Pressespiegel El País, 17.9.: Militärische Perspektiven Rußlands

„RUSSLAND FEHLEN DIE KRÄFTE

Vladimir Dolin

Nach den erfolgreichen Offensiven der ukrainischen Truppen in Charkow und Cherson kam in Rußland das Thema der Mobilisierung auf die Tagesordnung. Die amtierenden Politiker versichern, daß es dazu nicht kommen wird. Aber Rußland sucht schon seit Monaten hektisch Kanonenfutter für den Ukrainekrieg. Man muß sich fragen, wie dieser Nachschub sich auf die Pläne an anderen Abschnitten seiner weiträumigen Grenzen (60.932 km) auswirken wird.
Der globale Ehrgeiz Rußlands befindet sich nicht in Einklang mit seiner Wirtschaft, seiner Geographie und seiner Bevölkerungsentwicklung. Putin steht vor dem Dilemma, entweder die Niederlage einzugestehen oder eine Generalmobilmachung auszurufen, was riskant ist, weil Waffen in den Händen des Volkes sich leicht gegen den Kreml wenden können, wie es bereits in der Geschichte Rußlands geschehen ist.“

Das ist allerdings im Augenblick das geringere Risiko. Was in erster Linie gegen eine Generalmobilmachung spricht, ist, daß gezwungene Soldaten schlechte Soldaten sind. Das hat sich am Einsatz der ukrainischen Streitkräfte gezeigt. Sie konnten ihre Erfolge in Charkow und Cherson nur feiern, weil sie jede Menge NATO-Unterstützung hatten, auch personelle.
Abgesehen davon hätte eine Generalmobilmachung auch wirtschaftliche Folgen: Rußland müßte auf Kriegswirtschaft umstellen, in kriegswichtige und nicht kriegswichtige Sektoren unterscheiden und die Bevölkerung auf eine Zeit von Blut, Schweiß und Tränen vorbereiten.
Die NATO-Kriegsführung zielt genau darauf hin, in der Hoffnung, damit Aufstände und Unruhen in Rußland auszulösen.

„Am 26. August unterzeichnete Präsident Putin ein Dekret, gemäß dem die russischen Streitkräfte um 137.000 Personen verstärkt werden sollen. Rußlands Armee hätte dann die Stärke von 1,150.000 Mann. Außerdem hat der Kreml die Staatsbetriebe und die Oligarchen dazu verpflichtet, auf eigene Kosten private militärische Einheiten aufzustellen, um sie den Tausenden von Söldnern einzugliedern, die bereits in der Ukraine kämpfen. Die russischen Regionen haben ungefähr 40 Bataillone aus sogenannten Freiwilligen aufgestellt, deren Ausbildung und Bezahlung sie aus ihren Mitteln bestreiten. Das Höchstalter für die Freiwilligen wurde angehoben – in manchen Provinzen bis auf 60 Jahre – und die gesundheitlichen Anforderungen wurden herabgesetzt. Da sich nicht genug Freiwillige melden, werben die privaten Söldnervereine Gefangene in Gefängnissen an. Das Oberhaupt der kaukasischen Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, hat alle russischen Regionen zur Generalmobilisierung aufgerufen.“

Das heißt, Kadyrow will damit der Zentralregierung die Initiative aus der Hand nehmen und die Regionen zu einer Art Wettbewerb aufrufen, wer Rußland am meisten zu verteidigen bereit ist.

„Das heißt, es gibt bereits eine verdeckte Generalmobilmachung.
Warum gibt es zuwenig Soldaten in Rußland?
Am Vorabend des Krieges war die offizielle Mannschaftsstärke der russischen Armee 4x so hoch wie die der ukrainischen. Es ist allerdings möglich, daß die reale Anzahl um einiges darunter lag.
Um in die Ukraine einzumarschieren, zog Rußland 250.000 Mann aus seinen 4 Militärbezirken zusammen.“

Rußland hat 5 Militärbezirke. Es fragt sich, ob der Analyst einen vergessen hat oder ob bei der Rekrutierung wirklich einer ausgespart blieb. Möglicherweise der Nordbezirk um Kaliningrad.

