Serie „Lateinamerika heute“. Teil 15: Bolivien

BERGBAUNATION
Wenn man die Geschichte Boliviens nach denjenigen Produkten einteilen wollte, die nach Galeano „die Armut des Menschen als Ergebnis des Reichtums der Erde“ verursachen, so kann man dafür die Perioden des Silbers, des Zinns und die der Energieträger Erdöl und Erdgas ansetzen. In Zukunft vielleicht die des Lithiums. An diesen Bodenschätzen entlang entwickelte sich das heutige Bolivien.

1. Das Silber von Potosí
bestimmte die spanische Kolonialzeit, und prägte das damalige Gebiet des heutigen Bolivien insofern, als sich die ganze Organisation der Gesellschaft unter den spanischen Behörden um das Funktionieren dieses Bergwerks und den Abtransport des dort gewonnenen Silbers drehte. Die Landwirtschaft, das Transportwesen und das gesamte gesellschaftliche Leben wurden dem untergeordnet. Die Eingeborenen des Hochlandes wurden versklavt und in den Minen vernutzt. Die spanischen Kolonialherren bedienten sich dafür einer Institution, die die Inkas eingeführt hatten, um in gemeinschaftlicher Arbeit Straßen und Kanäle zu bauen.

Als die einheimische Bevölkerung aufgrund der für sie viel zu schweren Arbeit gehörig dezimiert war, wurden sie durch schwarze Sklaven ergänzt, vor allem aus dem Gebiet der heutigen Guineas. Der „Reiche Hügel“ von Potosí befindet sich nämlich noch dazu auf einer Höhe von über 4000 Meter, wo der Sauerstoffmangel im Zusammenhang mit schwerer Arbeit sehr verkürzend auf das Leben der Arbeitenden wirkt.

Auch die Arbeit in der 1572 in Potosí gegründeten Münzprägeanstalt, die das ganze spanische Kolonialreich mit Silbermünzen versorgte, wurde von Sklaven geleistet. Nach dem Niedergang der Silberproduktion blieb die Münzprägeanstalt weiterhin einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren des Kolonialreichs. Obwohl auch anderswo solche Häuser bestanden, war die Münze von Potosí mit Abstand die größte, mit dem größten Ausstoß an Münzen, weil sie eben an der Quelle stand. Sie war eine wichtige Beute der Unabhängigkeitskriege im 19. Jahrhundert, teilweise wurden die Prägestöcke abmontiert und woanders in Betrieb genommen.

Noch heute sagt man auf Spanisch, wenn man irgendwo eine wirkliche oder vermeintliche Goldgrube entdeckt zu haben scheint: „Es ist ein Potosí wert!“

Das Silber von Potosí war also nicht nur eine Ware wie andere Produkte des Kolonialreichs, wie Zuckerrohr oder Kakao, sondern eine der Grundlagen, mit der das Kolonialreich verwaltet und die Kolonialherrschaft finanziert wurde. Es trug dazu bei, daß Spanien bis zum Schluß den Silberstandard verwendete und der auf Gold beruhende Escudo eine untergeordnete Rolle gegenüber der Silbermünze Real spielte.

Die regionale und überregionale Bedeutung der Silberminen schlug sich jedenfalls nicht in irgendeiner Art von Wohlstand für die Eingeborenen – und der schwarzen, hmmm, Zwangseingeführten – nieder, und darin gleicht die Silber-Periode den nachfolgenden Perioden.

2. Die Epoche des Zinns, die MNR und die „Revolution“ von 1952
Das Silber verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts aus verschiedenen Gründen an Bedeutung und außerdem waren auch im „Reichen Hügel“ langsam einmal die Vorkommen erschöpft.

Aber das Zinn löste als Geißel der Vielen und Reichtum der Wenigen das Silber gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab. Auch heute noch ist Bolivien der 5-tgrößte Zinnproduzent der Welt.

Dazu trug auch der von Bolivien 1884 verlorene Pazifik- oder Salpeterkrieg bei, der Bolivien nicht nur seinen Teil am Salpetergeschäft kostete, sondern auch seinen Zugang zum Meer und damit den Abtransport seiner Bergbauprodukte erschwerte und verteuerte.

Die Bedeutung des Zinns für verschiedene Legierungen in der Industrie und im Maschinenbau war im Laufe des 19. Jahrhunderts gestiegen. Vor allem der Vormarsch der Konservendose erhöhte den Bedarf nach Zinn. Heute ist es zusätzlich für die Glasherstellung unverzichtbar.

So gelang es einem findigen bolivianischen Unternehmer, über Zinnfunde und den Ausbau des Zinnbergbaus zu einem der größten Zinnhersteller der Welt zu werden. Er erhielt auch Rückendeckung der bolivianischen Eliten, weil es ihm gelang, das chilenische Kapital aus dem bolivianischen Bergbau zu verdrängen.

Patiño war also sozusagen der erste „Nationalisierer“ des Bergbaus. Die Regierung von Paz Estenssoro und die von ihm gegründeten MNR – Revolutionäre Nationalbewegung – verstaatlichte dann 1952 nicht nur die Patiño-Zinnminen, sondern die ganzen damaligen Bergbaubetriebe Boliviens.
Sie kann als ein direkter Vorläufer der MAS von Evo Morales betrachtet werden: Es war eine Regierung und Partei, die die Bodenschätze des Landes verstaatlichen wollte, mit der Absicht, einmal auch diejenigen am stofflichen Reichtum des Landes zu beteiligen, die ihn aus dem Inneren der Erde herausgeholt hatten. Diese Verstaatlichung und die damit einhergehende Absicht der Umverteilung war das, was sie als „Revolution“ bezeichneten.

