GEHT DAS UND WILL DAS ÜBERHAUPT WER?
David Cameron hat eine Volksbefragung über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU angekündigt – für 2017.
Das sind ja noch 4 Jahre, in denen alles mögliche passieren kann. Das erste, was auffällt, ist der drohende Charakter der Ankündigung, gepaart mit der Versicherung, daß die Sache ja noch Zeit hat. Cameron will also was von der EU. Was wohl?
1. mißtraut GB dem EU-Projekt angesichts der sich auftuenden Abgründe zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten, vor allem innerhalb der Eurozone. Damit steht die britische Regierung nicht allein da. Ferner hat sie gute Gründe, anzunehmen, daß die zunehmenden Kontrollmaßnahmen für den Finanzsektor viel von dem scheuen Finanzkapital aus Europa und an andere Weltbörsen treiben könnte.
2. bezieht die britische Wirtschaft ihre ganze Bedeutung aus der EU. Die Londoner City könnte mehr oder weniger zusperren, die Börse würde auf den Status einer der vielen mittleren Börsen der Welt herabsinken, auf jeden Fall hinter Frankfurt zurückfallen, sobald Großbritannien die EU verlassen würde.
Die wirtschaftlichen Probleme, die Großbritannien hat, würden sich durch einen EU-Austritt nicht verbessern, es würden aber neue hinzukommen.
Vor allem hat die Ankündigung, mit einem Austritt zu spielen, keine gute Wirkung auf die auf dergleichen makroökonomische Wirkungen sehr hellhörigen Finanzmärkte, und das wurde Cameron ja auch vorgeworfen: Daß er den gerade mühsam irgendwie angeblich befestigten Kredit der EU von neuem gefährdet.
Cameron selbst hat wahrscheinlich keinerlei Absichten, diesen ökonomischen Salto mortale tatsächlich zu vollziehen. Er möchte sich weiter dem Kapital der ganzen Welt als Umschlagplatz dienen, sich aber gegen alle Eingriffe, Steuern usw. aus Brüssel verwehren. Ob er das erreicht, und ob das internationale Kapital dieses Angebot auch reichlich wahrnimmt, wird sich erst weisen.
Die internationalen Reaktionen zeigen zunächst einiges über die nationalen Berechnungen anderer Staaten.
Die USA ermahnen Cameron, daß sie erstens kein Interesse am Auseinanderbrechen der EU haben, da sie ein wichtiger Handelspartner der USA ist, und erinnern ihn daran, daß GB gerade als trojanisches Pferd innerhalb der EU für sie Wert hat.
Deutschland versteht die Absicht der Erpressung, die hinter der Austrittsdrohung steht, bietet gleich bereitwillig Verständnis an und wachelt mit Sonderkonditionen für den Fall, daß GB sich in anderen Fragen hinter die deutsche Position stellen möge. Hier entstehen mögliche Allianzen zwischen dem Hüter der Eurozone und dem des Pfundes …
Italiens Monti wiederum sieht in Camerons Ankündigung Widerstand gegen Deutschlands und Frankreichs dominante Stellung und „Diktate“, während Frankreich sich über die unverschämte Erpressung, die es – zu Recht – darin erkennt, aufregt, allerdings sehr folgenlos, weil es keine ähnliche Erpressung parat hat.
Eine entzückende Völkerfamilie, die EU, isn’t it?
Die Journaille wiederum ergeht sich je nach Land und politischer Orientierung entweder in genüßlich ausgewalzten Schilderungen des miesen Charakters von Cameron und seiner angeblichen innenpolitischen Bedrängnis, die ihn zu derlei angeblichen Kamikaze-Schritten treibt. Oder sie greift gleich zur nationalistischen Hetze der Art: „So schleichts euch doch, ihr Deppen!“ – als ob die EU wegen der Vorlieben irgendwelcher Zeitungsschmierer zustandegekommen wäre.