„Aber die Einheiten des westlichen Militärbezirkes kriegten bei den Kämpfen das meiste Fett ab und zahlten einen hohen Preis. Im täglichen Bericht des britischen Verteidigungsministeriums vom 13. September wird darauf hingewiesen, daß die I. Panzerarmee zu Anfang des Einmarsches schwere Verluste hinnehmen mußte und nach der ukrainischen Invasion in Charkow den Rückzug antrat.“

Es ist bemerkenswert, daß die westlichen Quellen immer auf die russischen Verluste zu Anfang der Invasion hinweisen. Daraus läßt sich schließen, daß es Rußland seither gelungen ist, seine Verluste zu minimieren, im Unterschied zu den ukrainischen Streitkräften, die im Sommer selbst hohe Verluste eingestanden.
Was offenbar nicht gelungen ist, darauf weist der Analyst hin, ist, diese Verluste wieder angemessen auszugleichen.

„In dem Bericht seht: »Der Krieg hat diese Armee – wie auch andere Einheiten des westlichen Militärbezirks – geschwächt und auf diese Weise die Fähigkeit Rußlands, im Konfliktfall der NATO etwas entgegenzusetzen. Es wird Jahre brauchen, bis dieses Potential wiederhergestellt werden wird.«
Als Ergebnis des Eintritts Finnlands in die NATO verlängert sich die Grenze dieses Bündnisses zu Rußland um 1272 Kilometer. Der russische Verteidigungsminister Schoigu veranschlagt die durch den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands gestiegenen Verteidigungsbedürfnisse Rußlands auf 12 neue Militäreinheiten, die erst noch zu schaffen sind.
Obwohl viele Soldaten aus dem östlichen – am besten dotierten – Militärbezirk an die Front geschickt wurden, kann der Kreml nicht so einfach Truppen aus dem Osten in den Westen des Landes verlegen, wie es mit den sibirischen Truppen während des II. Weltkriegs möglich war. Rußland hat nie einen Friedensvertrag mit Japan geschlossen und seine Oberhoheit über die Kurilen ist von Japan nicht anerkannt.“

Hier einige Hintergrundinformation zum östlichen Kriegsschauplatz im II. Weltkrieg.

„Tokio hat sein Militärbudget erhöht und Rußland muß das in seine Planungen einbeziehen. Außerdem muß Rußland mit seinen Truppen die Grenze in der Länge von 4209 Kilometer zu China absichern.
Moskau und China befanden sich in einem Kalten Krieg,“

– Hier muß man hinzufügen, damals noch nicht allzu lange –

„der in eine militärische Auseinandersetzung mündete, um den Besitz der Damanski-Insel.“

Die – übrigens unbewohnte – Damanski-Insel (chinesisch: Zhenbao Dao) wurde 2005 mit einem Vertrag von Rußland an China abgetreten.

„Zwischen 1991 und 2008 wurden die territorialen Konflikte zwischen Rußland und China gelöst, aber die Chinesen haben nicht vergessen, daß das russische Imperium sich im Fernen Osten Gebiete angeeignet hat, die sie als die ihrigen betrachten. Außerdem verursacht der Exodus von Sibirien ins Zentrum Rußlands die Entvölkerung großer Gebiete, wo Chinesen die Russen ersetzen.“

Das klingt so, als wäre dort alles in Ordnung. Aber das will der Analyst nicht behaupten, er spielt mit der Angst vor der „Gelben Gefahr“:

„Im Augenblick handelt es sich um eine friedliche Expansion. Unter diesen Bedingungen kann nur eine russische Militärpräsenz die Souveränität über Sibirien und den Fernen Osten garantieren. Rußland und China sind heute Partner, keine Verbündeten. Chinas Militärbudget 2019 betrug 177 Milliarden $, gegenüber dem russischen von 46 Milliarden.
Angesichts dieser Daten kann die Verlegung eines bedeutenden Militärkontingents aus dem Osten des Landes in die Ukraine die Verteidigung des Fernen Ostens und Sibiriens schwächen und und die Chinesen könnten in Versuchung kommen, das Verlorene zurückzuerobern.“

In der Möglichkeitsform spekuliert der Analyst mit territorialen Gelüsten Chinas, obwohl China in der gegenwärtigen Situation nichts weniger gebrauchen könnte als einen Konflikt mit Rußland, ihn daher sicher nicht aktiv suchen würde.
Angesichts der Bedrohungen seiner Seegrenzen durch USA und NATO ist es China nur recht, wenn an der Landgrenze mit Rußland Ruhe ist.

