Serie „Lateinamerika heute“. Teil 5: Argentinien

„DIE EWIGE WIEDERKEHR DER ARGENTINISCHEN KRISE

Der Abzug von Kapital aus den Schwellenländern beeinträchtigt die Wirtschaft. Der Peso hat seit Jänner 50 % seines Wertes eingebüßt, der Zinsfuß steht bei 60 %, die Inflation wächst in einem fort und das BIP wird 2018 schrumpfen.“ (El País, 16.9. 2018)

Der Titel des Artikels gibt schon vor, wie man die Sache betrachten soll: Argentinien ist einfach ein Krisenland, nichts zu machen, das ist eine Eigenart dieses Landes. (Hat natürlich nichts mit Kapitalismus, Geld, Kredit, Weltwirtschaft und dgl. zu tun.)
Auch der Begriff des „Schwellenlandes“ (im Original heißt es: „aufstrebenden Landes“) hat es an sich, obwohl das sozusagen als Selbstverständlichkeit unterstellt wird: Es gibt einen Haufen Länder, die bemühen sich ständig, so erfolgreich zu werden wie wir hier in Europa, und das ist ja auch redlich und gut, sie schaffen es aber einfach nicht.
Niemand fragt nach, warum eigentlich diese Länder schon so lange in der Warteschlange zur erfolgreichen Kapitalakkumulation stehen, aber partout nie den Schritt über die „Schwelle“ tun.

Auch das mit der „Wiederkehr“ der Krise ist der Untersuchung wert. Wir haben ja im Verlauf der letzten 10 Jahre einen Haufen Schuldenkrisen erlebt, die EU schiebt einen riesigen Schuldenberg vor sich her, von den Maastricht-Kriterien hört man schon lange nichts mehr – und jetzt sollen die Probleme Argentiniens so betrachtet werden, als wäre das ganz was besonderes, hinter den 7 Bergen bei den 7 Zwergen, und hat mit „uns“ überhaupt nichts zu tun.

Zur argentinischen Schuldenproblematik siehe auch:

1. Die Vorgeschichte
sei hier einmal kurz zusammengefaßt: Unter dem Finanzminister der Regierung von Carlos Menem, Domingo Cavallo, schloß Argentinien mit dem IWF 1991 ein Abkommen, das als „Plan Cavallo“ in die Geschichte einging. Die argentinische Regierung privatisierte alles, was nur ging, und der IWF bescheinigte im Gegenzug, daß der Peso so viel wert sei wie der Dollar. Diese Dollar-Peso-.Parität, genannt „currency board“, galt damals als das non-plus-ultra der Inflationsbekämpfung und Geldwertstabilität, der „Plan Cavallo“ wurde als Geniestreich gelobt. Im Zuge dieser Euphorie, endlich den Stein der Weisen gefunden zu haben, führte Ecuador im Jahr 2000 gleich den Dollar ein, um es noch besser zu machen.

Macris Schwanengesang? 11.5. 2018
Argentinien schifft wieder ab 31.1. 2016
Fleundschaft! 15.8. 2015
Der Argentinien-Krimi, neueste Folge 11.7. 2014
Argentinien am Scheideweg 19.6. 2014
Aasgeier kreisen über Argentinien 24.2. 2013
Der IWF, Teil 6: Argentiniens Zahlungsunfähigkeit 2.8. 2011

Heute ist diese Politik vorbei. Auf eine kritische Betrachtung seitens der Wirtschaftswissenschaften oder gar eine Selbstkritik des IWF wartet man bisher vergeblich. Das Currency Board starb 2002.
Die Privatisierung führte zu großflächigen Betriebsschließungen, beraubte das Land eines guten Teils seiner Produktion und erhöhte den Importbedarf Argentiniens. Die USA und vor allem die EU waren die Gewinner, ihnen erschloß sich ein Markt. Und ein zahlungsfähiger, da ihre Gewinne aufgrund der Peso-Dollar-Parität problemlos transferierbar waren.

