Pressespiegel El País, 23.11.: Ukraine – Frieden oder Untergang?

ÜBER ZELENSKIJ BRAUT SICH EIN VERHEERENDER STURM ZUSAMMEN

Präsident Zelenskij steht vor Trumps Forderung nach Kapitulation der Ukraine vor Russland, während der interne Widerstand aufgrund von Korruption in seinem engsten Umfeld wächst

Die Ukraine steht vor einer entscheidenden Entscheidung, erklärte Zelenskij am Freitag in einer eindringlichen Ansprache an die Nation. „Entweder wir verlieren unsere Würde oder einen wichtigen Verbündeten“, sagte der Präsident. Dieser Verbündete sind die USA, und zwar nicht irgendein Partner: Sie waren in den ersten drei Kriegsjahren der wichtigste Waffenlieferant der Ukraine. Alles änderte sich, als Donald Trump im Januar letzten Jahres ins Weiße Haus einzog und vom ersten Tag seiner Amtszeit an seine Nähe zu seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin demonstrierte. Der »Friedensplan«, den Trump nun von Zelenskij fordert, läuft auf eine Kapitulation vor dem Angreifer hinaus, die der ukrainische Präsident als Verlust der Würde betrachten würde.“

Jeder Frieden für die Ukraine kann nur das Eingeständnis einer Niederlage sein. Seit Jahren stellen alle ernstzunehmenden militärischen Analysen fest, daß die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann.
Für die meisten Politiker der EU und der Ukraine verbietet sich diese Einsicht allerdings.

„Die Frage, die Zelenskij der Nation in seiner Ansprache stellte, war früher oder später unausweichlich: Wollen die Ukrainer und ihre politischen Vertreter den russischen Interessen nachgeben und damit den Krieg beenden? Oder sind sie bereit, den Kampf fortzusetzen, obwohl sich die Lage nur noch verschlimmern kann? Der Präsident machte es noch deutlicher, als er warnte, dass dem Land ein »extrem harter Winter« bevorstehe, sollten sie ihre Würde bewahren.“

Mit Würde kann man nicht heizen, außerdem drohen weitere Gebietsverluste und sogar der Zusammenbruch der Front, sollten die USA wirklich ihre Unterstützung völlig zurückziehen.

„Die »extrem schwierige« Phase hat bereits begonnen. Russische Bombardierungen des Stromnetzes verursachen täglich Stromausfälle von bis zu 14 Stunden. Hinzu kommen Störungen bei Heizung, Telefon und Warmwasser.
An der Front ist die Lage nicht einfacher: Trotz heldenhafter ukrainischer Verteidigung rückt die russische Armee in Donezk und Charkow vor und hat gerade eine neue Offensive im Süden, in der Region Zaporozhje, gestartet.“

Diese läuft bereits seit einiger Zeit und trifft in dieser Region auf sehr ausgedünnte ukrainische Positionen.

„Sollten Trumps verdeckte Drohungen, die US-Militärhilfe für die Ukraine einzustellen, Realität werden und Zelenskij nicht auf das Ultimatum zur Annahme seines Friedensplans reagieren, wird sich die Lage an der Front und im Hinterland weiter verschärfen.“

Die Drohungen von Trump sind nicht besonders verdeckt.

„Dies gilt insbesondere, da der Ukraine die US-Geheimdienstinformationen fehlen könnten, die es ihr ermöglichen, alles von russischen Flugzeugstarts bis hin zu feindlichen Militärstellungen zu erfassen.“

Die US-Satellitendaten könnten die europäischen Verbündeten nicht ersetzen, da sie kein entsprechend ausgebautes Satellitennetz besitzen.

„Die größte politische Krise

In der ukrainischen Gesellschaft macht sich unweigerlich Müdigkeit breit, und es gibt deutliche Anzeichen dafür: Laut offiziellen Angaben entziehen sich 1,5 Millionen Männer dem Wehrdienst, die sich innerhalbdes Landes verstecken.
Weitere Anzeichen sind die Desertionen und das unerlaubte Verlassen von Posten in der Armee, die laut Angaben der Generalstaatsanwaltschaft heute 20 % der Truppen ausmachen, und die erste große politische Krise, mit der der Präsident in den fast vier Kriegsjahren aufgrund von Korruption konfrontiert war.

Am 22. Juli öffnete Zelenskij die Büchse der Pandora, als er der Rada, dem Parlament, eilig eine Gesetzesreform vorlegte, die die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden des Landes faktisch aufhob. Den Abgeordneten blieben nur wenige Stunden für die Abstimmung. Zelenskijs Entscheidung führte zu den ersten Straßenprotesten in der Ukraine seit fast 4 Kriegsjahren und zu seinem ersten Bruch mit Europa.
4 Monate später zweifelt kaum noch jemand daran, dass dieser Schritt eine Reaktion war, um eine Betrugswelle zu vertuschen, die den inneren Zirkel des Staatsoberhauptes treffen sollte.“

Der Betrug läuft schon seit Jahren, aber inzwischen haben westliche Sponsoren entschieden, die Sache an die Oberfläche zu bringen.
Es handelt sich um einen Versuch, die Führung in der Ukraine auszuwechseln, um gewisse Positionen, an denen Zelenskij festhält, aus den Verhandlungen und dem öffentlichen Diskurs verschwinden zu lassen.

„Zelenskij revidierte seine Entscheidung, die Nationale Antikorruptionsbehörde (NABU) und die Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) der direkten Kontrolle des Generalstaatsanwalts zu unterstellen – ein Amt, das er selbst besetzt hatte. Zu diesem Zeitpunkt enthüllten durchgesickerte Informationen aus NABU und SAPO an die Medien, dass der Hauptgrund für Zelenskijs Angriff auf deren Handlungsspielraum einen Namen hatte: Timur Minditsch.