„Der zentrale Militärbezirk grenzt an Kasachstan, auf einer Länge von 7548 km. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und die Grenzkonflikte zwischen den zentralasiatischen Staaten nötigen Rußland, hier eine ausreichende Truppenpräsenz aufrechtzuerhalten, um Bedrohungen abwehren zu können. Das Eindringen der Taliban in Zentralasien gefährdet nicht nur die Staaten in dieser Region, sondern auch die russischen muslimischen Republiken von Bachkortostan und Tatarstan.“

Auch hier wird ein wenig mit Ängsten gespielt. Die Taliban sind seit ihrer Einnahme Afghanistans hauptsächlich mit internen Problemen beschäftigt. Wenn es eine Grenze gibt, die gefährdet ist, so ist es die umstrittene Durand-Grenze zu Pakistan. Es gibt praktisch keine Hinweise, daß sie nach Zentralasien „eingedrungen“ sein sollten.
Aber bei dieser Formulierung werden die muslimischen Minderheiten Rußlands zu einer Art Fünfter Kolonne erklärt, auf die man auch ständig ein Auge haben muß.

„In Georgien und Moldawien redet man von der Wiedereingliederung der sezessionistischen Gebiete. Der russische Militärbezirk Süd entsandte seine fähigsten Einheiten, namentlich die 58. Armee, mit Kampferfahrung aus Armenien und Georgien, in die Ukraine. Infolgedessen konnte die OVKS, deren Mitglieder Armenien und Rußland sind, ihrer Verpflichtung um Unterstützung nicht nachkommen, als Eriwan um Hilfe bat. In Aserbaidschan haben die Verantwortlichen entschieden, daß die Zeit zum Handeln reif war. In der Nacht zum 13. September eröffneten sie das Feuer auf armenisches Territorium. Rußland ist der Garant für Sicherheit in dieser Region, aber im Augenblick ist es zu sehr beschäftigt mit dem Ukrainekrieg. Nach der offiziellen Doktrin müßten die russischen Streitkräfte fähig sein, in zwei militärischen Konflikten gleichzeitig ihre Aufgaben wahrzunehmen, ohne zusätzlich mobilisieren zu müssen. Tatsächlich jedoch war Rußland nicht fähig, gleichzeitig die Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan und den Ukrainekrieg zu betreuen.“

Es ist hier aber nicht nur eine Frage von genug oder nicht genug Soldaten.
Aserbaidschan ist ein enger Verbündeter der Türkei, und Aserbaidschan ist auch eine Öl- und Gas-Großmacht, verfügt also im Unterschied zu seinem angegriffenen Rivalen über ausreichend Mittel, um Armenien im Notfall auch zu überrennen.
Mit der Türkei kann und will sich Rußland aber keineswegs anlegen, weil unter anderem diese Regionalmacht den Schlüssel zu den Meerengen und damit zu einer weiteren Eskalation des Konfliktes hat:

„Hinter Aserbaidschan steht die Türkei, die sich anschickt, ihren Willen zur militärischen und politischen Dominanz über den Südkaukasus zu demonstrieren und ein ambivalentes Verhältnis zu Rußland hat. Das militärische Potential der Türkei übertrifft im Kaukasus dasjenige Rußlands. Daher kann Rußland nicht seine ganzen Streitkräfte in die Ukraine schicken, die langsam ihre technische Unterlegenheit gegenüber Rußland dank der Waffenlieferungen aus dem Westen ausgleicht. Allein der Umstand, daß sich die Ukraine im grausamsten Krieg in Europa seit 1945 erfolgreich verteidigt, ist eine nicht anerkannte Niederlage für Putin.

Außer der Mobilisierung oder dem Eingeständnis der Niederlage gibt es eine dritte Option: Den Einsatz von Atomwaffen. Aber diese Lösung ginge weit über den ukrainisch-russischen Krieg hinaus und würde eine globale Katastrophe hervorrufen.“

Die Ermordung Darja Duginas, Teil 2

DAS ATTENTAT SELBST: SELTSAME ZIELSETZUNG VERSCHIEDENER GEHEIMDIENSTE

Darja Dugina war ein einfaches Ziel für ein Attentat. Niemand nahm an, daß dieser jungen Frau eine gewaltsame Auslöschung drohen könnte. Auch sie selbst nicht. Sie traf daher auch keinerlei Sicherheitsvorkehrungen.