Um den ständig wachsenden Importbedarf zu finanzieren, begab Argentinien jede Menge Anleihen auf den Börsen von New York und Frankfurt. Sie waren lange Zeit sehr begehrt, aber mit der Zeit mußte Argentinien immer höhere Zinsen anbieten, um sie loszuwerden. Zum gestiegenen Importbedarf gesellte sich ein ständig wachsender Schuldendienst.
Als sich bereits dunkle Wolken über Argentinien zusammenzogen, verhandelte es mit dem IWF einen neuen Beistandskredit. Der Devisenschatz war aber bereits so geschrumpft, daß der Wunderknabe Cavallo (heute unterrichtet er wieder Wirtschaftswissenschaften in Harvard) die Sperre der Bankguthaben verfügte. Im darauf folgenden Volksaufstand trat die Regierung De La Rúa zurück, Argentinien war 2 Wochen ohne Regierung, der IWF hatte keinen Verhandlungspartner mehr, und Argentinien war zahlungsunfähig.

Unter dem 2003 gewählten Präsidenten Néstor Kirchner wurden mit über 90 % der Gläubiger Argentiniens Vergleiche geschlossen, denen zufolge sie auf einen guten Teil ihrer Forderungen verzichteten, um überhaupt etwas von ihrem Geld zu sehen.
Argentinien konnte sich allerdings seit dem Bankrott Anfang 2002 nicht mehr auf den internationalen Finanzmärkten verschulden. Obwohl man an diesem Fall schön studieren kann, wer bei den Krediten an Argentinien gut gefahren ist und wie sehr sie Argentinien geschadet haben, war die Sehnsucht groß, wieder in den Schoß des Finanzkapitals zurückzukehren. Nur mit Hilfe Venezuelas und Chinas kamen die Regierungen von Néstor und Christina Fernandez de Kirchner an Kredit. Auf eine Zusammenarbeit mit dem IWF war niemand neugierig.

2. Macri verspricht die Lösung aller Probleme
Der zum Jahresende 2015 gewählte Präsident Mauricio Macri versprach, mit allen angeblichen Fehlern seiner Vorgängerregierungen aufzuräumen. Er verhandelte offensichtlich im Vorfeld seiner Wahl mit Gläubigern und Banken, dem Gericht in New York, den „Geierfonds“ usw. und versprach jede Kooperation. Auch zu Hause gelang es offenbar, die Unternehmerschaft und die politische Klasse davon zu überzeugen, daß sich unter ihm alles zum Guten wenden würde. Über das auch in Argentinien vorhandene Klientelwesen reichte das dann für einen Wahlsieg, der von der internationalen Presse euphorisch begrüßt wurde. Mit unglaublicher Idiotie und Verdrehung der Tatsachen wurde das Notprogramm, das unter den Kirchners die argentinische Ökonomie in Gang hielt, als „Mißwirtschaft“ abgetan. Der Bankrott 2001/2002 war keiner Erwähnung wert, und soziale Programme wie die Stützung von Energie- und Lebensmittelpreisen und rudimentäre Zuwendungen an die Ärmsten der Armen wurden als Geldverschwendung, unterlassene infrastrukturelle Reparaturen als Korruption und Schlendrian verurteilt. Auch die chinesischen Investitionen wurden heruntergemacht, sie brächten „eigentlich“ Argentinien nichts.

Zum Unterschied von den Reformen, die Macri vorhätte, da würden natürlich blühende Landschaften entstehen. Denn eigentlich sei Argentinien ja

3. „Ein reiches Land“

Diese Phrase erklingt mit schöner Regelmäßigkeit in den Medien, wenn irgendwo eine mißliebige Regierung angeschwärzt werden soll. Da werden auf einmal Möglichkeiten des Wohlstands entdeckt, und auf seltsame Art und Weise der Unterschied bzw. Gegensatz zwischen abstraktem und konkretem Reichtum dingfest gemacht.

Argentinien verfügt über große, sehr fruchtbare und klimatisch begünstigte landwirtschaftliche Flächen. Während die Pampas im 19. Jahrhundert zwar als Viehweide dienten, aber hauptsächlich das Leder auf dem Weltmarkt nachgefragt wurde, wurde Argentinien im 20. Jahrhundert ein großer Agrarproduzent. Nach beiden Weltkriegen versorgte Argentinien das zerstörte Europa sehr günstig mit Getreide und Fleisch. Dem Präsidenten Juan Domingo Perón war diese Rolle jedoch nicht genug, er wollte zusätzlich eine eigene Industrie aufbauen, um die Hemdlosen mit heimischen Produkten zu bekleiden und auf dem Weltmarkt als gleichberechtigter Partner und nicht bloß als Rohstofflieferant auftreten zu können.
Die unter Perón aufgebaute Industrie wurde mit dem Menem-Cavallo-IWF-Privatisierungsprogramm größtenteils stillgelegt. Unter Cristina Fernandez de Kirchner kam es zu Wiederverstaatlichungen – ein Versuch, wieder etwas wie eine eigene Produktion aufzubauen.

