Pressespiegel El País, 10.1.: Statt Import lieber „Made in Russia“

„DER TEURE RUSSISCHE PLAN GEGEN DIE WIRTSCHAFTSSANKTIONEN

Als Reaktion auf die Sanktionen nahm die russische Regierung 2014 einen ehrgeizigen Wirtschaftsplan in Angriff, um die die Importe durch einheimische Produktion zu ersetzen.“

So etwas hat die Freie Welt gar nicht gerne.
Der Rest des Globus hat sich als Markt für ihre Produkte zu bewähren, weil irgendwohin muß sie ihren Krempel ja exportieren. Es war also ein sehr schlechtes Benehmen Rußlands, sich diesem Anspruch entziehen zu wollen. Die Annexion der Krim ist dagegen ein Klacks. Es war ja schon eines der Verbrechen der Sowjetunion, sich nicht in gebührender Weise in den Weltmarkt zu integrieren.
Rußland hat nach der Wende alles brav so gemacht, wie es die Heimatländer der Marktwirtschaft und der Menschenrechte forderten und nach wie vor fordern: Es hat seine Währung konvertibel gemacht und sich fest bei westlichen Banken verschuldet, um die Importe, die in großer Zahl hereinströmten, auch zahlen zu können.
Diese idyllischen Zustände sind als Reaktion auf die Sanktionen jetzt gefährdet. Der ganze folgende Artikel ist von dem Ärger über diese gar nicht marktkonforme Verhalten erfüllt.

„Die Bestrafung derjenigen Personen, die in diesem Jahr (2014) an der Einverleibung der Krim beteiligt waren, durch die EU und die USA“ (Reihenfolge!) „wurde vom Kreml durch ein vollständiges Einfuhrverbot für Lebensmittel aus dem Westen beantwortet.“

Der „Westen“ sind hier eindeutig USA und EU, Rußland war es wichtig, das klarzustellen. Israel oder die Schweiz fielen nicht unter das Einfuhrverbot.

„In den folgenden Jahren verlängerte sich die Liste der Sanktionen, wegen Repression und Einmischung in die Wahlen, in in gleichem Maße verstärkten sich die mehr oder weniger erfolgreichen Bemühungen um Waren »Made in Russia«.
Der Befehl, Importwaren durch russische Erzeugnisse zu ersetzen, trifft alle auch nur vorstellbaren Bereiche. Das Industrieministerium richtete ein Internet-Portal ein, in dem alle geplanten Ersatzproduktionen aufgelistet sind, von der Schwerindustrie über Medikamente bis zum alltäglichen Konsum. So ist zum Beispiel vorgesehen, Kinderkleidung von einer Importquote von 85% 2016 auf 65% 2021 zu verringern, und gleichzeitig die Bremsscheiben für Autos von 60% auf 20%.“

Diese Artikel werden aber gar nicht aus der EU oder den USA geliefert, sondern aus China, der Türkei oder anderen asiatischen Staaten. D.h., das Importsubstitutionsprogramm bezieht sich auf ALLE Waren und hat neben der Verringerung von unerwünschten Abhängigkeiten auch die Verbesserung der Zahlungsbilanz und eine Verringerung der Auslandsverschuldung im Auge.

„Auf manchen Gebieten wurden tatsächlich bemerkenswerte Fortschritte erzielt.“

Bei diesem gönnerhaften Tonfall muß man sich erst einmal zurückerinnern, wie es eigentlich zu dieser Importabhängigkeit gekommen ist. In sowjetischen Zeiten wurde relativ wenig importiert, weil Devisen knapp waren. Kaffee und Bananen waren deshalb Mangelware, weil die auf dem Gebiet der SU und ihrer Satellitenstaaten nicht wuchsen. Bei Technologie waren die Staaten des Warschauer Paktes Verboten unterworfen, die auf den COCOM-Listen angeführt waren – sie KONNTEN sie also nicht oder nur mit großen Schwierigkeiten kaufen.

In den 80-er Jahren entdeckten europäische Staaten den Handel und die Verschuldung als einen Hebel zur Schwächung des dortigen Systems, und begannen gerade zu Zeiten der Perestroika vermehrt in Geschäftsbeziehungen zu den sozialistischen Staaten zu treten.
Nach der Wende kam es zu einem unglaublichen Verfall der Produktion in Rußland und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die gesamten Lieferketten waren unterbrochen, die bisherige Finanzierung fiel weg. Der IWF nahm sich Rußlands an und verordnete weniger Geld-Drucken, um die Inflation klein zu halten. Massenentlassungen und Nicht-Zahlen von Gehältern ließen den inneren Markt zusammenbrechen. Und findige Ökonomen und aufsteigende Oligarchen entdeckten, daß ja die einheimischen Produkte sowieso nichts wert waren, predigten die Marktwirtschaft und erklärten, bevor die nicht Wurzeln geschlagen hätte, müßte man sowieso alles aus dem Goldenen Westen beziehen.
Mit Müh und Not gelang es Betriebsleitern, Lokalpolitikern, Geheimdienstlern und Militärs, wenigstens die Rüstungsindustrie halbwegs aufrechtzuerhalten, teilweise durch Schwarzhandel mit Waffen. Aber gerade die Lebensmittel- und Konsumgüterindustrie machte einen steilen Abstieg durch, der sich in den folgenden 2 Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen sehr unangenehm bemerkbar machte.