Damit machten sich die Verstaatlicher nicht nur Freunde im In- und Ausland.

Das eigentliche Problem der MNR-Regierung war aber, daß die Bergleute Boliviens sich von dieser Verstaatlichung eine Verbesserung ihrer Lage erwarteten, die in Widerspruch zu den Anforderungen des Weltmarktes stand.
Die bolivianische Regierung wollte durch den Export der verschiedenen Metalle (außer Zinn und Silber auch noch Wolfram, Zink, Kupfer usw.) Devisen auf dem Weltmarkt erlösen, um damit verschiedene gute Taten, aber auch Investitionen in den Bergbau zu finanzieren.

Um an diese Devisen kommen zu können, hätten die Bergleute genauso weiter schuften müssen wie bisher, zu Hungerlöhnen und unter gesundheitsschädlichen Bedingungen. Letztere knüpften aber an die Verstaatlichung die Forderung, daß es ihnen jetzt besser gehen sollte, und so führte diese zu einer Serie von Streiks, dem Rückgang der Produktion und einer daraus folgenden Ebbe in der Staatskasse, was dann schließlich der Grund für den Militärputsch von 1964 war. Der Gewaltapparat selber stieß nämlich an die Grenzen seiner Finanzierung.

Dieser Zyklus holt früher oder später alle ein, die die nationalen Reichtümer in Staatshand zentralisieren, auf dem Weltmarkt verscherbeln, und die Gewinne dann mit der Gießkanne über die Bevölkerung ausschütten wollen.
Die Sache geht spätestens dann schief, wenn die Weltmarktpreise für diese national hergestellten Produkte fallen, und sich die Rechnung
Einnahmen => Staatsnotwendigkeiten + Investitionen + Versorgungsleistungen
nicht mehr ausgeht.

3. Statt Staat privat!
Auf den Sturz der Regierung von Paz Estenssoro folgten Militärregierungen, oftmals sehr kurzlebig, und Zivilregierungen, während sich das Mißverhältnis von Einnahmen und Ausgaben weiterhin reproduzierte. Solange, bis mit Hilfe von IWF und Weltbank die Reprivatisierung als Allheilmittel entdeckt wurde.

Um die Sache ganz gut zu machen, wurde zusätzlich zu auch noch das Wasser als Ressource entdeckt, mit der sich gut Geld machen ließe – zum Wohle der Allgemeinheit, selbstverständlich.
(Das Inka-Reich entstand und hielt sich deshalb, weil es die Kriege auf dem Andenhochland um das Wasser beendete und eine zentrale und effiziente Verwaltung des Wassers schuf. Dergleichen ist in Bolivien bis heute nicht gelungen.)

Das bescherte Bolivien im Jahr 2000 ff. den Wasserkrieg, wo die Bevölkerung von Cochabamba die Rücknahme der Wasserprivatisierung und des Wassergesetzes erzwang. Damals schloß sich Evo Morales als Vertreter der Coca-Bauern diesen Forderungen an – mehr oder weniger: Wasser für alle, Coca für alle – und begann seine politische Karriere.

4. Die Energieträger
Genauso wie mit den Bergbauprodukten ist in Bolivien das Interesse, die Energieträger aus Kohlenwasserstoffen – die seit Anfang des 20. Jahrhunderts in Bolivien untersucht und abgebaut worden waren – zu verstaatlichen, nicht neu. Bereits in den 30-er Jahren ging das ein Präsident an, ganz ohne soziales Engagement, sondern einfach, um diesen strategischen Rohstoff im Sinne von Militär und Staatskasse durch staatlich kontrollierte einheimische Firmen zu fördern. Damals wurde die US-Firma Standard Oil hinauskomplimentiert.

Damals bereits stellte sich aber heraus, daß ohne ausländisches Kapital weder die nötigen Prospektierungen noch die Förderung, noch die Raffinierung angegangen werden konnten. Dazu kam der erbärmliche Zustand aller Transportverbindungen. Eine aus den USA während des II. Weltkriegs zwecks Kooperation nach Bolivien geschickte Expertendelegation empfahl unter anderem, vielleicht einmal die wichtigsten Straßen zu asphaltieren.

Und so ging die gleiche Angelegenheit wieder los: Ohne ausländisches Kapital gibt es keinen Zugriff auf die nationalen Reichtümer. Ist es einmal da, hat investiert und sich breit gemacht, so will es eben auch möglichst viel Gewinn einstreifen und ihn nicht am Ende mit gierigen bolivianischen Steuerbehörden teilen.

Nach der Verstaatlichung und der Gründung der staatlichen Ölfirma YPFB dümpelte sie eine Zeitlang vor sich hin, bis sie die Regierung Paz Estenssoro als Finanzierungsquelle für die inzwischen verstaatlichte (sonstige) Bergbauindustrie entdeckte. Der Verkauf von Schürfrechten für Öl sollte das Geld in die Staatskasse bringen, das dort für die Entwicklung des Zinn-, Silber- und Sonstwas-Bergbaus nötig war. Und so wurden Konzessionen für 40 Jahre vergeben, bis in die 90-er Jahre also.
Die Ölfirma, die sich an die Bohrarbeit machte, entdeckte Erdgas – für das sie gar keine Konzession hatte, weil daran gar nicht gedacht worden war. Die US-Firma Gulf Oil Company bot an, der bolivianischen Industrie Erdgas kostenlos zu liefern, wenn sie nur mit dem Rest machen könne, was sie wolle.
Man muß hier erwähnen, daß sich der Gasmarkt erst in den späten 50-er Jahren entwickelte. Bisher hatte man das überschüssige Gas meistens abgefackelt. Sowohl bezüglich der Verwendungsmöglichkeiten als auch des Transportes und der Förderkosten war alles neu, was der Ölfirma sehr freie Hand bei der Festsetzung der Preise ließ.

