Nachruf auf Ernesto Cardenal

DIE REVOLUTION WIRD BEERDIGT
1. Zu Revolutionen überhaupt
Die meisten Anhänger von Revolution und Umsturz in unseren Breiten orientieren sich an der russischen Oktoberrevolution.

Andere Revolutionen sind unter ferner liefen: Die mexikanische von 1910 ff., , die portugiesische Nelkenrevolution, die russische Februarrevolution, usw. Entweder man schweigt darüber, oder tut sie als Fake-Revolutionen, halbe Sachen ab.

Das Wort „Revolution“ kommt eigentlich aus der Astronomie. Das im 17. Jahrhundert erschienene Werk von Kopernikus hieß „De revolutionibus orbium coelestium“ (Über die Umschwünge der Himmelskörper). Erst im 18. Jahrhundert wurde es auf gesellschaftliche Veränderungen, Umstürze angewendet. Seither hat der Begriff eine sehr turbulente Karriere gemacht, mit der die Gewalt oftmals verklärt und gerechtfertigt wird.

Man stellt sich dabei vor, die alte Ordnung würde zerschlagen und eine neue errichtet. Abgesehen davon, daß die neue nicht umbedingt besser sein muß, wird auch meistens jede Menge alter Mist mitgeschleppt und mit einem neuen Anstrich versehen. Das war auch bei der russischen Revolution so.

Heute ist der Begriff endgültig auf den Hund gekommen und bezeichnet mit den „Farbrevolutionen“ vom Ausland angezettelte Umstürze zum Austausch von Marionetten.

2. Die nicaraguanische Revolution

zählt für Revolutions-Puristen zu den nichtswürdigen Revolutionen. Die Frente Sandinista einte nur ein Wunsch: Weg mit Somoza! Ähnlich wie heute bei Farbrevolutionen, wo ein Präsident schuld an allem sein soll, sahen viele in der Person des Diktators den Grund für alle Übel, die Nicaragua plagten. Über das, was nachher kommen sollte, hatten sie sehr unterschiedliche Vorstellungen.

Nach dem Sturz Somozas dividierten sich die Sandinistas deshalb schnell auseinander, und bekämpften einander gegenseitig. Es war Pragmatikern wie Daniel Ortega zu verdanken, daß überhaupt so etwas wie ein sandinistischer Staatsapparat zustandekam. Dabei konnte er auf seinen Bruder Humberto zählen, der das Militär reorganisierte und zu einer Stütze der aus der Guerilla hervorgegangenen Partei FSLN machte.

Ortega arrangierte sich mit den alten Eliten, tastete die Eigentumsverhältnisse nicht an und schuf durch einen rudimentären Sozialstaat so etwas wie sozialen Frieden. Außerdem machte er sich Liebkind bei der Amtskirche, unter anderem mit einem absoluten Abtreibungsverbot. Er legt Wert darauf, daß die sandinistische Revolution christlich ist, und zwar in sehr konservativer Auslegung. Das steht auch auf allen Schildern, Mauern und in den Schulen Nicaraguas.

Auch das widerspricht dem von Cardenal gepredigten – und gelebten! – Christentum.

Das Intermezzo der bourgeoisen Regierungen unter Chamorro und Alemán tat das ihrige, um Ortega und die FSLN als kleineres Übel in den Augen der Wähler wieder an die Macht zu bringen. Auch heute, nach Niederschlagung von Demonstrationen mit einer beträchtlichen Anzahl von Toten sehen Ortega & Co. in den Umfragen immer noch besser aus als die Oligarchen-Opposition.

Um das gegenüber den ursprünglichen hochgesteckten Erwartungen recht bescheidene Ergebnis der sandinistischen Revolution irgendwie als Erfolg zu verkaufen, bedurfte es der Propaganda. Und da geriet Daniel Ortega mit Ernesto Cardenal aneinander. Die Propagandachefin von Nicaragua ist nämlich Ortegas Frau, die First Lady Rosario Murillo.

