine eigene Kommunistische Partei noch eine Akademie der Wissenschaften erhielt.

Was wäre geschehen, wenn es keinen (II. Welt-)Krieg gegeben hätte?

KP: Die UdSSR hatte eine Vielzahl großartiger Errungenschaften. Hätten wir ohne diese den Großen Vaterländischen Krieg gewinnen können?

PP: Ohne sie hätte es keinen Krieg gegeben. Denn statt eines riesigen Landes hätte es 30-40 kleine Staaten gegeben. Russland wäre in verscheidene Gebiete zerrissen worden, die Satelliten anderer Mächte gewesen wären. Die Ukraine oder Georgien wären wie Rumänien oder Ungarn unter deutschen Einfluß geraten.
Der Ferne Osten wäre den Amerikanern und den Japanern zugefallen. Der Kaukasus wäre pro-türkisch und Karelien gehörte zu Finnland. Weißrussland wäre Teil Polens geworden. Mit einem Wort, es hätte niemanden gegeben, der (durch Deutschland) zu bekämpfen gewesen wäre.

KP: Und was wäre von Russland übrig geblieben?

PP: Das großrussische Kernland. Wie unter Iwan dem Schrecklichen – bis zur Wolga. Rundherum 30 bis 40 Staaten. Zentralasien wäre unter britischen Einfluss geraten. Nun, mit wem soll man kämpfen? Es wäre eingenommen worden, ohne daß es jemand bemerkt hätte.
Die Sowjetunion hingegen schuf einen Superstaat.

Der Westen zwang uns, Großmacht zu werden

KP: Die Industrialisierung, der GOELRO-Plan (des Staatlichen Elektrifizierungs-Ausschusses) gilt als Errungenschaft der Sowjetunion.

PP: Die UdSSR hat hier nichts erfunden. Alle großen Infrastrukturprojekte der Welt wurden unter der Führung des Staates oder durch die Streitkräfte des Staates durchgeführt. Nur der konnte es tun.

KP: Sind Sozialleistungen auch ein Verdienst des Sowjetstaates? Schulen, Kliniken, ein Achtstundentag…

PP: Die Sowjetunion übernahm das deutsche System, dass der Staat eine strenge Bildungs-, Gesundheits-, Sanitärpolitik betreiben sollte …
Lenin verstand, dass Fabriken gebildete Arbeiter brauchen, Armeen gebildete, gesunde Soldaten brauchen.

KP: Die Monarchisten behaupten, dass sowohl GOELRO als auch die allgemeine Alphabetisierung Pläne von Nikolaus II. waren, die die Bolschewiki einfach kopiert haben.

PP: Alles hat seine Zeit. Vielleicht hatte dieser Zar Pläne, aber er war zu spät dran.
In Deutschland begann die Zentralisierung von Bildung und Gesundheit in den 1870er Jahren. Rußland war genötigt, dies in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts durchzuführen. Die Transsibirische Eisenbahn war eine gute, richtige Idee. Aber es hätte in den 1870er Jahren geschehen sollen, nicht zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wir hätten Millionen von Bauern aus Zentralrussland umsiedeln und eine Revolution vermeiden können. Die verschiedenen Zaren dachten sich viel aus, aber alles war 20–30 Jahre zu spät.

KP: Die UdSSR war doch bei vielen Dingen Pionier. Sie schickte einen Menschen in den Weltraum. Sie erfand die Wasserstoffbombe. Liegt das auch nur an der Rivalität mit dem Westen?

PP: Konfrontation bringt immer viel hervor. Aber wenn Lenin länger gelebt hätte, hätte sich das Land höchstwahrscheinlich mehr in eine konsumorientierte Richtung entwickelt.
Die NEP wäre nicht eingeschränkt worden, viele Leben wären gerettet worden, es hätte nicht so schreckliche Repressionen gegeben.
Andererseits gäbe es keine große Industrialisierung, keine Großindustrie. Russland wäre ein mäßig entwickeltes Land. Und wir wissen nicht, ob es die Randgebiete in seinem Staatsbestand gehalten hätte.

Opfer hätten vermieden werden können

KP: Die UdSSR hatte aber auch viele unerfreuliche Züge. Das Gulag, die totale Gleichmacherei, weitverbreitete Armut. Und all dies führte zum Totalitarismus und der Apathie in der Bevölkerung.

PP: Das ist eben der industrielle Durchbruch, für den unser Staat bezahlt hat. Wenn man in 20 Jahren den Weg zurücklegen muß, der in 50 bis 100 Jahren schrittweiser Reformen zurückgelegt werden müsste, so sind Opfer unausweichlich.
Es gibt ein russisches Modell der staatlichen Führung: Es schwankt ständig wie ein Denkmal, zwischen Stagnation und Akkordarbeit. Die ganze Geschichte des Landes ist so aufgebaut. Peter I. übertraf in seinen Reformen sogar Stalin in Bezug auf menschliche Verluste. Aber Stalins Problem ist, dass dies vor unseren Augen geschah.