Als die bolivianische Regierung 1969 die Verträge mit der Gulf Oil Company kündigte, mit Berufung auf neue Bedingungen, und die Energieträger wieder verstaatlichte, verhängten die USA ein Embargo über bolivianisches Erdöl und seine Derivate. (Kennen wir das nicht von irgendwo?)
Nach dem Putsch von Hugo Banzer 1971 wurden die Karten wieder neu gemischt. Die staatliche bolivianische Firma YPFB blieb bestehen, aber als eine Art leere Hülse, die Betrieb und Prospektion an Vertragspartner verpachtete.
Dem legte die zivile Regierung Paz Zamora 1990 noch ein Schäuferl dazu, indem sie Gewinn-Garantien gab, um Investoren in diesen Sektor anzuziehen.

Dann wurden noch Joint Ventures genehmigt, und so um das Millenium herum war auf einer viel höheren Stufenleiter die gleiche Situation da wie früher einmal beim Bergbau: Es war klar, daß Bolivien große Reserven an Öl und Gas hatte, sie wurden auf dem Weltmarkt auch nachgefragt, aber private ausländische (USA & Argentinien) Firmen hatten die Hand drauf und die Gewinne flossen größtenteils in ihre Taschen.

Neue Steuern sowie Gerüchte über geplante Exporte von Öl und Gas ins Ausland waren schließlich der Grund, warum der Volkszorn sich in Aufständen entlud. Nachdem der damalige Präsident Schießbefehl gegeben hatte, mit dem Ergebnis von 70 Todesopfern, war er genötigt, ins Ausland zu fliehen. Dort sitzt er bis heute.

Sein Nachfolger setzte zur Beruhigung der Gemüter ein Referendum über die Verstaatlichung der Energieträger an, das mit großer Mehrheit für dieselbige stimmte. Als das Parlament versuchte, diese zu verwässern, mußte wieder einmal gewählt werden, und so erstarkte auch die Partei von Evo Morales (MAS), mit dem Versprechen der Verstaatlichung der Energieträger, die bald darauf mit Mehrheit im bolivianischen Parlament als Gesetz beschlossen wurde.
Damals wurde auch festgelegt, daß zwischen Abgaben und Steuern 50% der Wertschöpfung in die Staatskasse fließen müssen.
Die Verstaatlichung geschah übrigens durch Aktienkäufe, nicht durch Enteignung, da es dafür gar keine gesetzlichen Grundlagen in Bolivien gibt. Sie ließen sich im Parlament nicht durchsetzen.

Mit den Einnahmen aus den Energieträgern wurde tatsächlich in Bolivien einiges in Bildung, Gesundheit und Infrastruktur investiert. Die Gießkanne funktionierte. Das gestehen der bolivianischen Regierung auch ihre Gegner zu.

Das Problem liegt auf der anderen Seite, bei den Einkünften.

Es wurden nicht alle Öl- und Gasfelder verstaatlicht, da der Staat gar nicht das nötige Kapital hätte, um sie alle zu erschließen und zu betreiben. Ähnliches gilt für die Raffinerien. Die Verträge wurden neu verhandelt, und eben um die staatliche Entnahme für soziale Zwecke nicht zu gefährden, wurde kein Prozentsatz für Investitionen hineingeschrieben. Das heißt, weder die privaten noch sie staatlichen Firmen investierten viel, und die Produktion und vor allem die Raffinerieleistung ging zurück. Das wiederum heißt, daß Bolivien teilweise Treibstoff zu Weltmarktpreisen importieren muß – während es seine Rohprodukte aus Mangel an Transportmöglichkeiten (Pipelines, Flüssiggas-Terminals, Hafenanlagen) unter dem Weltmarktpreis verkaufen muß.

2005 standen Öl- und Gaspreise ungefähr so hoch wie heute, nach einigen Höhenflügen und Einbrüchen. Dennoch hat sich aus den oben genannten Gründen die Ratio zwischen Einnahmen und Ausgaben für Energieträger seither verschlechtert.

5. Der Agrarsektor und Evo Morales
Der Agrarsektor stand in Bolivien aufgrund der Wichtigkeit der Bergbauprodukte immer im Hintergrund. Der Hunger und die Unterernährung gehören zur Folklore Boliviens. Auf dem für intensive Produktion ungeeigneten Hochland quälen sich die Eingeborenen mit Trockenheit und Kälte herum, in den Niederungen haben sich teilweise Großgrundbesitzer breit gemacht.
Bolivien verfügt aber wie viele andere Länder Lateinamerikas auch über Dschungel: Unbebaute Flächen, wo vielleicht noch irgendwelche traditionell lebenden Eingeborenen hausen, und deren Besitzverhältnisse nicht ganz geklärt sind. Und diese Gebiete bieten sich an, wenn andere Einkommensquellen versagen, so auch heute.

