Pressespiegel Komsomolskaja Pravda 10.9.: Getreidelieferungen ins hungernde Europa

„WARUM UKRAINISCHES GETREIDE IN DEN WESTEN GESCHICKT WIRD UND NICHT IN ARME LÄNDER

Gleichzeitig hat Russland im vergangenen Sommer fast sein gesamtes Getreide nach Asien, Afrika und Lateinamerika geliefert.

Aufruhr in den USA, in Europa und in der Ukraine. Sie fürchten ernsthaft, dass Russland den Getreideexport aus der Ukraine einschränken könnte. Präsident Wladimir Putin hat neulich solche Aussichten skizziert und erklärt, dass er plant, diese Frage mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan zu erörtern.
Der Grund für die mögliche Revision der früheren Vereinbarungen war die Analyse der Versorgung mit ukrainischem Getreide. Es stellte sich heraus, dass trotz Zusicherungen, daß die Waren in arme und Entwicklungsländer exportiert würden, der Löwenanteil des Stroms nach Europa ging.
»Wir haben jede Bewegung aufgezeichnet, hier gibt es keine Irrtümer«, sagte Putin am Freitag bei einem Treffen mit ständigen Mitgliedern des russischen Sicherheitsrates.
»Von den 87 Schiffen mit Getreide, die die ukrainischen Häfen verließen, blieben 32 in der Türkei, und ich denke, daß dies absolut normal ist, weil die Türkei, das Land, das diesen gesamten Prozess organisiert, sicherlich das Recht dazu hat.“

Rechtsfragen beiseite: Wohin exportierte die Türkei dieses Getreide? Das blieb nicht alles dort.
Über diesen Punkt herrscht diskretes Schweigen. Übrigens nicht nur in russischen Publikationen. Auch westliche Beobachter trauen sich nicht so richtig drüber.
Ebensowenig weiß man etwas über die Erlöse aus den Verkäufen.
Es ist durchaus möglich, daß damit Bajraktar-Drohnen und ähnliches Gerät aus der Türkei bezahlt wurden.

3 wurden nach Südafrika geschickt, 3 nach Israel, 7 nach Ägypten, 30 in die Europäische Union und nur zwei in die ärmsten Länder im Rahmen von UN-Ernährungsprogrammen. Dies sind Jemen und Dschibuti – das sind 60.000 Tonnen und nur 3%.«
Gleichzeitig sieht man, daß Russlands Hilfe für arme Länder und Entwicklungsländer viel umfangreicher ist. Nach Angaben des Präsidenten hat Russland im Mai-August dieses Jahres 6,6 Millionen Tonnen Getreide auf den Weltmarkt geliefert – Weizen, Gerste, Mais.
»Davon 6,3 Millionen Tonnen nur in die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas« sagte Putin. »Russland wird bis Ende des Jahres 30 Millionen Tonnen Getreide liefern. Wir sind bereit, dieses Volumen auf 50 Millionen Tonnen und mehr zu erhöhen.«“

Es ist auch bemerkenswert, wie wenig die UNO von dem ukrainischen Getreide gekauft hat. Immerhin ist sie der größte Aufkäufer von Brotgetreide.
Von Rußland darf sie inzwischen nichts kaufen.
Das heißt, sie hat es von den USA und anderen Produzenten wie Kanada und Argentinien eingekauft. Heimlich still und leise. Und zu immer noch recht hohen Weltmarktpreisen. Der Weizenpreis steht immer noch 38% über dem Preis des Vorjahres.
Es spricht nicht für die UNO und ihren Generalsekretär, daß sie das nicht einmal erwähnt. Immerhin war diese Organisation Vertragspartner des Getreidedeals, neben der Türkei, der Ukraine und Rußland.