„Die Gas- und Ölkonzerne, die von den Sanktionen sehr betroffen waren, haben laut Industrieministerium zwischen 2015 und 2020 ihre Importe an Ausrüstung von 60 auf 43% reduziert. Diesen Sektor hatten die Strafmaßnamen vor allem im Auge, »um einen langfristigen wirtschaftlichen Druck auf das Land auszuüben«, wie in einem Gutachten des US-Kongresses vom Jänner 2020 betont wird.“

Die Idee der westlichen Regierungen war offensichtlich, durch Sanktionen Engpässe bei der Beschaffung von Ausrüstung für die Energie-Industrie zu erzeugen und damit eine wichtige Devisenquelle Rußlands zu beschädigen. Dergleichen ist bei Venezuela eine Zeitlang gelungen, aber Rußland hat doch andere industrielle und technische Ressourcen, die Maßnahme blieb allem Anschein nach völlig wirkungslos.
Die 43% Importe an Gerät für die Öl- und Gas-Industrie kamen also entweder durch Schmuggel oder durch Import aus befreundeten Staaten ins Land.
Man muß bei solchen Importbeschränkungen bedenken, daß die auch die Exporteure von dergleichen Technologie schädigen, die haben selber ein Interesse, ihr Zeug zu verkaufen, und sei es eben durch andere Kanäle.

„In anderen Fällen hat sich am Markt nichts geändert. Laut einer Studie der Wirtschaftshochschule Moskau machen die Importe an Konsumgütern 75% des Verbrauchs aus, nimmt man Kleidung und Spielzeug hinzu, sogar 90%.
»Bestimmte Importwaren zu ersetzen ist noch nicht per se Protektionismus. In den 70-er Jahren kauften Japan und Südkorea Lizenzen und Zusatzstoffe, um selbst die entsprechenden Produktionen anzuleiern, und sie waren damit erfolgreich«, führt der Professor dieser Wirtschaftshochschule Alexej Portanski ins Feld. Er war früher der Leiter der Behörde für den 2012 erfolgten WTO-Beitritt Rußlands. »Dergleichen will allerdings genau geplant werden, also in welchen Bereichen konkret etwas verändert werden soll, und innerhalb welcher Zeitspanne,« betont er.“

Japan und Südkorea waren allerdings damals Verbündete der USA, im Interesse des „Containments“ des sozialistischen Blocks (das war noch vor dem Bruch zwischen China und der SU) sollten diese Staaten gestärkt und zu Industrienationen aufgebaut werden. Heute würden Lizenzen und dergleichen nicht mehr so einfach an andere Staaten hinübergeschoben.

„Eines der Probleme bei der Steigerung der einheimischen Erzeugung ist, daß es dafür bedeutende Investitionen und auch Zeit braucht, um Wettbewerbsfähigkeit auf Exportmärkten zu erreichen, weil der innere Markt nicht groß genug ist, um die Kosten hereinzubringen.
Dazu gesellen sich die gestiegenen Kosten für den Import der Vorprodukte: Die russische Währung hat sich seit 2014 von 45 Rubel pro Euro auf 85 pro Euro entwertet.
»Die Importsubstitution ist ergebnislos geblieben. Es wird behauptet, sie hätte Erfolge verzeichnet, aber das stimmt nicht. Die Zahlen werden manipuliert,« behauptet Portanski,

um diese Behauptung gleich zu widerlegen:

„»Die russischen Lebensmittel haben ihren Anteil am Markt erhöht, das stimmt, aber betrachten wir sie vom Standpunkt des Konsumenten und der interessiert uns: Russische Produkte tauchten auf, aber sie sind teurer und die Qualität ist nicht sehr gut. Warum? Vorher hatten die Supermärkte ein größeres Angebot, jetzt sind unsere Produzenten die Monopolisten«, meint der Experte.“

Der Experte hat also doch nicht so sehr den Standpunkt der Konsumenten, sondern ein Lehrbuch der Marktwirtschaft vor Augen, wo der Wettbewerb die Qualität garantieren soll – wovon man hierzulande ein Lied singen kann: Hier bestimmt das Geldbörsel über die Qualität der Lebensmittel, wobei es verschiedene Marken von Bio- und verschiedene Marken von Junkfood gibt.