Damit machte sich die argentinische Regierung nicht beliebt, weder beim IWF, noch bei den Politikern von EU und USA, noch bei Medien und „Experten“. Ein Land wie Argentinien soll sich gefälligst verschulden, um uns dann unser Zeug abkaufen zu können!
Was die agrarische Produktion angeht, so kam Argentinien auch am Höhepunkt des Rinderwahnsinns nicht zum Zug – die junge EU war 1992-3 nicht bereit, die Quoten für garantiert BSE-freies argentinisches Rindfleisch zu erhöhen, da sie ihren Agrarmarkt schützen wollte.

Bereits zu Zeiten der Dollarparität waren beträchtliche Teile der Bevölkerung der Nordprovinzen mangelernährt, da die Produkte der fetten Weiden und Äcker bei ihnen nur spärlich ankamen. Auch innerhalb Argentiniens muß man nämlich für Lebensmittel Geld hinlegen, und genau davon hatten viele Bürger Argentiniens einfach zu wenig.
Nach dem Bankrott 2002 verhungerten in den nördlichen Provinzen jede Menge Kleinkinder, und auch heute ist es nicht so, daß der angebliche „Reichtum“ dieses Landes der Mehrheit seiner Bewohner zu Gute käme. Inzwischen sind nämlich weite Flächen des Landes auf Cash Crops, Produkte für den Devisenexport reserviert. Vor allem Soja, mit jeder Menge Monsanto-Chemie aufgeblasen, wächst heute in Argentinien, der Haupt-Abnehmer dieses Produktes ist China.
Was Argentiniens fette Böden angeht, so trifft Eduardo Galeanos Überschrift von der „Armut des Menschen als Ergebnis des Reichtums der Erde“ zu. Er charakterisierte damit die Kolonialzeit, aber die Marktwirtschaft hat hier ein möglicherweise noch durchschlagenderes Ergebnis: Alles, was sich in Argentinien zu Geld machen läßt, soll als Geschäftsmittel dienen, damit soll Argentinien seine Schulden zahlen, so die ultimative Weisheit von IWF, Wirtschaftsexperten und G 20-Gipfeln. Wenn die Bevölkerung hungert oder massenhaft auswandert, so ist das eben Pech. Schicksal, hat jedoch mit Geschäft, Gewinn und Kredit nichts zu tun.

Macri wurde beklatscht, weil er das genauso sieht.

4. Argentinien und die Drogen
Argentinien war lange Zeit für den internationalen Drogenhandel ziemlich unwichtig. Die Kokainproduktion wurde nach Norden oder Osten verschifft, ausgeflogen oder sonstwie transportiert. Die Märkte waren in den USA und Europa.

Seit dem Zusammenbruch der Ökonomie nach dem Bankrott 2002 wurde Argentinien jedoch immer wichtiger für den Handel, sowohl als Abnehmer-, als auch als Transitland. Der soziale Abstieg und das Elend ließen den Konsum an harten Drogen ansteigen. Die Kämpfe der USA-Drogenbehörde DEA gegen den Drogenanbau und -handel in Kolumbien und Mexiko brachten die Drogenkartelle darauf, andere Vertriebsrouten zu suchen. Und sie entdeckten Argentinien als Land guter Straßen und Häfen, wo aufgrund der unerfreulichen wirtschaftlichen Umstände nicht so genau darauf geachtet wurde, was da so durch das Land fuhr und über die Häfen verschifft wurde.
Schließlich entdeckte der Drogenhandel auch Argentinien als Möglichkeit zur Geldwäsche. Der Anlagebedarf der Kartelle verschaffte Argentinien einen Immobilienboom und brachte Devisen ins Land.
Schließlich haben sich in Argentinien auch Labors für synthetische Drogen etabliert. Es ist also auch selbst zu einem Drogenproduzenten geworden.