„Dies ist das Verhältnis »zu Gunsten der Armen«. 6,3 Millionen Tonnen von uns gegenüber 60.000 Tonnen ukrainischer. Mehr als 95 % aller Importe stammen von uns und nur 3 % aus der Ukraine. Gleichzeitig sind laut UNO 345 Millionen Menschen in 82 Ländern der Welt von akuter Nahrungsmittelknappheit betroffen.“

Die 7 Schiffe nach Ägypten, wo auch bereits große Probleme wegen der Getreideversorgung aufgetreten waren, werden vermutlich nicht mitgezählt, weil sie eben rein kommerzielle Transaktionen waren und nicht Hungerhilfe-Lieferungen der UNO-Organisationen.
Man erinnere sich, daß Ägypten vor Monaten ein Schiff abgewiesen hatte, das mit Getreide aus den russisch besetzten Territorien der Ukraine stammte. Das in Zeiten eines sehr hohen Brotpreises und der Gefahr der Unruhen. Ägypten setzt also ausdrücklich auf die ukrainische Seite.
Bemerkenswert ist hierbei auch der Libanon, der offenbar nichts erhielt, nachdem die „Razoni“ dort nicht angelegt hat. Der scheint inzwischen entweder völlig leer ausgegangen oder auf die andere Seite übergewechselt zu sein. Möglicherweise über türkische Vermittlung, um nicht zum Paria zu werden. D.h., der Libanon kauft Getreide aus der Türkei, über dessen Herkunft der Mantel des Schweigens gebreitet wird.

„»Russland liefert traditionell Getreide in die Länder Afrikas und Südostasiens. Russland und die Ukraine lieferten oft Getreide in dieselben Regionen«, sagte Natalya Shagaida, Direktorin des RANEPA-Zentrums für Agrarpolitik, gegenüber kp.ru. »Wir liefern sehr wenig Weizen nach Europa. Hartweizen beispielsweise kann zur Herstellung von Nudeln nach Italien gehen. Die EU ist selbst ein großer Produzent und Exporteur von Getreide. Und für die Ukraine gehörten die EU-Länder nicht zu den Hauptverbrauchern.“

Man muß hier hinzufügen, daß in der EU selbst durch Stillegungsprämien viele Länder, wie Spanien und Portugal, den Getreideanbau großflächig bleiben gelassen haben. Außer zur Verödung ganzer Landstriche auf der iberischen Halbinsel hat das auch zu sicheren Geschäften für die großen Agrarproduzenten wie Deutschland und Frankreich, aber auch für Agrarfirmen, die sich in Ungarn und Rumänien eingekauft haben, geführt.

„Sie waren es nicht, aber sie wurden es. Vielleicht wegen der Dürre. Und es ist zum Beispiel möglich, daß Getreide teilweise als Bezahlung für Rüstung nach Europa geliefert wird.
Ein Mitarbeiter der FAO (diese UNO-Organisation engagiert sich im Kampf gegen den Hunger), der anonym bleiben wollte, argumentierte mir gegenüber, dass dies unmöglich sei, da private Unternehmen am Getreideexport aus der Ukraine beteiligt seien und die Waffenlieferungen durch den Staat mittels zwischenstaatlicher Verträge erfolgen. Es handle sich daher, so das Argument, um verschiedene Geldbörsen, in denen dieses Geld lande.“

Na sowas! Das hat man ja noch nie gehört, daß private Firmen Geld an den Staat zahlen und der Staat private Firmen subventioniert. Der gehirngewaschene FAO-Mensch zitiert offenbar aus einem Lehrbuch über „Marktwirtschaft, wie sie sein soll“.

„Das hat mich nicht überzeugt.
Ich bin sicher, dass dies ziemlich heftig kommunizierende Gefäße sind, besonders unter den gegenwärtigen Bedingungen. Kein Wunder, dass die Frage des Exports von ukrainischem Getreide auf zwischenstaatlicher Ebene so heftig diskutiert wurde. Sie würden den Garten umzäunen, wenn es nur um die Profite einzelner privater Unternehmen ginge.“

Das ist nicht ganz verständlich. Der Autor meint vermutlich, daß diejenigen Staaten, deren Firmen betroffen sind – das wären in der EU vor allem Deutschland und die Niederlande – sich stärker ins Zeug gelegt hätten als andere. Ohne das Argument ganz von der Hand zu weisen, wird aber weder dem EU-Gefüge noch dem Verhältnis von Staat als Förderer des nationalen Kapitals ganz gerecht.

