Nachruf auf Gyula Horn

DER NUSSKNACKER DES REALSOZIALISMUS

Es ist selten, daß sich bei einem Nachruf auf ein ehemaliges Mitglied einer osteuropäischen Staatspartei (die Bezeichnung „Kommunist“ wäre bei Horn äußerst unpassend, auch seinem Selbstverständnis zufolge) die Medien so in Lobreden überbieten. Unter dem Grundsatz „De mortuis nil nisi bonum“ – über die Toten nichts als Gutes – werden im Allgemeinen nur westeuropäische Politiker und Wirtschaftstreibende verabschiedet. Also Leute, die sich um die Verwaltung und den Ausbau des kapitalistischen Systems verdient gemacht haben. Der Verdacht liegt nahe, daß Horn ähnliche Verdienste auf seine Fahnen schreiben konnte.

Über Gyula Horn beginnt ein Sprachrohr des konservativen Deutschlands seinen Nachruf:

„Die Liste von Ungarns überragenden Staatsmännern des 20. Jahrhunderts ist kurz. Sie besteht aus Gyula Horn.“

und weiß am Ende seines Artikels – durchaus anerkennend – zu vermelden:

„Er war ein Machtmensch, irgendwo auch ein Zyniker, und ein Patriot.“ (Die Welt, 20.6.)

Horn war einer der osteuropäischen Politiker, bei denen sich im Lauf der 70-er und 80-er Jahre steigende Unzufriedenheit über die Leistungen des sozialistischen Wirtschaftssystems breitmachten. Das ewige Wurschteln um die Erfüllung von Plänen, die ständige Feilschen und die Mühsal des Austausches von Gütern mit den Bruderländern innerhalb des RGW, die noch mühsamere Jagd nach Devisen und die Not, sich fortschrittliche Technologie unter Umgehung der Handelsbeschränkungen mittels Schmuggel zu besorgen – das zehrte an der Substanz der Staatsparteien, die diese ganze Art von Ökonomie noch dazu sich selbst und der Bevölkerung als einen eigenen Weg des Fortschritts und eine Überwindung der Mängel des Kapitalismus verkaufen mußten. Die ganzen Widersprüche und Absurditäten, die das sowjetische System der Ökonomie und das daselbst eingerichtete Verhältnis zwischen Staat und Volk seit seiner Gründung mit sich schleppte und die nach 1945 den Volksdemokratien verpaßt worden waren, führten zu starken Selbstzweifeln bei den jeweiligen Staatsparteien.

Die Widersprüchlichkeit des sowjetischen Systems bringt ein weiteres Sprachrohr des deutschen Kapitalismus in eigentümlicher Begriffslosigkeit auf den Punkt:

„Mit ganzer Vehemenz hatte sich der Sohn aus proletarischem Milieu … der Sache des Kommunismus verschrieben. Er studierte – nach einer Mechanikerlehre bei den ungarischen Siemenswerken – in der Sowjetunion Finanzwissenschaften.“ (FAZ, 19.6.)

Warum der „Sache des Kommunismus“ ausgerechnet durch ein Studium des Umgangs mit dem abstrakten Reichtum, der im Kapitalismus alle Produktion bestimmt, gedient sein soll, hält die FAZ natürlich nicht für erklärungsbedürftig. Auch warum die Sowjetunion eine solche Studienrichtung einrichtete und meinte, auch ihre Satellitenstaaten mit diesbezüglichem „Wissen“ ausstatten zu müssen, fragt niemand nach.

Es jedenfalls Leuten wie Horn zuzuschreiben, daß Ungarn bereits vor der Wende eine Art Maulwurf zur Untergrabung der sozialistischen Arbeitsteilung war, dafür um jeden Preis mit westlichen Finanzinstitutionen ins Geschäft kommen wollte, wie der IWF-Beitritt 1982 und die Bankenliberalisierung 1987 zeigen. Die ungarische Staatspartei war auch der eifrigste Verfechter der Auflösung des RGW, und der Umstellung von Tauschhandel auf Verrechnung in Devisen, der nach 1990 den Handel zwischen den ehemaligen Bruderländern praktisch zum Erliegen gebracht hat.