Berechnungen aller Art, Dienst am Kapital, nationalistische Nebelgranaten, und handfeste Erpressungsversuche – ein harmonisches Bild beim Friedensnobelpreisträger 2012.
Kategorie: Die Marktwirtschaft und ihre Unkosten
Die Eurokrise ist vorbei!
WIRKLICH?
Van Rompuy verordnet Optimismus, Barroso erklärt, die Euro-Krise sei vorbei, und die „Märkte“ vertrauen angeblich inzwischen Spanien und Italien wieder, d.h., die Risikoprämie für die Anleihen dieser Staaten sinkt. Die Börsen sollen 2012 tolle Geschäfte gemacht haben, mit einem Wort, es geht überall aufwärts.
Es gibt natürlich auch andere Meldungen. Schäuble empfängt Tsipras, was darauf schließen läßt, daß mit einer Verschlechterung der Lage in Griechenland gerechnet, und die Möglichkeit einer Nachfolge der derzeitigen Regierung gesucht wird, wenn diese sich „verschlissen“ hat. Der IWF warnt vor den Folgen der von ihm mitbeschlossenen „Spar“-Programme und fordert eine Erleichterung der Bedingungen für die von ihm „betreuten“ Länder. Und was man hört, rutscht jetzt nach Frankreich auch Deutschland in die Rezession.
Wie paßt das alles zusammen?
Das letzte Jahr hat für die EU-Spitze klar gemacht, daß es den Euro um jeden Preis zu retten gilt, da sein Auseinanderbrechen das Ende aller politischen Ambitionen der EU bedeuten, und für alle EU-Staaten einen beispiellosen ökonomischen Abstieg einleiten würde. Also waren und sind Beteuerungen aller Art, alles für den Euro zu tun, angesagt und werden sicherlich auch in Zukunft aus allen Rohren über das p.t. Publikum ausgegossen. Die EU-Führer haben auch klargestellt, daß sie bereit sind, den Kredit der gesamten Eurozone zu strapazieren, um zu garantieren, daß die Verbindlichkeiten der Pleitestaaten erfüllt werden, und dadurch für keinen Staatskredit Entwertung ansteht.
Schuldenstreichung oder Entwertung in geringen Mengen ist zwar möglich, aber nur insofern, als diese im Einklang mit den Geschäftspraktiken des Finanzkapitals erfolgt und keine Beschneidung irgendwelcher Bilanzen oder Aktiva wichtiger internationaler Akteure bedeutet.
Die EU-Größen haben also ihren Willen bekundet, den Euro zu halten, koste es, was es wolle. Das ist eine recht unangenehme Auskunft für die Bewohner derjenigen Staaten, die ihren Kredit verloren haben und unter den Bedingungen der Troika darben.
Aber zweitens erhebt sich die Frage: geht das überhaupt? Also, ist das Bekenntnis zum Euro genug, um ihn als Währung zu befestigen? Gibt es nicht noch andere Kriterien, die den Wert einer Währung beeinflussen, als den Goodwill derer, die sie ausgeben? War da nicht irgendetwas mit Gewinn, Wachstum, Exporterfolge, Leistungsbilanz usw., also dem Erfolg ihrer Ökonomien und den ertragreichen Geschäften der Kapitalisten, die sich in dieser Währung herumtreiben?
Die Erfolgsstory der EU war lange Zeit ihr beinahe unbeschränkter Kredit, der auch den weniger erfolgreichen Staaten die Möglichkeit gab, die Produkte der anderen einzukaufen und dadurch den Bilanzen der jetzigen „Siegerstaaten“ ein sattes Plus verschaffte. Nicht nur, daß diejenigen Staaten, denen ihr Kredit abhanden gekommen ist, jetzt von anderen gestützt werden müssen, was den Kredit der letzteren strapaziert: Sie fallen auch als Märkte ziemlich flach.
Es bleibt abzuwarten, wie sich dieses Verhältnis von Lastzügen und Ballast in diesem Jahr entwickeln wird, und wieviele Jubelmeldungen am nächsten Tag durch gegenteilige Meldungen gedämpft werden.