Minditsch war einer der engsten Vertrauten des Präsidenten und sein Partner in der audiovisuellen Produktionsfirma Kvartal 95, die Zelenskij zum gefeierten Schauspieler machte. NABU und SAPO hatten Minditsch monatelang überwacht und hunderte Stunden seiner Gespräche aufgezeichnet. Die Ergebnisse dieser Ermittlungen waren brisant, und die Enthüllungen erfolgten im November dieses Jahres. Die Antikorruptionsbehörden veröffentlichten Aufnahmen, die angeblich belegten, dass Minditsch der Drahtzieher eines Bestechungssystems im Zusammenhang mit Verträgen mit dem staatlichen Atomenergiekonzern Energoatom war. Der Betrugsschaden wird auf über 85 Millionen Euro geschätzt.

Zwei der Hauptverdächtigen, Minditsch und der Geschäftsmann Oleksandr Zukerman, flohen am 10. November aus der Ukraine, nur wenige Stunden bevor der NABU ihre Wohnungen durchsuchte.“

Wohin eigentlich?
Welches Land erscheint ihnen sicher?
Die Türkei?
Israel?

„Der Energoatom-Fall hat bereits zwei Minister ihren Posten gekostet: Energieministerin Switlana Grintschuk und ihren Vorgänger, Justizminister German Galuschtschenko. Doch das ist noch nicht alles. Der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident Oleksij Tschernyschow, ebenfalls ein Mann aus Zelenskijs engstem Kreis, wurde diese Woche wegen mutmaßlicher Zusammenarbeit mit Minditsch bei der Geldwäsche von Energoatom-Geldern aus illegalen Provisionen verhaftet. Tschernyschow wurde kurz darauf gegen Kaution freigelassen.

Doppelte Bedrohung

Minditschs Einfluss reicht noch weiter: NABU und die SAPO verfügen über Aufnahmen, die angeblich belegen, dass der Geschäftsmann und Zelenskijs Partner seine Verbindungen nutzte, um Verträge mit Rustem Umerow, dem ehemaligen Verteidigungsminister und jetzigen Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, auszuhandeln. Umerow zählt zudem zu den engsten Beratern des Präsidenten.“

Nicht nur das.
Umerovs Familie lebt in den USA, er hat die US-Staatsbürgerschaft und alles deutet darauf hin, daß er ein US-Informant ist.

„Umerow verkörpert die doppelte Bedrohung, die über Zelenskij schwebt. Einerseits wird er als Verwalter einer so heiligen Angelegenheit wie des Verteidigungshaushalts in Frage gestellt.
Andererseits tauchte sein Name diese Woche in US-Medien als Vertreter des ukrainischen Präsidenten auf, der an der Ausarbeitung von Trumps Friedensplan beteiligt war. Laut diesen Berichten schlug Umerov einen der umstrittensten Punkte vor: Die Ukraine solle auf ihr Recht verzichten, von Russland begangene Kriegsverbrechen zu verfolgen, und es solle eine Amnestie für alle während des Konflikts begangenen Verbrechen gewährt werden.“

Also auf beiden Seiten, was auch die Ukraine betrifft.
Damit wären nicht nur diejenigen Kriegsverbrechen, die Rußland gerne verfolgen würde, sondern auch die Korruptionsgeschichten von Zelenskij & Co. vom Tisch.

„Umerov wies am Freitag alle Vorwürfe zurück, doch die Opposition nutzte die Gelegenheit. Der Abgeordnete Wolodymyr Arijew von der »Europäischen Solidarität«, der größten Oppositionspartei, forderte Aufklärung über eine Klausel, die seiner Ansicht nach Zelenskijs engstem Kreis Straffreiheit wegen Korruption ermöglichen würde. Laut US-Medien sei es Umerov sogar gelungen, einen Punkt aus dem Plan zu streichen, der eine Sonderprüfung der Verwaltung internationaler Gelder für die Ukraine vorsah.

»Ein solches Maß an Zynismus und Arroganz ist unvorstellbar«, schrieb Arijew in einer Erklärung. »Der Schutz von Dieben und Diebesgut ist wichtiger als die Wahrung der Interessen der Ukraine.« Arijew bezeichnet den von Trump der Ukraine aufzuzwingenden Plan als »Kapitulation und Verrat« und befürchtet, dass dessen Annahme zu innerer Instabilität im Land führen könnte.

Eine im vergangenen Oktober veröffentlichte Studie des Meinungsforschungsinstituts Gradus wies genau auf dieses Risiko als einen der Gründe hin, warum die 6 Millionen ukrainischen Flüchtlinge in Europa zögern, in ihr Land zurückzukehren, selbst wenn ein Friedensabkommen geschlossen wird: Laut Gradus betonen diese Vertriebenen unter anderem, dass die interne soziale und politische Lage negativ sein könnte, sollte der Krieg mit einem für die Ukraine ungünstigen Abkommen enden.“

Solange der Krieg weitergeht, ist die Lage „stabil“ und die Flüchtlinge bleiben, wo sie sind.
Aber im Falle eines Friedensschlusses könnten sie in verschiedenen Staaten ihren Asylstatus verlieren.

„Regierung der Nationalen Einheit

Trotz des andauernden Krieges um das Überleben des Landes und trotz des Verrats durch ihren wichtigsten Verbündeten will die ukrainische Opposition den Sturz der Regierung.“

Eher „wegen“ als „trotz“.

„Die »Europäische Solidarität« strebt eine Mehrheit für ein Misstrauensvotum an, das zum Sturz des Kabinetts des Staatsoberhauptes führen würde. Ex-Präsident Petro Poroschenko, Vorsitzender der »Europäischen Solidarität«, will den Ministerrat auflösen und die Rada dazu bewegen, eine »Regierung der nationalen Einheit« vorzuschlagen – eine Koalition aller parlamentarischen Kräfte.
Poroschenko hat sich die Unterstützung der Gruppe um Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko sowie der Oppositionspartei Golos gesichert.“

Die alte Garde will also wieder an die Regierung und vertraut möglicherweise auf Unterstützer aus dem Ausland.

