Marokko und die Westsahara

DER BLINDE FLECK DER MENSCHENRECHTSFREUNDE

I. Die Westsahara

Während bei verschiedenen Ländern mit der Lupe nachgeschaut wird, was es dort an politischen Gefangenen gibt und wie sie behandelt werden, sind andere Staaten vor dem aufmerksamen Blick von HRW und ähnlich gearteten menschenfreundlichen Organisationen und politischen Institutionen der EU sicher.
Eines davon ist Marokko und seine Behandlung der Bewohner der seit Jahrzehnten besetzten Westsahara.

„Es ist eines der 17 Gebiete ohne eigene Regierung unter der Aufsicht des Sonderausschusses der Vereinten Nationen für Entkolonialisierung. Es wurde am 15. Dezember 1960 durch die Resolution 1542 (XV) der Generalversammlung der Vereinten Nationen in die Liste der »Gebiete ohne Regierung« aufgenommen, als es noch eine spanische Provinz war.
Der Entkolonialisierungsprozess wurde 1976 unterbrochen, als Spanien die Westsahara an Marokko und Mauretanien übergab – nach dem »grünen Marsch« und auf Grundlage des Madrider Abkommens (1975), das völkerrechtlich ungültig ist.
Das Gebiet ist derzeit besetzt – zum größten Teil von Marokko, das es seine „Südprovinz“ nennt, obwohl die marokkanische Souveränität von den Vereinten Nationen nicht anerkannt wird. Sie wird von der Polisario-Front abgelehnt, die 1976 ihre Unabhängigkeit verkündete und die Demokratische Arabische Republik Sahara gründete, die bisher von 82 Staaten anerkannt wurde, von denen allerdings 51 keine Beziehungen zu ihr unterhalten. Sie verwaltet die nicht von Marokko kontrollierte Region im Osten, die sie »Freie Zone« nennt.“ (span. Wikipedia)

Daß Marokko dieses Gebiet zugestanden bekommen hat und dort eigentlich machen kann, was es will, hat mehrere Gründe.

I.1. Spanien, Marokko und die Westsahara

Spaniens Hunger auf afrikanisches Gebiet geht Jahrhunderte zurück. Zunächst setze es sich an der Mittelmeerküste fest. Auf der Berliner Afrikakonferenz von 1884, als Afrika unter die Kolonialmächte aufgeteilt wurde, meldete Spanien seinen Anspruch auf den Küstenstreifen nördlich des heutigen Nuadhibou in Mauretanien an.
Da sich keine nennenswerten Konkurrenten unter den europäischen Kolonialmächten fanden, setzte Spanien sich mit Niederlassungen auf den Halbinseln von Nuadhibou und Dachla fest. Anfang des 20. Jahrhunderts dehnte Frankreich sein Kolonialreich südlich davon aus. Generell handelte es sich um ein Territorium, an dem im Wettlauf der europäischen Mächte wenig Interesse bestand. Wirtschaftlich gar nicht, höchstens militärisch-strategisch, oder als Verbindung zwischen anderen Beutestücken auf dem afrikanischen Kontinent.
Dafür wurde das nördlich gelegene Marokko zum Zankapfel der Großmächte und 1912 zwischen die Protektoratsmächte Spanien und Frankreich aufgeteilt.
Als Marokko 1956 die Unabhängigkeit erlangte, erhob es Anspruch auf die Westsahara als Teil „Groß-Marokkos“, ebenso wie auf die Enklaven Ceuta, Melilla und Sidi Ifni.

Während das erst 1934 von Spanien gegründete Sidi Ifni 1969 an Marokko fiel, und Ceuta und Melilla bis heute Teil Spaniens geblieben sind, gestaltete sich die Frage der Westsahara komplizierter.

I.2. Marokko und Algerien

Während des algerischen Krieges gegen die französische Kolonialmacht wurde die nationale Befreiungsfront Algeriens FLN vom marokkanischen Königshaus – und auch der marokkanischen Bevölkerung – unterstützt.

