AGIERT RUSSLAND AUS EINER POSITION DER SCHWÄCHE?
Gerade in linken Publikationen wurde und wird Rußland gerne als ein Land geschildert, das den Sprung auf den Weltmarkt nicht so recht geschafft habe, in der Konkurrenz der imperialistischen Mächte den Kürzeren gezogen habe und sozusagen in einer Art Rückzugsgefecht jetzt um die Sicherung seiner Außengrenzen bemühen müsse.
Diese Auffassung steht der in den herkömmlichen Medien verbreiteten Sichtweise entgegen, wonach es sich bei Vladimir Putin um einen Größenwahnsinnigen handle, der das sowjetische Imperium wiederauferstehen lassen wolle, mit ganz unzulässigen gewaltsamen Mitteln.
Es gibt auch die Kombination von beidem: Gerade weil Rußland wirtschaftlich schwach ist, wird es nach außen aggressiv.
Aber was bedeutet eigentlch wirtschaftliche „Schwäche“?
1. Rußland und der Weltmarkt
Eines, wenn nicht vielleicht das entscheidendste Moment in der Selbstkritik der sowjetischen Führung der Perestroika-Zeit war die Überzeugung, daß das westliche Wirtschaftssystem „effizienter“ als das eigene sei. Während in den Lehrbüchern stand, daß der Sozialismus sowjetischer Prägung den „Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“, zwischen „gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung“ überwunden und dadurch erst die Produktivkräfte entfesselt hätte, ließ sich nicht ganz verbergen, daß es in Wirklichkeit genau umgekehrt war: Der kapitalistische Westen war ungleich produktiver als die sozialistische Welt.
Das führte in den 90-er Jahren in Rußland zu einer flächendeckenden Zerstörung von Produktion. Damals kamen Leute an die Macht, die die persönliche Bereicherung als Motor der Wirtschaft predigten und in Kraft setzten, und damit die gesamten Reichtumsquellen Rußlands untergruben.
Als Putin – nicht zu vergessen, durch Vermittlung Beresowskis, der meinte, in ihm einen willfährigen Vollstrecker seiner persönlichen Aneignungspolitik gefunden zu haben –, an die Macht kam, stand er vor einem sehr heruntergekommenen Staat: Eine Führung, vor der niemand Respekt hatte, leere Staatskassen, Fat Cats, die sich an den Rohstoffen Rußlands gütlich taten, von westlichen Seifenopern und Ähnlichem dominierte Medien, ein ziemlich desolates Militär, usw. usf.
Er machte sich daran, erst einmal den Gewaltapparat zu renovieren, das staatliche Territorium zu einigen und die Außenpolitik neu zu besetzen.
Der 2. Tschetschenienkrieg dauerte immerhin über 10 Jahre und kostete auch durch von tschetschenischen Separatisten verübten Anschläge viele Menschenleben in anderen Teilen Rußlands. Heute ist Tschetschenien befriedet und viele fürchten, daß die dort angewendeten Erfolgsmethoden auf die Ukraine übertragen werden könnten.
Im Großen und Ganzen ist jedenfalls unter Putin – sehr zum Ärger westlicher Regierungen – eine Neuformierung Rußlands als Staat, als Macht gelungen. Was allerdings nicht stattgefunden hat, ist ein marktwirtschaftlicher Erfolg. Ganz im Gegenteil. Seit dem Millenium bemüht sich Rußland, seinen inneren Markt zurückzuerobern und die Anhänger der Marktwirtschaft aus hohen Ämtern hinauszudrängen. Viele Unternehmen, die seinerzeit privatisiert wurden, wurden wieder verstaatlicht. Verstärkt nach 2014 wird versucht – mit wechselndem Erfolg – so etwas wie Lebensmittelsouveränität wiederherzustellen.
Das Ziel Rußlands ist inzwischen eindeutig die Autarkie, nicht der Exporterfolg.
Das heißt aber auch, daß die Betrachtungen, die den Rohstoff- und Lebensmittelexport Rußlands etwas geringschätzig als den eines „Entwicklungslandes“ charakterisieren, einen diesem Staat fremden Maßstab an ihn anlegen. Exporterfolge und Wachstumszahlen bedeuten heute den Ökonomen Rußlands nicht viel.
2. Entwicklungsland
Was heißt eigentlich „Entwicklung“ heutzutage? Dieser Begriff stammt aus den 60-er und 70-er Jahren, als verschiedene Staaten mit Bodenschätzen hofften, sich mit Hilfe von Kredit und Know-How und über ihre Rohstoffeinnahmen eine nationale Industrie zulegen und damit irgendwann einmal mit den europäischen Staaten und den USA gleichziehen zu können.
Heute ist das eine ziemlich leere Worthülse, die nur noch in Wirtschaftshilfeprogrammen vorkommt.
Manche der rohstoffreichen Staaten, wie Saudi-Arabien oder auch seinerzeit Libyen unter Ghaddafi hatten gar nicht die Vorstellung, aufgrund von Ölexporten zu Industriestaaten zu werden. Sie legten ihre Petrodollars in den USA bzw. der EU an bzw. finanzierten damit befreundete Regimes. Sie nahmen also durchaus eine Stellung ein, die man als politisch-imperialistisch bezeichnen könnte.
Staaten wie Venezuela nahmen ebenfalls ihre Ölvorkommen zum Anlaß, eine Führungsrolle auf dem südamerikanischen Kontinent zu beanspruchen.
Es macht sehr viel aus, ob ein Rohstoffexporteur Energieträger oder Metalle oder andere Rohstoffe exportiert – die Energie ist nämlich in allem drin, was heute produziert wird. Die Abhängigkeiten bestehen daher auf beiden Seiten, und wie man inzwischen sieht, noch stärker auf der Seite des Beziehers.
Auch die Lebensmittelexporte sind nicht nur einfache Rohstoffexporte, die ein Staat eben verkaufen muß, weil er nichts Besseres hat. Argentinien war nach dem 2. Weltkrieg ein großer Player und hatte damals viel Marktmacht mit seinen Rindfleisch- und Weizenexporten.
Daraus schloß Perón auch, daß da mehr drin sein müsse und begann Argentinien zu industrialisieren – was dem Land sehr übel genommen wurde.
Inzwischen fehlen die Weizenexporte Rußlands und der Ukraine auf dem Weltmarkt und es stellt sich heraus, daß die in sehr vielen Staaten der Erde fix eingeplant waren im Sinne der globalen Arbeitsteilung.
3. Die Abhängigkeiten haben sich geändert
Weder ist es so, daß eindeutig die Industriestaaten die Welt beherrschen und die Rohstofflieferanten ihnen mehr oder weniger die Schuhe putzen müssen. Noch ist es so, daß ein Staat wie Rußland von den Märkten abhängt, die es beliefert.
Man wird sehen, was die Veränderungen in Sachen Lebensmittel und Energieträger auf den Weltmärkten für Folgen haben.