„Kira Rudik, die Vorsitzende von Golos https://de.wikipedia.org/wiki/Stimme_(Partei), argumentierte in einer Erklärung vom 18. November, ein »Neustart« in der Ukraine mit einer Koalitionsregierung sei unerlässlich, da Wahlen während des geltenden Kriegsrechts unmöglich seien. Und nicht nur wegen des Kriegsrechts: Keine politische Partei hält es für möglich, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen während eines Krieges abzuhalten. »Ein Neustart ist notwendig, weil sich die Situation sonst nur verschlimmern wird. Für den Präsidenten wäre es eine gute Möglichkeit, die Krise zu überwinden und die Unruhen zu bekämpfen, denn Korruption wird von unseren Feinden ausgenutzt werden,« meint Rudik.“

Wen immer man sich unter „unsere Feinde“ vorstellen mag. Rußland, USA, Inland, EU-Politiker?

„Die Frage ist, ob der Widerstand innerhalb der Partei »Diener des Volkes« groß genug sein wird, um die Regierung zu stürzen.
Mikita Poturajew, ein Abgeordneter der Parlamentsfraktion der Partei, kündigte am 19. November an, dass innerhalb der Partei eine Spaltung vorbereitet werde, um die Bildung einer nationalen Einheitsregierung zu unterstützen. In den letzten zwei Jahren sind Stimmen wie die Poturajews lauter geworden, die beklagen, dass während des Krieges die gesamte politische Macht in der Ukraine im Präsidentenamt konzentriert war.

Dmytro Rasumkow, ehemaliger Präsident der Werchowna Rada und Verbündeter Zelenskijs in den ersten beiden Jahren seiner Präsidentschaft, zählt zu den Ideologen hinter der Bildung einer nationalen Einheitsregierung. Rasumkow argumentiert, die Stabilität des Landes hänge von der Etablierung von Kontrollmechanismen gegenüber dem Staatsoberhaupt ab, das derzeit keiner Opposition gegenübersteht. »Leider sind weder Parlament noch Regierung heute in der Lage, Entscheidungen eigenständig zu treffen und umzusetzen«, so Rasumkow in einem Interview mit EL PAÍS.“

Was damit wohl gemeint sein mag?
Der ganze Absatz ist rätselhaft.

„Unsicherheit bezüglich Jermak

Die Lage ist für Zelenskij so schwierig, dass erstmals Forderungen aus den eigenen Reihen laut wurden, seinen engsten Vertrauten Andrij Jermak zu entlassen. Jermaks Macht im Präsidentenamt ist nahezu uneingeschränkt. Opposition und Medien vermuten, dass er in den NABU-Protokollen genannt wird, obwohl sein Name dort nicht auftaucht. Ein Mitglied von Zelenskijs engstem Kreis wird dort als »Ali Baba« bezeichnet, – bei dem handelt es sich vermutlich um Jermak. Dieser »Ali Baba«, so Mindichs Gespräche mit seinen Vertrauten, behinderte die Antikorruptionsermittlungen.

Auch innerhalb der Partei »Diener des Volkes« gab es prominente Stimmen, die öffentlich Jermaks Absetzung forderten. Fedir Wenislawski, einer der einflussreichsten Abgeordneten, erklärte am 18. November im Radiosender Swoboda, dass Jermaks Entlassung in den eigenen Reihen diskutiert werde: »Ich habe Jermaks Rücktritt nicht gefordert, aber ich glaube, dass seine Absetzung sicherlich dazu beitragen würde, den Druck auf die Regierung zu verringern.«“

Jemand, der so viel weiß und in dessen Händen so viele Fäden zusammenlaufen, ist schwer loszuwerden … Es sei denn, auf gewaltsamem Weg.

„Am 20. November, dem Tag, an dem Zelenskij offiziell Trumps Friedensplan entgegennahm, traf er sich mit seiner Parlamentsfraktion. Er ging nicht dorthin, um den Inhalt des Dokuments zu besprechen, sondern um zu verkünden, dass es keine Regierungsänderungen geben und er Jermak nicht ersetzen werde.
Igor Kriwoschejew, einer seiner kritischen Stellvertreter, griff den Präsidenten in den sozialen Medien scharf an und warf ihm mangelnde Entschlossenheit vor: »Wir warten darauf, dass sie die unausweichliche politische Verantwortung übernehmen, denn für uns hat jeder Tag seinen Preis.«

Ironischerweise wandte sich Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag in ähnlichen Worten an Zelenskij: »Wir machen Zelenskij und seiner Regierung deutlich, dass es besser wäre, jetzt eine Einigung zu erzielen als später. Sein Handlungsspielraum für eigenständige Entscheidungen schrumpft mit dem Vormarsch der russischen Streitkräfte.«

Zelenskijs Antwort in seiner Ansprache an die Nation am Freitag lautete, dass das Land nun geeinter denn je sein und »politische Manöver« beiseite lassen müsse: »Wir müssen gemeinsam wieder auf den richtigen Weg kommen, unsere Vernunft wiedererlangen. Schluss mit den Streitigkeiten, Schluss mit den politischen Spielchen. Der Staat muss funktionieren, das Parlament eines Landes im Krieg muss zusammenarbeiten. Die Regierung eines Landes im Krieg muss effektiv arbeiten. Und wir alle dürfen nicht vergessen oder uns täuschen lassen, wer der wahre Feind der Ukraine ist.«“

Der Stuhl unter Zelenskijs Gesäß scheint zu wackeln.