1. Das Setting

Wie die Nachforschungen der „Komsomolskaja Pravda“ (KP) und anderer Zeitungen ergaben, lebte sie in einem Haus mit 33(!) Stockwerken am südwestlichen Stadtrand Moskaus. Diese Gegend war in den letzten Jahrzehnten durch viel Neubautätigkeit vor allem für junge Leute attraktiv geworden, weil sich viele Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen dort angesiedelt hatten.
Das Haus war vom Standpunkt der Bewohner ein richtiges Vogelhaus. In einem fort zogen Leute ein oder aus. Die meisten Leute hatte keine Ahnung, wer ober oder neben ihnen wohnte. Genausowenig interessierte es irgendjemanden, ob der- oder diejenige, die dort aus- und eingingen, auch tatsächlich dort wohnten oder zu einem tatsächlichen Bewohner unterwegs waren.
Es war also praktisch überhaupt nicht überwacht, und auch sehr schwer überwachbar. Niemand nahm an, daß dort jemand aus- und eingehen könnte, der Böses im Schilde führte. Gegen Einbruch waren die Wohnungstüren halbwegs abgesichert, und auch die Garage wurde offenbar noch nie für Raubüberfälle genutzt, sonst hätte das alles anders ausgesehen.
Ähnlich ideal für das Verüben von Attentaten war das Festival im Westen Moskaus, von wo aus Darja Dugina die Reise in den Tod antrat. Jede Menge Leute, aufgrund der Menge praktisch nicht zu kontrollieren, ein überfüllter Parkplatz, auf dem es auch keine oder nicht funktionierende Überwachungskameras gab, und eine eigentlich überraschende Sorglosigkeit der Veranstalter in einem Land, das sich immerhin seit 6 Monaten im Krieg befindet, auch wenn man den offiziell nicht so nennen darf.

2. Die Täter

Die Hauptverdächtige, Natalja Wowk, stammt aus Mariupol. Den Recherchen der KP zufolge hatte sie eine unglückliche Ehe hinter sich, mit einem Mann, der sie beinahe totprügelte. Nach der Trennung von ihm hatte sie das Problem, wie sie in der Ukraine in einer höchst trostlosen wirtschaftlichen Situation ihre beiden Kinder ernähren sollte. Sie schrieb sich daher bei der Nationalgarde ein und wurde Soldatin der ukrainischen Streitkräfte. Die Vermutung liegt nahe, daß sie dort vom SBU, dem ukrainischen Geheimdienst angeworben wurde, für den sie aufgrund ihrer prekären Situation eine willige Mitarbeiterin wurde.
Sie reiste gegen Ende Juli mit ihrer 12-jährigen Tochter aus dem russisch besetzten Teil des Donbass in einem Auto mit ukrainischer Nummer nach Rußland ein. Die Tochter diente sozusagen als Mittel, um jeden Verdacht von sich zu lenken. So entging es den Grenzkontrolloren, daß diese Frau ursprünglich bei der ukrainischen Nationalgarde gedient hatte, angeblich sogar beim Azov-Batallion.
Sie mietete sich dann in dem bewußten Haus mit den 33 Stockwerken in Moskau ein, und zwar so, daß sie von ihrem Fenster aus in ein oder mehrere Fenster der Dugina-Wohnung hineinschauen konnte, möglicherweise unter Zuhilfenahme eines Fernglases. Sie wußte also um deren Lebensgewohnheiten – wann sie heimkam, wann sie das Haus verließ, usw.
In der Tiefgarage besaß sie einen Stellplatz relativ nahe dem von Darja Dugina. Die Tiefgarage ist schlecht beleuchtet, sie verfügte über wenige Überwachungskameras und diese deckten nur einen kleinen Teil des gesamten Raumes ab.
Natalja Wowk verwendete auf dem gleichen Auto, mit dem sie eingereist war – einem Mini-Cooper – während ihres einmontigen Aufenthalts in Moskau ein kasachisches Kennzeichen und reiste am Tag nach dem Attentat mit dem gleichen Auto, diemal mit russischem Kennzeichen und wieder in Begleitung ihrer Tochter über die Grenze nach Estland aus. Am gleichen Tag bot ihr – bereits erwachsener – Sohn in der Ukraine das Auto bereits im Internet zum Verkauf an.