Daß Horn mit seinem historischen Stacheldrahtschnitt 1989 den Fall der Berliner Mauer und damit die deutsche Wiedervereinigung sozusagen eingeleitet hat, wird ihm in den deutschen Medien hoch angerechnet. Über dieser historischen Leistung treten Horns Verdienste um den Systemwechsel in Ungarn selbst in den Hintergrund: Es war der nach der Wende gewählten Regierung Horn zuzuschreiben, die Verabschiedung aller sozialistischen Illusionen an ihr logisch-historisches Ende zu führen. Als sich herausstellte, daß es auch in Ungarn keine „blühenden Landschaften“ geben wird, daß das heiß ersehnte westliche Kapital in Ungarn zwar einen Markt sucht, aber sich alle Konkurrenz in Sachen Produktion vom Leibe schaffen will; und auch daß Ungarn seine Vorreiterrolle in Sachen Auflösung des Ostblocks von keiner Instanz gelohnt wird, so war es Horn, der daraus die nötige Konsequenz zog. Er sagte mehr oder weniger: Leute, das wars. Ein guter Teil von euch ist in Zukunft überflüssig oder nur mehr für Hungerlöhne gut.

Es bedurfte der ehemaligen Staatspartei und ihrer immer noch vorhandenen Seilschaften in Betrieben und Medien, um dieses Programm durchzuziehen: In die Regierungszeit Horns (1994-98) fällt der Abbau des ungarischen Sozialstaates, die zwangsweise Privatisierung des Pensionssystems, und der Anschluß an die westliche Waffenbruderschaft, die NATO.

Es ist also zweifelsohne eine Leistung Horns, daß Ungarn im Westen angekommen ist, und ebenso, wie: Im einstigen „Land der 3 Millionen Bettler“ leben inzwischen ca. 4 Millionen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze.

Tja, Pech, würde Horn sagen, wenn er es noch könnte. Aber mehr war eben nicht drin! Und Dabeisein ist schließlich alles.

Staat stützt Privat – ob das gutgeht?