Gibt es die Möglichkeit einer Wiedervereinigung?

KP: 1991 fand der Zusammenbruch der UdSSR statt. Aber wurden nicht die slawischen Schwestern – Russland, Ukraine und Weißrussland – künstlich auseinanderdividiert?

PP: Seien wir ehrlich: Die Spaltung zwischen Russland, die Ukraine und Weißrussland fand nicht 1991 statt, sondern im 15. und 16. Jahrhundert, als ein Zweig des russischen Volkes zum Moskauer Zarenreich wurde und die anderen beiden Teil der litauisch-polnischen Republik. Damit war alles entschieden. In der UdSSR und sogar in der späten Zarenzeit versuchte man, die Unterschiede auszugleichen, aber das Vermächtnis eines getrennten Lebens im Laufe von zwei oder drei Jahrhunderten erfüllte seine Aufgabe, vor allem bei den Eliten.
Die Eliten der Ukraine hatte unter den Polen eine lediglich untergeordnete Position – das inspirierte die ukrainischen Intellektuellen, sich als eigene Nation zu emanzipieren.“

Das ist nicht ganz richtig, weil Teile der Ukraine – Sumi, Tschernigow, später Kiew – gehörten zum Zarenreich, und auch dort wurden die Eliten nur dann anerkannt, wenn sie sich assimilierten (=> Emser Dekret).

„KP: Aber warum hat dann die Sowjetunion selbst die Ukrainisierung der Ukraine so heftig propagiert?

PP: Man muß sich vor Augen halten, dass die Westukraine in den 1920er und 1930er Jahren in Polen, der Tschechoslowakei und Rumänien gelandet ist. Und die Bolschewiki mussten den Menschen, die dort gelandet waren, die »vorbildliche Ukraine« als Beispiel zeigen. »Unterdrücken dich die Polen, lassen dich nicht Ukrainisch sprechen? Aber daneben ist die wunderbare Ukraine, wo die Ukrainer alles haben.«

KP: War das in Weißrussland auch so?

PP: Teilweise. Denn ein Drittel von Weißrussland landete auch in Polen. Bitte beachten Sie, dass es in anderen Republiken der UdSSR keine so aggressive Förderung des Nationalismus’ gab.

Wir erinnern uns an Stabilität

KP: Warum denken so viele Menschen mit Nostalgie an die UdSSR zurück?

AM:  Damals waren die Spielregeln klar und die Menschen konnten ihr Leben planen. Niemand in der UdSSR kannte den chinesischen Fluch: »Mögt ihr in einer Zeit des Wandels leben!« Einer der Verdienste der UdSSR war das Vertrauen in die Zukunft. Und die Menschen werden von Stabilität angezogen.

PP: Das ist ein sehr wichtiges psychologisches Gefühl von Stabilität und Sicherheit. Wenn man nicht darüber nachdenken muß, ob man morgen seine Familie ernähren kann.

KP: Für welche spezifischen Jahre sind die Menschen so nostalgisch?

PP: Natürlich sehnen sie sich nach der Breschnew-Ära. Die Menschen erinnern sich an die Zeit, in der sie selbst gelebt haben, als es keine großen Kriege und Repressionen gab – das sind die 60er, -70er Jahre, die erste Hälfte der 80er Jahre. Das war die Blütezeit der Sowjetunion. Die Menschen waren überzeugt, dass morgen besser sein wird als heute. Damals gab es diese Überzeugung.

Die letzte Utopie

KP: Was war also die UdSSR? Ein grandioses tragisches Experiment? Oder eine Ära großer Errungenschaften?

PP: Vielleicht war sie die letzte Utopie der Welt, die gut anfing.
Niemand – weder Marx noch Engels und vor allem Lenin – dachten nicht, als sie über den Übergang zum Sozialismus sprachen, daß dieser so viele Opfer fordern würde. Die UdSSR begann zu früh. Sie wurde auf der Grundlage eines sehr armen, analphabetischen Bauernlandes ausgerufen – in eine Gesellschaft, die diese Umgestaltung schwer annahm. Und vieles lief von Anfang an schief. Alles musste laufend geändert werden, man lebte dauernd auf Abruf. Lenins Traum von einer sozialistischen Weltrepublik musste schnell aufgegeben werden. Dann wurde die NEP aufgegeben … Ja, es war ein Experiment. Aber ein großartiges, nicht ohne einen gewissen Zauber.

Pressespiegel EL País, 30.9.: Russische Offensive in der Ukraine

DIE ANNEXION DER UKRAINISCHEN GEBIETE MACHT DEN KRIEG ZU EINER CHRONISCHEN ERSCHEINUNG

Ruth Ferrero-Turrión (Gastkommentar)

Zweifellos haben die Konsultationen, die vom 23. bis 27. September in den ukrainischen Regionen Donbass, Cherson und Saporischschja stattfanden, eine neue Phase des russischen Eroberungskriegs eingeläutet.
Diese sogenannten Unabhängigkeitsreferenden, die keinerlei rechtliche oder prozedurale Garantie hatten, haben in ihren Ergebnissen keine Überraschungen hervorgebracht: Die Option der Annexion hat mit großer Mehrheit gewonnen.