„Das US-Außenministerium reagierte sofort auf Putins Worte.
»Einer der geäußerten Kritikpunkte ist, dass Lebensmittel nicht in den globalen Süden, in die bedürftigsten Länder, geschickt werden“, zitiert TASS einen Kommentar des US-Sanktionskoordinators James O’Brien.
»Das Problem ist folgendes… Das sind globale Märkte. Also egal, wohin die Lebensmittel gehen, wohin dieser besondere Weizenkorb geht, es erhöht das globale Angebot und ermöglicht es anderen Menschen, anderen Weizen zu kaufen.«“

Damit wurde im Grunde bestätigt, was Rußland sagt.

„Diese Äußerung ist verräterisch. Es ist wie zu sagen: »Wir ernähren die Reichen, nicht die Armen, aber das ist in Ordnung, die Gesamtmenge an Nahrungsmitteln nimmt zu.«
So so.
Russland schickt sein Getreide jedenfalls direkt in arme Länder und nicht über europäische Getreidebörsen. Es liegt auf der Hand, dass das Getreide, wenn es nach Europa verschifft wird, auf europäischen Tellern landet.“

Da es sich größtenteils um Futtermittel handelte, erst vermittelt als Schnitzel.

„Oder es wird von den Europäern zu ihrem eigenen Vorteil weiterverkauft. Natürlich wird Russland nicht ruhig zusehen, wie solche listigen und gefährlichen Geschäfte vor seiner Nase gemacht werden.“

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„»Das ist in gewissem Sinne eine irreführende Diskussion«, ist sich ein Mitarbeiter des US-Außenministeriums sicher.
Wie die Website kp.ru zuvor schrieb, sagte der Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN), António Guterres, dass es unmöglich sei, das Problem der weltweiten Nahrungsmittelkrise zu lösen, ohne Düngemittel und landwirtschaftliche Produkte aus Russland und der Ukraine auf die Weltmärkte zurückzubringen.“

Gut gebrüllt, Löwe! Oder eher umgekehrt: Es wäre angemessener, wenn die UNO selbst die Situation etwas entschiedener zur Sprache bringen würde. Ansonsten verliert sie in den „armen Staaten“ jede Glaubwürdigkeit, und nicht nur dort. Ganz abgesehen davon, daß die Nahrungsmittelkrise nicht abgesagt ist.

Die Ermordung Darja Duginas, Teil 1

DER EURASISCHE GEDANKE

Darja Dugina mußte sterben, weil sie die Tochter eines Mannes war, der als Einflüsterer Putins gilt und diesen zu Großmachtplänen für Rußland inspiriert haben soll.

Abgesehen davon, daß es sowieso eine dümmliche Konstruktion ist, jemanden zum Anstifter von Politik zu erklären, der dann die tatsächlichen Machthaber zu Verführten und ferngesteuerten Ausführenden erklärt, so sei hier einmal kurz vorgestellt, was eigentlich dieses Weltbild Dugins auszeichnet.

Vorläufer: Die Heartland-Theorie Mackinders
Der britische Geograph Halford Mackinder entwickelte in seiner Schrift „Die geographische Kernfrage der Geschichte“ 1904 die Theorie, daß, wer Europa und Asien beherrsche, sich die ganze Welt untertan machen könne. Die Verbindung dieser beiden Kontinente sei sozusagen eine Basis, die nicht mehr übertroffen werden könne.
Diese Theorie wurde zur Zeit des „Great Game“ entwickelt, als das Zarenreich und das British Empire in Zentralasien – und nicht nur dort – ihre Claims absteckten. Damals wurde Afghanistan als Pufferstaat zwischen diesen beiden Großmächten gequetscht, seine Bevölkerung malträtiert.
In dieser Zeit (1899-1907) entstand auch die Haager Landkriegsordnung, die heute die rechtliche Grundlage für Kriegsverbrecherprozesse darstellt. Rußland verlangte nach einem Regelwerk, um die Aufteilung der Welt nach formellen Kriterien abwickeln zu können. Aufgrund des Widerstandes Großbritanniens kam es zu keiner Seekriegsordnung: Das britische Reich wollte sich im Seekrieg überhaupt keine Schranken anlegen lassen.
Mackinders Theorie ist also als eine Art Warnung zu verstehen: Die britischen Eliten müßten alles unternehmen, um diesen Zusammenschluß der beiden Kontinente zu verhindern, weil das würde den Untergang der britischen Weltmacht bedeuten.
Diese Bemühung ist bis heute in der britischen Außenpolitik zu erkennen.

