Zum Jahresausgang: Überblick über die Euro-Schuldenkrise

AUFGESCHOBEN IST NICHT AUFGEHOBEN
Die gesamten seit Jahren unternommenen Anstrengungen der EU-Politiker und -Banker zur Euro-Rettung leben von der Überzeugung, daß man etwas zur Überbrückung der Schwierigkeiten machen muß, bis „die Konjunkturlokomotive wieder anspringt“ und Wachstum eintritt. Die hohen Herrschaften haben kein Bewußtsein von der grundlegenden Widersprüchlichkeit des gemeinschaftlichen Geldes und des Projektes EU überhaupt: sie stehen auf dem Standpunkt, daß ihr Projekt gut und solide ist und es sich nur um vorübergehende Schwierigkeiten handelt.
Es wird allerdings immer schwieriger, diesen guten Glauben und Optimismus in die Zukunft des Euro aufrechtzuerhalten, da die Mehrzahl der Maßnahmen, die von den diversen Gremien der EU (EU-Kommission, Troika, EZB) gesetzt werden, zwar den unmittelbaren Zusammenbruch einstweilen verhindert, aber nichts zur Stabilisierung der Gemeinschaftswährung beitragen kann, da deren Krise durch die Struktur der EU bedingt ist.
Die dem unmittelbaren Auseinanderbrechen des Euro entgegenwirkende Kraft ist weniger das Konglomerat von Schönwetter-Meldungen, Bekenntnissen zum Euro und sonstigen Maßnahmen, sondern vor allem der Umstand, daß einfach jede Menge Kapital in Euro angelegt ist und nicht so einfach davon kann. Die großen Banken und Unternehmen der Eurozone wissen, daß ihr Geschäft und Erfolg auf dieser Währung beruht, und stützen sie daher durch Anleihenkäufe.
In den nicht der Eurozone angehörenden EU-Staaten gibt es eine Zweiteilung: Zum Unterschied von der britischen, dänischen oder schwedischen Landeswährung beruhen die nationalen Gelder der Staaten Ost- und Südosteuropas völlig auf der Euro-Bindung, die ihre Währung konvertibel macht. Diese Abhängigkeit war den „alten“ EU-Staaten eine Zeitlang recht, aber ist jetzt eine zusätzliche Belastung für die Einheitswährung.
Aber zunächst einmal ist die Eurozone selbst im Visier:
Griechenland hat vorige Woche einen Schuldenrückkauf veranstaltet, für den der griechische Staat vom europäischen Rettungsschirm EFSF Geld bekommen hat. Das ist offenbar die Verlaufsform, auf die sich geeinigt wurde, um den beschlossenen Schuldenschnitt durchzuziehen. Er hat also mit dem von der EU geliehenem Geld seine eigenen Anleihen aufgekauft, um zwischen 30 und 40% des Nominalwertes. Dabei haben einige Hedgefonds gute Geschäfte gemacht, die nach dem angekündigten Schuldenschnitt vom Frühjahr Anleihen zu Dumpingpreisen aufgekauft haben. Weniger Freude gehabt haben griechische Banken und Pensionsfonds, die dadurch empfindliche Einbußen hinnehmen mußten, da sie die Anleihen ja seinerzeit zum Nominalwert gekauft hatten. Die Folgen dessen für diese Institute sind noch nicht absehbar. Um eine Summe von 10 Milliarden Euro wurde so Papiere im Wert von 30 Mrd. aufgekauft und so die griechische Staatsschuld um 20 Mrd. verringert – bei ca. 350 Milliarden Gesamtverschuldung. Dieser Schuldenrückkauf war nötig, um 43 Mrd. an „Hilfsgeldern“ zu erhalten, die natürlich auch verzinsliche Kredite sind und den Schuldenstand erhöhen, nur eben mit der EU als Gläubiger. Es wurde mit diesem Schuldenrückkauf über öffentliche Beteiligung Schulden von Privaten zur EU umgeschlichtet, wobei eigentlich die griechische Staatsschuld nicht weniger wird.
Allgemein wurde die Aktion als Erfolg gefeiert: weil sie nämlich bewiesen hat, daß am Euro festgehalten wird und Schulden nur freiwillig gestrichen werden. Für Griechenland selbst hat die Aktion nur negative Folgen: Die Kreditwürdigkeit steigt nicht, und die Verschuldung erhöht sich, während die Geldinstitute des Landes Verluste wegstecken müssen.
Da dem griechischen Staat immer mehr die Mittel abhanden kommen, seinen Staatsapparat zu finanzieren, so sehen es manche Mitglieder der Regierungspartei nicht ungern, daß die griechischen Faschisten beginnen, eine Art Parallel-Staat aufzubauen und Sozial- und Gewaltaufgaben zu übernehmen.