Kaum waren 1962 die Verträge von Évian unterzeichnet, die Algerien die Unabhängigkeit sicherten, änderte sich dieses gute Verhältnis, das Marokko bisher zu den algerischen Widerstandskämpfern gepflogen hatte.

Der im Prozeß der Entkolonialisierung stets auftretende Umstand, daß sich hier neue Staaten gegeneinander konstituierten, war die Grundlage dieses Gegensatzes. Alle Nachbarstaaten definieren ihr Verhältnis über die gemeinsame Grenze. Diese will erst einmal gezogen und dann verteidigt werden. Dazu bedienen sich diese Staaten gerne Verbündeter, die keine gemeinsame Grenze, aber strategische und wirtschaftliche Interessen in der Region haben.

Die Grenze zwischen Marokko und dem kolonialen Algerien war nie festgelegt worden und ihr Verlauf wurde durch die Unabhängigkeit Algeriens zu einer heißen Frage. Marokko erwartete sicher auch eine Art Belohnung für die Unterstützung in Form von territorialen Zugeständnissen – um so mehr, als die Bevölkerung der Grenzgebiete mehrheitlich zu Marokko neigte.
In den Verträgen von Évian war jedoch Algerien praktisch das Recht auf die ganze Westsahara eingeräumt worden – u.a. deshalb, weil Frankreich im algerischen Teil der Sahara ein Atomtestgelände und französische Unternehmen den Abbau von Öl und Gas betrieben.

Die Auseinandersetzungen gipfelten im „Krieg des Sandes“ oder „der Säbel“ im Jahr 1963, der durch die Intervention der kurz vorher gegründeten Organisation für afrikanische Einheit (OAU) und dessen Initiator Haile Selassie im Oktober beendet wurde.

Marokko wurde von den USA unterstützt, Algerien von Kuba und dem Ägypten Nassers.
Die umstrittenste Grenzregion war diejenige von Tinduf. Erst 1972 wurde ein Friedensvertrag unterzeichnet, in dem Marokko auf Tinduf verzichtete.

I.3. Entkolonialisierung

Im und nach dem II. Weltkrieg drängten die USA ihre Verbündeten zur Aufgabe der Kolonien und Protektorate und leiteten damit das Ende des British Empire und des französischen Kolonialreiches ein.
Keine Macht sollte mehr exklusive Verfügung über Territorien und deren Rohstoffe und Bevölkerung haben. Im Rahmen der bis heute geltenden Pax Americana sollte die ganze Welt dem Kapital zur Verfügung stehen.
Überall Souveräne, die durch ökonomische und militärische Abhängigkeiten zur Willfährigkeit gegenüber den Unternehmen genötigt werden, damit die dort Rohstoffe und Agrarprodukte abschleppen können – so wurde die Welt Stück für Stück eingerichtet.

Marokko hatte hierbei bessere Karten als Algerien, weil es dort eine Monarchenfamilie gab, die in Anlehnung an die USA ihrem Volk nichts versprechen und nichts bieten mußten, außer dem Abzug der Besatzungsmächte. Die algerische FLN hingegen versprach eine Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse und wurde rasch unpopulär, als daraus nichts wurde.

Im Rahmen der weltweit verordneten Entkolonialisierung forderte die UNO Spanien 1967 dazu auf, die Westsahara zu räumen.

I.4. Die Rolle der Westsahara in der spanischen „Transición“

In Franco-Spanien war die Führung gespalten. Ein Teil der franquistischen Politiker war strikt gegen jede Aufgabe von Territorium, weil das als Schwäche ausgelegt werden und sich auf den Status von Ceuta und Melilla auswirken könnte. Wenn überhaupt, so sollten alle Verhandlungen mit solchen über den Status von Gibraltar verknüpft werden – wovon Großbritannien nichts hören wollte.

Der entschiedenste Vertreter der harten Linie in der Kolonialfrage war der 1973 bei einem Attentat der ETA zu Tode gekommene Luis Carrero Blanco.