Die Eurokrise in Süd- und Südosteuropa
WARUM ITALIEN?
Italien war zwar schon mehr im Gerede als jetzt, weist aber die zweitgrößte Staatsverschuldung der Eurozone auf: mehr als 120% des BIP, übertroffen nur noch von Griechenland.
Was sind die Ursachen?
Berlusconis Partys waren so teuer?
Olympiaden, Fußball-WMs und ähnliche teure Großereignisse?
Typisch südlicher Schlendrian?
Natürlich nichts von alledem, sondern eine relativ große Überraschung: Ein guter Teil der italienischen Staatsschuld stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und wurde seither relativ problemlos und ungeachtet der Maastricht-Kriterien mitgeschleppt. In der Zeit nach der Euro-Einführung reduzierte sich dieses Defizit sogar.
Folgende Fragen sind zu klären:
1. Wie kam es dazu, daß sich Italiens Defizit zwischen 1980 und 1993 verdoppelte – nicht in absoluten Zahlen, sondern gemessen am BIP?
2. Warum war das weder bei der Erstellung der Maastricht-Kriterien noch bei der Euro-Einführung ein Problem, und
3. warum ist es heute eins?
Ad 1: Italien war Pionier in der Einführung dessen, was heute „Unabhängigkeit der Notenbanken“ heißt. 1981 vollzog es die sogeannte „Scheidung“ zwischen der italienischen NB und der Anleihen ausgebenden „öffentlichen Hand“. Während bis dahin die NB alle Schatzscheine (eine besondere Art von Staatspapieren) zu einem fixen Zinssatz aufkaufen mußte, so konnte sie von da ab von diesem Kauf zurücktreten und den Staat an den freien Markt verweisen. Der Hauptgrund für diesen Schritt war die von den Gewerkschaften 1975 erstrittene Scala mobile, die eine Anpassung des Lohnes an die Inflation festschrieb. Die italienischen Regierungen sahen sich außerstande, dem Druck der Weltbank nachzugeben und die Scala wieder zu kündigen, weil sie die die Botmäßigkeit der nationalen Arbeiterklasse – nach einem Jahrzehnt der heftigen Arbeitskämpfe – nicht gefährden wollten. Es waren dies, man vergesse es nicht, Jahre einer an Mitgliedern starken Kommunistischen Partei, auf deren Duldung die diversen Regierungen im Rahmen des „historischen Kompromisses“ angewiesen waren.
Mit der Trennung der Anleihenausgabe von der Tätigkeit der Nationalbank hatte sich erstens der italienische Staat eine Möglichkeit geschaffen, sich in seinen Geldbedürfnissen von seiner Ökonomie – und auch lästigen Bedingungen der Weltbank – freizuspielen. Zweitens war dadurch auch die Geldschöpfung durch Ausgabe von Anleihen unbeschränkt möglich und die Inflation wurde von da ab als Mittel eingesetzt, um die Scala mobile zu unterlaufen. Die Lohnabschlüsse und -anpassungen hinkten hinter den Preissteigerungen hinterher, und zwischen Inflationssprüngen und Lohnrunden wurde die Arbeiterklasse Schritt für Schritt billiger. Sowohl dem Staat als auch den Unternehmern war so durch diese Liberalisierung der Geldschöpfung gedient.
Eine Folge dieser Trennung war allerdings, daß der italienische Staat höhere Zinsen anbieten mußte, um seine Papiere am freien Markt zu plazieren. Italien zahlte die 80-er Jahre hindurch ungefähr das 3-fache des restlichen Westeuropa, um seine Papiere loszuwerden. So machten die Käufer der Anleihen, Europas Banken, gute Geschäfte, während die italienische Staatsschuld steil nach oben schoß. (In absoluten Zahlen war sie übrigens immer weit unterhalb derer Deutschlands.)