3. „Revolution“ bei Ernesto Cardenal und daraus resultierende Konflikte

Cardenal verband mit der Revolution eine spirituelle Erneuerung, die sich in Kunst, Literatur und Wissenschaft niederschlagen sollte. Ähnlich der bäuerlichen Künstlerkolonie auf der Inselgruppe von Solentiname im Nicaragua-See, die er organisiert und für die er ein „Evangelium“ geschrieben hatte, sollten in ganz Nicaragua Künstler und Dichter entstehen. Als Kulturminister veranstaltete er deswegen große Künstler- und Dichter-Lehrwerkstätten.
Das brachte ihn, der nebenbei auch noch Priester und Angehöriger des Trappisten-Ordens war, beim Pontifex Maximus in Mißkredit. Karol Wojtyla hielt nämlich nichts von kommunistischen Experimenten, unter die er sowohl die sandinistische Revolution als auch die Theologie der Befreiung einreihte, deren Vertreter und Verkünder Cardenal war.
Es war zusätzlich sicher die spirituelle Konkurrenz zu Wojtyla, das „diesseitige“ und kreative Element von Cardenals Wirken, das den antikommunistischen Kreuzzügler aus Polen störte. Cardenal hielt auch nichts vom Zölibat und war den körperlichen Freuden der Liebe sehr zugetan.
Der Papst verbot ihm Anfang der 90-er Jahre die Ausübung seines Priesteramtes und die Stiftung der Sakramente.
Solche Behandlung war im 20. Jahrhundert selten. Cardenal konnte sich geehrt fühlen, von dem polnischen Exorzisten aus der Kirche ausgeschlossen worden zu sein. Erst der jetzige Papst aus Argentinien nahm ihn voriges Jahr wieder in den Schoß der Kirche auf. Wirklich beeilt hat er sich damit auch nicht, um ein Haar wäre Cardenal als Amtsenthobener gestorben.
Seine Meinung von Johannes Paul II. war dementsprechend: „Dieser Papst war eine Katastrophe für Lateinamerika und ein Unheil für die ganze Welt“, so drückte er vor einigen Jahren bei einem Interview seine Meinung zu seinem verstorbenen Widersacher aus.

Der Mann, der niemand etwas wegnehmen und allen etwas geben wollte, geriet auch mit der weltlichen Macht Nicaraguas aneinander. Schon in seiner Zeit als Kulturminister in den 80-er Jahren stieß er sich an der primitiven Kunstauffassung der sandinistischen Propagandaabteilung. Damals entstand die Feindschaft mit der First Lady, die seither Managua mit häßlichen bunten und beleuchteten Metallgestellen, genannt „Lebensbäume“, und den Rest des Landes mit kitschigen Eventparks vollgepflastert hat. Das mißfiel dem Mann, der von kosmischer Harmonie träumte.

Der Gegensatz kam in den letzten Jahren auf seine Spitze, als ausgerechnet Cardenal, der materiell in mönchischer Enthaltsamkeit lebte, der Korruption und Unterschlagung bezichtigt wurde. Wegen eines Gebäudes auf der Inselgruppe Solentiname – wirklich am Arsch der Welt und schwer erreichbar – behelligte ihn die Justiz: Er solle sich unrechtmäßig bereichert und aus der Immobilie irgendwie Profit geschlagen haben. Das war die Retourkutsche, weil er dem Ortega-Clan – mit weitaus mehr Berechtigung – Bereicherung und Nepotismus vorgeworfen hatte.

Sogar bei seinem – von Bereitschaftspolizei überwachtem – Begräbnis kam es zu Tumulten mit Ortega-Anhängern, die ihn als Verräter an der Revolution bezeichneten und die Trauernden beschimpften.

Als ich dich verloren habe

Als ich dich verloren habe, haben du und ich etwas verloren:
Ich deshalb, weil du dasjenige warst, was ich am meisten geliebt habe
und du, weil ich derjenige war, der dich am meisten geliebt hat.
Aber von uns beiden hast du mehr verloren als ich:
denn ich kann andere Frauen genauso lieben wie dich
aber dich wird niemand mehr so lieben, wie ich dich geliebt habe.
(Poemas de Ernesto Cardenal)

Die Entwicklung Chinas zur Weltmacht

GELBE GEFAHR FÜR DIE ANGESTAMMTEN ZENTREN
Es gab einmal die recht populäre, heute etwas aus der Mode gekommene Theorie des Wallersteinschen Weltsystems.
Nach ihrer populären Form – die gar nicht den Absichten der Verfasser entsprechen muß –, behauptete sie eine ständige Reproduktion von Abhängigkeiten. Die Schwellenländer kämen nie über die Schwelle, weil die kapitalistischen Zentren die Kapitalakkumulation bei sich versammeln. Die nachrangigen Staaten würden mit ihren Entwicklungsprogrammen nur ihre Abhängigkeit als Kreditnehmer und Rohstofflieferanten verstärken und blieben daher immer „Peripherie“.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist allerdings in dieses Modell einiges an Bewegung gekommen.
Erstens sind die Zentren nicht, was sie einmal waren, – was deren Führern selber auffällt, wenn sie Amerika wieder groß machen wollen, oder die Schwäche des Westens beklagen, wie zuletzt auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Die Globalisierung hat Standorte zerstört, und die innerimperialistische Konkurrenz tat ein Übriges, um Währungen fraglich werden zu lassen, die einmal über jeden Zweifel erhaben waren und als Hart- und Weltwährungen durchgingen.
Zweitens hat sich aber auch an der Peripherie einiges getan, durch die Entwicklungen in Fernost und den Aufstieg Chinas zur Weltmacht.
Ich eröffne hier einmal eine Seite zu China, wo ich nicht sehr kompetent bin, aber es werden ja genug Inputs kommen.