Spaniens Regierung möchte es vermeiden, direkt Hilfe aus dem EFSF oder ESM anzufordern, um die Zinsen für die Anleihen zu senken, sondern will „nur“ 40 Mrd. zur Sanierung seiner Banken, die jede Menge Immobilien, die keiner will, und Hypothekarkredite, die nicht bedient werden, unter ihren Aktiva haben. (Die Ratingagentur Moodys hat diesen Bedarf vor einiger Zeit auf 500 Mrd. geschätzt, was immer noch die Hälfte der Summe wäre, die die EZB im vergangenen Herbst und Winter in das europäische Bankensystem injiziert hat.) Diese Bankenhilfe soll, da sie ja an die Banken geht, mit keinen Auflagen an den Staat verbunden sein. Außerdem hat die spanische Regierung eine „Bad Bank“ eingerichtet, die den Banken und vor allem den Sparkassen ihre faulen Hypothekarkredite und andere entwertete Aktiva abkauft. Diese Bad Bank bzw. die Leute, die sie führen, haben es auch nicht leicht: Kaufen sie diese entwerteten Schulden zu einem zu niedrigen Preis, so gefährdet das das Ziel der Sanierung der betroffenen Geldinstitute und führt zu einem weiteren Fall der Immobilienpreise. Der spanische Staatshaushalt verfügt jedoch nicht über genügend Mittel, um diese Bad Bank so zu dotieren, daß sie ihre angestrebte segensreiche Wirkung zur Sanierung der bankrotten Banken entfalten kann: Erstens ist der Kredit des spanischen Staates angeschlagen, zweitens haftet er mit für die bereits stützungsbedürftigen Nationalkredite anderer Staaten, ferner muß er für die steigende Zahl seiner eigenen insolventen Provinzen bürgen, um die im vergangenen Jahrzehnt reichlich emittierten Provinzanleihen vor dem Verfall zu bewahren, und schließlich sind ein guter Teil seiner Kommunen so überschuldet, daß sie den städtischen Verkehr und die Krankenhäuser nicht mehr betreiben, die Müllabfuhr, Heizung der öffentlichen Gebäude oder die Feuerwehr aus eigenen Mitteln nicht mehr aufrechterhalten könnten. Schlechte Voraussetzungen, um in eine Bad Bank hineinbuttern zu können.
Irland hat (ebenso Portugal) bereits angekündigt, ebenfalls eine Schuldenstreichung anzustreben, um den drückenden Bedingungen der Kredit-„Hilfe“ zu entkommen. Bei Irland ist die Sache schon deswegen haarig, weil Irland eine Art Not-Staatsanleihen ausgegeben hatte, die von der EZB eingelöst werden müssen und deren Ausgabe praktisch dem Drucken von Euro gleichkommt. Ein Teil der Kreditstützung seitens der EU war dafür gedacht, diese Anleihen möglichst schnell aus dem Verkehr zu ziehen oder von der EZB zurückzukaufen.
Zweitens ist natürlich mit der Schuldenstreichung Griechenlands ein Präzedenzfall gesetzt, der Begehrlichkeiten weckt, um so mehr, als in allen Staaten, die Kredithilfe von der EU bezogen haben, die Verschuldung nicht zurückgegangen, sondern im Gegenteil gewachsen ist. Wenn jetzt andere Kandidaten auf einmal um einen Schuldenschnitt Schlange stehen, so käme es schon einem „Default“, also einer Zahlungsunfähigkeit sehr nahe – und das ist eine Optik, die die EU-Spitze unbedingt vermeiden will.
Fortsetzung folgt.

Demokratie, Antifaschismus und Antisemitismus heute

JUDEN IM PARLAMENT?!
Der Jobbik-Abgeordnete Márton Gyöngyösi hat unlängst – im Zusammenhang mit einer Debatte, wie sich Ungarn zur jüngsten Attacke Israels auf Gaza positionieren sollte – im ungarischen Parlament verkündet, man müßte einmal feststellen, wieviele Juden in Ungarn in Parlament und Regierung sitzen, weil sie die nationale Sicherheit gefährden. Später hat er diese Äußerung dahingehend modifiziert, daß er sich dabei auf Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft, ungarischer und israelischer, bezogen habe.
Diese Äußerung wurde in der internationalen Presse so kolportiert, als ob er eine neuerliche Registrierung aller Juden in Ungarn gefordert habe.
Bei dem internationalen Aufschrei um diesen neuen barbarischen Akt des Antisemitismus ist völlig die Frage untergegangen, in welchem Zusammenhang diese Äußerung mit der parlamentarischen Debatte stand, und was Gyöngyösi eigentlich dabei gemeint hat.