„Portanski bezieht sich auf eine Studie der Wirtschaftshochschule von 2019, die untersuchte, wie sich die Importsubstitution im Bereich der Lebensmittel in den ersten 5 Jahren ausgewirkt hatte. Außer den Kategorien Geflügel, Schweinefleisch und Tomaten, wo sich die Verbraucherpreise verringert hatten, waren sie in den restlichen Kategorien gestiegen.“

Das muß aber nicht an einer Verteuerung der einheimischen Lebensmittel liegen, sondern kann auch dadurch verursacht, daß von weiter weg importiert wurde, z.B. aus Brasilien. Die hier gelieferte Information beschränkt sich auf die Preise, die Herkunft und die Qualität bleiben im Dunkeln.

„Nach diesen Berechnungen haben sich die Kosten für Lebensmittel für die russischen Staatsbürger um 5,1 Milliarden Euros pro Jahr gegenüber 2013 verteuert.
Und das vor dem Coronavirus.
Mit der Pandemie und der globalen Unterbrechung von Lieferungen ist die Situation noch schlechter, weil laut (der Statistikbehörde) Rosstat haben sich die Lebensmittel im Vorjahr um 10,6% verteuert.“

Man fragt sich, woher dieses plötzliche Mitgefühl mit dem kleinen Mann von der Straße? – aus dem Munde von „Experten“, die sonst immer dafür sind, daß alle den Gürtel enger schnallen müssen, wenn die wirtschaftliche Vernunft das verlangt, wie z.B. in Griechenland, weil es überschuldet ist.
Außerdem mutet die ganze Argumentation seltsam an, weil aufgrund der Unterbrechung globaler Lieferketten hätte der Schaden noch größer ausfallen können, wenn die Auslandsabhängigkeit größer gewesen wäre.
Aber kommt schnell heraus, worum es dem Artikelschreiber und seinem Experten geht:

„»Die EU ist unser Haupt-Handelspartner und wir wollen diese Zusammenarbeit fortsetzen, weil mit den Investitionen von dort das Know-How ins Land kommt, das uns fehlt«, unterstreicht Potanski.“

Sanktionen und Hetze hin und her, wir wollen gut Freund bleiben mit dem Westen, damit er uns entwickelt! – dieses Credo der russischen westorientierten Ökonomen ist offenbar wasserdicht gegenüber den Feindschaftserklärungen, die seit Jahren aus westlichen Medien und von westlichen Politikern verlautbart werden.
Mit dieser Bewunderung der westlichen Expertise werden gleichzeitig die eigenen Schulen, Universitäten, Fabriken heruntergestuft und für mangelhaft erklärt, und die eigene Bevölkerung für zurückgeblieben. Es ist nicht notwendig, das ausdrücklich zu erwähnen – im Lob des westlichen Know-How ist diese Zurückstufung enthalten.

„Im offenen, mit Sanktionen ausgetragenen Konflikt beschuldigt Brüssel den Kreml, bei Ausschreibungen die eigenen Firmen gegenüber ausländischen zu bevorzugen“ –

unerhört! –

„und kündigte im November an, bei der WTO eine Beschwerde einzubringen, weil deren Grundprinzip heißt, daß ihre Mitglieder nicht aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt werden dürfen. Die Europäische Kommission betont, daß die wirtschaftlichen Folgen für ihre Unternehmen »sehr bedeutend« sind, da es bei den russischen Ausschreibungen jährlich um Millionen von Euros geht.“

Das schlägt dem Faß den Boden aus! Erst Sanktionen verhängen, damit die russische Wirtschaft geschädigt wird, und dann sich beschweren, daß die Gegenmaßnahmen der russischen Regierung die eigenen Unternehmen schädigen.
Man merkt daran, mit welcher Unverschämtheit sich die EU-Führung auf den Rest der Welt bezieht, der ihr anscheinend zu Füßen liegen müßte, und welchen Groll sie bei sich nährt, wenn sich eine Macht von den Dimensionen Rußlands diesem Anspruch verweigert.