Nach dem Tode von Carrero Blanco setzte sich bei den spanischen Politikern die Erkenntnis durch, daß die Westsahara eine Art Pfand für ihre weitere Karriere nach Franco sein könnte. Immerhin war nicht klar, wie viel von ihrer gesellschaftlichen Macht nach dem Ableben des Caudillo in den Händen der bisherigen Eliten verbleiben würde. Es war geraten, sich rechtzeitig bei den Weltmächten als Nachfolgepartei abzusichern.

Als Franco bereits in den letzten Zügen lag, übernahm Juan Carlos als interimistisches Staatsoberhaupt die Zügel und ließ sich außenpolitische Vollmachten zusichern. Er hatte inzwischen sehr genaue Positionsbestimmungen der USA bekommen, die die Westsahara ihrem treuen Verbündeten Marokko zuschanzen wollten. Um als legitimes spanisches Staatsoberhaupt anerkannt zu werden, orchestrierte er in Zusammenarbeit mit anderen franquistischen Politikern im November 1975 – Franco lag damals bereits im Koma und verstarb wenige Tage später – die Dreiparteienverträge von Madrid, bei denen die Westsahara unter Marokko und Mauretanien aufgeteilt werden sollte. Marokko erhielt dabei den größten Teil, Mauretanien nur den südlichen Grenzstreifen.

Diese Verträge von Madrid sind von der UNO bis heute nicht anerkannt.

Für die spanischen Eliten hingegen hatte sich der Schritt ausgezahlt, sie sitzen bis heute recht fest im Sattel. Sie hatten sich als verläßliche Verbündete der USA präsentiert, allen voran der König.

Zusätzlich scheint es einen Deal zwischen Marokko und Spanien gegeben zu haben, Ceuta und Melilla in Zukunft nicht mehr zum Thema zu machen.

I.5. Marokko und die Westsahara

Marokko inszenierte im Oktober 1975 den „Grünen Marsch“, im Rahmen dessen mehrere hunderttausend Teilnehmer den historischen Anspruch auf das Gebiet verkörpern und die Spanier hinauskomplimentieren sollten. Der Grüne Marsch sollte den kollektiven Willen Marokkos zeigen, sich dieses Land als das seinige einzuverleiben.

Außerdem stellte Marokko Ende 1975 einen Antrag an den Internationalen Gerichtshof mit der Aufforderung, die Westsahara zu Niemandsland (terra nullius) zu erklären, auf das niemand Besitzrechte habe.

Eine interessante rechtliche Wende.

Eigentlich fragt man sich, warum überhaupt Individuen oder Staaten Besitzrechte auf Land haben. Immerhin ist die Erde von der Natur geschaffen und alle Besitzrechte müssen mit Gewalt von den Besitzern gegen andere Prätendenten, Benützer usw. durchgesetzt werden. Die ganze Geschichte Europas, seiner Kolonien und der USA dreht sich um diesen Punkt – wem gehört das Land? Wessen Ansprüche gelten? Welche Gesellschafts- und Eigentumsordnung bemächtigt sich des Territoriums und seiner Bodenschätze, mit welchen Mitteln?

Besonders auffällig ist die Absurdität oder der Gewaltcharakter solcher Besitzrechte bei einem Wüstenstreifen, der hauptsächlich von Nomaden bewohnt wird, die mit ihren Herden von Oase zu Oase ziehen. Die einzigen festen Siedlungen der Westsahara waren zu diesem Zeitpunkt spanische Handels- und Militärstützpunkte.

Marokko rechnete sich daher gute Chancen aus, seine Rechte auf dieses „Niemandsland“ bestätigt zu erhalten.
Der Internationale Gerichtshof entschied jedoch, daß die Bewohner dieses Wüstengebietes zu entscheiden hätten, welcher Herrschaft sie unterstellt sein wollten. Der Gerichtshof schrieb ein Referendum vor. Auf dieses wartet die Westsahara seither, also seit 1975.