Alle diese Sphären bringen Argentinien die dringend benötigten Devisen und wurden deshalb weder von den Kirchner-Regierungen noch von ihren Nachfolgern besonders bedrängt.

5. Die Entwicklung der Schuld

Als die Regierung Macri sich mit denjenigen Gläubigern einigte, die den Kirchnerschen Vergleichen nicht zugestimmt und Argentinien verklagt hatten, und ihnen die Schuld vollständig zurückzahlte, erkannte Argentinien damit de facto die gesamte Altschuld an. Mit dieser Einigung wuchs also die Schuld Argentiniens gewaltig an. Dafür erhielt Argentinien wieder Kredit, sodaß auch die Neuverschuldung rasant zunahm.
Es ist anzunehmen, daß Macri bei seinen Verhandlungen mit den großen US-Banken Versprechungen gemacht wurden, die dann nicht eingehalten wurden. Ihnen ging es um die Anerkennung der Altschuld.

„Die Staatsschuld, d.h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld. … Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. Und mit dem Entstehen der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der Sünde gegen den heiligen Geist, für die keine Verzeihung ist, der Treubruch an der Staatsschuld.“ (Marx, Kapital I, Kap. 24/6)

Es ging also nur darum, einen Blöden – oder Agenten – zu finden, der diese Schuld wieder dem argentinischen Staat bzw. der argentinischen Bevölkerung umhängt. Macri hat in diesem Sinne seine Schuld getan und kann gehen. Er kann sich als Verdienst anrechnen, die argentinische Schuld gewaltig erhöht zu haben – es ist noch nicht genau heraußen, auf wieviel, die Rede ist von 200 bis 300 Milliarden Dollar, es kann aber auch mehr sein.
Die Sache ist damit aber noch nicht durchgestanden. Der Peso hat in diesem Jahr die Hälfte seines Wertes verloren, der Schuldendienst ist gewaltig, da teilweise zu 40 % verzinste Anleihen ausgegeben wurden. Inzwischen ist der Zinsfuß auf 60 % angelangt, der IWF verhandelt in einem fort, auf ein Stützungsprogramm folgt das nächste.

Einen neuerlichen Bankrott kann sich Argentinien und vor allem das Weltfinanzsystem nicht leisten.
Ob es gelingt, ihn zu verhindern, und wie, wird sich in den nächsten Monaten herausstellen.

siehe dazu auch:

Radiosendung zu Argentinien in 2 Teilen: Schmutziger Krieg, Militärdiktatur, Falkland-Krieg, Staatsbankrott (März 2019)
https://cba.fro.at/399234
https://cba.fro.at/399254

Serie „Lateinamerika heute“. Teil 4: Chile

45 JAHRE DANACH

Als der Putsch in Chile die Volksfrontregierung mit einer Gewaltorgie wegräumte, die sogar damals eher ungewöhnlich war, ging ein Aufschrei durch die damalige Presse. Die Pinochet-Partie legte nämlich Wert darauf, durch möglichst öffentliches Zeigen ihrer Brutalität den mit der Volksfrontregierung sympathisierenden europäischen Regierungen zu zeigen: Haltet euch da raus, jetzt sind wir dran!

Während es in den 70-er und sogar noch 80-er Jahren Veranstaltungen zu den Opfern des Terrors der Militärregierung und dem von der Volksfrontregierung vertretenen Programm der „Revolution in der Legalität“ gab, ebbte dann das Interesse an Chile ab. Diese Veranstaltungen bezogen sich vor allem auf das, was vorher los war.

Was ist aber eigentlich seit 1973 in Chile geschehen?