Pressespiegel El País, 15.11.: Aufmarsch gegen Venezuela

„TRUMP BEREITET DIE US-TRUPPEN FÜR DIE NÄCHSTE PHASE SEINES MILITÄREINSATZES IN DER KARIBIK VOR

Der US-Präsident und Maduro steuern auf eine Konfrontation zu, in der der Republikaner seine Glaubwürdigkeit und der Venezolaner seine Machtposition riskiert“

Die ganze Überschrift und Aufmache ist ein Beispiel für den Verfall des Journalismus heute: Der Aufmarsch gegen Venezuela wird als eine Art Duell zwischen zwei unsympathischen Personen dargestellt. Die bisherigen Toten dieser Machtdemonstration – Fischer, nach dem, was man so mitkriegt – sind sozusagen Kollateralschäden, ebenso wie die Opfer eines möglichen US-Militärschlages.

„Der Moment der Wahrheit scheint immer näher zu rücken. Donald Trump kennt – nach einer Woche intensiver Beratungen, wie er am Freitag an Bord der Air Force One erklärte – nach eigenen Angaben bereits »mehr oder weniger« die Ziele des massiven US-Militäreinsatzes in der Karibik.
Lateinamerika – und der Rest der Welt – halten unterdessen den Atem an angesichts einer Entscheidung, die ein schweres geopolitisches Erdbeben auf einem Kontinent auslösen könnte, der polarisierter ist denn je.

Es ist weiterhin unklar, was Trump in der Region erreichen will. Vertreter seiner Regierung, wie etwa Außenminister Marco Rubio, betonen, dass der Militäreinsatz – bei dem in zweieinhalb Monaten rund zwanzig mutmaßliche Drogenboote angegriffen und mindestens 80 Menschen in der Karibik und im östlichen Pazifik getötet wurden – lediglich eine Anti-Drogen-Operation sei. Während vor der Küste Venezuelas eine Marineeinheit aufgebaut wird, wie es in der Region seit Jahrzehnten beispiellos ist, sprach der Präsident selbst öffentlich von einer »zweiten Phase« der Operation, die auch landgestützte Ziele umfassen würde.

Das Rätsel liegt im Ziel dieser neuen Phase: Wird sie sich auf ein begrenztes Ziel gegen die Interessen von Drogenkartellen beschränken oder – wie der venezolanische Präsident Nicolás Maduro selbst behauptet und viele in Washington glauben – ein offener Versuch sein, ihn zu entmachten? Die US-Regierung wirft dem Regime und Maduro selbst vor, ihr Überleben mit den Einnahmen aus dem Drogenhandel zu sichern, und erkennt ihn, wie andere Regierungen weltweit, nicht als legitimen Staatschef an. (…)“

Es ist überhaupt kein Rätsel, daß die USA Maduro und seine Regierung stürzen und ihre eigene Marionette, Frau Machado, installieren wollen.
Das El País drückt sich um diese offensichtliche Absicht herum, weil es zwar Trump nicht recht geben will, aber Maduro gerne gestürzt sehen würde.

„Eskalierende Aggression

In einer rhetorischen und kriegerischen Eskalation, in der die USA den größten und modernsten Flugzeugträger der Welt, die Gerald Ford, in der Region stationiert und Venezuela 200.000 Soldaten mobilisiert hat, um einer hypothetischen Invasion entgegenzutreten, scheinen Trump und Maduro auf ein persönliches Duell zuzusteuern, in dem derjenige verliert, der zuerst nachgibt.“

Die USA wissen sehr gut, daß sie sich einen Einmarsch in Venezuela nicht leisten können und damit genau in die Art von Krieg verwickelt werden würden, die Trump als die Fehler seiner Vorgänger gebrandmarkt hat – einen Ende nie-Krieg mit großen Verlusten für die USA.
Venezuela könnte sich zu einer Art Afghanistan für die USA entwickeln, mit großen Zerstörungen im Land selbst und einer Art offener Wunde für ganz Lateinamerika.

„»Die USA behaupten, es ginge hier um Drogen. Das ist die offizielle Position. Wir könnten also im Februar verkünden, dass die Drogenlieferungen zurückgegangen sind und wir somit gewonnen haben. Aber das ist falsch«, argumentierte Elliott Abrams, Trumps ehemaliger Sondergesandter für Venezuela, diese Woche in einem Vortrag beim Thinktank Atlantic Council.“

Warum im Februar?
Was haben sie bis dahin vor?

„»Wenn Nicolás Maduro am Ende all dessen noch an der Macht ist, hat er gewonnen. Er muss nur überleben. Und ich hoffe, [Trump] erkennt, dass es zu spät ist, nachzugeben. Entweder gewinnt Trump oder Maduro. Dieser Machtkampf hat bereits begonnen.«
Es wäre das zweite Mal, dass der venezolanische Präsident einen Sieg über Trump für sich beanspruchen könnte: Der Republikaner hatte bereits 2019 versucht, den chavistischen Führer durch die Unterstützung von Juan Guaidó zu stürzen – eine immer noch sehr präsente Erfahrung, so ungern er sich auch an Fehlschläge erinnert.“

– und auch die EU, die immerhin Guiadó anerkannt hat, ebenso wie heute Gonzalez und Machado.

„Die Ereignisse haben sich mit dem Eintreffen der USS Gerald Ford – die im Juni letzten Jahres eine Schlüsselrolle beim US-Angriff auf iranische Atomziele spielte – beschleunigt. Sie schloss sich zusammen mit ihrer Kampfgruppe der Flottille von 12 Schiffen an, die die USA seit August in internationalen Gewässern der Karibik, nahe der venezolanischen Hoheitsgewässer, stationiert haben.
Diese Flottille repräsentiert 20 % der weltweit mobilisierten US-Seestreitkräfte: 15.000 Soldaten, F-35-Kampfjets (die modernsten Flugzeugtypen), Hubschrauber und Langstreckenraketen, darunter die Tomahawk-Marschflugkörper, die die Ukraine so dringend benötigt und die Trump ihr verweigerte, weil auch er sie braucht.“

Nicht nur deshalb.
Er hatte nie vor, sie der Ukraine zu geben.