Die Anwesenheit von Natalja Wowk ist durch Videoaufnahmen gut dokumentiert. Es ist klar, daß sie nur der sichtbare Teil einer Organisation zur Abwicklung des Attentats war. Man weiß derzeit nicht, ob sie selbst die Autobombe im Auto ihres Opfers plaziert hat, und ob das in der Tiefgarage oder auf dem Parkplatz des Festivals geschah.
Es ist ziemlich sicher, daß der ukrainische Geheimdiens SBU das Attentat organisiert hat. Wowk hatte auf jeden Fall einige weniger sichtbare Mittäter. Immerhin besaß sie 3 Autokennzeichen mitsamt der nötigen Dokumentation für den Fall einer Kontrolle. Auch die Wohnung wurde vermutlich von jemandem anderen angemietet. Moskau hat sie bereits vor dem Attentat verlassen, um es rechtzeitig über eine EU-Grenze zu schaffen.
Die russischen Behörden halten es auch nicht für ausgeschlossen, daß der SBU mit dem CIA und MI6 zusammengearbeitet hat.

3. Das Opfer

Darja Dugina war 29 Jahre alt. Wie ihr Vater hatte sie Philosophie studiert. Ihre Diplomarbeit schrieb sie über die Neo-Platoniker. Sie betrieb ein Doktoratsstudium zu einem verwandten Thema. Außerdem sprach sie Französisch.
Sie war seit Jahren aktiv als Rednerin, Journalistin, wurde zu Talkshows eingeladen und hielt Vorträge zu verschiedenen Gegenständen – von der Innenpolitik Frankreichs über griechische Philosophie bis zu Themen, die mit der eurasischen Bewegung zusammenhingen, deren Vorsitzender ihr Vater ist. Sie machte auch kein Geheimnis daraus, daß sie den russischen Einmarsch in die Ukraine unterstützte.
Dennoch, die Wahl fiel wahrscheinlich auf sie, weil sie die Tochter Alexander Dugins war. Es ist auch ziemlich sicher, daß die Zielperson des Attentats er war und der Tod der Tochter als Kollateralschaden in Kauf genommen worden wäre.
Aber Dugin, der ebenfalls dieses Festival besuchte und auch ursprünglich mit seiner Tochter zusammen nach Moskau zurückfahren wollte, entschied sich im letzten Augenblick dazu, mit einem Freund die Heimreise anzutreten, weil er während der Autofahrt noch etwas mit ihm besprechen wollte.

Als die Täter den Zeitzünder aktivierten, wußten sie vermutlich, daß sie nur die Tochter erwischen würden und dachten sich, besser als gar nichts. Immerhin war die Bombe am Auto befestigt. Sie zu entfernen, wäre schwierig und riskant gewesen, und eine zufällige Detonation irgendwo hätte keinerlei erwünschten Effekt gehabt.

4. Warum dieses Attentat?

Ausgehend von der Überzeugung, daß das Attentat eigentlich Alexander Dugin gegolten hat, erhebt sich die Frage, was der SBU und andere Geheimdienste eigentlich mit einem solchen Attentat bezwecken?

Erstens überschätzen sie die Rolle von Ideologen auf die russische und überhaupt jede Gesellschaft. Abgesehen davon, daß diese Leute nicht die Entscheidungsträger sind, so ist Dugin eben nur der Vorsitzende der Eurasischen Bewegung. Diese Bewegung existiert auch ohne ihn, weil die Gründe für das Aufkommen dieser Art von Gedankengut nicht in seiner Person liegen.
Zweitens werden solche Personen wie die Dugins ausgewählt, weil die wirklich wichtigen Akteure in Rußland natürlich gut bewacht sind. An Putin, Schoigu, Medwedjew usw. kommen solche Bombenattentäter nicht heran. Selbst wenn diese Personen einmal ein Bad in der Menge nehmen, sind dort die höchsten Sicherheitsvorkehrungen angesagt.

Die Idee war also, eine bekannte Persönlichkeit umzubringen, um zu zeigen, daß die Unterstützer der russischen Politik ihres Lebens nicht sicher sind.
Sogar wenn das gelingen würde, so hätte das nur eine Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen für solchermaßen gefährdete Personen zur Folge.
Die Wahnvorstellung westlicher Geheimdienste ist jedoch, daß nach einem solchen Mord in Rußland Zittern und Bangen losgeht, und sich alle von dem Diktator abwenden.
Das ist eine völlig verkehrte Vorstellung gegenüber der Bevölkerung Rußlands – oder irgendeines anderen Staates. Das Gegenteil ist nämlich der Fall – wie man es bei islamistisch inspirierten Attentaten in ganz Europa sehen konnte: Ein solches Attentat schweißt die Bevölkerung und ihre Herrschaft zusammen.