I.6. Die Polisario und ihr Papierstaat

Die Polisario (Volksfront zur Befreiung der Westsahara) bzw. ihre Vorläuferorganisation wurde Ende der 60-er Jahre gegründet, gegen die spanische Kolonialmacht. Damals wurde die Bewegung von Marokko unterstützt. Viele politische und militärische Führer der Polisario wuchsen in Marokko auf und gingen dort zur Schule. Das marokkanische Königshaus verfolgt die Polisario daher – jenseits der staatlichen Ansprüche – mit besonderer persönlicher Hartnäckigkeit: Es betrachtet die Sahrauis als Schlangen, die es an seinem Busen genährt hat.

Der heutige Generalsekretär und Präsident der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS), Brahim Ghali, begann jedoch seine Karriere bei den Hilfstruppen der spanischen Kolonialmacht. Viele künftige Kämpfer der Polisario erhielten dort ihre militärische Ausbildung. In der Endphase der Kolonialzeit kehrten sie die Waffen um und nutzten sie zur Bekämpfung der Spanier, die ihnen personell kaum etwas entgegensetzen konnten, da sie sich größtenteils auf die einheimischen Hilfskräfte gestützt hatten.
Nach dem Aufstand von Zemla 1970, Scharmützeln und fruchtlosen Verhandlungen mit Spanien wurde die Polisario 1973 gegründet, mit dem Ziel, aus dem spanischen Kolonialgebiet einen eigenen Staat zu machen. Damit geriet die Polisario in Gegensatz zu Marokko, das seinen Anspruch auf das Territorium gefährdet sah. Der „Grüne Marsch“ richtete sich in erster Linie gegen die Polisario, mit Spanien war Marokko damals bereits einig bezüglich der Überlassung des Territoriums.

Nach dem Abzug Spaniens rief die Polisario im Februar 1976 einen eigenen Staat aus, die DARS. Bis heute befindet sich dessen Regierung im Exil im algerischen Tinduf.

Während des Kalten Krieges hatte die von Algerien, Kuba und der SU unterstützte Polisario wenig Freunde unter den westlichen Regierungen. Nach 1990 hingegen war der Konflikt völlig unwichtig, und Marokkos Regierung war gut Freund mit vielen europäischen Regierungen und den USA. Die Polisario wird heute nur mehr von Algerien aktiv unterstützt, das sich damit eine Grenzschutz-Truppe gegen Marokko sichert und die Option aufrechterhält, vielleicht doch einmal einen Zugang zum Atlantik zu erhalten.
Von den 82 Staaten, die die DARS anerkannten, zogen die meisten dank der diplomatischen Bemühungen Marokkos inzwischen diese Anerkennung zurück. Nur 36 Staaten erhalten die Anerkennung aufrecht, darunter verschiedene afrikanische Staaten, der Iran, Syrien, Mexiko, Bolivien, Kuba, Laos, Vietnam und Nordkorea.

Nachdem die Polisario einige Erfolge gegen das zunächst auch noch beteiligte Mauretanien erzielen konnte, zog dieses sich 1979 zurück und überließ Marokko auch noch den Südstreifen der Westsahara, den es vorher besetzt hatte.

Fortsetzung: II. Marokko

Abzug aus Afghanistan

KREUZWEG DER KULTUREN UND FRIEDHOF DER IMPERIEN

„Biden rechtfertigt den militärischen Rückzug aus Afghanistan: »Es ist Zeit, den längsten Krieg zu beenden«.
Joe Biden wird nicht als derjenige Präsident in die Geschichte eingehen, der den längsten Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten gewonnen hat, sondern als derjenige, der ihn 20 Jahre später beendete, – überzeugt, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als einfach auszusteigen.
Der Präsident kündigte diesen Mittwoch den bedingungslosen und vollständigen Abzug der Truppen aus Afghanistan in einer bitteren Rede an, in der er davon ausging, dass deren weitere Anwesenheit keine »andere Ergebnisse« als die bisherigen erwarten lasse. »Es ist Zeit für die amerikanischen Truppen, nach Hause zu gehen«, sagte er. Die Entscheidung zeigt die geopolitische Wende von Biden, die die internen Herausforderungen des Landes und die damit verbundenen externen Bedrohungen priorisiert, die heute eher in China verortet werden als in Afghanistan oder im Nahen Osten.“ (El País, 14.4.)