Die historischen Eurasier
Das Buch, das die eurasische Bewegung lostrat, „Exodus nach Osten“, erschien 1921 in Sofia. Darin machten sich russische Emigranten Gedanken darüber, wie es nach der Oktoberrevolution und dem russischen Bürgerkrieg mit Rußland weitergehen sollte. Damals, das muß man bedenken, war die Sowjetmacht noch nicht so lange in Amt und Würden. Viele Emigranten machten sich Hoffnungen auf ihren Sturz und die Rückkehr in die Heimat.
Diese Intellektuellen, von denen viele ukrainischer Abstammung waren, sahen die Möglichkeit einer Erneuerung Rußlands in der Abwendung vom Westen und einer Hinwendung zu den Kulturen Asiens. Die geballte Feindschaft der europäischen Mächte gegenüber den Bolschewiki nahmen sie als Chance wahr, sich von dem schädlichen Einfluß Europas zu befreien. Gerade diejenigen verschiedenen Einflüsse, die die Ukraine geformt hatten – die Steppenvölker, die katholischen und orthodoxen Kirchen und der Islam vom Süden – erschienen ihnen als eine stabile Basis zur Formung eines Staatenbündnisses von großen Dimensionen. Ihr historisches Vorbild war Dschingis Khan.
Gegenüber der traditionellen russischen Geschichtsschreibung, die die mongolische Eroberung als „Joch“ betrachtete, sahen sie die mögliche Symbiose von slawischer Kultur und asiatischen Einflüssen.
Im Laufe der Zeit zerbröselte diese Bewegung – die einen nahmen eine ablehnende, andere eine zustimmende Haltung zur Sowjetmacht ein, aber sie alle hatten keinen Einfluß auf die tatsächliche Politik.
Für antikommunistische, antisowjetische Propaganda und Tätigkeit eigneten sie sich auch nicht, da sie die westliche Zivilisation ablehnten. Deshalb blieben sie in Europa relativ unbekannt, – in der Sowjetunion übrigens auch.

Eurasismus heute
Die Wiederentdeckung bzw. Wiederauferstehung dieses Gedankengutes oder Modells ging langsam vonstatten. Der Eurasismus ist in erster Linie ein Ergebnis der Enttäuschung über den Westen, die Demokratie, die Marktwirtschaft.
Viele Anhänger des Eurasismus, so auch Dugin, waren glühende Antikommunisten, Gegner der Sowjetmacht oder Dissidenten. Den Zerfall der Sowjetunion sahen sie als Chance, Rußland mit westlichem Know-How zu gebührender Größe zu verhelfen.
Es ging immer darum, um Glanz und Glorie der Nation, nicht um so Kleinigkeiten wie Lebensstandard, holländischen Käse oder spanischen Schinken und technischen Fortschritt in Form von Smartphones usw.
Sowohl die zerstörerischen Folgen der Westöffnung für die russische Gesellschaft als auch die Behandlung durch den Westen, der erst auf den weiteren Zerfall Rußlands hoffte und dann, mit Obamas Worten, Rußland auf den Status einer Regionalmacht reduzieren wollte, führten zu Zorn und Abwendung vom Westen unter vielen dieser russischen Patrioten.
Es begann ein zäher Kampf zwischen nach Osten Orientierten und den Anhängern westlicher Kultur und Politik, wobei Erstere das Handicap hatten, daß aus den Tiefen des asiatischen Raums auch das Echo der Marktwirtschaft und westlicher Herrschaftspraktiken erschallten.
So entstand eine sehr widersprüchliche Bewegung von Denkern und Ökonomen, die in den eigenen und fernöstlichen Traditionen nach Rezepten suchten, was man eigentlich der westlichen Dekadenz und Gschaftlmacherei entgegensetzen könnte. Dieses Prozeß ist übrigens noch nicht abgeschlossen, die Eurasier eint nur die Abneigung gegenüber Europa und den USA, was immer man jetzt unter diesen Staaten und Konzepten verstehen will.