Morales und seine Familie zogen als Kolonisten in den Dschungel und machten dort Flächen urbar, weil sie auf dem Hochland aufgrund von Mißernten und Frost nicht mehr überleben konnten Und sie widmeten sich – neben anderen Pflanzen – dem Anbau von Coca.

Die Cocapflanze ist ein traditionelles Grundnahrungsmittel des Andenhochlandes, wo vieles an Nährstoffen und Vitaminen drin ist, das sich die armen Leute, also die Mehrheit der Bevölkerung der Anden, auf andere Weise gar nicht besorgen könnten. Außerdem hilft es, die große Höhe zu ertragen und dennoch schwer arbeiten zu können. Ohne das Coca hätte die Silberproduktion von Potosí gar nicht funktionieren können. Schon die spanischen Kolonialbehörden sorgten deshalb dafür, daß es die Arbeiter der Bergwerke in ausreichender Menge erhielten. Es stellte sie aufgrund der beruhigenden und gleichzeitig anregenden Wirkung nämlich auch ruhig. Erst recht wurden sie von moderneren Bergbaufirmen dazu angehalten, ordentlich Coca zu konsumieren, um sich für die Anforderungen des Kapitals fit zu halten.

Außerdem hielt es die Ureinwohner seit jeher bei ihren Festen bei Stimmung, im Zusammenhang mit Tanz und Gesang, so wie bei uns der Alkohol.

Das Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals erzeugte Derivat Kokain wurde als Anästhetikum und Droge für psychische Erkrankungen eingesetzt, und wird in der Medizin teilweise heute noch verwendet, während sein Konsum und Besitz in den meisten Ländern der Welt heute strafbar ist.

Die bolivianischen Bauern, die das Coca anbauten, gerieten dadurch in den 80-er Jahren zwischen 2 Feuer. Einerseits war das Zeug für die Bolivianer bitter notwendig, andererseits fragten es die kolumbianischen Drogenbarone als Rohstoff für Kokain nach – dual use, ideal für den Produzenten – und drittens versuchte die exterritorial agierende US-Drogenbehörde DEA, den Anbau zu verhindern und die Pflanzungen zu zerstören.

In diesem Hin und Her wuchs Evo Morales in Verteidigung der angestammten Traditionen der bolivianischen Bevölkerung zu einer kämpferischen Autorität heran und griff nach den Sternen des höchsten Amtes im Staat.

Er machte sich also erstens durch die als Aktienkauf betriebene Rückholung der Bodenschätze in bolivianischen Staatsbesitz bei den USA unbeliebt. (Es waren vor allem US-Unternehmen, deren Beteiligung hier reduziert wurde.) Zweitens durch Festhalten daran, daß die Bolivianer zu entscheiden hätten, was in Bolivien angebaut wird.

6. Der „Regionalismo“ und die Provinz Santa Cruz

Die Stadt, die irreführenderweise „Santa Cruz im Gebirge“ heißt – sie liegt in der Ebene – war lange eine Art vergessene Ecke Boliviens, ohne Bodenschätze und Bergwerke, und wegen der fehlenden Straßen auch ohne Handelsverbindungen. Die koloniale „Straße des Silbers“ führte über das heutige Argentinien, rund um Santa Cruz war nichts außer Urwald und Sümpfen. Die paar Grundherren und sonstigen Notabeln des Ortes versauerten hinter den 7 Bergen und konnten nicht einmal ihre landwirtschaftlichen Produkte in die ohnehin recht bescheidenen Metropolen in der näheren Umgebung transportieren, um irgendwelche kleineren Luxusgüter für sich einzukaufen. Auch ihr Lobbyismus für eine Eisenbahnlinie verhallte in Sucre und La Paz lange ungehört, weil einfach kein Geld dafür da war und auch kein ausländisches Kapital in diese Gegend investieren wollte.

Das änderte sich, als um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Provinz Öl entdeckt wurde. Auf einmal kamen Fremde hierher, Kapital, bald eine Straße, schließlich gab es sogar einen Krieg wegen der Transportwege nach Süden, und Santa Cruz stieg zur wohlhabendsten Stadt Boliviens auf. Es stellte schließlich auch einen Präsidenten, den Diktator Hugo Banzer, der ein weiteres dazu beitrug, Santa Cruz Privilegien aller Art zuzuschanzen.

Hier in Santa Cruz machte sich Morales unbeliebt, weil mit seinem Amtsantritt das Gerangel losging, wem eigentlich die Einnahmen aus den so umstrittenen Energieträgern zustanden? Den regionalen Institutionen oder dem zentralen Budget? Das Ganze wurde von den international gut vernetzten Lokalpolitikern von Santa Cruz und deren medialen Sprachrohren mit schönen Titeln über „rückschrittliche“, Koka kauende Indianer, die nicht wirtschaften können, und „fortschrittliche“, mit dem Finanzkapital der Welt verschwägerte und moderne Glaspaläste errichtende lokale Unternehmer ausgetragen. Und ebenso mit Zentralismus gegen Föderalismus, „Selbstbestimmung“, usw.

Hier, in dieser Gegend hat Morales besonders wenig Freunde unter den Besitzenden, aber viele unter den Bloßfüßigen – die wiederum von der Mittelklasse aufwärts nicht wohlgelitten sind, und die viele Santacruzeños gerne von dort vertreiben möchten.