Der Vergleich mit dem Vietnamkrieg drängt sich auf.

Aber man sollte die Unterschiede nicht außer acht lassen: Damals, während des Kalten Krieges, war es gelungen, das Zerwürfnis zwischen der Sowjetunion und China zu vertiefen. Die Gefahr eines kommunistischen Vormarsches in Indochina und anderswo war vorbei: Die beiden kommunistischen Mächte bekämpften einander über ihre Stellvertreter, und auch über ihre Schwesterparteien in der kapitalistischen Welt.
So konnten es sich die USA leisten, Vietnam aufzugeben – wenngleich dieser Rückzug als Niederlage angesehen wurde, im In- und Ausland.

Heute hingegen rivalisieren nur mehr Großmächte ohne besonderen politischen Anspruch. Auch China präsentiert sich nicht mehr als Vertreter der ländlichen Volksmassen, die vom Imperialismus unterdrückt werden. Es geht offen um die Aufteilung der Welt, das Abstecken von Claims, Gewinnen von Verbündeten und Einfluß.

Der Abzug der USA – und in ihrem Schlepptau der restlichen Truppen der „internationalen Staatengemeinschaft“, also der US-Verbündeten – ist ein Eingeständnis des Mißerfolges. Die USA tun damit kund, daß sie nicht mehr imstande sind, die ganze Welt oder zumindest bedeutende Teile davon auf ihre Maßstäbe zu verpflichten.
Während der Rückzug der USA aus Somalia zwar auch eine Art Aufgabe war, aber doch damals klar war, daß andere Staaten auch kein Interesse an dieser Weltgegend haben würden, ist das bei Afghanistan nicht so. Vor allem Rußland hat Interesse an einer Regelung der Verhältnisse in Afghanistan und führt seit einiger Zeit diesbezüglich Gespräche mit Vertretern der Taliban.

Ebenso ist der Iran interessiert an seinem Nachbarland und einer Ausweitung seines Einflusses ebendorthin.

Ein von Besatzungstruppen befreites und vom Iran und Rußland unterstütztes Afghanistan könnte sich möglicherweise alten Unrechts erinnern und die Durand-Linie, die Grenze zu Pakistan, in Frage stellen. Pakistan ist daher derjenige Staat, der am wenigsten ein Interesse an einem Wiederaufbau Afghanistans hat.

„Die Regierung von George W. Bush startete die Offensive gegen Afghanistan als Reaktion auf die traumatischen Angriffe vom 11. September 2001 auf die Twin Towers und das Pentagon, ein Angriff von Al Qaida, einer von den Taliban geschützten Terroristengruppe. Bis zum nächsten 11. September, 20 Jahre danach, hoffen die Vereinigten Staaten, den Abzug aus dem Land in einem koordinierten Rückzug mitsamt ihren NATO-Verbündeten abgeschlossen zu haben. Die Taliban wurden nicht besiegt, Al-Qaida nicht für immer liquidiert. Das einzige, was geschehen ist, ist daß Zeit vergangen ist.“ (ebd.)

Das ist natürlich eine verkehrte Darstellung. Seit dem Einmarsch der USA in Afghanistan 2001 sind Tausende, vermutlich Zehntausende Zivilisten und Widerstandskämpfer durch die Soldaten der Koalition getötet worden, durch Bombardements, Drohnenangriffe, bei Kämpfen oder durch extrajudikale Hinrichtungen. Mehrmals wurden ganze Hochzeitsgesellschaften durch Bombardements vernichtet. Ebenso geht die Zahl der Verwundeten und Krüppel in die Zehntausende.
Dazu kommen noch die gefallenen afghanischen Regierungssoldaten und ca. 3700 Tote auf Seiten der westlichen Koalition.
Der vorige afghanische Präsident, Hamid Karzai, hat Präsident Trump vorgeworfen, Afghanistan als Testgelände für Militärtechnologie zu verwenden, nachdem dieser eine Riesenbombe auf den Süden Afghanistans abwerfen gelassen hatte. (Die Welt, 14.4. 2017)
Auch vor Trumps Amtsantritt wurde jede Menge von Bomben, Minen, Drohnen usw. in Afghanistan eingesetzt. All dieses Zeug, zusammen mit den Waffen und Sprengkörpern, die schon von den sowjetischen Truppen und dem späteren afghanischen Bürgerkrieg übriggeblieben sind, machen das Land zu einem großen Misthaufen für militärischen Abfall.

