Die Eurokrise in Süd- und Südosteuropa

WARUM ITALIEN?
Italien war zwar schon mehr im Gerede als jetzt, weist aber die zweitgrößte Staatsverschuldung der Eurozone auf: mehr als 120% des BIP, übertroffen nur noch von Griechenland.
Was sind die Ursachen?
Berlusconis Partys waren so teuer?
Olympiaden, Fußball-WMs und ähnliche teure Großereignisse?
Typisch südlicher Schlendrian?
Natürlich nichts von alledem, sondern eine relativ große Überraschung: Ein guter Teil der italienischen Staatsschuld stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und wurde seither relativ problemlos und ungeachtet der Maastricht-Kriterien mitgeschleppt. In der Zeit nach der Euro-Einführung reduzierte sich dieses Defizit sogar.
Folgende Fragen sind zu klären:
1. Wie kam es dazu, daß sich Italiens Defizit zwischen 1980 und 1993 verdoppelte – nicht in absoluten Zahlen, sondern gemessen am BIP?
2. Warum war das weder bei der Erstellung der Maastricht-Kriterien noch bei der Euro-Einführung ein Problem, und
3. warum ist es heute eins?
Ad 1: Italien war Pionier in der Einführung dessen, was heute „Unabhängigkeit der Notenbanken“ heißt. 1981 vollzog es die sogeannte „Scheidung“ zwischen der italienischen NB und der Anleihen ausgebenden „öffentlichen Hand“. Während bis dahin die NB alle Schatzscheine (eine besondere Art von Staatspapieren) zu einem fixen Zinssatz aufkaufen mußte, so konnte sie von da ab von diesem Kauf zurücktreten und den Staat an den freien Markt verweisen. Der Hauptgrund für diesen Schritt war die von den Gewerkschaften 1975 erstrittene Scala mobile, die eine Anpassung des Lohnes an die Inflation festschrieb. Die italienischen Regierungen sahen sich außerstande, dem Druck der Weltbank nachzugeben und die Scala wieder zu kündigen, weil sie die die Botmäßigkeit der nationalen Arbeiterklasse – nach einem Jahrzehnt der heftigen Arbeitskämpfe – nicht gefährden wollten. Es waren dies, man vergesse es nicht, Jahre einer an Mitgliedern starken Kommunistischen Partei, auf deren Duldung die diversen Regierungen im Rahmen des „historischen Kompromisses“ angewiesen waren.
Mit der Trennung der Anleihenausgabe von der Tätigkeit der Nationalbank hatte sich erstens der italienische Staat eine Möglichkeit geschaffen, sich in seinen Geldbedürfnissen von seiner Ökonomie – und auch lästigen Bedingungen der Weltbank – freizuspielen. Zweitens war dadurch auch die Geldschöpfung durch Ausgabe von Anleihen unbeschränkt möglich und die Inflation wurde von da ab als Mittel eingesetzt, um die Scala mobile zu unterlaufen. Die Lohnabschlüsse und -anpassungen hinkten hinter den Preissteigerungen hinterher, und zwischen Inflationssprüngen und Lohnrunden wurde die Arbeiterklasse Schritt für Schritt billiger. Sowohl dem Staat als auch den Unternehmern war so durch diese Liberalisierung der Geldschöpfung gedient.
Eine Folge dieser Trennung war allerdings, daß der italienische Staat höhere Zinsen anbieten mußte, um seine Papiere am freien Markt zu plazieren. Italien zahlte die 80-er Jahre hindurch ungefähr das 3-fache des restlichen Westeuropa, um seine Papiere loszuwerden. So machten die Käufer der Anleihen, Europas Banken, gute Geschäfte, während die italienische Staatsschuld steil nach oben schoß. (In absoluten Zahlen war sie übrigens immer weit unterhalb derer Deutschlands.)
Schließlich wurde die Scala mobile als eine der Bedingungen des EU-Beitritts Italiens im Juli 1992 aufgegeben. Im selben Jahr kam es zu einem spekulativen Angriff von George Soros auf die Lira, gegen die sich der italienische Staat genau deshalb schlecht zur Wehr setzen konnte, weil der Markt voll von Anleihen war, aber die Nationalbank nicht mehr die nötigen Mittel für Interventionskäufe besaß. Das hatte eine Abwertung der Lira um 30% zur Folge, was viele der aufgrund der EU-Verträge anstehende Privatisierungen italienischer Staatsbetriebe zu echten Schnäppchen machte, und die Staatsschuld weiter erhöhte.
Es war genau der Eintritt Berlusconis in die Politik, der einen Schwenk in der Schuldenpolitik hervorrief. Die alte politische Elite wurde mit Hilfe von Medienkampagnen als korrupt entlarvt und in Pension geschickt, die aufgrund der Abdankung der Sowjetunion völlig desorientierten Gewerkschaften entmachtet, und mit heftigen Privatisierungen und Zurückstutzen des Sozialstaates das Defizit tatsächlich reduziert. Es blieb allerdings immer über 100% des BIP, unter anderem auch deshalb, weil Italien in der Nach-Maastricht-Konkurrenz trotz beeindruckender Wachstumsraten hinter Deutschland und Frankreich zurückblieb und immer mehr einen guten Teil seines Territoriums als tote Kost hinter sich herschleppte, da diese ganzen „Strukturanpassungen“ den Mezzogiorno endgültig zu einer No-Go-Area für Investoren aller Art machte.
So kommt Frage Nr. 2 – warum war es nie auch nur Thema, daß Italien bei der Gründung der EU 1992 das Doppelte der in den Maastricht-Kriterien angeführten Staatsschuld mitbrachte, und warum störte es später auch nicht, als es den Euro als Währung einführte? Was sagt dieser Umstand über den Stellenwert der Maastricht-Kriterien für den Einigungsprozeß der EU aus?
Die EU ist ein imperialistisches Staatenbündnis gegen den Rest der Welt. Es war wichtig, möglichst viele Mitgliedsstaaten für diesen Zweck zu gewinnen, um durch die Masse an Territorium, Bevölkerung und Kapital an Schlagkraft zu gewinnen. Eine potente und prosperierende Nationalökonomie wie Italien war da natürlich hoch erwünscht, und die Vorschrift, seine Staatsschuld – irgendwann! – auf 60% des BIP zu reduzieren, wurde sehr großzügig gehandhabt. Es erscheint überhaupt, daß den angepeilten 3% für die Neuverschuldung stets mehr Bedeutung beigemessen wurde als der Reduktion der Altschulden, weil die ja aus einer anderen Aera mitgebracht worden waren. Die Neuverschuldung hingegen war Ausdruck der Disziplin beim Aufbruch zu neuen Ufern. Und was letztere anging, so blieb zwar Italien auch die meiste Zeit über 3%, aber bis 2009 immer unter 5%.
Die Staatsschuld Italiens rückte erst dann in das Visier der Spekulanten, Analysten und Rating-Agenturen, als Griechenland ins Gerede kam. Plötzlich erinnerten sich alle an die Maastricht-Kriterien und daß Italien ihnen eigentlich noch nie entsprochen hatte. Und mit der angeschlagenen Bonität trat ein Teufelskreis ein: Der Kredit kontrahierte sich und jeder Kredit wurde zweifelhaft, und dadurch floß weniger Kredit, und Italien mußte für seine Anleihen auf einmal wieder höhere Zinsen zahlen, und dadurch erhöhten sich Staatsschuld und Neuverschuldung, und so weiter.
Unter solchen Umständen sind natürlich auch so außerökonomische Ereignisse wie Wahlen und ein Regierungswechsel ein wichtiges Datum – kommt der Richtige an die Macht, der das Vertrauen der Märkte wiederherstellen kann? Oder verliert Italien sein drittes B und tritt die Talfahrt an?