1. Die Chicago boys

Der Umstand, daß das Pinochet-Regime sofort mit allen sozialen Errungenschaften der Volksfrontregierung und sogar der vorher regierenden Christdemokraten aufräumte, und Arbeitsschutzgesetze, Mindestlohn, Kündigungsschutz usw. auf einmal nicht existierten, machte Chile zum idealen Betätigungsfeld für überzeugte Absolventen der Chicago School und der Lehren Milton Friedmans. Es handelte sich dabei um junge Chilenen aus dem Anti-Volksfront-Lager, denen durch ein großzügiges Stipendienprogramm verschiedener in den USA beheimateter antikommunistischer Stiftungen zum Studium in den USA, vor allem eben auf der Universität von Chicago, verholfen worden war.
Der Staat, so der Kern der Doktrin dieser Menschenfreunde, solle nur die Rahmenbedingungen – Geld, Gewalt – zur Verfügung stellen, und alle wirtschaftliche Tätigkeit der „Privatinitiative“, sprich: dem Kapital überlassen.
Einerseits ist das eine sehr harte Auskunft über die Rolle von Staat und Kapital und wie die Bevölkerung in deren Überlegungen vorkommt: Wen das Kapital nicht braucht, der kann ruhig verhungern oder sonst irgendwie an Mangel zu Grunde gehen, und wer sich gegen das wehrt, der gehört weggeräumt.
Andererseits zeigt sich, daß sich der Staat nicht auf diese ihm von den Liberalen zugedachten Aufgaben reduzieren läßt, sondern noch in anderer Form in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen muß, um seine eigenen Grundlagen zu erhalten.

Bemerkt hat das chilenische Regime diesen Umstand an der Grundfrage des Geldes.

Im Zuge der Umgestaltung zu einer Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber wurden die Gewerkschaften zerschlagen, die Abfindungen und das Streikrecht abgeschafft, und alles, was möglich war, privatisiert, so auch das Bildungswesen und das Pensionssystem.
Die Verminderung der Zölle und die Liberalisierung des Zugangs zu Devisen für einheimische Importeure führten schließlich zu einer immer stärkeren Abhängigkeit von Importen und einer negativen Handelsbilanz, und im Jahr 1982 zu einem mittleren Börsencrash, der auf den Auslandsschuldendienst Chiles und den Wechselkurs äußerst negative Folgen hatte.
In Folge des Beinahe-Bankrotts und der Rezession, in die Chile 1982 geriet, wurden die Chicago boys aus den einflußreichen Posten hinauskomplimentiert. Außerdem versuchte die Pinochet-Partie von da an so etwas wie staatliche Wirtschaftspolitik, um die Ökonomie Chiles zu diversifizieren und außer dem wichtigsten Produkt Chiles, dem Kupfer, auch noch andere Wirtschaftszweige zu entwickeln, mit denen Chile Devisen an Land ziehen konnte. Das waren der Obstanbau und die Waffenproduktion.

2. Das Kupfer

Außer den allgemeinen strategischen Überlegungen der Weltmacht Nr. 1, die in ihrem Hinterhof keine kommunistischen Experimente wollte, machte sich die Volksfront-Regierung mit ihrer Verstaatlichung der Kupferbergwerke in den Augen der US-Regierungen und des CIA vollends unmöglich.
Dazu muß man bemerken, daß die Idee, den Kupferabbau von den vor allem amerikanischen Aktionären zurückzukaufen oder auf andere Art in das Nationaleigentum Chiles zu überführen, nicht erst mit der Volksfrontregierung aufkam. Verschiedene Vorgängerregierungen hatten in dieser Richtung bereits gehandelt, so auch unter Allendes unmittelbarem Vorgänger Frei Montalva. Zunächst gelangte der chilenische Staat durch Aktienkäufe zu einer Mehrheit und durch eine Verfassungsänderung und dem Gesetz 17450 aus dem Jahr 1971, die vom Parlament einstimmig angenommen wurden, wurde der chilenische Staat schließlich der alleinige Besitzer der Kupferbergwerke.

Die Verstaatlichung der Kupferbergwerke wurde von der Militärregierung beibehalten. Hier gab es nichts mit Privatisierung oder Restitution. Es ist wahrscheinlich, daß Pinochet sich das bei seinen Verhandlungen mit seinen USA-Kollegen ausbedungen hatte. Es wurden zwar neue Konzessionen ausgegeben, aber die unter der Volksfrontregierung verstaatlichten Bergwerke blieben staatlich und wurden 1976 zu einem großen Konzern, CODELCO, vereinigt. Zumindest bis in die Mitte der 90-er Jahre mußte CODELCO einen Teil seiner Gewinne an das Militär abliefern. Einnahmen aus dem Kupferbergbau wurden also zur Finanzierung des Gewaltapparates verwendet.
Heute ist Chile der größte Kupferproduzent mit 27% Anteil an der Weltproduktion, CODELCO der größte Kupferkonzern der Welt. Außer dem Kupfer wird Molybdän, Silber und Gold abgebaut. Das Molybdän hat in den letzten Jahrzehnten als Härtungsmittel und Katalysator an Bedeutung zugenommen. CODELCO ist über verschiedene Kooperationen auch in den Produktionsgüter-Riege aufgestiegen und produziert selber Bergbautechnik.

