DAS BRUTTOINLANDSPRODUKT
Das BIP ist ein Begriff, mit dem man in den Medien dauernd konfrontiert ist und der sozusagen zu einer Selbstverständlichkeit des politisch-ökonomischen Denkens gehört.
Um zu verstehen, was in diesem Begriff alles enthalten ist und was er über unser Gesellschaftssystem aussagt, ist es nötig, sich einmal der Entstehung der Volkswirtschaft und der Wirtschaftswissenschaften zu widmen.
Alle Leute, die mit der Entstehung von Wirtschaftslehre und Wirtschaftspolitik in Verbindung gebracht werden – William Petty, Adam Smith, die Physiokraten und Merkantilisten, und viele andere mehr – waren Staatsdiener oder Höflinge, die ihrem König, ihren Eliten erklären wollten, was sie machen müßten, um die Einnahmen in den Staatssäckel zu erhöhen – um sich zum Beipiel Kriege leisten zu können.
Die Entstehung des BIP und anderer Statistiken ist daher auch eng verknüpft mit der Entwicklung der allgemeinen Besteuerung.
Es beginnt auch damals, daß „Wohlstand“ nicht mit gutem Leben der Massen zu verwechseln war – wenn es um Wohlstand ging, so war dabei immer die Absicht, den Leuten etwas für staatliche Ziele wegzunehmen. Sie mußten also genug haben, damit man bei ihnen als Steuereintreiber etwas holen konnte. Und in allen diesen Fällen – im Unterschied zum Zehent und zu den Roboten der Feudalzeit – ging es um Geld. Die Staatskasse, der Kriegsrat, die Hofkammer und die gekrönten Häupter selbst waren nicht interessiert an Kartoffeln oder Eisenstangen, die ihnen Großgrundbesitzer oder Bergwerksbetreiber liefern konnten – nein, sie brauchten Geld, um ihre eigenen Ausgaben bestreiten zu können.
Die Volkswirtschaftslehre ist daher eine Dienst-Wissenschaft des Staates, wo statistikbeflissene Experten den Politikern sagen, was sie machen müssen, um diejenige Art von Wirtschaft zu fördern und zu unterstützen, die der Staatskasse Einnahmen bringt.
Der Ehrgeiz, dem Staat Einnahmen zu verschaffen, hat überhaupt erst die Statistik als Hilfswissenschaft des Staates ins Leben gerufen.
Man kann sagen, die BIP-Berechnung ist historisch eine Art Geburtshelfer der Marktwirtschaft und des dieselbe betreuenden Staates.
Wohlstand und Konsum
Ebenfalls charakteristisch für die Vorläufer der Volkswirtschaftslehre und der BIP-Berechnung ist der Umstand, daß „Wohlstand“ mit Konsumtion gleichgesetzt wird.
Je mehr materielle Güter jemand aufhäufen kann, als um so reicher gilt er.
Marx wies auf etwas anderes hin. Während sich der Reichtum in unserer, der kapitalistischen Gesellschaft, als eine „ungeheure Warensammlung“ präsentiert, ist das, was das Leben eigentlich schön und lebenswert macht, die Muße, der man sich hingeben kann, also diejenige Zeit, die man zu seiner freien Verfügung hat. Das heißt nicht nur, am Strand liegen und nichts tun, oder Kartenspielen und Schifferl versenken, sondern auch Lesen, ein Musikinstrument spielen, oder sich der Wissenschaft verschreiben. Um das alles tun zu können, braucht es frei verfügbare Zeit, „disposable time“:
„Denn der wirkliche Reichtum ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen. Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums. … Die entwickeltste Maschinerie zwingt den Arbeiter daher, jetzt länger zu arbeiten, als der Wilde tut oder als er selbst mit den einfachsten, rohesten Werkzeugen tat.“ (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, S. 604)
Was immer sich Marx unter den „Wilden“ vorstellt – in verschiedensten vorkapitalistischen und außereuropäischen Wirtschaftsformen gab es diese Muße, die heutzutage zur „Freizeit“ heruntergekommen ist – also die Zeit, die man nicht arbeiten muß, sich aber wieder fürs Arbeitsleben fit zu halten hat.
Nach dieser Einleitung jetzt zu dem, was das BIP ist und wie es berechnet wird.
Abstrakter Reichtum
Das BIP berechnet den abstrakten Reichtum einer Gesellschaft, also das, was an in Geld gemessenem Gewinn auf dem Territorium eines Staates erwirtschaftet wird.