321 Gedanken zu “Die Eurokrise in Süd- und Südosteuropa

  1. Verschuldungszwang
    “Häufig wird die Volkswirtschaft mit einem verschuldeten Einzelhaushalt verglichen, der durch Sparmaßnahmen seine Kredite verringert. Dies ist zwar für Einzelelemente einer Volkswirtschaft möglich, jedoch nicht in der Gesamtbilanz aller Teilnehmer. In der gesamten Volkswirtschaft muss die Summe der Geldvermögen immer gleich groß sein wie die Gesamtverschuldung, da Vermögen auf der einen Seite Schulden auf der anderen Seite bedeuten. In unserem Geldsystem steigen die Geldvermögen durch die Verzinsung an, weshalb die Verschuldung um den gleichen Betrag wachsen muss. … Ein Rückgang der Kreditaufnahme würde zu einem fallenden Zinssatz führen, weil sich der Zins aus Angebot und Nachfrage nach Krediten bildet. Fällt nun der Zinssatz unter eine Mindesthöhe (Liquiditätsgrenze), kommt es zu einer Deflation, also einem Rückzug des Geldes, weil niemand bereit wäre, überhaupt noch Kapital ohne Mindestverzinsung zu verleihen. Die Folgen wären Massenarbeitslosigkeit, Verarmung der Bevölkerung, Hunger und Bürgerkrieg. Die Neuverschuldung dient letztlich dazu, den Zinssatz auf genügender Höhe zu halten, um ein Abgleiten der Volkswirtschaft in die Deflation zu verhindern.”
    Günter Hannich, 2006
    Selbstverständlich ist (nicht nur) der Verschuldungszwang nur durch eine freiwirtschaftliche Geld- und Bodenreform zu beseitigen. Dem “Normalbürger” ist das nicht selbstverständlich, weil er eben nicht normal, sondern religiös ist:
    Der Weisheit letzter Schluss