Zu den Anhängern des eurasischen Gedankens gehört der Ökonom Glasjew, der durchaus Einfluß hat und der in den späten 80-er Jahren und nach dem Zerfall der Sowjetunion zu den Reformern, den eifrigen Anhängern der Marktwirtschaft gehörte – in großer Einigkeit mit Jegor Gaidar, Tschubais und anderen westorientierten Wirtschaftsfuzis.
Zu der eurasischen Bewegung gehörte lange auch der jetzige Berater von Selenskij, Arestowitsch, der offenbar dort nicht so richtig zum Zug kam und dann ein besseres Angebot der Gegenseite annahm.

Für die Eurasier sind die jetzigen Sanktionen des Westens ein wahrer Segen, weil sie ihre Sicht der Dinge bestätigen und Rußland zum Gang nach Osten nötigen.

Die Eurasier haben viele Verbindungen zur Türkei und den dortigen Anhängern des Turanismus. Alle diese Ideologien haben vom Gehalt her etwas Schwammiges und gleichzeitig Mythisches an sich. Sie ziehen deshalb viele Menschen an, die sich mit unterschiedlichen Formen von Unzufriedenheit von diesen Heilslehren eine Verbesserung ihrer Lage erwarten.
Mit allen Heilslehren und Religionen hat der Eurasismus gemeinsam, daß er für das praktische Handeln nicht viel hergibt. Konkrete politische Schritte oder ökonomische Maßnahmen lassen sich daraus nicht herleiten, die müssen aus anderen Überlegungen folgen. Nachher läßt sich allerdings viel mit solchen Heilslehren rechtfertigen.

Die eurasische Bewegung ist daher nicht Stichwortgeber, sondern Beweihräucherer der tatsächlichen Politik. Als solche sind ihre Anhänger in Rußland heute geschätzt und gefordert. Das betraf auch die Tochter Dugins, die sich dieser Aufgabe mit vollem Herzen verschrieb.

Fortsetzung: Das Attentat

Ausführlicheres hier.

Pressespiegel Komsomolskaja Pravda, 6.8.: Weitere Schüsse ins Knie

DIE SANKTIONEN WERDEN BESTEHEN BLEIBEN, AUCH WENN DAS ZUR DEINDUSTRIALISIERUNG EUROPAS FÜHREN SOLLTE

„Sanktionen weg – Rohr auf: Was ist der Kern des „Turbinenstreits“, um dessentwillen Europa ohne Gas dasitzt?
Der Experte Churschudow meint: Gazprom will Garantien dafür, dass die Turbine für Nord Stream 2 nicht unter antirussische Sanktionen fällt“

(Gemeint ist vermutlich die für Nord Stream 1, weil Nr. 2 ist ja sowieso vorerst abgesagt.)

„Her mit dem Gas!
Es scheint, dass auf der Ebene der großen Unternehmen einiges schief läuft gibt. Selbst der Austausch einer einfachen Schraube in der komplexesten Mechanik wird auf Hunderten von Vertragsseiten beschrieben, in denen die Rechte und Pflichten der Parteien detailliert geregelt sind.
Man sollte meinen, dergleichen genaue Vorschriften gibt es erst recht bei Turbinen für Gaspipelines.
Es stellte sich heraus, daß das keineswegs so ist.
Bei der Siemens-Turbine für die Gaspipeline Nord Stream geschehen mysteriöse Dinge. Sie stand bereits an der Station in Portovaja“ (Ausgangspunkt der Pipeline an der russisch-finnischen Grenze), „arbeitete zur Freude der Deutschen plangemäßt und reiste dann zu ebenfalls planmäßigen Reparaturen nach Kanada. Da begannen die Turbulenzen.
Dort saß sie zunächst wegen der gegen Russland verhängten Sanktionen fest. Daraufhin war Gazprom gezwungen, die Gaslieferungen einzustellen. Als Reaktion darauf trafen Drohungen und Anschuldigungen aus Europa ein, dass Russland Gas als Druckwaffe einsetze. Aber irgendwann einigten sich die Deutschen mit den Kanadiern und sie brachten die Turbine trotzdem … nach Deutschland, wo Bundeskanzler Olaf Scholz sie sogar begutachtete und ein Gutachten erstellte: Die Turbine ist einsatzbereit, man kann sie aufstellen und pumpen.“

Scholz, der technische Experte.