Um so mehr, als das Opfer eine junge Frau war, die niemandem etwas zuleide getan hat.

Zusatzinfo: Die Eurasier

Ausführlicheres hier.

Pressespiegel El País, 30.7.: Zwangsrekrutierung in der Ukraine

„DIE UKRAINISCHEN MÄNNER FLÜCHTEN VOR DER EINBERUFUNG

Unter den Nachrichten vom vergangenen Dienstag erregte eine besondere Aufmerksamkeit: Es ging um eine Razzia gegen Personen, die falsche medizinische Zeugnisse ausstellten. Diese Bande aus der Region Kiew stellte angeblich ärztliche Attests aus, die ihre Empfänger vor dem Militärdienst befreiten. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft in Kiew bot das Netzwerk auch an, ihre Klienten ins Ausland zu bringen. Je mehr sich die Zeichen zu einer verpflichtenden Einberufung verdichten – mit mehr Kontrollen zur Registrierung als Wehrpflichtiger – um so mehr Männer versuchen, mit falschen Angaben das Land zu verlassen.
Männer zwischen 18 und 60 dürfen die Ukraine nicht verlassen und müssen sich in den Registrierungsbüros der Streitkräfte melden. Die Verpflichtung zur Registrierung wurde bis vor ca. einem Monat lax gehandhabt. Dann verkündete Selenskij jedoch, daß die ukrainische Armee eine Mannstärke von einer Million erreichen müßte, um die Provinz Cherson zurückzuerobern. Die Eroberung dieser Region an der Schwarzmeerküste durch Rußland wird von ukrainischer Seite als der größte Fehlschlag in diesem Krieg betrachtet.“

Erst in jüngerer Zeit ist die Provinz Cherson so zum Thema geworden, da die Russen seit dem Rückzug von Kiew und dem Norden auf allen Fronten vorrücken. Dadurch muß die Führung in Kiew ihre strategischen Ziele neu definieren und hat Cherson als möglichen Angriffspunkt entdeckt.

„So kommt es seither in der ganzen Ukraine flächendeckende Polizeiaktionen, wo Männer aufgefordert werden, sich in diesen Rekrutierungsbüros zu melden. Eine Frau aus Dnepropetrowsk, die es vorzieht, ihren Namen nicht zu nennen, erzählt von ihren diesbezüglichen Erlebnissen: An einem Wochenende in diesem Sommer mietete sie mit ihrem Partner ein Bungalow, in einem Gelände außerhalb der Stadt, wo Leute ihre Freizeit verbringen. In diesem Villenkomplex wohnen Leute der Oberschicht aus Ortschaften derjenigen Gebiete aus den Provinzen Donetsk und Lugansk, die von Rußland besetzt sind. Eines nachts kamen Lastwagen der Polizei und nahmen die Männer zwecks Registrierung mit. »Da ich das Haus auf meinen Namen gemietet hatte, merkten sie nicht, daß mein Freund auch da war. Allerdings fragten sie mich, ob ich nicht zufällig eine Krankenschwesterausbildung hätte?«“

Man muß hier hinzufügen, daß die solchermaßen mitgenommenen Männer nicht einfach „registriert“ und dann wieder freigelassen wurden. Sie wurden eingezogen. Die „Registrierung“ ist inzwischen gleichbedeutend mit der Zwangsverpflichtung.

„Ab 1. Oktober müssen sich Frauen mit Ausbildungen, die in Kriegsgebieten als notwendig eingestuft werden, ebenfalls melden und haben ab diesem Stichtag auch eine eingeschränkte Mobilität.
Die Ukraine verfügt über mehr als eine halbe Million Landesverteidiger, nach einer von El País selbst gemachten Aufstellung aus dem Monat März. Das auf geopolitische Analysen spezialisierte Zentrum für Oststudien in Warschau erhöht diese Zahl auf 750.000 Personen. Von denen sind 200.000 reguläre Soldaten und der Rest entweder Veteranen, die seit 2014 an der Donbass-Front im Einsatz waren, oder Freiwillige.“

Der Krieg gegen die eigene Bevölkerung im Donbass diente den ukrainischen Streitkräften also als eine Art Live-Ausbildungszone, für den Tag X, wo sie diese Gegenden zurückerobern wollten oder zumindest mit einer Auseinandersetzung mit Rußland rechneten.