7. Das Militär
war zwar lange unterversorgt und entsprechend schwach, aber spielt in Bolivien eine doppelt wichtige Rolle.
Natürlich muß es die Einheit nach innen wahren und hin und wieder aufständische Bergarbeiter, Bauern oder Bewohner von El Alto, der Zwillingsstadt von La Paz, niederhalten, notfalls auch mit scharfer Munition und mit Toten.

Aber Bolivien hat seit seiner Unabhängigkeit mehrere Kriege geführt und sie allesamt verloren. Das Territorium dieses Staates ist deshalb geschrumpft, es verlor den Zugang zum Meer, die Salpetervorkommen und den Hafen von Antofagasta im Pazifikkrieg, in anderen Kriegen Teile Amazoniens und des Chaco. Jeder Nachbarstaat hat sich ein Stück von Bolivien genommen. Die nationale Schmach sitzt bei den Bolivianern tief und das Militär wird deswegen doch auf eine widersprüchliche Art akzeptiert und verehrt, als Bollwerk gegen äußere Feinde und letzten Garant für die nationale Selbstbehauptung.
Das war auch der Grund, warum die kämpferischen Gewerkschaften die Militärdiktaturen eine Zeitlang geduldet haben.

8. Die Demokratie, die Verfassung und der Putsch
Als Evo Morales seine erste Wahl gewann, ging er in den Präsidentenpalast und schaute sein zukünftiges Büro an.
Er fand, daß das Büro daneben vom CIA benutzt wurde. Seine Vorgänger, sicher jedenfalls „Goni“, fragten bei jeder Entscheidung nach, ob das den USA ohnehin recht wäre.
Morales forderte die US-Botschaft auf, das Büro zu räumen – was auch geschah.
Er machte sich auch hiermit unbeliebt.
Er war 14 Jahre an der Macht, aber vorher schon sehr präsent in der bolivianischen Politik, spätestens seit dem Wasserkrieg.
Er sah sich als eine Art Landesvater, ohne den gar nichts geht.
Deswegen sah er in der Amtszeitbeschränkung einen Verstoß gegen seine ureigensten Rechte als Führer.
Und er setzte diese Amtszeitbeschränkung außer Kraft, indem er erst ein Referendum ansetzte, in dem sein Anliegen mit knapper Mehrheit, aber doch zurückgewiesen wurde. Dann ließ er sich vom Obersten Gerichtshof bestätigen, daß damit gegen sein Menschenrecht auf praktisch unbeschränktes Regieren verstoßen würde. Und ging mit Schwung daran, sich wiederwählen zu lassen.

Er hat da etwas über die Demokratie nicht ganz verstanden, oder sie zumindest zu eigenwillig interpretiert.
Die Demokratie samt ihrem Procedere besteht nämlich nicht nur darin, daß sich die Regierenden wählen und dadurch in ihrer Machtausübung bestätigen lassen müssen.
Es geht auch darum, daß die Kontinuität der Macht über den Wechsel der sie ausübenden Figuren bewerkstelligt wird.
Damit ist klar, daß die abstrakten Prinzipien von Freiheit und Gleichheit – Freiheit des Eigentums und Gleichheit vor dem Gesetz, also Unterordnung unter das Gewaltmonopol – unabhängig von den jeweiligen Vollstreckern dieser Prinzipien gelten sollen.
Deshalb gibt es in den meisten demokratischen Verfassungen diese Beschränkung, meistens auf zwei Amtsperioden, die z.B. in den USA nach dem Ableben von FD Roosevelt eingeführt wurde, damit so etwas wie seine 4-malige Wiederwahl nicht mehr vorkommt. (Morales gratulierte allerdings Angela Merkel überschwenglich zu ihrer 4. Wiederwahl.)
Eine ständige und womöglich erbliche Herrschaftsausübung, wie sie Monarchen oder Diktatoren treiben, verbieten die Großmächte, die allen Staaten Demokratie vorschreiben wollen, und sind entsprechend sauer, wenn sich andere Staaten darüber hinwegsetzen.

In Bolivien wird so etwas nicht geduldet.

Nach einigen Fehlschlägen in Sachen Regime Change wurde jetzt sehr vorsichtig vorgegangen. Auf das Referendum, den Gerichtsbeschluß und die Ankündigung der Wiederwahl folgten keine Donnerwetter aus Washington, Brüssel und ähnlichen Metropolen der Meinungsbildung. Es wurden keine Medienkampagnen gegen den „Diktator“ angezettelt. Sein Wahlkampf wurde beinahe wohlwollend kommentiert. Er wurde dadurch in Sicherheit gewiegt.
Aber irgendwer sorgte dafür, daß alle wichtigen Institutionen wußten, was sie zu tun hatten. Daß nämlich Militär, Polizei, Gewerkschaftsführung, Santa Cruz-Politiker usw. an einem Strang ziehen, Kasperln mit Bibeln in der Hand auftauchen; daß plötzlich als Bauern verkleidete Oppositionelle oder „einfache Leute aus dem Volk“ vor laufenden Kameras Wahllokale stürmen usw. – das weist schon auf eine sehr weit gediehene Koordination hin, ebenso wie der Umstand, daß es Morales fast nicht gelang, das Land zu verlassen.