„Brüssel beanstandet konkret drei Vorgaben des Kreml.
Erstens, die russischen Staatsbetriebe ziehen beim Preis, den die russischen Unternehmen anbieten, 30% ab. Zweitens, beim Import einiger Industriegüter ist für russische Firmen eine staatliche Genehmigung erforderlich. Und drittens, es gibt bei den Ausschreibungen Quoten für russische Produkte, die enthalten sein müssen, z.B. Fahrzeuge, medizinische Ausrüstung und Technologie.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, kommentierte die Forderungen Brüssels auf ihrem Telegram-Kanal: »Sie sind ein Unsinn, weil die Importsubstitution war eine Antwort auf die Sanktionen der EU gegen Rußland. Brüssel behauptete lange, daß unser Land ,hart bestraft’ worden sei. Hart daran ist nur der Sadomasochismus.«“

Die Dame verweist die EU-Kommission damit an das Salzamt, und die WTO-Beschwerdestelle ist ja auch ein solches.

„Ein Zeichen dafür, daß nicht alles läuft wie geplant, ist die Novellierung des Erlasses von 2014 vom vergangenen 24. Dezember“ (wie neckisch! Andere feiern Weihnachten, wir novellieren Dekrete) „bezüglich der Quoten für russische Produkte bei staatlichen Einkäufen. Von den in dieser Aufstellung gelisteten 100 Produkten werden 41 temporär entfernt, weil es keine passenden russischen Fabrikate gibt.“

Aber für 59 gibt es sie offenbar!

„Dazu gehören etwa medizinische Lampen, Laptops, Chipkarten, integrierte Schaltkreise und andere elektronische Teile.
Im Jänner 2014 plädierte der (2019 verstorbene) Ökonom Viktor Ivanter in einem Artikel in der offiziellen Rossijskaja Gazeta dafür, in die heimische Industrie zu investieren und auch der »besorgniserregenden Abhängigkeit« auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung ein Ende zu bereiten. »Nach Jahren der Reformen haben wir etwas erreicht, worauf wir nicht verzichten wollen: Der Konsument kann auswählen, aber diese Auswahl ist noch vom Import abhängig.«
8 Jahre später gibt es weniger Auswahl und alles kostet mehr.“

Man merkt, daß „der Kreml“ vielleicht noch nicht ganz dort ist, wo er hinkommen möchte, aber doch auf dem Weg dorthin, und wie sehr das westliche Medien stört.

Imperialismus heute, Fortsetzung Jänner 2022

ZERSTÖRUNG UND CHAOS ALLERORTEN

Die Frage der letzten Überschrift zum Imperialismus hat sich beantwortet: Auch wenn der „System Change“ nicht hinhaut, so werden die bewährten Methoden zur Destabilisierung ungeliebter „Regimes“ weiterhin eingesetzt und von den Medien beklatscht, auch wenn keinerlei neue stabile, geschweige denn demokratische Herrschaft dabei herauskommt.

Die leeren Worthülsen „Demokratie“, „Meinungsfreiheit“, „Unzufriedenheit“, „Unterdrückung“, „autoritär“, usw. werden weiterhin eingesetzt, aber die Möchtegern-Meinungsmacher haben sich aller Illusionen begeben, daß das beste aller Systeme weiter exportiert werden kann.

Hauptsache, mißliebige Staaten haben Probleme, es gibt dort Tote, Verletzte und wirtschaftliche Schäden, dann fühlt sich der westliche Journalist so richtig wohl.

Ruhig geworden ist es um die Türkei. Sie hat zwar in Libyen für den Westen die Kartoffeln aus dem Feuer geholt und den Einfluß anderer Staaten (Rußland, Ägypten, aber auch Frankreich) zurückgedrängt. In absehbarer Zeit werden sich allerdings ihre außenpolitischen Projekte nicht erfüllen, und die Wirtschaft leidet zusehends unter den militärischen Ambitionen, die schließlich durch die Wirtschaftsleistung finanziert werden müssen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Kreditfrage. Die Pläne der AKP in Sachen Rüstung, Einmischung in Konflikte und Einfluß in der islamischen Welt wurden eine Zeitlang durch den Kauf von Anleihen gestützt und dadurch erst ermöglicht. Aber aus verschiedenen Gründen scheinen diese zahlungskräftigen Freunde der Türkei abhanden gekommen zu sein und damit gerät ihr ganzes Finanzsystem ins Strudeln.

Von Syrien, dem Libanon, Ägypten, Tunesien, Libyen, dem Irak hört man wenig. Auch Afghanistan ist ziemlich abgemeldet, außer man will passende Textbausteine und Photos zu den Themen Unmenschlichkeit, Fanatismus und Frauenfeindlichkeit loswerden.

Für irgendwelche Winterlöcher oder saure-Gurken-Zeiten kann man auch noch über die Probleme von Leuten mit abweichender sexueller Orientierung berichten, da findet sich überall auf der Welt etwas.

Staaten an den Grenzen Rußlands werden aufgemischt und gleichzeitig darüber gezetert, daß dieses unglaublich aggressive Rußland sich da ungehörig einmischt.