„Angeblich wurde wurden die Sanktionen (für die Turbine) aufgehoben, Kanada, Deutschland, die Europäische Union erlaubten es (– es fehlte nur noch der Segen des Papstes) …
Nur Gazprom hat es nicht eilig, die Turbine zu übernehmen.
Wegen all dieser Streitigkeiten erhält Europa weniger Gas. Statt 167 Millionen Kubikmeter pro Tag sieht die deutsche Seite auf ihren Sensoren klägliche 33 Millionen Kubikmeter. Das heißt, die Gaspipeline arbeitet jetzt nur noch mit 20 % ihrer Kapazität.

Eine Frage der Technik
Also, was ist der Grund? Der russische Konzern bezieht sich auf den Buchstaben des Vertragstextes (d.h., des Gesetzes), gegen den die Kanadier zusammen mit den Deutschen bereits verstoßen haben. Und jetzt nicht ganz begreifen, wie sie wieder aus dem Schlamassel herauskommen sollen.
Gazprom begründet sein Vorgehen wie folgt: »In Ermangelung offizieller Klarstellungen der EU und des Vereinigten Königreichs zur Anwendung von Sanktionen ist nicht klar, ob Reparatur und Transport von Gasturbinentriebwerken für die Station Portovaja CS Exportbeschränkungen unterliegen werden oder nicht«, teilte das Unternehmen mit.
Hinter der raffinierten Sprache von Pressemitteilungen und offiziellen Schreiben bleibt immer noch unklar, warum diese Turbine noch nicht in ein Flugzeug verladen wurde, um nach Russland gebracht zu werden und dort endlich mit voller Leistung Gas in die Röhre zu treiben.

Zur Klärung wandte sich KP.RU an den Experten der Öl- und Gasinformationsagentur, den Kandidaten der technischen Wissenschaften Alexander Churschudov:

ACh: Um es ganz einfach auszudrücken: Gazprom will Garantien, schriftliche Zusagen, daß die Turbine nicht unter antirussische Sanktionen fällt.

KP: Technisch könnte die Turbine von Deutschland aus per Fernzugriff deaktiviert werden?

ACh: Ja, es wäre möglich, aber die Folgen sind schwer vorhersehbar. Wenn eine solche Möglichkeit in die Steuerungsautomatisierung gelegt würde, wäre der Reputationsverlust für Siemens enorm. Das Hauptproblem liegt also woanders.

KP: Und zwar wo?

ACh: Im Rahmen des Vertrags mit Siemens hat Russland diese Turbine direkt nach Kanada zu der Siemens-Tochtergesellschaft geliefert. Dazu kam eine Fehlerliste mit 15 Positionen. In Kanada sollte sie repariert werden und russische Spezialisten wurden hinzugezogen, um die Reparaturarbeiten zu überprüfen. Unsere Experten sollten dort ihr Einverständnis geben und gemeinsam mit den Kanadiern die Turbine direkt nach Russland verschiffen.
Aber die kanadischen Behörden machten keine Ausnahmen von den Sanktionen.“

Sie betrachteten also die Rückführung der Turbine als E x p o r t.
Das ist ebenso eine reife Interpretationsleistung wie die der litauischen Behörden, die den Warentransit nach Kaliningrad als Export betrachteten.
Man sieht, die Sanktionen lassen sich durchaus schöpferisch auslegen, wenn es einer Regierung gerade so lustig ist.

„Und die kanadische Siemens-Tochter konnte das im Vertrag vorgeschriebene Verfahren nicht einhalten. Daraufhin schickte sie die Turbine nach Deutschland – das ist nämlich nicht durch Sanktionen verboten.
Was soll unsere Seite“ (also Gazprom) „jetzt machen? Die Übernahme nach Deutschland erfolgte vertragswidrig. Es steht klar geschrieben: »Sie ist dort (von Gazprom) zu übernehmen, wo sie repariert wurde.« Was nützt es, wenn wir uns an Deutschland wenden? Die deutsche Siemens beantwortet unsere Fragen nicht – nicht sie war es, sondern eine Tochtergesellschaft, die die Revision und Reparatur durchführte.
Jetzt will Deutschland die Turbine loswerden.
Nehmen wir an, sie kommt nach Russland, wir installieren sie, aber sie funktioniert nicht. Was wäre dann zu tun? Es gibt niemanden, bei dem man sich beschweren könnte. Weil die im Vertrag vorgeschriebene Reihenfolge der Übernahme und Rückführung verletzt wurde.
Sowohl aus technischer als auch aus rechtlicher Sicht ist es also korrekt, ohne die vorgeschriebene Abnahme keine Zustimmung zur Überstellung nach Russland zu geben.