Während in der Frühzeit der ökonomischen Statistiken noch tatsächliche Kühe und Schweine, oder Tonnen Weizen oder Eisen erfaßt wurden, so interessiert die BIP-bezogene Statistik heute nur das, was diese Dinge für einen Preis haben, zu dem sie veräußert worden sind. Es muß etwas nicht da sein, vorhanden sein, sondern verkauft worden sein, um in die Statistik einzugehen. Und es ist gar nicht wichtig, um was für eine Ware es sich handelt, sondern sie muß nur verkäuflich sein. Im Verkaufsakt, der sich in einem dafür erlösten Preis ausdrückt, ist der zum Verkauf anstehende Gegenstand völlig gleichgültig. Im BIP sind Rinder, Computer, Wertpapiere, Haarschnitte oder Reinigungsdienst miteinander gleichgesetzt und damit auch in ihrer Besonderheit gelöscht. Sie interessieren nur als Verkaufsakte.
So ist es überhaupt möglich, daß Börsen- und Wertpapiergeschäfte, Kredite und Warentermingeschäfte in die volkswirtschaftliche Berechnung eingehen und einen beträchtlichen Teil des Reichtums der Nationen ausmachen. Weltweit gesehen, machten zumindest bis vor 10 Jahren dergleichen windige Geschäfte die überwiegende Mehrheit der weltweiten Transaktionen aus, ein großer Teil davon ist jedoch exterritorial, schlägt sich also in keinen nationalen Bilanzen nieder.
So ist es auch möglich, daß z.B. ein Land wie das Vereinigte Königreich einen Großteil seines BIP in der City of London, hmmm, macht.
Man kann auch sagen, „erwirtschaftet“, weil das Geld, das da über Server wandert und vor Ort als Transaktion verbucht wird, ist auf der einen Seite sehr real. Es ist das universelle Maß des Reichtums, eine Devise wie das Pfund zählt zu den Weltwährungen.
Von einer anderen Seite betrachtet, bleibt an den Händen der Banker und Börsenhändler der City ein guter Teil des Reichtums der Welt kleben, der in Form von Agrarprodukten oder Rohstoffen dort seinen Weltmarktpreis erhält und den Besitzer wechselt. Der Reichtum, der über die City nach Großbritannien – oder über die Wall Street in die USA, usw. – gelangt, stellt also eine Art modernes Raubrittertum dar, wo allerdings die Produzenten ihren Reichtum freiwillig hinliefern.
Schließlich, drittens, ist viel von diesem Reichtum sehr fiktiv in dem Sinne, als er auf Spekulation, auf zukünftig zu machenden Geschäften beruht. Das im Auge zu behalten, ist auch wichtig, weil er kann sich deshalb auch sehr schnell in Luft auflösen.
Kartoffeln oder Kaffeebohnen muß man erst physisch vernichten, ins Meer kippen oder verbrennen. Bei Aktien, Anleihen, Optionen usw. genügt ein Sturz des Pfundes oder derjenigen Währung, in der die Transaktionen verbucht wurden, damit sie sich aus den Datenbanken vertschüßen..
Auch der Absturz eines Rohstoffpreises vernichtet einiges an Kapital und läßt Währungen wackeln, wie man derzeit am Öl beobachten kann. Vieles von dem geförderten und irgendwo gelagertem oder in Tankern schwimmendem Öl löst sich vom Standpunkt des BIP in Luft auf.
Die Berechnung des BIP und die berechnenden Behörden
Die Berechnung des BIP ist, wenn man sich ein wenig durch das Internet durchliest, eine hochkomplexe und recht unsichere Angelegenheit, ähnlich wie der Wetterbericht. Die ersten Zahlen beim Jahresende – auf die alle „Analysten“ (!) sehnlichst warten, – beruhen zu einem guten Teil auf Schätzungen. Sie werden dann nach und nach ergänzt. Bis zu 4 Jahre kann es dauern, bis ein BIP halbwegs sicher die Wirtschaftsleistung des betreffenden Jahres wiedergibt.
Es gibt verschiedene Berechnungsmethoden, von denen manche in manchen Staaten gar nicht anwendbar sind, weil dort die ihnen zugrunde liegenden Daten nicht erhoben werden. Genauso wie bei Bevölkerung und Sterblichkeit ist also die BIP-Berechnung sehr von der Qualität der Datenerhebung abhängig.
Je schlechter die Datenlage, um so mehr wird geschätzt. Dabei gibt es von allen Seiten die Neigung, die Wirtschaftsleistung höher einzuschätzen, als sie nach allen vorliegenden Daten sein kann. Der jeweilige Finanzminister, die OECD, der IWF sind professionelle Gesundbeter, die die Lage immer viel positiver darstellen, als sie ist, weil sonst die ganze Geschäftswelt vom Kater befallen wird und aus dem betroffenen Land abzieht.
Das alles ist deshalb bemerkenswert, weil sich ja auf das BIP wiederum recht viele Dinge stützen, wie das jeweilige Budget, die Steuerpolitik, die Berechnung der Verschuldungsrate, die im jeweiligen Rating ausgedrückte Kreditwürdigkeit usw. Alle diese scheinbar so objektiven, in Zahlen repräsentierten Summen und Posten sind also praktisch auf Sand gebaut.