Die Frage ist, wer oder was kommt jetzt?
Eine neue Militärdiktatur?
Ein Bürgerkrieg?
Eine militärische Intervention?
Evo Morales konnte sich deswegen so lange halten, weil er viele Gegensätze im Land ein Stück weit schlichten konnte und das Vertrauen der Volksmassen hatte. Es wird nicht möglich sein, ihn durch eine ähnlich integrative Figur zu ersetzen.
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Che Guevara suchte sich deshalb Bolivien aus, weil er meinte, das Land sei zentral gelegen und vereinige alle Widersprüche Lateinamerikas in sich. Wenn es gelingt, dieses Land zu kippen, so seine Ansicht, dann würde der Rest der Nachbarstaaten folgen.
In einer sehr abstrakten Weise haben die Drahtzieher des Sturzes von Morales vielleicht ähnliche Pläne, um in Sachen Hinterhof voranzukommen.

Pressespiegel El País, 7.11.: Imperialistischer Konflikt

DIE ANWENDUNG DES HELMS-BURTON-GESETZES
Es wird ernst mit dem Kräftemessen zwischen EU und USA:
„Schon seit einiger Zeit bat die spanische Unternehmervertretung die Regierung um Hilfe bei einem Konflikt, der Hotels, Banken, Reisebüros und andere Unternehmen mit Sitz in Kuba betrifft. Die Regierung von Donald Trump hat den Konflikt im Mai dieses Jahres ausgelöst, mit dem Beschluß, eine Regelung [das Helms-Burton-Gesetz] in Kraft zu setzen, die seit ihrem Erlaß 1996 ausgesetzt worden war. Danach kann jeder Bürger kubanischer Herkunft vor einem US-Gericht Klage erheben wegen Vermögenswerten, die nach der Castro-Revolution von 1959 beschlagnahmt wurden.
Die spanische Regierung bietet den Unternehmen eine Möglichkeit, die europäische Gesetzgebung in Entscheidungen einzubeziehen, die Spaniens Souveränität beschränken. Unter den derzeit von der Handelsministerin einberufenen Unternehmen befanden sich nach Unternehmensangaben Vertreter von Iberostar, Meliá, BBVA, des Anwaltskanzlei Garrigues und der Unternehmervereinigung.
Das Blockadestatut der EU lehnt die Auswirkungen des Helms-Burton-Gesetzes in jedem Mitgliedstaat ab. Es wurde 1996, im selben Jahr wie die Verabschiedung von US-amerikanischem Recht, genehmigt, um EU-Betreiber vor der extraterritorialen Anwendung von Rechtsvorschriften aus Drittländern zu schützen. Mit dieser Verordnung weist die EU die extraterritoriale Anwendung von Rechtsvorschriften zurück, deren Auswirkungen sie als völkerrechtswidrig erachtet.
Die spanische Regierung stützt sich jetzt auf diese Verordnung, die sie bisher noch nicht auf Anfragen ihrer Unternehmen in Anschlag gebracht hatte.
Die Europäische Norm schützt EU-Unternehmen in Kuba durch zwei Mechanismen: Sie ermöglicht die Aufhebung der Wirkung ausländischer Gerichtsentscheidungen auf der Grundlage des Helms-Burton-Gesetzes und eröffnet den betroffenen Unternehmen die Möglichkeit, gerichtlichen Rechtsschutz für Schäden aus extraterritorialer Anwendung dieser Gesetzgebung zu erwirken.“
Auf gut Deutsch: Sie verhindert die Vollstreckung von Gerichtsurteilen auf dem Boden der EU gegen Vermögen der betroffenen Unternehmen, und verspricht Entschädigung für etwaige Enteignungen und Handelshemmnisse, die die US-Regierung gegen betroffene Unternehmen, und sogar deren Staaten verhängt.
Diese „Mechanismen“ bzw. dieses Statut kamen bisher nie zur Anwendung, es ist also erst auszutesten, wie weit die EU hier gehen wird und wieviele Entschädigungen sie locker machen wird. Das kann nämlich ganz schön teuer werden, und die Frage ist auch nicht geklärt, welche Institution dieser Gelder überhaupt auszahlen soll.

„Der spanische Unternehmervereinigung hatte bereits die europäische Unternehmervertretung Business Europe angesprochen, um Unterstützung von der Europäischen Union zu fordern. Sie hatte sich auch an die spanischen Ministerien für auswärtige Angelegenheiten, Industrie und Präsidentschaft (= Koordination der Provinzregierungen) sowie an die US-Botschaft in Madrid und die spanischen Botschaften in Washington und Havanna gewandt.
Im Mai beschlossen die Vereinigten Staaten, den Rechtsanspruch 3 des Helms-Burton-Gesetzes in Kraft zu setzen, der seit 1996 von allen US-Präsidenten ausgesetzt worden war, als eine letzte Patrone zum Erledigen des kubanischen Regimes. Die folgenden US-Regierungen verhinderten das Inkrafttreten in den letzten zwei Jahrzehnten, um die Beziehungen zu einem Partner der Größe der EU nicht zu unterminieren. Bis Trump kam.“
Der Autor des Artikels windet sich hier ein wenig, um den Umstand zu beschönigen, daß die Trump-Regierung der EU hier bereits vor Monaten einen Fehdehandschuh hingeworfen hatte, der in gewissem Sinne den der Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran übertrifft. Denn vor allem die Beziehungen Spaniens zu Kuba sind auf ökonomischem Gebiet sehr eng, und die Anwendung dieses Gesetzes beträfe in erster Linie und mit langem Abstand zu anderen EU-Mitgliedern Spanien.
Es zeichnet sich also eine neue Zerreißprobe für die EU ab: Inwiefern wird sich die EU vor Spanien stellen und riskieren, daß die US-Regierung hier Gegenmaßnahmen treffen wird, die andere wichtige Wirtschaftszweige der EU treffen könnten?