Schließlich, nicht zu vergessen, beschäftigt gerade die EU-Staaten und ihre Medien die Energiefrage. Selber würde man gerne mehr als man hat, und vom Ausland importieren ist lästig, wenn man dieses Ausland gerne bekriegen oder doch fertigmachen würde.

Wobei man bei der Abhängigkeit von Importen nicht immer nur an Rußland denken sollte. Auch Nordafrika, die Flüssiggas-Exporteure oder die Ölstaaten sind aufgrund von Inflation, logistischen Problemen und politischer Rivalität keine verläßlichen Partner mehr.

So ungemütlich präsentiert sich das Panorama zu Jahreswechsel 2022.

Pressespiegel Komsomolskaja Pravda, 5.1.: Unruhen in Kasachstan

„WAS IST FÜR RUSSLAND UND DIE RUSSEN VON DEN UNRUHEN IN KASACHSTAN ZU ERWARTEN?
Dmitrij Steschin

1. Bisherige Bilanz

Kasachstan war bis gestern die stabilste und ruhigste Republik des „zentralasiatischen Südrands Rußlands“. Ein wirtschaftlich erfolgreiches Land, was nicht nur an Statistiken, Mindestlöhnen oder BIP gemessen werden kann und soll, sondern auch am relativ geringen Zustrom kasachischer Gastarbeiter. 2019 waren es nur 136 000, im Pandemiejahr 2020 weniger als halb so viele, nämlich 60 000 Personen. Im Vergleich dazu kommen Millionen aus Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan auf der Suche nach Arbeit nach Rußland.

Sowohl diplomatisch als auch wirtschaftlich ist Kasachstan sehr eng mit Rußland verbunden, beginnend mit dem 1992 unterzeichneten ersten Vertrag »über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe«. Im selben Jahr schloss Kasachstan einen Vertrag über kollektive Sicherheit und unterzeichnete ihn 2003 erneut, als er der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) beitrat. Es ist Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion und hat gegenseitige Verpflichtungen in der militärisch-technischen und grenzüberschreitenden Wirtschaftszusammenarbeit übernommen. Mit Rußland verbindet Kasachstan auch der Weltraum – und dementsprechend Baikonur. Die russische Sprache hat den Status einer Amtssprache, 51 % der Bürger der Republik geben als Verkehrssprache Russisch an.

2. Was hat Rußland zu verlieren?

Geopolitisch und strategisch ist Kasachstan derzeit einer der zuverlässigsten Partner Rußlands im postsowjetischen Raum. Grob gesagt steht Kasachstan seit dem Zusammenbruch der UdSSR nicht auf der Liste der »bedrohten Sektoren«. Die sehr lange Grenze zwischen Rußland und Kasachstan – 7.500 Kilometer – wird in einigen Gebieten von Patrouillen bewacht, aber es gibt keine durchgehende »Sicherheitskette«, da an dieser Grenze bisher keine Gefahren für Rußland drohten.

Ab der Jahrtausendwende kam es zwar zu einem gewissen Aufleben der islamisch-extremistischen Salafisten. Doch die Behörden konnten dem wahhabitischen Treiben einen Riegel vorschieben. Dann begannen die Unruhen in Syrien und die aktivsten Mitglieder der Jamaat gingen in den Nahen Osten, wo ihre gewalttätigen wahhabitischen Köpfe auch blieben.

Was könnte im Falle eines gewaltsamen Regierungswechsels in Kasachstan geschehen?
Man betrachte das Beispiel Ägyptens 2011, als sich nach dem Sturz des säkularen Präsidenten Mubarak bei den ersten revolutionären Wahlen herausstellte, daß die einzige organisierte und strukturierte Kraft im Land die in Rußland verbotene Organisation der Muslimbruderschaft war. Sie gewannen diese Wahlen und setzten ihren Präsidenten in Kairo ein, der erst nach einem blutigen Gegenputsch 2013 abgesetzt werden konnte.
Natürlich ist das säkulare Kasachstan mit seinem »Steppen-Islam« nicht Ägypten, aber die Rute steht im Fenster. Ein gewaltsamer Machtwechsel in Kasachstan würde Rußland Kopfschmerzen bereiten. Man braucht nicht hoffen, daß ein »Post-Maidan-Kasachstan« weiterhin freundschaftliche Beziehungen zu Rußland pflegen würde – denn diese »Revolution« wurde nicht deshalb losgetreten.