  2. Also gut, wieder einmal ein gesellianischer Verschwörungstheoretiker.

    In der gesamten Volkswirtschaft muss die Summe der Geldvermögen immer gleich groß sein wie die Gesamtverschuldung, da Vermögen auf der einen Seite Schulden auf der anderen Seite bedeuten.

    So ein Unfug. Als ob eine Bank oder ein Kreditwesen so etwas wäre wie ein Fenster, wo man Geld hinein- oder hinausreicht. Kredit ist „Schaffung aus dem Nichts“, weswegen die „Vermögen“ sich oft genug in Luft auflösen können, wie die Finanzkrise gezeigt hat, Schuldner hingegen – siehe Griechenland – nie aus ihrer Schuld entlassen werden, auch wenn offensichtlich ist, daß sie diese Schulden nicht begleichen können.

    Fällt nun der Zinssatz unter eine Mindesthöhe (Liquiditätsgrenze), kommt es zu einer Deflation.

    Der nächste Blödsinn. Erstens, welcher Zinssatz? Verzugszinsen, Hypothekarzinsen, Leitzinsen – welches Landes?
    Zweitens Von niedrigen Zinsen als Auslöser für Deflation mag man auf irgendwelchen Nationalökonomie-Seminaren faseln, de facto haben sie jedoch nichts miteinander zu tun.
    Herr Hannich und der Weisheit letzter Schluss sind zwei traurige Belege dafür, wie sich die Nationalökonomie auf das Niveau der Esoterik, in der nur mehr mit Glaubenssätzen und „Ich hab eine (Geheim-)Gewißheit!“ operiert wird.

  3. Ein wirklich sehr interessanter Artikel. Ich habe mich jüngst mit demselben Thema beschäftig. Es stellte sich mir die Frage ob eine hohe Inflation (Hyperinflation) oder eine Deflation schlimmer ist. Betrachtet man die Inflation, so wird man schnell feststellen, dass ein gewisses Maß für die Wirtschaft gesund ist. Steigt diese jedoch über eine gewisse Höhe (Hyperinflation) so ist sie immens bedrohlich. In einer gesunden Wirtschaft wird es immer Konjunkturzyklen geben. Je nach Zyklus herrscht entweder eine Inflation oder Deflation vor. Erst der Eingriff seitens der Staaten / Zentralbanken mithilfe der Geldpolitik führt zum ausufern beider Seiten. Die Ursache für eine hohe Inflation (Hyperinflation) wird immer in der Geldpolitik gelegt. Eine normale und gesunde Deflationsphase (Wirtschaftsabschwung) wird in der Regel nicht zugelassen. Die Zentralbanken versuchen diese Phase mit der Geldpolitik zu umgehen. Die daraus resultierende expansive Geldpolitik stellt die Grundlage für eine Hyperinflation dar. Einer sehr hohen Inflationsphase geht somit meist eine Deflationsphase voraus, auch wenn diese durch die expansive Geldpolitik oftmals nicht zu sehen ist. Ob eine jetzt Deflationsphase oder eine hohe Inflationsphase schlimmer ist, kann meiner Meinung nicht eindeutig beantwortet werden. Bei einer Hyperinflation kann ein Neustart (in der Regel ein Währungsneustart) schneller vonstattengehen. Die Auswirkungen finden hierbei in einem sehr kurzen Zeitfenster statt. Das Endergebnis einer Deflation ist meist nichts anderes … jedoch wird der Crash in der Regel nach hinten verschoben …

  4. Es ist grundverkehrt, anzunehmen, die Inflation sei quasi ein Naturphänomen und der Staat würde mit Geldpolitik “eingreifen” – in was eigentlich?
    Zunächst einmal MACHT der Staat das Geld, d.h. er druckt es als sein eigenes Hoheitszeichen. Zweitens macht er es, um sich dann an seiner Wirtschaft, der er es zur Verfügung gestellt hat, zu bedienen, um SICH zu finanzieren, mittels Steuern, Abgaben und Kreditaufnahme.
    http://nestormachno.blogsport.de/2012/03/07/inflation-droht/

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