SPANIENS „BAD BANK“, die „SAREB“
In Spanien wurde – auf Druck aus Brüssel – gegen Jahresende 2012 eine „Bad Bank“ eingerichtet, um die gesamten problematischen Posten in den Bilanzen von Spaniens Banken zu betreuen und vor der Entwertung zu bewahren. Es war eine der Bedingungen, die die EU gestellt hat, als sie Spanien einen 100 Milliarden-Kredit zur Stützung des Banksektors zur Verfügung gestellt hat.
Eine kurze Beschreibung, da man das diesbezügliche Wissen ja nicht bei jedem voraussetzen kann, wie so eine „Bad Bank“ funktioniert:
Die Aktiva der Bank, also ihre Eigentums- und Schuldtitel, werden gesichtet und nach dem Motto „Die guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ auseinandersortiert. Das Kröpfchen ist in diesem Falle die Bad Bank, eine von Staatsseite mit Liquidität ausgestattete Institution, die diese fragwürdigen Aktiva den Banken abkauft und dann versucht, sie zu verwerten. Dergleichen Institute werden manchmal in Karikaturen als eine Art Müllcontainer für Giftmüll dargestellt, in die dann die sogenannten toxischen Wertpapiere hineingeworfen werden.
Die Idee der Bad Bank ist, die Banken vor dem Pleitegehen zu bewahren, indem man den Staat, der als Grundlage der Ökonomie noch mehr Kredit hat als eine Bank, als Garanten und Käufer einsetzt.
Die zweite damit verbundene Vorstellung ist die, daß der Giftmüll bei entsprechender Lagerung und bei diesem vertrauenswürdigen Lagerwärter wieder an Wert gewinnt, und nach einiger Zeit vorsichtig wieder unter die Leute gebracht werden kann.
Schon diese Voraussetzungen sind in den letzten Jahren fragwürdig geworden. Ausgerechnet der spanische Staat kann nicht so ohne weiteres als verläßlicher Schuldner, der unbegrenzt Kredit hat, betrachtet werden. Im Gegenteil, diese Bad Bank belastet seinen ohnehin bereits angeschlagenen Staatskredit zusätzlich. Das war der Hauptgrund, warum sie der spanische Bankier und ehemalige IWF-Direktor Rodrigo Rato lange abgelehnt hat.
Eine Frage ist nämlich, zu welchem Preis die Bad Bank den Geschäftsbanken ihre faulen Eier abkauft. Zahlt sie zu wenig, so wird die Bank eben genau deshalb insolvent, weil die bei ihr entstandenen Bilanzlöcher nicht genug zugestopft werden. Zahlt sie jedoch zu viel, so kann es sein, daß gerade deshalb dann dem Staat endgültig die Luft ausgeht.
Spaniens Staatspapiere stehen in der Bewertung der Rating-Agenturen bei BBB, auf der Kippe zum sogenannten Ramsch-Niveau. Verliert es nämlich das 3. B, so müssen alle institutionellen Anleger (Versicherungen, Pensionsfonds, Waisenkassen) diese Papiere verkaufen, und der Kredit Spaniens ist endgültig futsch. Die spanische Staatsschuld steigt ständig, weil die Einnahmen sinken, die Ausgaben wachsen und das BIP schrumpft, ohne Aussicht auf baldige Erholung.
Und dieser Staat soll jetzt seinen Banken hilfreich unter die Arme greifen. Noch dazu so, daß er ihnen ihren Giftmüll nicht mit Geld abkauft, sondern gegen seine Staatsanleihen und Schatzscheine tauscht.
Vor der Einrichtung der Bad Bank wurde die Werbetrommel gerührt, damit sich auch private Institute an diesem perspektivenreichen Unternehmen beteiligen und nicht alles am spanischen Staat hängenbleibt. Man könnte auch sagen, daß die Regierung verzweifelte Hilfeschreie ausgestoßen hat, um nicht mit dem ganzen Mist alleine fertig werden zu müssen.
Der Andrang war endenwollend. Nicht nur, daß aus dem Ausland keine Retter herbeieilten, sondern auch die zweitgrößte spanische Bank BBVA verweigerte ihre Hilfe. Sodaß das Gros der Finanzierung neben der Santander Bank der spanische Bankenrettungsfonds FROB und die verstaatlichte Bank Bankia zu tragen haben.
Spaniens Banken bzw. vor allem die inzwischen teilweise verstaatlichten Sparkassen haben in ihren Bilanzen nicht entwertete Wertpapiere, die seinerzeit in den USA und Mitteleuropa die Einrichtung von Bad Banks hervorgerufen haben. In diesen Bilanzen befinden sich Bauruinen aller Art, die Überreste von Spaniens eingestürztem Immobilienmarkt: nicht bediente Hypothekarkredite en masse, vorfinanzierte Bauten, die in der Hälfte steckengeblieben sind, Kredite an Baufirmen, die teilweise schon pleite gegangen sind, und als Sicherheiten gegebene Grundstücke, deren Wert ein wohlgehütetes Geheimnis ist, aber allen Anzeichen nach gegen Null geht. Und der Preis, den die SAREB für solche Grundstücke festsetzt, wäre dann wieder ein Datum, an dem sich der gesamte Immobilienmarkt orientieren würde. Diese Grundstücke zu niedrig einzustufen, hätte also sofortige negative Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft, nicht nur auf die Bankbilanzen.
Eine US-Firma wurde mit der Prüfung der Bilanzen aller ins Trudeln geratener Geldinstitute beauftragt. Auf Grundlage der von dieser Firma erstellten Studie ermittelte die Bankenaufsicht einen Bedarf von 60 Milliarden Euro. Die Firma, Oliver Wyman, hat allerdings an anderer Stelle durchblicken lassen, daß die von ihr erstellte Studie nicht viel wert ist, da die Bankenleitungen ihren Prüfern den Einblick in die Bilanzen verweigerten, der notwendig gewesen wäre, um den tatsächlichen Finanzbedarf zu ermitteln.
Moodys hat den Bedarf der spanischen Banken auf mindestens 500 Milliarden Euro geschätzt.
Im Laufe dieses Jahres wird man vermutlich noch einiges von dieser Bad Bank hören.