Außerdem stellt Kasachstan die Haupt-Transitroute zu den übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens dar. Auf diesem Weg können sowohl Wahhabiten als auch Taliban nach Kasachstan kommen. Andererseits kann dieser Weg versperrt werden. Länder, deren Wirtschaft von Gastarbeitern in Rußland und deren Überweisungen abhängt, würden es schwer haben. Kein Regime in Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan würde Millionen arbeitsloser junger Männer mit hungernden Familien überstehen. Das gesamte postsowjetische Zentralasien könnte in Flammen aufgehen.“

Eine interessante Auskunft über den wirtschaftlichen Zustand Zentralasiens. Viele der dortigen Staaten bestehen anscheinend nur aufgrund des großen russischen Arbeitsmarktes.

„3. Wer schürt diese Unruhen?

Wie alle Länder, die sich im Zentrum von Handels- und Zivilisationsrouten befinden, hat Kasachstan Probleme aufgrund seiner Offenheit und seiner außenpolitischen Ablehnung eines starren Freund-Feind-Schemas.
Um das näher auszuführen: Seit 1995 sind verschiedene Soros-Organisationen in Kasachstan, die in 25 Jahren über 100 Millionen US-Dollar erhalten haben. Aber außer Soros gibt es noch andere ähnlich beschaffene Organisationen.
Man kann hier ein explosives Wachstum beobachten: 2003 waren es knapp 2000, 15 Jahre später schon 22.000 …
Nach Angaben des Ministers für soziale Entwicklung Darchan Kaletajev sind inzwischen in Kasachstan 53 internationale Organisationen, 30 ausländische Regierungsorganisationen, 77 ausländische NGOs und Stiftungen in Kasachstan tätig. 70 % aller Mittel kommen aus den USA.

Darüber hinaus befindet sich Kasachstan im Einflußbereich der Türkei und ihres großturanischen Entwurfes, die diesbezüglich auch nicht untätig ist.

Auch China verfolgt hier seine eigene Politik.

In Europa sitzt ein kasachischer »Reservepräsident«, der flüchtige Oligarch Muchtar Äbljasov. Und er befindet sich nicht nur dort, sondern ist auch politisch aktiv. Zumindest gelang es dem Oligarchen und seinen Ortskräften, nach dem Rücktritt Nasarbajews und der Wahl des neuen Präsidenten Tokajew, Ausschreitungen zu organisieren. Und jetzt können wir erkennen, es war ein »Spähtrupp für die Schlacht«, eine Art Probegalopp der Organisation von Aufruhr, von Koordinations- und Kommunikationskanälen. In Anbetracht der Tatsache, wie schnell sich die Unruhen in Kasachstan verbreiteten, waren hier Experten für »Farbrevolutionen« und Maidans als Brandbeschleuniger am Werk.

Alles verlief nach Drehbuch. Erstens, die wirtschaftlichen Forderungen, unbedeutend, leicht gelöst. Die Regierung macht Zugeständnisse, aber in Wirklichkeit gießt sie damit nur Öl ins Feuer. Per Apps wurden Flashmobs organisiert.
Die Behörden versuchen, Internetressourcen zu blockieren, aber mittels Anonymisierung und VPN läßt sich die Blockade umgehen, und über solche Programme verfügen natürlich alle.
Die Regierung macht erneut Zugeständnisse – und tritt zurück. Als Reaktion darauf – der Sturm von Regierungsgebäuden. Die Einführung einer »Ausgangssperre«, die nicht durchgesetzt und auch nicht befolgt wird, weil jeder begreift: Sie gilt nicht! Als Folge davon wurden Sicherheitskräfte geschlagen und entwaffnet.“

Die kasachische Regierung und die Sicherheitskräfte wurden offensichtlich von den Geschehnissen überrascht. Die Sache erinnert an den 2009 erfolgten Sturm auf das moldauische Parlament, das damals ziemlich zu Schaden kam.
Die „KP“ erinnert auch an den Maidan:

„Man erinnere sich an die Kiewer »Berkut«-Einheit, die 2014 den Maidan bereits ziemlich geräumt hatte und anstatt auch den Rest der Randalierer noch festzunehmen, dumm dastand und »auf den Befehl wartete«, der nie kam.“

Man merkt an diesen Vorkommnissen, wie verkehrt die hiesige Berichterstattung liegt, nach der in solchen Staaten „autoritäre Regimes“ „mit harter Hand“ ihr Volk unterdrücken. Man merkt aber auch den Unterschied in der Berichterstattung seit dem Maidan 2014. Vorher, siehe Moldawien, wurden solche gewalttätigen Demonstrationen im Einflußbereich Rußlands doch etwas unsicher kommentiert, weil hierzulande würde man dergleichen nicht dulden.
Inzwischen ist durchgesetzt: Alles, was Rußland schadet, ist gut, und bei rußlandfreundlichen „Regimes“ dürfen Polizisten auch geschlagen oder umgebracht werden, weil die sind ja nur Diktatorenknechte.