„Nach dieser Entscheidung warnte die EU, dass sie sich Gegenmaßnahmen vorbehalte, um die Rechte ihrer Unternehmen zu verteidigen. Im vergangenen Mai erklärte die damals hohe Vertreterin der Außen- und Verteidigungspolitik der EU, Federica Mogherini, dass die 28 »alle geeigneten Maßnahmen« ergreifen würden, einschließlich des Einsatzes der Welthandelsorganisation (WTO) und dem Schutz ihrer Unternehmen durch das EU- Blockadestatut.
Die Anwendung des Rechtsanspruchs 3 des 1996 verabschiedeten Gesetzes stelle einen »Verstoß gegen die eingegangenen Verpflichtungen« zwischen den Vereinigten Staaten und der EU in den Jahren 1997 und 1998 dar. Das US-amerikanische Recht bedrohe insbesondere die Interessen von Unternehmen Spaniens, vor allem Hotels, mit Aktivitäten in Kuba. …
Das große Risiko, das mit dem Schritt der Trump-Regierung verbunden ist, besteht darin, dass er eine Lawine von Forderungen auf beiden Seiten des Atlantiks auslöst. Damals schätzte die US-Regierung, dass die Wiederbelebung von Titel 3 des Helms-Burton-Gesetzes laut Reuters im April letzten Jahres die Tür für rund 200.000 Fälle öffnen würde. Die Summe der eingereichten Klagen, die bis Mai inaktiv waren, weil dieser Titel des Gesetzes nicht in Kraft war, beträgt rund 6.000.“
Noch dazu fahren der König und seine Gemahlin bald hinüber, zur 500-Jahr-Feier Havannas, also da ist ein Haufen Gscher vorprogrammiert.
Die EU kann schlecht einen Rückzieher machen und Spanien im Regen stehen lassen, weil dann fragt sich, was alle Statuten und Regelwerke dieses Staatenbündnisses eigentlich wert sind? Wenn sie, sobald sie auf dem Prüfstand stehen, aufgegeben werden?
Die EU-Außenpolitik würde entgültig zu einer Lachnummer verkommen, wenn man sich sozusagen verbitten würde, irgendetwas gegen die USA zu unternehmen, sobald deren Interessen berührt sind.
Spaniens Wirtschaft wäre – zusätzlich zu den ohnehin offenen Baustellen wie Katalonien oder der gesamtspanischen Regierung, die nicht und nicht zustandekommt, mit den entsprechenden Verzögerungen in Sachen Budget usw. – noch zusätzlich im Blickpunkt: Einer ihrer wichtigsten Wirtschaftszweige, die Tourismus-Industrie, wäre von Repressalien betroffen. Die in Frage stehenden Unternehmen sind weltweit tätig, und in viele Partnerschaften eingebunden.
Es ist wahrscheinlich, daß die USA andere Staaten und Wirtschaftszweige – z.B. mit Zöllen – bestrafen würden, wenn die EU Spaniens Unternehmen schützen will.

Pressespiegel El País, 17.10.