„Im Laufe der Zeit ergibt sich die Notwendigkeit, die Kämpfenden der ersten Frontlinie durch frische Truppen aus dem Hinterland zu ersetzen. Außerdem schätzt die Regierung, daß sie die Zahl auf mindestens eine Million erhöhen muß, um die verlorenen Gebiete an der Schwarzmeerküste zurückzuerobern.“

Man merkt bei der ukrainischen Regierung eine gewisse Verschiebung der Akzente. Während bis vor kurzem noch die Eroberung aller ehemals ukrainischer Gebiete einschließlich der Krim als Ziel verkündet wurde, werden jetzt etwas kleinere Brötchen gebacken und einmal die Region Cherson ins Auge gefaßt.
Es kann sich dabei natürlich auch um ein reines Manöver handeln, um Zeit zu gewinnen, die westlichen Verbündeten mit positiven Nachrichten über das Machbare zu füttern und die Waffenlieferungen aufrecht zu erhalten.

„Ob es darum geht, sich durch eine Arbeit im Ausland Einkünfte zu verschaffen, oder aus Angst vor der Front, jedenfalls gibt es immer mehr Männer, die das Ausreiseverbot umgehen wollen. Die Möglichkeiten sind begrenzt und in einigen Fällen riskant. Eine eher schwierige davon ist die grüne Grenze nach Moldawien und Rumänien mit Hilfe von lokalen Schleppern. Auf Telegram gibt es Gruppen, die über diese Möglichkeit informieren. Die Gruppe »Grenzhilfe« gab am Mittwoch bekannt, daß in der Provinz Odessa ein Mann verhaftet wurde, der in seinem Lieferwagen 2 Jugendliche versteckt hatte, die die Grenze nach Moldawien überqueren wollten. Jeder von ihnen hatte mehr als 6500 Euro gezahlt.“

Der Schlepper hatte offenbar nicht genug davon an die Polizei weitergegeben, deshalb der Aufgriff.

„Eine andere Möglichkeit ist, Bestechungsgelder für ärztliche Atteste zu zahlen, mit denen man ins Ausland ausreisen kann. Vergangenen Juni flog – ebenfalls in Odessa – ein Netzwerk auf, das solche Atteste und Transport ins Ausland sozusagen als Paket anbot, für 4100 Euro.“

Man merkt, die Preise erhöhen sich, weil das Risiko steigt und auch damit das Geld, das an Grenzbeamte und Polizisten gezahlt werden muß, damit sie am Checkpoint die Augen zudrücken.

„Ausnahmeregelungen

Es gibt bei dem durch das Kriegsrecht gedeckten Erlaß Selenskijs Ausnahmen. Väter von Mehrkinderfamilien – ab 3 Stück – können die Ukraine verlassen, ebenso solche, die eine Doppelstaatsbürgerschaft besitzen. Aber einige dieser Ausnahmeregelungen können sich auch als Bumerang erweisen.“

Hier kommt keine Erklärung im Artikel.
Offenbar gelten diese Ausnahmen nur, wenn auch ein entsprechender Geldschein beigelegt wird. Ansonsten: Marsch ins Ausbildungslager und an die Front!

„Die Organisationen, die humanitäre Hilfe transportieren, dürfen ukrainische Chauffeure ins Ausland schicken, die aber nicht länger als 30 Tage dort bleiben dürfen. Es gibt Organisationen, die manchmal Personen schicken, die nicht zurückkommen, wie El País aufgrund von Zeugenaussagen feststellen konnte.
Studenten, die an ausländischen Unis inskribiert sind, dürfen auch mit vorheriger Genehmigung der Regierung das Land verlassen. Diese Genehmigungen werden jedoch für die neu Immatrikulierten immer seltener erteilt, vor allem, wenn die Studenten volljährig sind.“

Also immer. Weil für Minderjährige gilt das Ausreiseverbot sowieso nicht.
D.h. das Ansuchen um die Genehmigung wird mit einer sofortigen Einberufung beantwortet.