Ein Teil der in der Karibik aufmarschierten US-Flotte und Luftwaffe

„Signale

Die Ankunft des »Gerald Ford« war das erste Anzeichen dafür, dass eine Bewegung unmittelbar bevorstehen könnte. Das Kronjuwel der US-Marine wird nicht stationiert, um lange untätig an einem Ort zu liegen oder einfache Überwachungsaufgaben zu erfüllen – das ursprüngliche Argument des Pentagons zur Rechtfertigung ihrer Verlegung aus dem Nahen Osten.
Sein Einsatz kostet bis zu 8,4 Millionen Dollar (7,2 Millionen Euro) pro Tag, und seine Abschreckungskraft wird in vielen anderen Krisenherden weltweit benötigt, in denen die USA Interessen haben. »Die Seestreitkräfte können nicht ewig dort herumlungern«, betont Abrams.

Das zweite Anzeichen kam am Donnerstag. Verteidigungsminister Pete Hegseth verkündete in den sozialen Medien den Beginn einer Großoperation namens Southern Spear zur »Eliminierung von Drogenhändlern und Terroristen«.

Trump traf keine sofortige Entscheidung. Er musste – und muss immer noch – seine Optionen sorgfältig abwägen. Der Präsident, der sich der Welt als großer Friedensstifter präsentiert und offen den Friedensnobelpreis für sich beansprucht, benötigt einerseits eine rechtliche Grundlage für die Intervention. Andererseits befürchtet er ein peinliches Scheitern oder die Gefährdung amerikanischer Truppen. Schließlich hatte er im Wahlkampf versprochen – und seine Wählerbasis forderte es –, dass die USA unter seiner Führung nie wieder, wie er es nannte, »dumme Kriege« anzetteln würden.“

Kriege, die nicht gewonnen werden können, viel Schaden anrichten und die USA viel Geld kosten …

Weitere Geräte, die in der Karibik aufmarschieren. El País gibt leider nicht an, wieviele von diesen Flugzeugen, Schiffen und Drohnen vor Ort sind

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„Öffentliche Ablehnung

Die US-Bürger lehnen eine Intervention ab. Laut einer am Freitag von Reuters/Ipsos veröffentlichten Umfrage sprechen sich 51 Prozent der Amerikaner gegen tödliche Angriffe auf Drogenboote aus, während 29 Prozent sie befürworten. 35 Prozent verurteilen den Einsatz militärischer Gewalt in Venezuela ohne Zustimmung der venezolanischen Behörden, während 31 Prozent einen Sturz Maduros mit nichtmilitärischen Mitteln unterstützen. Lediglich 21 Prozent befürworten einen Putsch gegen den chavistischen Präsidenten.“

Eine eigenartige Umfrage.
Die Fragen wurden offenbar so gestellt, daß eine eindeutige Ablehnung nicht herauskommt. Die dürfte allerdings Tatsache sein. Weil MAGA hat sich ja u.a. gegen derartige Kriege gebildet.

„Trump stehen verschiedene Optionen für Angriffe auf Ziele in Venezuela zur Verfügung. Diese könnten in Form direkter Angriffe von Schiffen oder gezielter Missionen von Spezialeinsatzkräften erfolgen. Sie könnten sich gegen die Interessen von Drogenkartellen richten oder militärische Ziele angreifen. Auch Angriffe auf Maduros engsten Kreis sind denkbar.“

Nicht nur „denkbar“, das ist offensichtlich das Ziel.
Nur ist die Frage: Selbst wenn es gelingen sollte, Maduro und seinen engsten Kreis auszuschalten, was folgt danach?
Libyen läßt grüßen …

„Der Einsatz in der Karibik ist nicht die einzige US-Militärbewegung in der Region. Das Pentagon hat seine Streitkräfte auf Stützpunkten in Puerto Rico verstärkt. Zusätzlich zum Druck durch Angriffe auf mutmaßliche Drogenboote gab es Trainingsflüge von B-52- und B-1-Bombern nahe der venezolanischen Küste sowie Trumps Genehmigung für die CIA, verdeckte Operationen in Venezuela durchzuführen.

Das Pentagon hat außerdem Bodentruppen nach Panama verlegt, jenes Land, das es 1989 überfallen hatte, um das Regime von Manuel Noriega zu stürzen, und das Trump vor seinem Amtsantritt mit einer Intervention bedroht hatte, um die Kontrolle über einen wichtigen Kanal, der den Pazifik und den Atlantik verbindet, zurückzuerlangen.“

Venezuela kann man nicht mit Panama vergleichen – das Land hat eine andere Größe und eine staatstreue, große und gut ausgerüstete Armee, sowie bewaffnete Milizen. Eine Intervention mit Bodentruppen in Venezuela wäre vergleichbar mit dem Vietnamkrieg.

„Zudem wurden großangelegte Militärübungen in Trinidad und Tobago angekündigt, ebenfalls nahe der venezolanischen Küste.

»Das ist ganz klar eine Kampagne, um Druck auszuüben«, erklärte die pensionierte Generalin Laura Richardson, die bis vor einem Jahr das Südkommando leitete, das für die US-Militäroperationen in Lateinamerika zuständig ist.“

Na sowas!
Welch eine scharfsinnige Analyse!