Streit in Europa
Gazprom will Garantien, erklärt Stanislav Mitrochovitsch, ein führender Experte beim Nationalen Fonds für Energiesicherheit und der Finanzuniversität der Russischen Regierung.

KP: Was möchte der Westen erreichen?

StM: Der Streit um die Gazprom-Turbine ist eines der Rädchen im großen Spiel gegen Russland. Die westliche Welt versucht weltweit, Russland in einem Wirtschaftskrieg zu besiegen, und niemand verbirgt dies. Was die Situation mit der Turbine selbst betrifft, so gibt es in Europa eine grundlegende Spaltung. Deutschland sagt, dass Russland diese Turbine jetzt akzeptieren und die Nord Stream mit einer höheren Kapazität starten muss, als die, mit der es sie derzeit betreibt. Aber gleichzeitig gibt es innerhalb Europas Stimmen aus Polen, aus den baltischen Staaten, die vorschlagen, den Kauf von russischem Gas zu verbieten und es in das neue Sanktionspaket aufzunehmen. Es gibt also Zwietracht in Europa.

KP: Wie werden diejenigen leben, die komplett auf russisches Gas verzichten wollen?

StM: Sie hoffen, dass es möglich sein wird, von ihren Nachbarn zu kaufen, sie hoffen, daß sie LNG (verflüssigtes Erdgas, Anm. d. Red.) erhalten können, sie hoffen auf Hilfe der Europäischen Kommission … Sie hoffen auf alles.

KP: Vielleicht sind es nur schöne Worte?

StM: Das ist auch so. Zu behaupten, dass sie kein russisches Gas kaufen wollen, ist nicht dasselbe, wie tatsächlich ganz darauf zu verzichten.
Aber es klingt gut.
Auf jeden Fall wollen sie weiter unser Gas. Das gleiche Polen wird es immer noch aus Deutschland oder anderen Nachbarländern kaufen. Aber wir für unseren Teil hören öffentlich: »Dein Gas wird bald verboten.« Gut, gut, euer Wunsch wird verwirklicht.

Her mit Garantien!
KP: Was versucht Gazprom zu erreichen?

StM: Klare Garantien zu erhalten, dass es in Zukunft keine neuen Sanktionen (bezüglich des Gasimports) geben wird, weder von Amerika noch von sonst jemandem. »Geben Sie uns Garantien, daß wir auf Dauer ohne Sanktionen zusammenarbeiten können!« – so können Sie ihre Position formulieren.

KP: Aber solche Garantien will niemand geben.

StM: Genau. Daher haben wir es unsererseits auch nicht eilig, Europa entgegenzukommen und ihnen bei der Wintervorbereitung zu helfen.

KP: Die These ist mittlerweile weit verbreitet, dass Russland, Gazprom und Putin persönlich Gas als Waffe einsetzen.

StM: Diese Meinung, das ist wichtig, wird von Leuten geäußert, die von Rußland 300 Milliarden Dollar Gold und Devisenreserven gestohlen, schwerste Wirtschaftssanktionen verhängt, ihren Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt, den Handel mit Rußland und den Import russischer Kohle verboten haben (letzteres Verbot tritt am 10. August in Kraft – Anm. der Redaktion). Sie verhängten ein Verbot der Einfuhr von russischem Öl auf dem Seeweg (tritt am 5. Dezember 2022 in Kraft, – Anm. der Redaktion).
Und diese Leute sagen uns, dass Handelsbeschränkungen nicht als politisches Instrument eingesetzt werden sollten?
Es ist sehr naiv, zu erwarten, dass Rußland nicht versuchen würde, seinerseits die vorhandenen Möglichkeiten im Handel als Instrument zu nutzen.