Let’s get Brexit done!

GESCHAFFT?
Nachdem sich die mediale Öffentlichkeit lange an einer sichtlich uneinigen britischen Politikermannschaft ergötzt hatte, ist inzwischen eine Mischung zwischen Erleichterung, Ernüchterung und und Ärger eingetreten.
Sie haben es doch wirklich gemacht!
Die Bilder von vereinzelten und verhärmten EU-Fans, die auf den Straßen Londons EU-Fahnen wedeln und gegen den Brexit protestieren, werden uns also in Zukunft erspart bleiben.
Die überall breitgetretene Hoffnung, daß es sich die Briten doch überlegen und ein 2. Referendum ansetzen und schön brav wieder in die EU zurückkehren werden, haben sich endgültig in Luft aufgelöst. Insofern ist tatsächlich etwas geschehen, d.h. Fakten sind gesetzt worden.

1. Vom Referendum zum Austritt

sind ja immerhin dreieinhalb Jahre vergangen, in denen einem Uneinigkeit der britischen Eliten in Sachen Brexit und EU vorgeführt wurde.
Wie kam es eigentlich zu dem Referendum?
David Cameron bestritt unter anderem damit seinen Wahlkampf: Er erklärte 2013, ein Referendum „EU-Mitgliedschaft: Ja oder Nein?“ abhalten zu wollen, sollte er die Wahl gewinnen. Er gewann sie 2015 und setzte für das folgende Jahr diese Abstimmung an.
Der innenpolitische Grund für diese Abstimmung war also, auf eine gewisse Anti-EU-Stimmung zu setzen, auch im Lager der Opposition, und darüber auf Stimmenfang zu gehen.
Was die außenpolitische Lage angeht, so wollte der britische Premier sich über eine solche Abstimmung Rückendeckung und eine bessere Ausgangslage für Neuverhandlungen über den Mitgliedsstatus verschaffen. Die Veränderungen in der EU selbst wären Teil einer auch von anderen EU-Staaten angestrebten Reform gewesen, wo verschiedene Staaten mehr Handlungsfreiheit, mehr Unabhängigkeit und weniger Zahlungen auf Kosten anderer durchsetzen wollten. Diese Reform war also kein britisches Sonderprojekt.
Noch vor dem neuerlichen Wahlsieg Camerons ging 2014 das schottische Unabhängigkeitsreferendum über die Bühne. Über die vorangegangenen Entscheidungen und die britisch-schottische Parteienkonkurrenz, die diese Abstimmung zur Folge hatte, mögen Interessierte woanders nachlesen. Es stellte allerdings in Westeuropa eine Besonderheit dar – normalerweise sind Zugehörigkeit von Territorium und Separatismus Gewaltfragen, die mit der Waffe in der Hand entschieden werden, siehe Jugoslawien – und fand dann auch in Katalonien Nachahmer.
Das wichtige für die Brexit-Frage war jedoch, daß das schottische Referendum als eine Art Probegalopp für das Brexit-Referendum angesehen wurde. Da es mit relativ hoher Beteiligung – über 84% – recht bequem für den Verbleib Schottlands im Staatsverband ausging – 55,3: 44,7 –, waren alle beruhigt, daß das EU-Refrendum eine reine Formsache, eine g’mahte Wiesn für die EU-Anhänger sein würde. Dieser Zweckoptimismus herrschte bis zum Vortrag des Referendums in den Medien.
Dies alles nur zur Illustration dessen, daß keiner der Verantwortlichen den Brexit wollte. Er ist ihnen „passiert“. Das Volk hatte gesprochen.
Rücktritte und Schuldzuweisungen folgten. Nachdem sich in Brüssel das Entsetzen gelegt hatte, bildeten sich 2 Strategien heraus:
1. Das war ein Versehen, man sollte ein neues Referendum abhalten und die Wählerschaft entsprechend bearbeiten, wie es ja bisher in der EU auch ein paarmal gelungen war: So lange abstimmen, bis das Ergebnis paßt, – das war die erfolgreiche Strategie in Irland 2008, Holland und Frankreich 2005, wenn Plebiszite gegen die Generallinie der EU waren.
2. Wenn die Briten wirklich ernst machen, so sollte man sie hart bestrafen und schauen, daß sie ohne EU praktisch in der Unterhose dastehen.
In den folgenden Jahren stellte sich heraus, daß sich für Variante 1 keine Anhänger in GB finden würden, da das Votum eben kein Versehen war, und ein weiteres Referendum deutlich mehr Stimmen für den Austritt erbringen würde, nach dem Motto: Jetzt erst recht!
Unter 2. stellte sich heraus, daß die EU sich ein solches Vorgehen nicht leisten kann, weil GB ein zu wichtiger Handelspartner ist, dem man nicht einfach abschütteln kann, ohne negative Folgen für die Rest-EU.
Innenpolitisch hat sich bei der letzten Wahl gezeigt, daß in GB ein entschlossenes Auftreten für den Austritt satte Mehrheiten bringt.