Einerseits hat inzwischen jede chilenische Regierung durch die vereinigten Bemühungen der Regierungen von Allende und Pinochet Zugriff auf einen Teil der Gewinne, die aus den Bodenschätzen des Landes gewonnen werden.
Andererseits ist sie dadurch eben von den Weltmarktpreisen abhängig und die entscheiden darüber, ob in der Staatskasse Ebbe ist oder ob sie sich gut gefüllt präsentiert.
KupferChart
An dieser etwas älteren Graphik läßt sich erkennen, welche Sprünge der Kupferpreis macht, gerade um den Putsch von 1973 herum …

3. Normalität 2018

Seit Anfang der 90-er Jahre wurde wieder Demokratie „gewagt“ und Elemente des Sozialstaats und des Arbeitsrechts eingeführt – in Maßen, versteht sich.
Derzeit protestieren – wieder einmal – Schüler und Studenten gegen das Erbe der Militärdiktatur und der Chicago boys: Die gesamte höhere Bildung ist entweder in den Händen der Kirche, oder sie ist privatisiert, oder beides: Die jungen Leute müssen sich nach dem anglosächsischen System bis über die Ohren bei den Banken verschulden, um studieren zu können.

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Radiosendung zu Víctor Jara und Chile: Chile – 45 Jahre danach (12.9. 2018)

Serie „Lateinamerika heute“. Teil 3: Venezuela

EIN STAAT IM DAUERHAFTEN AUSNAHMEZUSTAND

Sehr viel hat sich nicht geändert seit letztem Jahr, was die Zustände in Venezuela angeht. Der Versuch der Regierung, die mangelnde eigene Produktion durch Kredit und Löcherstopfen zu behandeln, ist notwendig zum Scheitern verurteilt und führt inzwischen zu einem Massen-Exodus, der die benachbarten Staaten in Besorgnis versetzt.
Eine Sache ist, wozu der Chavismus geführt hat, aufgrund eigener Widersprüche und interner politökonomischer Opposition sowie Druck von außen.

Das Problem Venezuelas ist, kurz zusammengefaßt, daß seit dem Amtsantritt der Regierung Chávez ein Sozialstaat aufgebaut wurde, ohne daß eine Kapitalakkumulation zustande gekommen wäre, die die Finanzierung eines solchen tragen könnte.
Seither hat sich die Situation insofern verschärft, als seit 2014 2,3 Millionen Venezolaner das Land verlassen haben und die Auswanderung in den letzten beiden Monaten sprunghaft angestiegen ist.

1. Medienhetze

Eine andere Sache ist, wie darüber berichtet wird und welche Lösungsvorschläge dem p.t. Publikum von den Medien nahegelegt werden. Schuld an allem ist der Berichterstattung zufolge die regierende Partei (PSUV) und deren Vorsitzender und gleichzeitig Präsident Venezuelas Nicolás Maduro.
Das Schema ist sehr einfach und dümmlich, aber es wird aus allen Rohren über die Menschheit ausgegossen. Die Politiker Venezuelas sind mehr oder weniger Verrückte, und der mehrmals gewählte Präsident ein gefährlicher Diktator, der sein Land aus purer Machtgier ins Verderben führt.
Beweis: Die Leute rennen weg!

Es ist wichtig, sich die Dummheit und Unhaltbarkeit dieser Auffassung deutlich zu machen, als ob der wirtschaftliche Zustand eines ganzen Landes nur den verfehlten Entscheidungen einzelner Politiker geschuldet sei. In ähnlicher Weise wurde gegen Saddam Hussein und Ghaddafi gehetzt, um sie dann wegräumen zu können.
Wenn dann dort im Land Bürgerkrieg, Mord und Totschlag ausbrechen, so wird das noch eine Zeitlang als Erbe des wahnsinnigen Diktators besprochen und dann verschwindet das Land aus den Schlagzeilen.

