Abzug aus Afghanistan

KREUZWEG DER KULTUREN UND FRIEDHOF DER IMPERIEN

„Biden rechtfertigt den militärischen Rückzug aus Afghanistan: »Es ist Zeit, den längsten Krieg zu beenden«.
Joe Biden wird nicht als derjenige Präsident in die Geschichte eingehen, der den längsten Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten gewonnen hat, sondern als derjenige, der ihn 20 Jahre später beendete, – überzeugt, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als einfach auszusteigen.
Der Präsident kündigte diesen Mittwoch den bedingungslosen und vollständigen Abzug der Truppen aus Afghanistan in einer bitteren Rede an, in der er davon ausging, dass deren weitere Anwesenheit keine »andere Ergebnisse« als die bisherigen erwarten lasse. »Es ist Zeit für die amerikanischen Truppen, nach Hause zu gehen«, sagte er. Die Entscheidung zeigt die geopolitische Wende von Biden, die die internen Herausforderungen des Landes und die damit verbundenen externen Bedrohungen priorisiert, die heute eher in China verortet werden als in Afghanistan oder im Nahen Osten.“ (El País, 14.4.)

Der Vergleich mit dem Vietnamkrieg drängt sich auf.

Aber man sollte die Unterschiede nicht außer acht lassen: Damals, während des Kalten Krieges, war es gelungen, das Zerwürfnis zwischen der Sowjetunion und China zu vertiefen. Die Gefahr eines kommunistischen Vormarsches in Indochina und anderswo war vorbei: Die beiden kommunistischen Mächte bekämpften einander über ihre Stellvertreter, und auch über ihre Schwesterparteien in der kapitalistischen Welt.
So konnten es sich die USA leisten, Vietnam aufzugeben – wenngleich dieser Rückzug als Niederlage angesehen wurde, im In- und Ausland.

Heute hingegen rivalisieren nur mehr Großmächte ohne besonderen politischen Anspruch. Auch China präsentiert sich nicht mehr als Vertreter der ländlichen Volksmassen, die vom Imperialismus unterdrückt werden. Es geht offen um die Aufteilung der Welt, das Abstecken von Claims, Gewinnen von Verbündeten und Einfluß.

Der Abzug der USA – und in ihrem Schlepptau der restlichen Truppen der „internationalen Staatengemeinschaft“, also der US-Verbündeten – ist ein Eingeständnis des Mißerfolges. Die USA tun damit kund, daß sie nicht mehr imstande sind, die ganze Welt oder zumindest bedeutende Teile davon auf ihre Maßstäbe zu verpflichten.
Während der Rückzug der USA aus Somalia zwar auch eine Art Aufgabe war, aber doch damals klar war, daß andere Staaten auch kein Interesse an dieser Weltgegend haben würden, ist das bei Afghanistan nicht so. Vor allem Rußland hat Interesse an einer Regelung der Verhältnisse in Afghanistan und führt seit einiger Zeit diesbezüglich Gespräche mit Vertretern der Taliban.

Ebenso ist der Iran interessiert an seinem Nachbarland und einer Ausweitung seines Einflusses ebendorthin.

Ein von Besatzungstruppen befreites und vom Iran und Rußland unterstütztes Afghanistan könnte sich möglicherweise alten Unrechts erinnern und die Durand-Linie, die Grenze zu Pakistan, in Frage stellen. Pakistan ist daher derjenige Staat, der am wenigsten ein Interesse an einem Wiederaufbau Afghanistans hat.

„Die Regierung von George W. Bush startete die Offensive gegen Afghanistan als Reaktion auf die traumatischen Angriffe vom 11. September 2001 auf die Twin Towers und das Pentagon, ein Angriff von Al Qaida, einer von den Taliban geschützten Terroristengruppe. Bis zum nächsten 11. September, 20 Jahre danach, hoffen die Vereinigten Staaten, den Abzug aus dem Land in einem koordinierten Rückzug mitsamt ihren NATO-Verbündeten abgeschlossen zu haben. Die Taliban wurden nicht besiegt, Al-Qaida nicht für immer liquidiert. Das einzige, was geschehen ist, ist daß Zeit vergangen ist.“ (ebd.)