Die Anschläge von Boston III

DIE ROLLE RUSSLANDS UND DIE INTERNATIONALE DIMENSION DER ANSCHLÄGE
Laut einem Artikel der Nowaja Gazeta war Tamerlan Tsarnajew auch im Visier der russischen Behörden und stand während seines mehrmonatigen Aufenthaltes in Machatschkala im Jahr 2012 unter ständiger Beobachtung. In einem Interview mit dem „Zentrum zur Bekämpfung des Terrorismus“ (ein solches gibt es in jeder russischen Kaukasus-Republik) teilte ein Mitarbeiter der Reporterin mit, daß junge Männer, die sich in letzter Zeit durch ihre Hinwendung zum Islam ausgezeichnet haben, stets im Visier der Antiterrorismus-Bekämpfung stehen, da aus diesen Kreisen die Selbstmordattentäter rekrutiert werden. Tamerlan Tsarnajew konnte nichts anderes nachgewiesen werden als Kontakt zu Personen, die im Laufe dieser 5-6 Monate im Rahmen der Antiterror-Aktionen dieses Zentrums erschossen wurden. Diese Information wurde den amerikanischen Behörden übermittelt, die jedoch nie geantwortet hätten.
Die Eltern der Brüder Tsarnajew sind offensichtlich nicht gewillt, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Subeidat Tsarnajewa hat ein Spendenkonto in Rußland eingerichtet, um Anwaltskosten für ihren Sohn Dschochar bestreiten zu können. Es ist auch möglich, daß sie über die tschetschenische Diaspora in anderen Ländern solche Konten einrichten läßt. In Wien demonstrierten Tschetschenen vor der US-Botschaft für die Unschuld des mutmaßlichen Attentäters. In Groznyj wurden Flugblätter verteilt, die zu seiner Unterstützung aufrufen.
Es ist wahrscheinlich, daß sich die Eltern auch an die russische Regierung gewandt haben und sie auffordern, sich für ihren Sohn einzusetzen.
Die ganze Angelegenheit dürfte bei Vladimir Putin unangenehme Erinnerungen hervorrufen.
Putin verdankt seinen politischen Aufstieg dem vor nicht allzulanger Zeit verstorbenen Boris Beresowski. Seine Berufung an die Spitze des Geheimdienstes geschah auf Betreiben Beresowskis. Mit der Ausrufung des Zweiten Tschetschenienkrieges und der „Heimholung“ Tschetscheniens in den Russischen Staatsverband gelang es Putin, sich als starker Mann zu präsentieren, der Ordnung im Land schafft und den weiteren Zerfall Rußlands verhindert. Diesem Krieg gingen mehrere Anschläge im Sommer und Herbst 1999 auf Wohnhäuser in Moskau, Buinaksk und Wolgodonsk voraus, der Hunderte von Menschen zum Opfer fielen, und mehr als tausend Verletzte zur Folge hatten. Diese Anschläge wurden den tschetschenischen Separatisten zugeschrieben, die ihre Autorenschaft jedoch stets bestritten haben.
Nachdem zwei Mitglieder einer Untersuchungskommission zur Aufklärung dieser Anschläge erschossen wurden, stellte diese ihre Arbeit ein. Beresowski hat im Exil ein Enthüllungsbuch zu diesen Anschlägen publiziert, in dem er Putin und den FSB der Autorenschaft bezichtigte. Das sollte seiner eigenen Entlastung dienen, da es wahrscheinlich er selbst war, der mit Hilfe seiner mafiösen Verbindungen diese Anschläge organisiert hat, um seinem Schützling Putin ein ordentliches Profil als Terrorismusbekämpfer zu verschaffen.
Und jetzt soll Putin bzw. die russische Regierung in der Frage der Tsarnajew-Brüder Stellung beziehen.
Keine einfache Sache ….