Zunächst ist einmal festzustellen, daß z.B. Österreich die Doppelstaatsbürgerschaft verbietet und ein Abgeordneter im österreichischen Parlament sein Mandat verlieren würde, falls sich herausstellen sollte, daß er noch eine andere Staatsbürgerschaft besitzt. Ebenso gab es vor einigen Jahren eine Debatte in Deutschland um die zweite Generation der türkischen Gastarbeiterkinder: ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten sollten, weil ihre Loyalität gegenüber den „deutschen Werten“ zweifelhaft sei, es aber umgekehrt vom Standpunkt der deutschen Staatsraison ebenso unzweckmäßig wäre, sie als weiterhin als türkische Staatsbürger auf deutschem Boden zu dulden, weil sie dann noch unsicherere Kantonisten wären.
Es ist offensichtlich ein Bedürfnis jeden Staates, seine Bürger in In- und Ausländer zu scheiden und da eine genaue Trennlinie zwischen den „unsrigen“ und den „anderen“ zu ziehen. Die Frage ist dabei, wie sehr sie dem Staat, der Nation dienen – im friedlichen Handel und Wandel ebenso wie bei letzten, höchsten Dienst, die ein Staat seinen Bürgern abverlangt, als Kanonenfutter im Krieg.
Während ein Staat wie Deutschland oder sogar Österreich dieses Bedürfnis in Gesetzesform gießen und exekutieren und diskutieren darf, ist das offenbar einem Staat wie Ungarn verwehrt. Es ist den „neuen“ EU-Staaten mehr oder weniger vorgeschrieben, daß so etwas wie ein nationales Eigeninteresse nur dann zugelassen ist, sofern es den Bedürfnissen des internationalen Kapitals nicht zuwiderläuft. Dazu gehört auch, Ausländer – beileibe nicht nur aus Israel, wie die Jobbik meinen – zu hofieren, gegebenenfalls einzubürgern und ihnen alle Freiheiten zu gewähren, sobald sie sich als Investoren betätigen.
Und da meinte Gyöngyösi offenbar, daß Ungarn sich nicht einmal eine eigenständige Außenpolitik leisten kann, sobald es um die Nahostfrage geht, weil vitale Interessen der ungarischen Ökonomie berührt sind.
Man sieht auch, wie kommod für andere im Parlament vertretene Parteien der Antisemitismus-Vorwurf ist, mit dem man diesen Einwand vom Tisch wischen kann. Es käme sonst zu einer gerade für die Regierungskoalition unangenehmen Debatte darüber, was Ungarns Staatsraison eigentlich ist und welchen Interessen diese Regierung genauso wie die Vorgängerregierung verpflichtet ist – in einem Land, in dem in jedem Winter Leute erfrieren und das inzwischen wieder dort ist, wo es in der Zwischenkriegszeit war – mit 3 Millionen Bettlern, die zwar nicht betteln, aber unter dem Existenzminimum leben und sich mit Hilfe von öffentlichen Ausspeisungen und Kleinkriminalität über Wasser halten.
Die Jobbik als tatsächlich „neue Kraft“ machen es sich natürlich auch leicht, indem sie in typisch bürgerlicher Manier auf Schuldsuche gehen und für die Übel Ungarns regelmäßig ein sehr unbestimmtes „Ausland“, meistens Israel oder Brüssel, verantwortlich machen und im Inneren jede Menge „Andersartige“ dingfest machen, die sich in der einen oder anderen Form als Agenten volksfremder Interessen betätigen.
Die in den Medien praktizierte Art von Umgang mit einer Äußerung wie der Gyöngyösis ist allerdings ein sicheres Mittel, den Jobbik in Ungarn weitere Sympathisanten zu schaffen und ihrer Sichtweise populär zu machen.

Zum Thema „Begriffe, die nix taugen“

FORDISMUS – EIN BELIEBTER JOKER IN DER „MARXISTISCHEN“ THEORIE
Der Begriff „Fordismus“ ist ja angeblich schon „out“, genauso wie der „Postfordismus“. Er kommt einem dennoch hin und wieder unter. Was hat es mit diesem halbtoten Hund eigentlich auf sich?
Aufgebracht hat diesen Begriff Antonio Gramsci, als er in den 1930-er Jahren im Häfn saß und Henry Fords Biographie in der Hand hatte. Er meinte, damit so etwas wie eine neue Qualität der Ausbeutung, eine neue „Strategie“ der Unternehmer zu beschreiben.
Das war allerdings ein Irrtum.