Schließlich wurde die Scala mobile als eine der Bedingungen des EU-Beitritts Italiens im Juli 1992 aufgegeben. Im selben Jahr kam es zu einem spekulativen Angriff von George Soros auf die Lira, gegen die sich der italienische Staat genau deshalb schlecht zur Wehr setzen konnte, weil der Markt voll von Anleihen war, aber die Nationalbank nicht mehr die nötigen Mittel für Interventionskäufe besaß. Das hatte eine Abwertung der Lira um 30% zur Folge, was viele der aufgrund der EU-Verträge anstehende Privatisierungen italienischer Staatsbetriebe zu echten Schnäppchen machte, und die Staatsschuld weiter erhöhte.
Es war genau der Eintritt Berlusconis in die Politik, der einen Schwenk in der Schuldenpolitik hervorrief. Die alte politische Elite wurde mit Hilfe von Medienkampagnen als korrupt entlarvt und in Pension geschickt, die aufgrund der Abdankung der Sowjetunion völlig desorientierten Gewerkschaften entmachtet, und mit heftigen Privatisierungen und Zurückstutzen des Sozialstaates das Defizit tatsächlich reduziert. Es blieb allerdings immer über 100% des BIP, unter anderem auch deshalb, weil Italien in der Nach-Maastricht-Konkurrenz trotz beeindruckender Wachstumsraten hinter Deutschland und Frankreich zurückblieb und immer mehr einen guten Teil seines Territoriums als tote Kost hinter sich herschleppte, da diese ganzen „Strukturanpassungen“ den Mezzogiorno endgültig zu einer No-Go-Area für Investoren aller Art machte.
So kommt Frage Nr. 2 – warum war es nie auch nur Thema, daß Italien bei der Gründung der EU 1992 das Doppelte der in den Maastricht-Kriterien angeführten Staatsschuld mitbrachte, und warum störte es später auch nicht, als es den Euro als Währung einführte? Was sagt dieser Umstand über den Stellenwert der Maastricht-Kriterien für den Einigungsprozeß der EU aus?
Die EU ist ein imperialistisches Staatenbündnis gegen den Rest der Welt. Es war wichtig, möglichst viele Mitgliedsstaaten für diesen Zweck zu gewinnen, um durch die Masse an Territorium, Bevölkerung und Kapital an Schlagkraft zu gewinnen. Eine potente und prosperierende Nationalökonomie wie Italien war da natürlich hoch erwünscht, und die Vorschrift, seine Staatsschuld – irgendwann! – auf 60% des BIP zu reduzieren, wurde sehr großzügig gehandhabt. Es erscheint überhaupt, daß den angepeilten 3% für die Neuverschuldung stets mehr Bedeutung beigemessen wurde als der Reduktion der Altschulden, weil die ja aus einer anderen Aera mitgebracht worden waren. Die Neuverschuldung hingegen war Ausdruck der Disziplin beim Aufbruch zu neuen Ufern. Und was letztere anging, so blieb zwar Italien auch die meiste Zeit über 3%, aber bis 2009 immer unter 5%.
Die Staatsschuld Italiens rückte erst dann in das Visier der Spekulanten, Analysten und Rating-Agenturen, als Griechenland ins Gerede kam. Plötzlich erinnerten sich alle an die Maastricht-Kriterien und daß Italien ihnen eigentlich noch nie entsprochen hatte. Und mit der angeschlagenen Bonität trat ein Teufelskreis ein: Der Kredit kontrahierte sich und jeder Kredit wurde zweifelhaft, und dadurch floß weniger Kredit, und Italien mußte für seine Anleihen auf einmal wieder höhere Zinsen zahlen, und dadurch erhöhten sich Staatsschuld und Neuverschuldung, und so weiter.
Unter solchen Umständen sind natürlich auch so außerökonomische Ereignisse wie Wahlen und ein Regierungswechsel ein wichtiges Datum – kommt der Richtige an die Macht, der das Vertrauen der Märkte wiederherstellen kann? Oder verliert Italien sein drittes B und tritt die Talfahrt an?