Die Abhaltung dieser Konsultationen sollte nicht als isoliertes Ereignis gesehen werden. So wurde der Befehl zur Fortsetzung der Referenden parallel zum Dekret über die teilweise Mobilisierung von Soldaten für den Fronteinsatz im Rahmen einer ukrainischen Gegenoffensive verwirklicht, die alle Alarme im Kreml auslöste.
Diese beiden Anordnungen, zusammen mit der Reform des Strafgesetzbuches, die die Strafen für diejenigen verschärft, die es wagen, sich der Einberufung zu entziehen, fielen auch mit dem Unbehagen zusammen, das mehrere der wichtigsten Partner Moskaus, China und Indien, wegen der Verlängerung des Krieges auf dem Gipfeltreffen in Samarkand (Usbekistan) zum Ausdruck gebracht hatten.

Die Referenden und die anschließende Eingliederung dieser Gebiete in die Russische Föderation bedeuten drei wesentliche strategische Ziele für den Kreml.

Erstens, der Öffentlichkeit die zumindest teilweise Verwirklichung eines der Ziele zeigen zu können, mit denen dieser Feldzug gestartet wurde, den Wiederaufbau von Noworossija (Neurussland), d.h. die imperiale Idee von Katharina der Großen, wodurch die östlichen und südlichen Gebiete der Ukraine in die russische Nation eingegliedert würden.
Mit dieser Ankündigung möchte man zeigen, dass der Krieg nicht umsonst war und dass die Mobilisierung des russischen Volkes unerlässlich ist, um diese vom Feind eroberten neuen Gebiete zu verteidigen.

Zweitens, das Risiko einer nuklearen Eskalation in den Blickpunkt zu rücken.
Die russische Militärdoktrin deckt den Einsatz von Atomwaffen für den Fall ab, dass ein Teil des russischen Territoriums angegriffen wird, und dies schließt die kürzlich eingegliederten Regionen ein, wie Außenminister Sergej Lawrow vor einigen Tagen erneut gegenüber den Vereinten Nationen betonte.

Das dritte Ziel, das hier erreicht wurde, betrifft das Einfrieren des Konflikts, etwas, das es Rußland ermöglicht, Zeit zu gewinnen, um seine Kräfte und Fähigkeiten neu zusammenzustellen.

Putin glaubt nach wie vor, dass seine klassischen Abschreckungsmanöver funktionieren können.

Aus verschiedenen Sphären westlicher und ukrainischer Macht scheinen die Drohungen aus Moskau jedoch wenig Wirkung zu zeigen. Vielmehr wird im Gegenteil eine Lesart vorgenommen, die in diesen Bewegungen einen offensichtlichen Beweis für die Schwäche von Putins Macht und ein Bekenntnis zur Verschärfung des Konflikts bis zur endgültigen Niederlage Russlands sieht. Sie glauben keiner der Drohungen des Kremls.

Es ist überraschend, dass diejenigen, die sich am meisten für Aufrüstung und Militarisierung einsetzen, diejenigen, die davor gewarnt haben, dass Putin es ernst meint, diejenigen, die damit prahlen, dass sie mit ihrer Vorhersage der Invasion Recht hatten, jetzt am wenigsten bereit sind, Moskau ernst zu nehmen.

Und doch hat Putin jede seiner Drohungen früher oder später auch wahr gemacht. Er tat dies im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, aber auch 2021 mit der Veröffentlichung eines im Juli letzten Jahres veröffentlichten Artikels, in dem er vor seinen Plänen in Bezug auf die Ukraine warnte und sogar seine bloße Existenz als Nation leugnete.

Vielleicht wäre es nicht unangemessen, seine jüngsten Bedrohungen zu berücksichtigen, um eine Strategie zu formulieren, die es zumindest ermöglicht, sie zu neutralisieren. In der Zwischenzeit wird Russland mit der Annexion dieser Gebiete die Dauerhaftigkeit und Verlängerung des Krieges erreicht haben.“

Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Rußland bezeugt hier seinen Willen, den Krieg weiterzuführen.
Allerdings wurden inzwischen die Kriegsziele neu formuliert und die Eroberung des Donbass als Minimalziel angegeben. Die „Entnazifizierung“ der Ukraine, d.h., das Auswechseln ihrer Führungsspitze, ist offenbar aufgegeben worden …
Demgegenüber steht die Verlautbarung der ukrainischen Politiker, alle besetzten Gebiete einschließlich der Krim zurückerobern zu wollen, für die sie auch die Rückendeckung ihrer westlichen Verbündeten – USA, Polen, GB – haben.