„Jetzt ist das Internet voll von vorgefertigten Propagandaplakaten und Memos an die Rebellen. Bei den Aufrührern werden bislang keine Organisationsstrukturen und offiziellen Sprachrohre präsentiert – damit die Behörden nicht wie in Weißrußland aufräumen. Lediglich vernetzte, virtuelle Strukturen, die in mühseliger Handarbeit aufgeräumt werden müssen, funktionieren – die belarussischen Spezialdienste sind bereits im zweiten Jahr damit beschäftigt, ein Ende ist nicht in Sicht.“

Es handelt sich offenbar um das Aufspüren von Personen, das Beschlagnehmen von Handys und deren Auswertung, was mit „Handarbeit“ angesprochen ist.
Die Kontrolle über das Internet scheint in Kasachstan oder Weißrußland nicht gegeben zu sein, vermutlich anderswo auch nicht – die betroffenen Staaten müßten das gesamte Mobilfunknetz abschalten, um die Organisation von Demos oder Gangs zu unterbinden.

„Die Aufständischen haben ganz unterschiedliche Parolen – vom anzustrebenden »westlichen Weg« Kasachstans über Polygamie bis hin zur Scharia. Es gibt noch kein einziges Ziel, es wurde nicht identifiziert – damit jeder in dieser »Saxaul-Revolution«[1] etwas Eigenes, Schmerzhaftes sieht. So wird der Massencharakter der »Straße« mit Hilfe von »Soft Power«-Technologien erreicht. Und das Endergebnis kommt später. Es ist gewöhnlich immer das Gleiche. Die Aufhebung der souveränen Regierung, eine von außen eingesetzte Verwaltung und schließlich in der Regel die Bildung einer antirussischen politischen Stoßrichtung. Das Testwort ist »anti-russisch«. Damit kann man sich definieren und zuordnen.

4. Was wird aus den Russen Kasachstans?

Die (nach der Ukraine) größte russischsprachige Gemeinschaft der Welt – 3,5 Millionen Menschen – lebt auf dem Territorium Kasachstans. Im Jahr 2019 reiste ich fast einen Monat lang durch Kasachstan und versuchte, die Situation meiner Landsleute zu verstehen (siehe in KP.RU »Wie Kasachstan Russen verliert«). Die Behörden postsowjetischer Republiken mögen es nicht sehr, wenn sich Journalisten mit solchen Themen befassen. Mehrere russische Kollegen, die sich für das Schicksal der Russen in Kasachstan interessierten, wurden bereits abgeschoben. Das war mir bekannt und deshalb kontaktierte ich die örtlichen Behörden einfach nicht, sodaß die jeweiligen örtlichen Sonderdienste mir erst dann auf die Spur kamen (sie begannen, mich in einem fort zu Besprechungen einzuladen), als ich bereits die Grenze zu Rußland überquert hatte. Die einheimischen Russen hatten mich nicht verraten.

Natürlich gibt es in Kasachstan keinen offensichtlichen Völkermord an den Russen. Es gibt so einen leichten Druck in allen Richtungen. Wie sieht es aus? Einmal in der Nacht wurden 50 Straßen umbenannt und die »nicht einheimischen« Namen von den Schildern entfernt. Und nicht nur Straßen! Jemand wurde geboren und ist aufgewachsen in Semipalatinsk und wacht eines Tages auf in Semei. Er baute Zelinograd, und daraus wurde Nur-Sultan[2]. Er arbeitete in Gurjew, landete in Atyrau.

Dann wieder wurde der Russischunterricht in der Schule von einem Tag auf den anderen und ohne Vorankündigung auf eine Stunde pro Woche beschränkt. Russen lesen all diese Zeichen und verstehen sie gut und stimmen daher mit den Füßen ab. Die Abwanderung ist stabil – nur aus dem Nordosten Kasachstans übersiedeln jährlich 50 Tausend Menschen nach Rußland. An ihre Stelle bürgern die Behörden »Oralmanen«[3] ein – ethnische Kasachen aus Nachbarländern. Sie erhalten Unterkunft und Sozialleistungen. Ihre Unfähigkeit, sich dem Stadtleben anzupassen, ist das Hauptthema von Witzen, die sowohl von russischen als auch von »städtischen« Kasachen erzählt werden. Dafür ermöglicht der Zustrom der Oralmanen den Behörden Berichte, daß es jetzt in manchen Ortschaften 41% Kasachen und nur 40% Russen gibt.