Soviel nur zur Rationalität unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Das bezieht sich zunächst einmal auf so „ordentliche“ Staaten wie Deutschland, Benelux-Staaten, Österreich, skandinavische Staaten.
In den meisten Staaten der Welt geht in die BIP-Schätzungen jedoch auch der sogenannte „informelle Sektor“ ein, der, wie man zugibt, auch große Geldmengen bewegt. Das sind Schwarzarbeit, Drogenhandel, Menschenhandel, Prostitution, Organhandel, Geldwäsche, Geldfälschung usw.
Auch das ist bemerkenswert. Es handelt sich um illegale Tätigkeiten, also Dinge, die nach dem Recht dieses Landes verboten sind.
Erstens wird mit ihrer schätzungsweisen Einbeziehung in das BIP zugegeben, daß Verbote nix bringen und die verbotenen Dinge trotzdem gemacht werden. Die Einberechnung des informellen Sektors ist also das Eingeständnis, daß das gesamte Strafrecht der Bekräftigung des Gewaltmonopols des Staates dient, aber nicht der Verhinderung des Verbrechens.
Zweitens werden diese illegalen Tätigkeiten damit auch anerkannt als volkswirtschaftlicher Faktor. Eine gewisse Kumpanei des Rechtsstaates mit seinen Kriminellen ist damit eingestanden: Besser, Leute verkaufen ihren Körper oder handeln mit Organen als sie liegen dem Staat auf der Tasche.
Die zuständige Behörde für alle Statistiken, also auch für das BIP, ist das jeweilige Statistische Zentralamt. Dieses wiederum stützt sich vor allem auf die Finanzämter.
(Historisches Detail: Als sich die BRD anschickte, mittels Währungsunion die DDR zu übernehmen, stellten die westdeutschen Politiker, an der Spitze Thilo Sarrazin, mit Befremden, sogar mit einer Art Schock, fest, daß es in der DDR keine Finanzämter gab!
Bei aller geheimdienstlichen Tätigkeit war ihnen dieser Umstand entgangen.
Deshalb hatten sie überhaupt keine Kalkulationsgrundlage für die Abwicklung der DDR und so sah dann die ganze Tätigkeit der Treuhand auch aus.)
Die Finanzämter, die Melkmaschinen des Staates an der Volkskuh, müssen also die Daten liefern, die dann zum BIP verarbeitet werden. Aus dem Vergleich der verschiedenen direkten Steuern mit der Umsatzsteuer läßt sich dann erahnen, wie viel Geld an der Steuer vorbei verdient wurde. Fix ist aber auch da nix, weil z.B. mit der KEST, der Kapitalertragssteuer, bekanntermaßen viele linke Dinge gedreht wurden, wie man an den Cum-Ex-Geschäften sehen kann.
Aber auch bei der Körperschaftssteuer kann dank der großzügigen EU-Gesetzgebung die Steuer irgendwo in der EU entrichtet werden, auch wenn dort weniger Geschäft anfällt. Verluste einer Filiale in Ungarn können in Frankreich vom Gewinn abgezogen werden, und dann kommt möglicherweise eine 0 heraus, also wird keine Steuer gezahlt. Manche Firmen halten sich extra deshalb Töchterfirmen in manchen EU-Staaten Osteuropas und des Balkans, um dergleichen Manöver abzuwickeln.
Das alles zu kontrollieren ist unmöglich, da bräuchte jeder Staat ein Mehrfaches des jetzigen Finanzbeamten- und Juristenbestandes. Außerdem heißt es dauernd vielerorten, es gäbe zu viele Beamte, die schnarchen nur am Schreibtisch, also Abbau, Verschlanken.
Man gewinnt fast den Eindruck, als ob die Geschäftswelt regelmäßig Werbeeinschaltungen für Beamtenvernichtung macht, um ungestörter ihren windigen Geschäften nachgehen zu können.
Fazit
Das BIP, auch eine der Größen, an denen die Staaten, Nationen, Völker gemessen werden und das sozusagen als Gradmesser der wirtschaftlichen Tüchtigkeit gilt, mißt eigenartige Dinge mit unverläßlichen Methoden und unzuverlässigen Daten.
Genauso wie Bevölkerung und Sterblichkeit wird geschätzt und manchmal werden ganz fest die Augen zugedrückt.
Wenn sich dann herausstellt, daß da ordentlich daneben gegriffen wurde, oder ein Währungsverfall oder Börsensturz das ganze Ausmaß der haltlosen Behauptungen und schiefgegangenen Spekulationen sichtbar macht, so geht das Geschrei und die Schuldsuche los.
Fortsetzung: Die Inflation