NEUE WAFFEN UND STRATEGIEN IN DER TÜRKISCHEN ARMEE
Andrés Mourenza aus Viransehir (Türkei)
Die Türkei, die die Rebellenmilizen als Vorhut nutzt, treibt die Schaffung eines eigenen militärisch-industriellen Komplexes voran
Die türkischen Streitkräfte werden immer von dem Mantra begleitet, die zweitgrößte NATO-Armee zu sein (mit 355.000 Soldaten). Es ist auch die zehnte Armee der Welt mit der größten Anzahl von Panzern (2.504) und die dreizehnte nach der Anzahl von Flugzeugen (335). In Ankara ist jedoch bekannt, dass sie das nicht zu den Mächtigsten oder bestens geeignet am für die moderne Kriegsführung macht. Daher hat die türkische Führung im letzten Jahrzehnt einen umfassenden Erneuerungsprozess durchgeführt, um das Militär kompakter, technologisch besser ausgerüstet, unabhängig von seinen westlichen Verbündeten und spezialisiert auf hybride Konflikte zu machen. Immer mit dem Ziel vor Augen, dem Image zu entsprechen, das die Türkei über sich in die Welt setzt: Als ein Land mit wachsendem Einfluss, das die Entwicklung der Ereignisse in der Region bestimmen will.
Eine Reihe von Lastwagen braust mit voller Geschwindigkeit in Richtung Ceylanpinar. Anhänger transportieren Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Lastwagen mit montierten Maschinengewehren, wie sie von syrischen Rebellenfraktionen verwendet werden, die Ankara treu ergeben sind. Sie sind in Richtung der Front von Ras al Ain unterwegs, einer syrischen Stadt auf der anderen Seite der Grenze, aus der mindestens ein halbes Dutzend Rauchsäulen aufsteigen. Die Verstärkungen deuten darauf hin, dass die Dinge nicht so laufen, wie die Türken es wollten, denn nach sieben Tagen Kampf verteidigen sich die kurdischen Milizen dieser Stadt immer noch.
Obwohl die türkische Regierung keine offiziellen Zahlen angegeben hat, schätzen Experten, die vom El País konsultiert wurden, dass der Generalstab bis zu 15.000 Soldaten für seine Offensive in Nordsyrien mobilisiert hat, darunter viele Spezialtruppen, zusätzlich zu mechanisierter Infanterie und Artillerie und zwischen 6.000 bis 20.000 verbündete syrische Kämpfer, so die gleichen Quellen.
„Aus der Luft werden sie mit intelligenten Waffen und mindestens hundert Drohnen unterstützt“, sagt der frühere Spezialeinheitsoffizier Abdullah Agar. Unbemannte Luftfahrzeuge, sowohl für die Spionage als auch für den Angriff, sind der Stolz der türkischen Streitkräfte, da sie nicht nur einen taktischen Vorteil bieten, sondern auch national hergestellt werden. Ähnlich wie ein guter Teil der eingesetzten Panzer und einige Angriffssysteme moderner Technologie.
In den letzten 15 Jahren hat Ankara mehr als 30 Milliarden Dollar in die Schaffung eines militärisch-industriellen Komplexes investiert, der staatlich gelenkt wird und neben Korvetten, Hubschraubern und Raketen unterschiedlichen Umfangs bereits eigene Panzer entwickelt hat. „Die größte qualitative Veränderung war, dass derzeit 70% der hier verwendeten Waffen im Inland hergestellt werden“, sagt Ömer Özkizilcik von der türkischen Denkfabrik SETA, die die türkische Armee nach Ansicht dieses Sicherheitsexperten „widerstandsfähiger gegen jede Art von ausländischem Embargo macht“, wie zum Beispiel Exportbeschränkungen für militärische Ausrüstung, die von mehreren europäischen Ländern erlassen wurden.
Auf diese Weise sind ihre Streitkräfte im technischen Bereich immer weniger von ihren westlichen Verbündeten abhängig. Das macht es auch politisch und strategisch unabhängiger. „Die Türkei bleibt ein wichtiger Verbündeter der NATO. Sie leistet einen Beitrag zu ihren Missionen und Operationen sowie zu ihrer Schlüsselposition für die geopolitischen Interessen der NATO im Nahen Osten. Ich glaube also nicht, dass das, was in Syrien passiert, zum Ausschluß der Türkei aus der NATO führen wird “, sagt Bruno Lete, Verteidigungsanalyst beim German Marshall Fund: „Aber es ist wahr, dass das, was passiert, die Einheit des Bündnisses belastet. In den letzten Jahren war das Verhältnis der NATO zur Türkei gelinde gesagt wechselhaft. Die illiberalen Tendenzen der Türkei und der Erwerb eines russischen Verteidigungssystems geben Anlaß zu Besorgnis.“
Galt die türkische Armee vor einigen Jahrzehnten als bloßer Erfüllungsgehilfe der Pläne Washingtons in der Region, so ist sie heute nach einer Reihe von Reformen und Säuberungen vollständig der zivilen Regierung der Türkei unterstellt, und Ankara sieht keinen Grund, um Erlaubnis zum Eingreifen zu bitten. In den letzten drei Jahren haben türkische Truppen „viel Kampferfahrung bei ihren militärischen Operationen gegen terroristische Gruppen in der Türkei sowie im Irak und in Syrien gesammelt“, sagt Özkizilcik.
In ihrer gegenwärtigen Offensive in Nordsyrien waren die syrischen Rebellenmilizen, auf die sie sich stützen, bisher jedoch eher ein Hindernis als ein Vorteil. Sie wurden von der türkischen Armee ausgebildet und stellen den größten Teil der Front dar, da Ankara sich türkische Verluste wegen der öffentlichen Meinung nicht gestatten kann (in den beiden vorangegangenen Interventionen in Syrien in den Jahren 2016 und 2018 starben und starben 69 bzw. 54 türkische Soldaten).
„Die Türkei setzt, einem US-Handbuch folgend, eine assoziierte Truppe anstelle von Berufsmilitär ein“, sagt Aaron Stein vom Foreign Policy Research Institute. Das Problem dabei ist, fügt er hinzu, dass diese Streitmacht wegen ihrer Fraktionierung, unklaren Hierarchie und gelegentlichen Gewalt- und Plünderaktionen „unzuverlässig“ ist. Laut Stein hat „diese Abhängigkeit von den syrischen Milizen den Angriff verlangsamt, der schneller hätte sein müssen, um der Reaktion der internationalen Gemeinschaft zuvorzukommen. Jetzt gibt es schon zwei Supermächte, die einen Waffenstillstand fordern.“
Denn die türkische Offensive kämpfe nicht nur an der Kriegsfront, sondern auch auf Seiten der Diplomatie und der Öffentlichkeit, schreibt der Ex-Militär Metin Gurcan auf der Internet-Website Al Monitor. Und dort stehen die Chancen der Türkei, den Krieg zu gewinnen, schlecht.
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Man kann diesem Artikel entnehmen, welche Papiertiger Waffenembargos und Sanktionen gegen die Türkei sind.
Man kann aber auch sagen, daß die Türkei, solange sie nicht eigenes Militär einsetzt, nicht gewinnen kann. Und auch dann ist ein Sieg fraglich, sobald sie sich einer mit Rußland verbündeten syrischen Armee gegenübersieht. Denn mit „Terroristen“ und Milizen aufzuräumen und die eigene Zivilbevölkerung zu terrorisieren (Cizre ff.), ist etwas anderes als einer regulären und auch kampferprobten Armee gegenüberzutreten.
Der Einsatz für die Türkei steigt jedenfalls.