Es ist das Ideal der guten Herrschaft, die gerade darüber befestigt wird, daß man überall schlechte oder nur halbgute vorfindet. Der gütige Landesvater und seine selbstlosen und ums Allgemeinwohl beflissenen Mitarbeiter – Minister usw. – sollten sich um das Gedeihen ihrer Untertanen bemühen. Vor diesem Ideal schauen alle Regierungen der Welt schlecht aus, und der kritische Journalismus geht zum guten Teil darin auf, immer ein Mißverhältnis zwischen den vorgestellten ehrbaren und den wirklich vorgefundenen „korrupten“ oder „unfähigen“ oder „popularistischen“ Regierungen festzustellen.
Nach diesem Einheitsschema und mit fertigen Textbausteinen wird heute gegen Erdogan und Orban, Putin, Assad, Ortega und Maduro vom Leder gezogen. Über Regierungen, die „uns“, also der EU-Führung genehm sind, hört und liest man dagegen nichts Nachteiliges, obwohl es über Staaten wie Ägypten, die Ukraine oder Myanmar auf jeden Fall diesbezüglich einiges zu berichten gäbe. von den von USA und EU in trauter Zusammenarbeit geschaffenen Failed States ganz zu schweigen.
Über unerfreuliche Entwicklungen in befreundeten Staaten wird jedoch der Mantel der Diskretion gebreitet.

Durch diese Art der Berichterstattung entsteht auch die Ansicht, man brauche nur den obersten Bösewicht und vielleicht einige seiner eingeschworenen Unterstützer wegräumen, und schon würde alles gut.
In diesem Geiste ist auch das etwas stümperhafte Attentat zustandegekommen, das vor einigen Wochen anläßlich einer öffentlichen Veranstaltung gegen Maduro begangen wurde. Ob das jetzt vom Ausland gesteuert wurde oder nicht, ist zweitrangig. Wichtig ist, daß die Attentäter sich sicher sein konnten, daß sie vom Ausland und der inländischen Opposition beklatscht werden würden, wenn es ihnen gelingt. Daß die PSUV und Maduro auch nach wie vor viele Anhänger haben, bedachten sie gar nicht.

Dieses Resultat ihrer eigenen Hetze war den Medien offenbar etwas unangenehm, sodaß von Anfang an so getan wurde, als hätte die Regierung dieses Attentat aus Propagandazwecken selbst in Auftrag gegeben.
Warum sie das tun sollte, ist zwar nicht einsichtig, aber im Rahmen des allgemeinen Einheitsbreis von den verrückten Machthabern, die an ihren Sesseln kleben, läßt sich so ein widersprüchlicher Unsinn auch unterbringen.

2. Was tun? Interventions-Überlegungen

Seit geraumer Zeit, bereits vor Trumps Amtsantritt, wurden Pläne zu einer militärischen Intervention in Venezuela gewälzt. Trump selber fragte vor einem Jahr ziemlich unverblümt herum, ob man nicht dort einfach einmarschieren könnte?
Sowohl seine eigenen Berater als auch die ebenfalls zu Rate gezogenen lateinamerikanischen Politiker erteilten diesem Plan eine schlichte Absage.

Auch die sehr amerikafreundlichen Regierungen Brasiliens und Kolumbiens haben klargestellt, daß sie selbst nicht daran denken, dort militärisch einzugreifen, weder im Alleingang noch mit den USA zusammen.
Erstens sind die USA nach mehreren Invasionen, die für das US-Budget sehr kostspielige Failed States erzeugt haben, selber etwas vorsichtiger geworden, was Einmärsche anbelangt. Die Besatzung eines Landes bindet außerdem Truppen, die dann woanders nicht zur Verfügung stehen, und kann sich, wie man an Afghanistan oder dem Irak sieht, sehr lange hinziehen.
Zweitens liegen die Gründe, warum die USA vor einer Intervention zurückschrecken, auch in Venezuela selbst. Venezuela hat ein recht hochgerüstetes Militär, das bisher loyal zur Regierung stand, und diese Regierung hat auch einen großen Rückhalt in der zivilen Bevölkerung. Eine Invasion wäre daher verlustreich für die eigenen Truppen, würde Gemetzel unter der Zivilbevölkerung zu Folge haben und ein Erfolg wäre völlig unsicher.
Es ist keineswegs so, wie die Medien vorspiegeln, daß Invasoren willkommen wären und die Bevölkerung sie mit offenen Armen empfangen würden, und das wissen Pentagon und CIA genau so gut wie die Regierungen der Anrainerstaaten.