2. Was heißt eigentlich „Austritt“?

Zunächst wurde einmal festgestellt und von der EU anerkannt, daß die britische Führung in Zukunft ihr Heil außerhalb des Bündnisses suchen will und wird.
Obwohl noch immer nicht klar ist, was das im Detail alles für Folgen haben wird, so ist mit diesem Schritt schon einiges passiert: Ein Land hat „Nein!“ gesagt und damit kundgetan, daß es seine nationalen Ambitionen bei diesem Bündnis nicht gut bedient sieht. Die EU ist dadurch schwächer geworden, und es ist nicht absehbar, wie sehr dieses Beispiel Schule machen und weitere Austritte nach sich ziehen wird.
Immerhin ist ja jetzt ein Präzedenzfall gesetzt, an dem andere Unzufriedene sich orientieren können.
Der Separatismus in der EU erhält ebenfalls Auftrieb, da Schottland sich gerne abspalten würde. Das wird die Londoner Regierung zwar nicht zulassen, aber die Lockrufe aus der EU werden erstens nationale Spannungen in Großbritannien verschärfen, und zweitens auch andere Abspaltungstendenzen befeuern, wie in Katalonien und Flandern.
Nordirland befindet sich in einer unklaren Situation, da die Frage der Grenze zwischen Irland und Nordirland nicht gelöst und letztlich auch nicht lösbar ist. Es würde eines Krieges bedürfen, um hier klare Verhältnisse zu schaffen.
Ein ausgetretenes Großbritannien hat außerdem die Möglichkeit, durch bilaterale Handelsverträge einen weiteren Spaltpilz in die EU zu pflanzen.
Schließlich gibt es auch Pläne, GB zu einer großen Steueroase zu machen.
In diesem Falle müßte sich GB verstärkt über Verschuldung finanzieren und das Pfund, das im Schatten des Euro groß geworden ist, würde in offene Rivalität zum Euro treten, mittels Zinsfüßen und Risikoprämien.

3. Stimmungsbilder-Reportagen statt Analyse

Den Medien kann man wenig über diese Überlegungen und Risiken entnehmen. Mit geschmäcklerischen Urteilen über Engländer – vor allem ältere und arme – und kulturphilosophischen Leerformeln über „Europa“ bis hin zu Häme und Schadenfreude – „Es wird euch schon noch leid tun!“ – wird man hingegen überschüttet.
Die selbsternannten Hüter des imperialistischen Auftrags der EU – als Bündnis zu einer Großmacht zu werden – und Gegner aller Zeichen von Schwäche bei der Verfolgung dieses Ziels haben ein Feindbild gefunden, das an Großbritannien mit Reportagen und Feulletons ausgemalt wird: Das sind die Ausgesteuerten, die Mindestrentner, die Perspektivlosen, die dann irgendwelchen Scharlatanen nachrennen und sie wählen – von Trump über Johnson (Corbyns Sieg wäre den Jounalisten und Kommentatoren natürlich auch nicht recht gewesen) bis zur AfD.
Die Grundlage der demokratischen Ermächtigung von Herrschaft: 1 Person = 1 Stimme wird von ihnen mehr oder weniger in Zweifel gezogen. Am liebsten wäre es ihnen, die Arbeiterklasse, die Armen und Überflüssigen in große bewachte Ghettos zu sperren, und ihnen das Stimmrecht zu entziehen.
Noch wird dergleichen nicht offen ausgesprochen, aber die Verachtung der Unterschicht ist den meisten dieser Brexit-Artikel deutlich anzumerken.