Das ist natürlich eine verkehrte Darstellung. Seit dem Einmarsch der USA in Afghanistan 2001 sind Tausende, vermutlich Zehntausende Zivilisten und Widerstandskämpfer durch die Soldaten der Koalition getötet worden, durch Bombardements, Drohnenangriffe, bei Kämpfen oder durch extrajudikale Hinrichtungen. Mehrmals wurden ganze Hochzeitsgesellschaften durch Bombardements vernichtet. Ebenso geht die Zahl der Verwundeten und Krüppel in die Zehntausende.
Dazu kommen noch die gefallenen afghanischen Regierungssoldaten und ca. 3700 Tote auf Seiten der westlichen Koalition.
Der vorige afghanische Präsident, Hamid Karzai, hat Präsident Trump vorgeworfen, Afghanistan als Testgelände für Militärtechnologie zu verwenden, nachdem dieser eine Riesenbombe auf den Süden Afghanistans abwerfen gelassen hatte. (Die Welt, 14.4. 2017)
Auch vor Trumps Amtsantritt wurde jede Menge von Bomben, Minen, Drohnen usw. in Afghanistan eingesetzt. All dieses Zeug, zusammen mit den Waffen und Sprengkörpern, die schon von den sowjetischen Truppen und dem späteren afghanischen Bürgerkrieg übriggeblieben sind, machen das Land zu einem großen Misthaufen für militärischen Abfall.

Die Kosten der Besetzung Afghanistans sind beachtlich:

„Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums beliefen sich die gesamten Militärausgaben in Afghanistan (von Oktober 2001 bis September 2019) auf 778 Mrd. USD.
Darüber hinaus gab das US-Außenministerium – zusammen mit der US-amerikanischen Agentur für internationale Entwicklung (USAID) und anderen Regierungsbehörden – 44 Mrd. USD für Wiederaufbauprojekte aus.
Damit belaufen sich die Gesamtkosten – basierend auf offiziellen Daten – zwischen 2001 und 2019 auf 822 Mrd. USD, enthalten jedoch keine Ausgaben für Pakistan, das die USA als Basis für Operationen im Zusammenhang mit Afghanistan verwenden.“ (BBC News, 15.4.)

Die Kosten für die USA und ihre Verbündeten haben sich auch deshalb nach 2014 erhöht, weil nach der Krimkrise die Zusammenarbeit mit Rußland endete, also keine logistische Unterstützung von dort mehr stattfinden konnte.
Die Zusammenarbeit mit Usbekistan endete 2005, nachdem die usbekische Regierung den Vertrag mit den USA zur Benutzung des Stützpunktes in Chanabad gekündigt hatte, weil sie den USA Einmischung in die inneren Angelegenheiten Usbekistans vorwarfen.
Auch eine halboffizielle Zusammenarbeit mit Turkmenistan endete abrupt 2008, als die turkmenische Regierung den USA die Tür wies. (nd, 27.7. 2010)
2014 und sicher nicht ohne Absprache mit Moskau mußten die USA 2014 schließlich auch den Stützpunkt in Manas in Kirgisien räumen. (TAZ, 3.6. 2014)

Ein Hintergrund des Abzugs aus Afghanistan ist also die schrittweise Verdrängung der USA aus den mittelasiatischen Nachfolgestaaten der SU, der durch die chinesische Initiative der „Neuen Seidenstraße“ verstärkt wurde.

Die Zukunft Afghanistans ist unklar, aber es sieht nicht gut aus für seine Bevölkerung.

Das ist allerdings leider nichts Neues.

Ökumene, Teil 4

VERSUCHE ZU EINER GEMEINSAMEN LINIE IM SUNNITISCHEN ISLAM

Ein sunnitischer Beinahe-Papst

Eine der renommiertesten Institutionen der islamischen Welt ist die Azhar-Universität und -Moschee in Kairo.
Im 10. Jahrhundert von den schiitischen fatimidischen Kalifen gegründet, als neues Zentrum des Islam – nach Damaskus und Bagdad – ist sie eine der ältesten Stätten islamischer Gelehrsamkeit der Welt. Ihr Vorstand, der „Scheich al-Azhar“ ist eine der höchsten Autoritäten des Islam. Seine Autoriät wird allerdings durch die Konkurrenz der muslimischen Staaten eingeschränkt. Für Ägypten ist die Azhar immer ein Mittel zur Einflußnahme in der islamischen Welt gewesen, aber neben den Geldmitteln der Saudis schaut sie eben recht alt aus. In Ägypten selbst mußte ihr Scheich seit geraumer Zeit den Spagat schaffen zwischen den Muslimbrüdern, Al-Quaida-Anhängern und den verschiedenen Militärführungen seit Nasser.