3. Migranten

Immer mehr Leute verlassen Venezuela und verursachen damit ein Problem für die Staaten in Südamerika.
Zunächst für die unmittelbaren Anrainerstaaten.
Sie überfluten Grenzstädte in Kolumbien und Brasilien, die ohnehin eher Armenhäuser der jeweiligen Staaten sind. Die Venezolaner kommen teilweise unterernährt und krank an, weil in Venezuela Grundnahrungsmittel knapp sind und weil die medizinische Versorgung in Venezuela von Haus aus mangelhaft war und inzwischen aufgrund des Mangels an Medikamenten in vielen Gegenden zusammengebrochen ist.
Dazu kommen bei der Weiterreise in andere Staaten Probleme der Bekleidung und Ausrüstung, weil Venezuela ein Land des ewigen Sommers ist, wohingegen Ecuador und Peru Teile der Andenhochebene sind und ein Hochgebirgsklima haben, für das die Venezolaner schlecht gerüstet sind.

Im brasilianischen Grenzdorf Pacaraima gibt es inzwischen eine ziemlich elende Zeltstadt, die vor allem durch NGOs mehr schlecht als recht versorgt wird, und es kam auch bereits zu einem Pogrom gegen die venezolanischen Auswanderer. Die Polit-Mannschaft des Bundesstaates Roraima macht ihre Politkonkurrenz inzwischen über das „Flüchtlingsproblem“ und, ähnlich wie hierzulande, geschieht in Sachen Flüchtlingsversorgung sehr wenig.
In Kolumbien ist es vor allem die Grenzstadt Cúcuta, die von venezolanischen Migranten überlaufen wird. Kolumbien fühlt sich deshalb berufen, besonders gegen die venezolanische Regierung Stimmung zu machen, die Probleme Cúcutas werden aber nicht gelöst.

Peru und Ecuador sind ebenfalls Zielländer für die venezolanische Emigration. Sie haben inzwischen beschlossen, Pässe beim Grenzübertritt zu verlangen, um den Zustrom zu unterbinden bzw. zu kontrollieren.
In Venezuela hatten die meisten Einwohner nie einen Pass. Sogar die Erlangung eines Personalausweises war jahrzehntelang für die meisten ärmeren Venezolaner zu teuer. Es stellte eine Leistung der Chávez-Regierung dar, die Leute überhaupt mit letzterem Dokument auszustatten, um ihnen Zugang zu Sozialleistungen zu ermöglichen.
Internationale Pässe auszustellen ist eine Dienstleistung, die erst in jüngerer Zeit sozusagen in Mode gekommen ist. Die Behörden sind mit dem Ansturm überfordert, und die venezolanische Regierung benützt diesen Umstand auch, um die Auswanderung zu behindern. Man kommt in Venezuela heute nur an einen Pass, wenn man einen Haufen Geld dafür ablegt.
Infolgedessen verlassen die meisten Venezolaner das Land nur mit einem Personalausweis, oder nicht einmal diesem. Sie treten also bereits als „sin papeles“, Undokumentierte, in den Nachbarländern auf.

Die Beschränkungen Ecuadors und Perus stoppen jedoch den Zustrom an Migranten nicht, sondern eröffnen nur ortskundigen Schleppern ein Geschäftsfeld, um die venezolanischen Migranten über Schleichwege auf das Territorium des Zielstaates zu bringen.

So präsentiert sich das „Problem Venezuela“ heute sowohl für die USA, die aus den oben beschriebenen Gründen nicht intervenieren will und kann, als auch für die Staaten Lateinamerikas, die zusätzlich zu ihrer eigenen Armut und „überflüssigen Bevölkerung“ im Marx’schen Sinn – Leute, die keine andere Existenzmöglichkeit als den Verkauf ihrer Arbeitskraft haben, für die das Kapital aber keine Verwendung hat – mit dem Problem der venezolanischen Emigration konfrontiert sind.
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siehe auch: Imperialismus heute: VENEZUELA UND DIE WELT (Jänner 2019)
Radiosendung zu Venezuela in 2 Teilen: Vom Glück und Pech, über Ressourcen zu verfügen (April 2019)
https://cba.fro.at/400802
https://cba.fro.at/401945