Was habe ich während dieser Reise gelernt? Es gibt eine russische Gemeinschaft (zu ihr werden traditionell auch Ukrainer, Weißrussen, Tataren und Deutsche gezählt), aber sie hat keine soziale und politische Vertretung. Im besten Fall ein Folklore-Ensemble im Kulturpalast. Auch Rußland hat in 30 Jahren kein deutliches Interesse gezeigt, sie als einheitliche Gruppe anzuerkennen und zu unterstützen. Die meisten Russen sitzen auf gepackten Koffern. Sozialer Aufstieg für Russen ist nur möglich, wenn Sie Ihre Identität ändern, das heißt, kasachischer werden als die Kasachen selbst. Und auch dieser Aufstieg führt bestenfalls bis in die vorletzte Etage, auf die Ebene des »ersten Stellvertreters“, der die ganze Arbeit macht.

Ein anderer gängiger Satz ist: »Unsere Kinder haben hier keine Zukunft«. Alle diese grundlegenden Kriterien der Auswanderung wurden mir von den Russen selbst mitgeteilt. Irgendwie erscheint mir: Dieses Jahr wird einen Rekord der Auswanderung aus Kasachstan nach Rußland bringen.

5. Ist Einmischung angesagt?

Kasachstan ist Mitglied der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit). Laut Verordnung müssen sich die OVKS-Mitgliedstaaten gegenseitig schützen. Allerdings mit Vorbehalt: »Aufgabe der OVKS ist der Schutz der territorialen und wirtschaftlichen Einheit der am Vertrag teilnehmenden Länder durch gemeinsame Anstrengungen von Armeen und Hilfstruppen, vor jeglichen externen militärischen und politischen Aggressoren, internationalen Terroristen sowie vor Naturkatastrophen großen Ausmaßes.«

Bislang sind auf den Straßen Kasachstans keine Aggressoren und »internationalen Terroristen« wahrnehmbar. Es gebe nur ein »professionell aufgemischtes Volk«. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen haben die kasachischen Behörden die OVKS nicht um Hilfe gebeten, der Kollektive Sicherheitsrat der OVKS ist nicht zusammengetreten. Vielleicht glaubt Kasachstan noch, daß es die Turbulenzen aus eigener Kraft bewältigen wird. Wir in Rußland werden es auch glauben.“

Klingt nicht sehr überzeugt.

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INFORMATION DER KP:

Das Territorium Kasachstans umfaßt 2 Millionen 724 900 Quadratkilometer. Am 01.12. 2017 betrug die Bevölkerung 18 Millionen 137 300 Menschen. Laut der Verfassung, die am 30. August 1995 in einem Referendum angenommen wurde, ist Kasachstan ein zentralisierter Staat mit einer präsidentiellen Regierungsform. Sie bekräftigt Kasachstan als demokratischen, säkularen und sozialen Rechtsstaat. Der Präsident der Republik Kasachstan ist das Staatsoberhaupt, ihr oberster Beamter und wird für eine Amtszeit von sieben Jahren gewählt.

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[1] Das Saxaul ist ein in Kasachstan heimisches Wüstengewächs, das anscheinend von manchen Akteuren der Unruhen als Symbolpflanze für die jetzige „Bewegung“ eingesetzt wird, ähnlich wie „Jasmin“ 2011 in Tunesien, „Rosen“ 2003 in Georgien oder „Tulpen“ 2010 in Kirgisistan. Vielleicht wurde das Gewächs ausgewählt, weil es so sexy klingt.
Man merkt die Absicht: Diese Mobs oder Bewegungen sollen einen ähnlichen Nimbus bekommen wie die portugiesische Nelkenrevolution 1994, die das Ende der vom Westen unterstützten Diktatur einläutete. Gewalttätige Typen mit Schlagstöcken, die auf Sicherheitskräfte losgehen, werden mit Leuten gleichgesetzt, die den Soldaten Blumen in die Gewehrläufe steckten.

[2] Die Hauptstadt Kasachstans hat in den letzten 100 Jahren mehrmals ihren Namen gewechselt. Erst seit 3 Jahren heißt sie Nur-Sultan, zu Ehren Nasarbajews. Unter ihrem ältesten Namen Akmolinsk war sie ein Zentrum der Deportation in den 30-er Jahren.
Diese Deportationen nach Kasachstan sind einer der Gründe, warum so viele Russen dort leben. Ihre Vorfahren kamen nicht freiwillig hierher.

[3] Oralman heißt „Rückkehrer“. Kasachstan wirbt mit materiellen Anreizen Bürger anderer Staaten ab, man erinnere sich an die russischen „Aussiedler“ der 80-er und 90-er Jahre.
Ähnlich wie diese haben diese „Zurückgeholten“ aus China, Usbekistan, Turkmenistan, Rußland, der Mongolei, sogar dem Iran größere Schwierigkeiten, sich in ihrer neuen „Heimat“ zurechtzufinden.