„Eine Kampagne, die laut US-Regierung auf lange Sicht angelegt ist. Sie ist Teil einer Neuausrichtung der Außen- und Verteidigungspolitik, die den Fokus von Europa und Asien auf Amerika verlagert – anderthalb Jahrhunderte nach der Monroe-Doktrin.“

Das alles gibt aber keinen Fahrplan vor, wie die USA in der konkreten Frage mit Venezuela verfahren wollen.
Eines ist klar: Ein Scheitern in Venezuela würde die ganze Trump-Außenpolitik umwerfen.

„US-Nachbarschaft

»Die westliche Hemisphäre ist Amerikas Nachbarschaft, und wir werden sie schützen«, schrieb Hegseth in seiner Ankündigung der Operation Southern Spear. Sein Ministerium bereitet die Veröffentlichung einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie vor – eines Prioritätenkatalogs, den jede Regierung nach Amtsantritt erstellt –, die Lateinamerika und den Schutz des nationalen Territoriums in den Vordergrund stellt.

Schon in den Monaten vor seiner Amtseinführung im Januar hatte Trump sein Interesse an dem Kontinent deutlich gemacht, indem er Panama mit einer Intervention drohte, um die Kontrolle über den Panamakanal zurückzuerlangen, und die USA aufforderte, Grönland zu annektieren.

Der Republikaner verfolgt die Entwicklungen in Lateinamerika aufmerksam und hat die Führungswechsel in den Ländern der Region, die Regierungen hervorgebracht haben und möglicherweise auch weiterhin hervorbringen werden, die dem Trumpismus nahestehen, lobend erwähnt. »Marco [Rubio] sagt mir, dass immer mehr Länder der Region auf unserer Seite stehen«, erklärte er im August bei einer Kabinettssitzung überschwänglich. Und er zögert nicht, sie offen zu unterstützen, wie etwa im Oktober während Javier Mileis Besuch im Weißen Haus, als er die Hilfe für Argentinien an den Wahlsieg des Präsidenten bei den Wahlen am 26. Oktober knüpfte.“

Allerdings könnte eine US-Intervention in Venezuela diese Tendenz kippen …

„Umgekehrt hat die Operation gegen die Drogenboote die Beziehungen zwischen den USA und Kolumbien sowie dessen Präsidenten Gustavo Petro belastet, den Trump als »Killer« und »Drogenhändler« bezeichnet und gegen den er Wirtschaftssanktionen verhängt hat.
Der kolumbianische Präsident wiederum hat die Angriffe auf die Boote als »außergerichtliche Hinrichtungen« bezeichnet, ein Begriff, der auch vom UN-Hochkommissar für Menschenrechte verwendet wird.“

Daß der kolumbianische Präsident und sogar die UNO das Kind beim Namen benennen, wird hier als eine Art Meinung hingestellt, die man haben kann oder auch nicht.

„Diese Woche kündigte Bogotá aus diesem Grund die Aussetzung der Zusammenarbeit mit den US-Geheimdiensten an und folgte damit dem Beispiel Großbritanniens – vielleicht Washingtons wichtigstem historischen Verbündeten –, das diese Art der Zusammenarbeit mit der führenden Weltmacht ebenfalls teilweise eingestellt hat.“

Diese Entscheidung des UK weist darauf hin, daß der Operation der USA keine Rückendeckung gegeben wird, sollte sie dennoch Venezuela angreifen.
Die britische Regierung will sich diesbezüglich gegenüber einer etwaigen weiteren Aggression fernhalten.

„Die Trump-Regierung macht aus ihrem Wunsch nach einem Führungswechsel in Kolumbien kein Geheimnis. »Gott sei Dank finden nächstes Jahr Wahlen in Kolumbien statt. Ich nehme an, das kolumbianische Volk wird in seiner Weisheit diesen Weg, der zu Elend und Hass führt, ablehnen und einen neuen Kurs zum Wohle dieser großartigen Nation einschlagen«, erklärte der stellvertretende US-Außenminister Christopher Landau am Montag bei einer Zeremonie zu Ehren des kubanischen Dissidenten José Daniel Ferrer in Washington.

Laut Elkins »dürfen wir nicht vergessen, dass Trump nicht in seiner zweiten, sondern in seiner dritten Amtszeit ist«, da er zwischen 2021 und 2025 ununterbrochen überlegt habe, welche Maßnahmen er ergreifen werde. »Was wir hier erleben, ist ein sehr ausgeklügeltes, kalkuliertes und koordiniertes Vorgehen, um die Vorherrschaft in der westlichen Hemisphäre zu sichern«, so der Experte.“

Nur: Wie soll das gehen?
Als Dauerpräsenz in der Karibik, um alle Wahlen im Sinne der USA ausgehen zu lassen?
Das „Problem Venezuela“ löst diese Präsenz allerdings nicht.

Die USA befinden sich in einer selbst geschaffenen Zwickmühle:
Falls sie Venezuela großflächig bombardieren – was anscheinend geplant ist – so richten sie zwar viel Schaden an, bringen jedoch ganz Lateinamerika gegen sich auf.
Ein Rückzug ohne irgendetwas geht jedoch auch nicht.

Überlegungen zu Serbien, 10.11.

WAS IST EIGENTLICH IN SERBIEN LOS?

Seit gut einem Jahr wird man mit Meldungen zu Demonstrationen in Serbien versorgt, denen nur zwei Dinge zu entnehmen sind:

1. Die Absichten sind nobel: Die Demonstranten sind gegen die korrupte Regierung, für die EU und fordern Neuwahlen.
2. Sie kommen aber nicht wirklich weiter mit ihren Anliegen.

„Serbische Studierende bereiten zum ersten Jahrestag ihrer Proteste eine massive Herausforderung für die Regierung vor
Die Demonstranten fordern Neuwahlen in einem Marsch zum Gedenken an die Toten vom 1. November 2024, bei dem 16 Personen am Bahnhof von Novi Sad getötet wurden.“ (El País, 30.10.)