Der jetzige Scheich der Azhar, Achmad Al-Tayyib, hat genug von diesem Lavieren zwischen allen möglichen Machtzentren und Bewegungen, das ihn letztlich bei allem Ansehen zu einem faktischen Hampelmann der weltlichen Mächte, konkret der ägyptischen Regierung, degradiert. Er baut seine jetzige Stellung auf der wechselseitigen Unterstützung der Regierung Al-Sisi auf, hat aber Ambitionen, seinen Einfluß auszudehnen und den Saudi-Arabiens zurückzudrängen. Das wäre natürlich der ägyptischen Führung auch sehr recht.

… in Zusammenarbeit mit einem muslimischen Außenpolitiker …

So hat er 2016 bei einem Treffen islamischer Autoritäten in Groznyj teilgenommen, das von Ramzan Kadyrow organisiert worden war und wo diejenigen Vertreter des Islams eingeladen worden waren, die Wahhabismus, Salafismus und andere Strömungen des politischen Islams ablehnen.
Um die Person und die Rolle Kadyrows zu verstehen, muß man wissen daß sein Vater, Achmad-Hadschi Kadyrow, seinerzeit die Unabhängigkeit Tschetscheniens von Rußland unterstützt hatte, aber später, als der Salafismus Saudi-Arabiens sich in Tschetschenien breitzumachen begann, die Seiten wechselte und dafür mit seinem Leben bezahlte.
Ramzan Kadyrow macht gerne Außenpolitik und hat dafür auch die Unterstützung Moskaus. Zusammen mit Raschid Dostum plante er vor einiger Zeit ein Afghanistan nach den USA. Ebenso wie diese Konferenz sind dergleichen Treffen und Pläne für ihn ein Versuch, einen muslimischen Gegenpol gegen den Einfluß Saudi-Arabiens aufzubauen. Der Ausgang dieser Politik ist ungewiß, aber der Papst nimmt diese Art von Initiativen zur Kenntnis und möchte sich einklinken.

… und dem christlichen Oberhäuptling

2019 hat Al-Tayyib sich mit Papst Franziskus in Abu Dhabi getroffen und eine „Erklärung der Brüderlichkeit“ unterzeichnet.

Den Ort sollte man sich merken. Auch die Vereinigten Emirate sind offensichtlich die Dominanz Saudi-Arabiens satt und wollen aus deren Schatten heraustreten, ohne in eine offene Konfrontation mit Riad zu treten. Deswegen die Anerkennung Israels und die Organisierung der Gespräche zwischen den USA und den Taliban, und auch das Treffen zwischen dem Papst und Al-Tayyib.

Februar 2019, Abu Dhabi

Al-Tayyib freut sich auch über die Irakreise des Papstes, weil er sich davon Stärkung seiner eigenen Autorität erhofft. Wenn es schon keinen Papst im sunnitischen Islam gibt, so macht zumindest die Anerkennung durch ein christliches Oberhaupt und eine möglichst breite Koalition anderer muslimischer Notabeln einen guten Eindruck:

„Die Reise von Papst Franziskus in den Irak, in deren Verlauf er auch den Schiitenführer Ali al-Sistani treffen wird, hat den Segen des (sunnitischen) Großimams von al-Azhar: »Die historische Reise meines Bruders @pontifex_de in den Irak sendet eine Botschaft von Frieden, Solidarität und Unterstützung für alle Iraker«, schreibt Ahmed al-Tayyeb, der als höchste sunnitische Lehrautorität gilt, an diesem Freitag auf seinem Twitter-Account.
Er bete zu Allah um Erfolg für den Besuch »und dass seine Reise das gewünschte Ergebnis haben wird, auf dem Pfad der menschlichen Geschwisterlichkeit weiterzugehen.«
Schon lange pflegen Papst Franziskus und der Großscheich al-Tayyeb einen fruchtbaren und durch Respekt geprägten Dialog.“
(„Ein geschwisterlicher Tweet aus Kairo“, Vatican News, 5.3. 2021)

Seinerzeit kam es sogar zu schriftlichen Ergebnissen:

„Papst Franziskus und Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb haben am Montag in Abu Dhabi eine historische gemeinsame Erklärung zum Thema »Menschliche Brüderlichkeit« unterzeichnet. Einige Auszüge aus dem Dokument“ finden sich hier.
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Alles in allem eine schwierige Aufgabe – mit den Mitteln des Glaubens seine unerwünschten Praktiken zu bekämpfen:

„Der Gegenstand des Mohammedanismus ist rein intellektuell, kein Bild, keine Vorstellung von Allah wird geduldet: Mohammed ist Prophet, aber Mensch und über des Menschen Schwächen nicht erhaben. Die Grundzüge des Mohammedanismus enthalten dies, dass in der Wirklichkeit nichts fest werden kann, sondern dass alles tätig, lebendig in die unendliche Weite der Welt geht, so dass die Verehrung des Einen das einzige Band bleibt, welches alles verbinden soll.
In dieser Weite, in dieser Macht verschwinden alle Schranken, aller National- und Kastenunterschied; kein Stamm, kein politisches Recht der Geburt und des Besitzes hat einen Wert, sondern der Mensch nur als Glaubender. Den Einen anzubeten, an ihn zu glauben, zu fasten, das leibliche Gefühl der Besonderheit abzutun, Almosen zu geben, das heißt, sich des partikularen Besitzes zu entschlagen: das sind die einfachen Gebote; das höchste Verdienst aber ist, für den Glauben zu sterben, und wer in der Schlacht dafür umkommt, ist des Paradieses gewiss.“
(G.F.W. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Der Mohammedanismus)

Ökumene, Teil 3

CHRISTENTUM UND ISLAM IM VORDEREN ORIENT

„Wie viele Divisionen hat der Papst?“ fragte Stalin in Jalta Churchill, als ihm von diesem vorgeschlagen wurde, sich mit der katholischen Kirche, hmmm, gut zu stellen.

Stalin hatte recht und unrecht zugleich. Denn die weltliche Macht operiert mit Divisionen – mit schwerem Gerät, mit Waffen aller Art zwingt sie den Gegner in die Knie.

Aber die Herrschaft über die Gedanken der Menschen, die diese Waffen bedienen, wird durch geistige Führer bewerkstelligt, und die möchten die weltlichen Herren gerne als Verbündete auf ihrer Seite wissen. Lange waren in Europa weltliche und kirchliche Macht Konkurrenten – in Zeiten, als die Päpste tatsächlich Divisionen hatten.
Es war eine Errungenschaft der Neuzeit, Religion und Staat zu trennen, und im Islam entstand in den letzten Jahrzehnten eine Gegenbewegung, die diesen Schritt wieder rückgängig machen wollte, weil sie sich dadurch Machtzuwachs versprach. Der Iran, Saudi-Arabien, die Taliban betreiben bzw. betrieben Gottesstaaten, wo die religiöse Oberhoheit und die staatliche Lenkung in einem Gremium vereinigt sind, wie in den muslimischen Großreichen der Vergangenheit.

Inzwischen will der Papst, wie es aussieht, auch wieder Politik machen, weil es gar nicht klar ist, welche imperialistische Macht eigentlich das christliche Wertesystem vertritt.
Immerhin geht die Unterstützung des Wahhabismus einher mit Schädigung und Vertreibung der Christen des Nahen Ostens, wie der Papst kürzlich im Irak besichtigen konnte. Im letzten Jahrzehnt blieben auch die Aufrufe verschiedener christlicher Oberhäupter Syriens ohne Folgen, die die Politik des Westens in Syrien scharf angriffen und ihre Unterstützung für die Herrschaft Assads aussprachen.

Der IS hat angeblich noch mehr als 10.000 Kämpfer in Syrien und im Irak, nach den Schätzungen des Pentagon und der UNO. Von irgendwoher werden die unterstützt, und der Verdacht liegt nahe, daß es nach wie vor Saudi-Arabien ist.
Der Griff des Papstes nach mehr Einfluß in der Welt ist somit eine direkte Folge der Politik der USA und der EU in Syrien, dem Irak usw., und auch des Niederganges des Westens – Europas, der USA und ihrer Satelliten.

Der sunnitische Islam

Bis zum Ende des I. Weltkrieges waren die Trennlinien zwischen den muslimischen Konfessionen fließend, von regionalen Machtkämpfen und Bündnissen geprägt.

Das änderte sich, als die wahhabitischen Saudis 1925 den Hedschas eroberten und die angestammten Haschemiten, aus denen beide Haupt-Strömungen des Islam hervorgegangen waren, vertrieben. Dies geschah im Einvernehmen mit dem britischen Geheimdienst und Außenamt, die ihre vorherigen Verbündeten fallenließen.
Die Wahhabiten, die bis dahin schon gezeigt hatten, was sie können – ihre Eroberungen gingen stets mit der Zerstörung von Moscheen, Grabmalen und anderen Gebäuden und mit Terror gegen die dortige Bevölkerung einher – wurden damit zu den Beherrschern der heiligsten Stätten des Islam.
Die wahhabitischen Saudis betrachten sich als die einzigen wahren Vertreter des Islam, alle anderen Strömungen sind im Grunde Häresie. Um diese Schreckensherrschaft aufrechterhalten zu können, bedurften sie immer äußerer Stützen. Es ist anzunehmen, daß bereits die Briten ihnen deswegen ihre Expansion ermöglichten. Sie sahen sie aufgrund der geringen regionalen Akzeptanz als treue Verbündete.