Nord Stream 2 läßt sich nicht mit einem Satz in Betrieb nehmen
KP: Es gäbe einen sofortigen Ausweg aus der Situation mit der Turbine: Den Start von Nord Stream 2. Wäre das möglich?

StM: Aus technologischer Sicht gibt es keine Probleme mit dem Start von Nord Stream 2. Wladimir Putin sagte das sogar zu Gerhard Schröder, der nach Moskau geflogen war. Mit anderen Worten, wir könnten diese Pipeline sogar jetzt einschalten.

KP: Aber es gibt offenbar keine politische Einigung.

StM: Nord Stream 2 ist aus politischer Sicht ein sehr schwieriges Thema. Ich sehe daher derzeit nicht, daß Europa dem zustimmen könnte. Schauen Sie, wie lange sie gebraucht haben, um das Problem mit der gewöhnlichen Turbine für Nord Stream 1 zu lösen: Um Kanada zu überzeugen, mussten sie eine Entscheidung treffen, abstimmen und so weiter. Es dauerte mehrere Wochen. Und das ist, könnte man sagen, angesichts der Problematik um Nord Stream 2 eine Frage von ein paar Cents.

Versöhnlicher Schröder
KP: Warum ist Gerhard Schröder nach Russland geflogen?

StM: Offiziell sagte seine Frau, dass er über Energiefragen und Energiepolitik gesprochen habe.

KP: Als Unterhändler?

StM: Man muß sich darüber im Klaren sein, dass er darüber nur als Privatperson sprechen konnte. Es ist unwahrscheinlich, dass er der Abgesandte von Herrn Scholz war. Obwohl Schröder viel für die Beziehungen zwischen Russland und Europa getan hat (auch die Nord-Stream-Gaspipelines waren seine Idee), ist die Einstellung ihm gegenüber zu Hause äußerst negativ. In der deutschen Presse wird er in einem fort durch den Kakao gezogen.

KP: Kann er überhaupt eine Einigung erreichen?

StM: Ich glaube nicht. Außerdem würde es überraschen, wenn er nicht auf juristischer Ebene zu einer Art Agenten Putins erklärt wird. In der allgemeinen Propaganda wird er schon lange als solcher gehandelt.

Industrie kaputt
KP: Wie wird das alles enden?

StM: Ich denke, je mehr so Sätze wie »Wir brauchen kein russisches Gas«, »Wir werden Russland besiegen und zerstören«, »Wir werden bald das russische Gas aufgeben« (– ich habe mir das nicht ausgedacht, sie sagen das tatsächlich seit März auf allen Regierungsebenen) in Europa ausgesprochen werden, desto mehr wird sich in Russland der Standpunkt durchsetzen, dass es notwendig ist, die Lieferungen nach Europa einzustellen. In diesem Fall wird Europa mit einer vollständigen Reduzierung der Lieferungen konfrontiert sein, und dies wird eine sehr belastende Situation für sie sein.

KP: Und wenn wir das Ventil nicht bis zum Ende drehen?

StM: Selbst wenn es nicht zu einem vollständigen Lieferstopp kommt und die aktuelle Situation anhält (wir liefern um ein Vielfaches weniger Gas als im Vorjahr), wird es für Europa sehr schwierig, seine Industrie zu erhalten. Wegen teurer Energieressourcen wird es immer mehr Betriebe schließen müssen.

KP: Europa steht ein harter Winter bevor.

StM: Es geht nicht um den Winter. Im Winter werden die Schwierigkeiten ihren Höhepunkt erreichen. Aber es geht um viel mehr.
Ich denke, in Europa wird diese Krise die Deindustrialisierung und den wirtschaftlichen Niedergang durch den Verlust eines Teils der Industrie, durch den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu anderen Ländern der Welt zur Folge haben. Die Türkei zum Beispiel wird möglicherweise einen Teil des industriellen Potenzials Europas übernehmen.

KP: Wie wird sich dies auf Russland auswirken?

StM: Wir müssen zunächst darüber nachdenken, wie wir den europäischen Markt ersetzen, wann wir Verträge mit den Chinesen für neue Pipelines abschließen, schließlich, wann wir neue eigene Industrialisierungsprojekte starten werden, und so weiter.