Diesem Zitat kann man entnehmen:

Die „Proteste“ dauern seit einem Jahr an, scheinen also eine Art Event geworden zu sein: Man trifft sich in verschiedenen Städten, läßt sich anschauen, trifft Freunde und Bekannte und fährt wieder nach Hause. Oder geht. Zur körperlichen Ertüchtigung tragen diese Protestmärsche auch bei, weil viele Leute kommen in mehrtägigen Fußmärschen zu diesen Treffen.

Was dabei weniger lustig ist: Die Universitäten Serbiens waren über einem Jahr geschlossen, da die Studentenvertretungen, die die Protestbewegung leiten und organisieren, einen unbefristeten Streik ausgerufen hatten.

„Serbien: Der Universitätsbetrieb wird nach fast einem Jahr Pause wieder aufgenommen, doch einige Studierende protestieren weiterhin.
Der Bildungsminister rechnet mit weiteren Blockadeversuchen.“ (Népszava, 3.11.)

„Der durch die Blockaden serbischer Universitäten im vergangenen Jahr verursachte Schaden lasse sich nicht in wirtschaftlichen Kennzahlen ausdrücken, sagte Bildungsminister Dejan Vuk Stanković. Er fügte hinzu, der Schaden sei »tiefergreifender Natur«, da das Vertrauen in die Hochschulen erschüttert worden sei.
»Das Vertrauen muss schrittweise wiederhergestellt werden, wenn wir erneut betonen, dass Universitäten Quellen und Verbreiter von Wissen sind. Wir haben keine Möglichkeit, die Frage der Universitätsführung des letzten Jahres, die Ablösung von Rektoren und Dekanen, erneut aufzugreifen. Mir fehlen die Mittel, um das Rechenschaftssystem tatsächlich umzusetzen. Wir stellen zwar Geld bereit, haben aber keinen Einfluss auf das System – das ist das Paradoxon des akademischen Lebens«, sagte Stanković im Fernsehsender Pink.
Er glaubte, dass auch an Universitäten mit «neuen Blockadeversuchen« zu rechnen sei, fügte aber hinzu, dass er den heutigen Tag (den Beginn des neuen akademischen Jahres) nicht zu einem »Meistbieter-Wettbewerb« ausarten lassen wolle.
»Es ist besser, mit den Universitäten im Dialog zu stehen – ich sehe es als meine moralische Pflicht an, mit jedem Dekan zu sprechen. Politik und Lehre müssen an den Universitäten getrennt werden. Jeder hat das Recht, seine politische Meinung zu äußern, aber das muss außerhalb der Mauern der Universität geschehen. Wer nicht arbeitet, bekommt auch kein Gehalt«, sagte Stanković.“ (Szabad Magyar Szó, 3.11.)

Man muß sich einmal vor Augen führen, was es heißt, wenn ein Jahr lang kein Universitätsunterricht stattfindet. Es bedeutet eine Entwertung der höheren Bildung, die damit als entbehrlich vorgeführt wird. So auf die Art: Was brauchen wir Ärzte, Lehrer, Ingenieure, Historiker – wenn die nicht auf unserer Linie sind?
Man fühlt sich an die chinesische Kulturrevolution erinnert, als die intellektuellen Eliten in Bausch und Bogen für unzuverlässig erklärt wurden.

Was den Ausgangspunkt der Proteste, den Einsturz des Daches des Bahnhofsgebäudes angeht, so sind die Informationen in der Presse öfters unrichtig:

„Serbien mit seinen 6,5 Millionen Einwohnern ist ein Schlüsselland für die Stabilität des Balkans: Es ist energieabhängig von Russland, strebt aber einen Beitritt zur EU an, seinem wichtigsten Handelspartner.
Die Tiefpunkte in Vučićs Amtszeit stehen jedoch nicht in Verbindung mit Moskau oder Brüssel, sondern mit zwei chinesischen Unternehmen, die mit der Renovierung eines Bahnhofs beauftragt waren.“ (El País, ebd.)

Es waren nämlich nicht chinesische Firmen, die für den Einsturz des Vordaches verantwortlich waren. Diese Information wird von anderen Medien auch verbreitet. Für den EU-Bürger klingt das gut: Schuld sind die Chinesen, die haben geschlampt! (Obwohl chinesische Firmen keineswegs im Ruf stehen, schlecht zu arbeiten.)

Der Bahnhof von Novi Sad wurde 1964 erbaut. Es handelt sich um eine Stahlbeton-Glas-Konstruktion, die damals als der letzte Schrei der Bautechnologie galt.
(Zur Erinnerung: Die Morandi-Brücke wurde im gleichen Zeitraum erbaut, von 1963-67.)
Man dachte damals und auch später, Stahlbeton hält ewig und einen Tag. Zum Zeitpunkt des Unglücks war das Gebäude also 60 Jahre alt.

„Der Bahnhof befand sich nach jahrzehntelanger Vernachlässigung bereits in einem sehr schlechten Zustand.
Die Sanierung wurde von zwei chinesischen Unternehmen, China Railway International Co. und China Communications Construction Company, durchgeführt. Dabei wurden jedoch nur das Bahnhofsinnere, das Dach und die Fassade ober- und unterhalb des Eingangsdachs erneuert, nicht aber die Konstruktion des Eingangsdaches selbst, das ein Glasdach besaß. Unbestätigten Berichten zufolge beliefen sich die Kosten der Sanierung – also Reparatur – auf 16 Millionen Euro, die Gesamtkosten auf 65 Millionen Euro.
Obwohl die Sanierung des Vordaches in den eingereichten Plänen vorgesehen war, wurde sie nicht in die Genehmigung und den Bau einbezogen.“ (ung. Wikipédia, Zusammenbruch des Vordaches beim Bahnhof von Novi Sad)

Es ist nicht ganz klar, wie die Differenz der beiden Summen zustandekommt, es wird offenbar zwischen eigentlicher Reparatur und Erneuerung von Oberflächen unterschieden.