Die Allianz mit dem imperialistischen Westen wurde bekräftigt durch das historische Treffen des ersten Saudi-Königs mit F.D. Roosevelt auf einem Schiff im Suezkanal im Februar 1945. Damals war bereits bekannt, daß Saudi-Arabien über große Ölvorkommen verfügte. Nach 1945 wurden sie erschlossen, um der schnell ansteigenden weltweiten Ölnachfrage genügen zu können. Erstens wurden die Saudis damit noch wichtiger für die Zentren der westlichen Welt. Zweitens regnete es Geld. Damit konnte der Wahhabismus weiter expandieren, wenngleich nicht unmittelbar durch Grenzveränderungen.

Nur um sich von den Dimensionen des saudischen Ölreichtums einen Begriff zu machen:

„Die Pandemie hat der größten Ölgesellschaft der Welt, Aramco, ordentlich zugesetzt. Die staatliche saudische Firma verbuchte 2020 einen Gewinn von 49 Milliarden Dollar (41 Milliarden Euro) – 44% weniger als im Vorjahr. … Innerhalb von 2 Jahren sank der Gewinn von Aramco von mehr als 111 Milliarden Dollar auf weniger als 50.“ (El País, 22.3.)

Auf das saudische Geld stützten sich die Mudschaheddin in Afghanistan. Mit saudischem Geld wurden jede Menge Medressen (Koranschulen) in Pakistan finanziert und mit wahhabitischen Lehrern versorgt. Dem verdankt die Welt das Erstarken des Fundamentalismus im ehemals mehrheitlich schiitischen Pakistan und die Entstehung und die Machtergreifung der Taliban.

Al-Qaida und der IS wurden von Saudi-Arabien unterstützt und konnten deshalb so weit kommen, wie sie kamen. Das Nachbarland Jemen legt Saudi-Arabien in einem Dauerkrieg in Schutt und Asche, und mit seiner Ölförderung trug und trägt es sehr zum Verfall des Ölpreises bei, und setzt damit andere Ölförderländer unter Druck. Auch der heutige traurige Zustand des Libanons geht zu einem guten Teil auf die Einflußnahme Saudi-Arabiens zurück.

Bei all diesem segensreichen Wirken dieses Lieblings der westlichen Demokratien, der „internationalen Staatengemeinschaft“ hatte auch die Rivalität zum Iran einen hohen Anteil. Saudi-Arabien wird vom Westen unterstützt, um den Einfluß des Iran klein zu halten, seitdem dort die Mullahs 1979 die Macht ergriffen haben.

Ebenfalls ein Dorn im Auge der saudischen Königsfamilie waren säkulare und dem Westen nicht genehme Regierungen wie diejenigen Syriens, Libyens oder des Irak. Die gegen diese Regierungen tätigen fundamentalistischen Bewegungen wurden ebenfalls mit saudischem Geld unterstützt. Man sieht die Ergebnisse heute deutlich, die wahhabitische Dynastie hat ziemlichen Schaden angerichtet und ist in der muslimischen Welt dementsprechend verhaßt, kann sich aber aufgrund von Geld und Unterstützung aus den USA und Europa weiterhin fast alles erlauben. (Man vergleiche das mediale Getöse um Navalny mit dem Säuseln im Blätterwald um den zersägten und verschwundenen Khashoggi.)

Der sunnitische Islam hat keinen Klerus, es gibt also keine geregelten Hierarchien. Bauunternehmer, Ärzte oder Politiker können Koraninterpretationen vornehmen und Fatwas erlassen.

Jeder, der sich berufen fühlt, kann in einem Hinterhof oder einem beliebigen als Moschee deklarierten Gebäude Prediger werden und zum Dschihad aufrufen. Davon wurde in den letzten Jahrzehnten weltweit reichlich Gebrauch gemacht, was verschiedene religiöse Gelehrte in der muslimischen Welt sehr aufgebracht hat.
Ihnen wäre es recht, auch so etwas wie eine Hierarchie im Islam einzurichten und den Einfluß des Wahhabismus zurückzudrängen.

Fortsetzung: Die Ambitionen der religiösen Führer