„Die Polemik um das Ausreiseverbot kam vorigen Mai in die Schlagzeilen, als der Odessaer Anwalt Alexandr Gumirov 27.000 Unterschriften sammelte, um das Ausreiseverbot aufheben zu lassen. Laut geltender Gesetzeslage muß eine Initiative mit mehr als 25.000 Unterschriften vom Präsidenten zur Kenntnis genommen und beantwortet werden. Die Antwort Selenskijs war abweisend. Er fügte hinzu, daß sie ihre Petition den Familien derer schicken müßten, deren Angehörige im Kampf gefallen seien. Die Regierung erinnert regelmäßig daran, daß es bei dem Krieg um die Existenz der Ukraine geht.“

Man möchte nicht wissen, wie es den 27.000 Unterzeichner(inne)n gegangen ist. Vielleicht sitzen die inzwischen alle schon in irgendwelchen Verliesen – oder Ausbildungslagern, sofern es Männer waren.

„Trotz der negativen Antwort Selenskijs ist sicher, daß es einen tendenziellen Wandel gibt.“

Umgekehrt. Die Antwort Selenskijs ist gereizt im Lichte dessen, daß die Verweigerung zunimmt.

„Die Zahlen von Eurostat (der Statistik-Agentur der EU-Kommission) zeigen das. Es kommen zwar weniger Flüchtlinge in die EU, aber der Anteil der Männer unter ihnen steigt. Das beweisen die Angaben einiger Staaten, die ihre Daten bezüglich der monatlichen temporären Aufenthaltsgenehmigungen für ukrainische Flüchtlinge im Juni aktualisiert haben. Polen ist das wichtigste Aufnahmeland für Flüchtlinge aus dem angegriffenen Land. Im März, dem ersten Kriegsmonat, machte der Anteil von Männern zwischen 18 und 64 2,6% der Gesamtmenge an Aufenthaltstiteln für ukrainische Flüchtlinge aus. Im Juni ist dieser Prozentsatz auf 16% gestiegen. In Litauen, einem anderen Zufluchtsland für Ukrainer, ist der gleiche Prozentsatz von 3 auf 24 angestiegen, in Schweden von 7 auf 28. In Rumänien war er bereits im März auf 17% und ist nur schwach auf 18% angestiegen.“

Rumänien galt offenbar ukrainischen Wehrdienstflüchtigen von Anfang an als sicheres Fluchtland.

_________________

Flucht durch Rußland

Die riskanteste Alternative für jene, die sich entschlossen haben, die Ukraine zu verlassen, führt durch Rußland. In den ersten Monaten der Invasion wählten wenige diese Route, aber die Zahlen sind ständig angewachsen. Heute ist es nach Angaben der UNO diejenige Grenze, die am öftesten von Ukrainern überquert wird. 1,8 Millionen Ukrainer sind über die russische und nur 1,2 Millionen über die polnische Grenze emigriert.
Wer sich für diese Variante entscheidet, sind vor allem Familien aus den besetzten Gebieten, obwohl die ukrainische Regierung behauptet, daß Hunderte von ihnen gegen ihren Willen nach Rußland deportiert wurden. Ihre Reise beginnt in den angrenzenden russischen Provinzen von Belgorod, Rostov und Woronjesch und endet an den EU-Grenzen in Estland oder Lettland.
Denis ist ein Unternehmer aus Kupiansk, den El País am 17. aus Charkov interviewt hat. Kupiansk ist eine 30 km von der russischen Grenze entfernte Kleinstadt, die bald nach dem Beginn des Einmarsches von Putins Truppen eingenommen wurde. Dieser 29-Jährige erklärte, daß er plante, über Rußland nach Polen zu gelangen, aber die Erfahrungen eines Freundes brachten ihn davon ab. Dieser wurde von der Grenze in ein sogenanntes »Filtrationslager« gebracht. Dort wurden seine Kontakte in den sozialen Netzwerken untersucht und festgestellt, daß er eine Botschaft der ukrainischen Streitkräfte geteilt hatte. »Sie verprügelten ihn und sperrten ihn einige Tage lang ein. Schließlich ließen sie ihn nach Rußland einreisen. Inzwischen ist er in Polen.«“

Klingt gar nicht so riskant. Eine Tracht Prügel und eine Reise durch Rußland ist sicher billiger und auch ungefährlicher als die Direttissima aus Odessa …