Vorangegangen waren dem Debatten unter Sozialdemokraten und sonstigen Marxisten über die sogenannte „Verelendungstheorie“ – darunter wurde die Behauptung verstanden, daß die Konzentration des Kapitals immer größere Not der Arbeiterschaft hervorrufen würde, die Widersprüche des Kapitalismus würden sich „zuspitzen“, und irgendwann käme es dann zum großen Zusammenbruch, der Weltrevolution und ähnlichem. Man muß vielleicht hinzufügen, daß Engels selbst einiges zu dieser Vorstellung beigetragen hat und auch dazu, sie zu einem Credo vieler Sozialdemokraten zu machen, die ihre Aufgabe in der Steuerung und Lenkung dieses Umbruchs sahen, der sich ihrer Ansicht nach so sicher einstellen würde wie das Amen im Gebet.
Dagegen wandte sich Bernstein mit seiner Revision der „marxistischen Lehre“ und wandte unter anderem ein, daß empirisch der Lohn und Lebensstandard der Arbeiter steige und deren Integration in die bürgerliche Gesellschaft dadurch ständig voranschreite.
In dem darauf folgenden Revisionismusstreit wies der russische Marxist Georgij Plechanow immerhin darauf hin, daß der Begriff „Ausbeutung“ bei Marx ein Verhältnis zwischen notwendiger Arbeit und Mehrarbeit bezeichne, und der Grad der Ausbeutung bzw. die Rate des Mehrwerts daher auch nicht an der Lohnhöhe allein ablesbar sei. Diese Einsicht ging allerdings in dem sie umgebenden Getöse um philosophische Weltbilder und politische Strategien größtenteils unter. Und für die Hardliner unter den „Marxisten“ blieb die Frage übrig: Wie verhält es sich mit der Entwicklung von Ausbeutung, Elend der Arbeiterklasse und der Notwendigkeit der Revolution?
Auf diese Frage glaubte Gramsci die Antwort gefunden zu haben: Das Kapital habe seine Strategie geändert, statt Profitmaximierung habe es auf äußerst raffinierte Art die Arbeiterklasse integriert, einen Teil des Kuchens mit ihr geteilt und dadurch seine eigene Stellung zementiert. Diese neue Strategie bezeichnete er mit „Fordismus“.
Der eine grundlegende Fehler Gramscis und vieler sonstiger Marxisten besteht darin, nur die Methoden der absoluten Mehrwertproduktion in die Rubrik „Ausbeutung“ einzureihen. Diejenigen der relativen Mehrwertproduktion laufen unter „Fortschritt“, „Steigerung der Produktivkraft“ usw., und wurden/werden auf seltsame Art vom übrigen Treiben der Unternehmerschaft getrennt.
Dabei hat sich Marx im 1. Band Kapital gerade darum bemüht, erstens zu zeigen, daß beide dem gleichen Zweck der Mehrwertproduktion dienen, zweitens aber darauf hinzuweisen, daß Lohndrückerei, Verlängerung des Arbeitstages und Intensivierung der Arbeit zwar zum Kapitalismus dazugehören und von der Unternehmerklasse nie verschmäht werden, daß aber der wirkliche Erfolg in der Konkurrenz durch die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit erreicht wird. Das Einführen neuer Technologien, die Verringerung der Stückkosten und die Verringerung der notwendigen Arbeitszeit im Vergleich zur Mehrarbeit sind die Momente, die eine Produktion international erfolgreich machen.
Dafür war Fords fließbandmäßige Produktion ein schönes Beispiel. Die Autos verbilligten sich enorm und waren daher auf einmal für breite Volksmassen erschwinglich. Daß er höhere Löhne zahlen konnte, lag daran, daß er höheren Gewinn machte. Daß er sie auch zahlen wollte, lag daran, daß er für seine durchorganisierte Fließbandproduktion qualifizierte und vor allem willige Arbeiter brauchte. Bei hohem Einsatz von fixem Kapital ist es wichtig, sich auf seine Arbeitskräfte verlassen zu können, die ja bei bösem Willen und Streik sehr viel Schaden hätten verursachen können. Man vergesse nicht, daß es damals – vor und nach dem ersten Weltkrieg – noch eine von Immigranten angestachelte Arbeiterschaft gab, denen der Gedanke an einen Gegensatz von Kapital und Arbeit nicht fremd war. Demgegenüber baute Ford eine ihm ergebene und hochproduktive Fabriksbelegschaft auf. Was er dann noch über deren Kaufkraft und die dadurch geschaffene Nachfrage zu vermelden hatte, ist zweitrangig, oder als Kollateralnutzen zu bezeichnen. Zunächst waren die höheren Löhne und die höhere Produktivität sein Mittel für die Durchsetzung in der Konkurrenz der Kapitalisten. Und das war überhaupt keine „neue Strategie“, sondern ein ganz normales kapitalistisches Verfahren.
Soviel zu den Fehlern bei der Geburt des „Fordismus“-Begriffs. Es kamen dann noch andere hinzu.