„In der ersten Phase (der Renovierung) erhielt das Gebäude ein neues Stahldach. Nach Abschluss der zweiten Phase wurde auch die Decke erneuert und mit denselben »vergoldeten« quadratischen Fliesen verkleidet. …
Mit der Eröffnung der Hochgeschwindigkeitsstrecke Belgrad–Novi Sad im März 2022, als die ersten sanierten Bahnsteige, Bahnsteigfundamente und Bahnsteigüberdachungen sowie die neu installierte Signalanlage mit horizontaler Signalisierung in ihrer vollen Pracht erstrahlten, begannen die Fortsetzungen der Arbeiten am Bahnhofsgebäude, die kurz vor dem Exit-Festival am 5. Juli 2024 abgeschlossen wurden.“ (»OzonPress«, 1.11. 2024, also am Tag des Unglücks)

„Die Arbeiten am Bahnhof waren Teil des sogenannten »Neuen Seidenstraße«-Projekts, in das bis zum Zeitpunkt der Tragödie allein in Serbien rund zwei Milliarden Euro investiert worden waren. …
Das Konsortium zweier chinesischer Unternehmen, die die Renovierung durchführten, gab nach dem Unglück bekannt, dass die Renovierung der Vordachkonstruktion von ihnen nicht durchgeführt worden war, sie jedoch auch nie einen Auftrag dazu erhalten hatten.
Zu den jüngsten Renovierungsarbeiten gehörten der Austausch von Fenstern und Türen sowie Marmorverkleidungen, die Installation von Glasgeländern entlang der Galerie im Obergeschoss und die Instandsetzung der Thekenbereiche.“ (ung. Wikipédia, Zusammenbruch des Vordaches beim Bahnhof von Novi Sad)

Es wurde also vor allem Oberflächenkosmetik betrieben.

So, wer ist jetzt „verantwortlich“ für den Unfall und die 16 Toten?

Die Chinesen, die übrigens sehr viel auf der ganzen Strecke erneuert und neue Brücken und Unterführungen gebaut haben?
Die Leute, die die Renovierung des Bahnhofes geplant und dabei auf die Konstruktion des Vordaches vergessen haben?
Der Architekt ist verstorben, die damalige Bauleiterin von 1964 ist inzwischen 85 Jahre alt und dachte auch nicht daran, die Aufmerksamkeit der heutigen Bauleiter auf das Vordach zu lenken, wo eine recht massive Glasplatte sowohl von Stahlträgern gestützt als auch an Stahlrohren aufgehängt war. Nur waren beide durch die Witterung verrostet und gaben schließlich nach.

Der Bahnhof vor dem Einsturz – die Konstruktion des Vordachs verströmt Eleganz.
Verschiedene Personen sitzen auf den Bänken links und rechts des Eingangs unter dem Dach – das war an jenem Novembertag tödlich.

Die endlosen Proteste haben inzwischen auch eine Art Rechtfertigungsproblem: Es gibt niemanden, den man zur Verantwortung ziehen könnte, die Regierung sieht sich nicht betroffen, und alle Forderungen gehen ins Leere.

Märchen werden durch die sozialen Medien verbreitet: Die EU hätte ja das Geld zur Verfügung gestellt, aber irgendwelche korrupten Politiker bzw. deren Kumpane in der Bauwirtschaft hätten alles in die eigene Tasche gesteckt.
Ähnliche Geschichten ranken sich auch um andere Projekte in Serbien, bei denen nichts weitergeht.
Nachweis läßt sich natürlich keiner erbringen, aber es klingt gut: Die EU, der Weihnachtsmann bzw. die Gegend, wo Milch und Honig fließen, bei uns hingegen: Finsternis, Korruption und Gleichgültigkeit.

Es ist interessant und bezeichnend für die heutige Lage – nicht nur in Serbien –, daß sich bis heute kein Politiker findet, der sagt: Ja, liebe Leute, ihr habt recht, ich will jetzt an die Macht, dann werden alle Gebäude ordentlich renoviert und ich werde die Korruption bekämpfen!
Daher verpufft auch die etwas leere Forderung nach Neuwahlen, weil es ohnehin keine neuen Besen gibt, die man wählen könnte und hoffen, jetzt wird alles gut.

Es scheint innerhalb der politischen Elite ein Bewußtsein zu geben, daß es diesem Staat an den Mitteln fehlt, seine Gesellschaft angemessen zu verwalten.
Dabei geht es nicht nur um die materiellen Mittel. Serbien hat seit Jahrzehnten einen Brain-Drain, die Intelligenzia verläßt das Land und es gibt zuwenig Leute, um medizinisch, technisch und unterrichtsmäßig den Laden in Schuß zu halten – sodaß in einem fort Löcher gestopft werden und für die wirkliche Renovierung der in die Jahre gekommenen Infrastruktur nicht die entsprechende Mannschaft zur Verfügung steht.

Die EU selber hat inzwischen auch schon etwas kalte Füße bekommen, was die Unterstützung der Unzufriedenen betrifft. (Ein großer Unterschied ist hier zu bemerken zu der Lage in Georgien.) Die von ihr mit aufgekochte Protestbewegung ist den EU-Politikern nicht geheuer, weil eine Art Libyen oder Syrien, ein Bürgerkriegsland an der eigenen Außengrenze will sie auch nicht haben.
Deshalb betrachten die EU-Politiker inzwischen die Vučić-Regierung als das kleinere Übel, um diesen Staat doch noch irgendwie handhaben zu können.