Die Kosten der Besetzung Afghanistans sind beachtlich:

„Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums beliefen sich die gesamten Militärausgaben in Afghanistan (von Oktober 2001 bis September 2019) auf 778 Mrd. USD.
Darüber hinaus gab das US-Außenministerium – zusammen mit der US-amerikanischen Agentur für internationale Entwicklung (USAID) und anderen Regierungsbehörden – 44 Mrd. USD für Wiederaufbauprojekte aus.
Damit belaufen sich die Gesamtkosten – basierend auf offiziellen Daten – zwischen 2001 und 2019 auf 822 Mrd. USD, enthalten jedoch keine Ausgaben für Pakistan, das die USA als Basis für Operationen im Zusammenhang mit Afghanistan verwenden.“ (BBC News, 15.4.)

Die Kosten für die USA und ihre Verbündeten haben sich auch deshalb nach 2014 erhöht, weil nach der Krimkrise die Zusammenarbeit mit Rußland endete, also keine logistische Unterstützung von dort mehr stattfinden konnte.
Die Zusammenarbeit mit Usbekistan endete 2005, nachdem die usbekische Regierung den Vertrag mit den USA zur Benutzung des Stützpunktes in Chanabad gekündigt hatte, weil sie den USA Einmischung in die inneren Angelegenheiten Usbekistans vorwarfen.
Auch eine halboffizielle Zusammenarbeit mit Turkmenistan endete abrupt 2008, als die turkmenische Regierung den USA die Tür wies. (nd, 27.7. 2010)
2014 und sicher nicht ohne Absprache mit Moskau mußten die USA 2014 schließlich auch den Stützpunkt in Manas in Kirgisien räumen. (TAZ, 3.6. 2014)

Ein Hintergrund des Abzugs aus Afghanistan ist also die schrittweise Verdrängung der USA aus den mittelasiatischen Nachfolgestaaten der SU, der durch die chinesische Initiative der „Neuen Seidenstraße“ verstärkt wurde.

Die Zukunft Afghanistans ist unklar, aber es sieht nicht gut aus für seine Bevölkerung.

Das ist allerdings leider nichts Neues.

Ökumene, Teil 4

VERSUCHE ZU EINER GEMEINSAMEN LINIE IM SUNNITISCHEN ISLAM

Ein sunnitischer Beinahe-Papst

Eine der renommiertesten Institutionen der islamischen Welt ist die Azhar-Universität und -Moschee in Kairo.
Im 10. Jahrhundert von den schiitischen fatimidischen Kalifen gegründet, als neues Zentrum des Islam – nach Damaskus und Bagdad – ist sie eine der ältesten Stätten islamischer Gelehrsamkeit der Welt. Ihr Vorstand, der „Scheich al-Azhar“ ist eine der höchsten Autoritäten des Islam. Seine Autoriät wird allerdings durch die Konkurrenz der muslimischen Staaten eingeschränkt. Für Ägypten ist die Azhar immer ein Mittel zur Einflußnahme in der islamischen Welt gewesen, aber neben den Geldmitteln der Saudis schaut sie eben recht alt aus. In Ägypten selbst mußte ihr Scheich seit geraumer Zeit den Spagat schaffen zwischen den Muslimbrüdern, Al-Quaida-Anhängern und den verschiedenen Militärführungen seit Nasser.

Der jetzige Scheich der Azhar, Achmad Al-Tayyib, hat genug von diesem Lavieren zwischen allen möglichen Machtzentren und Bewegungen, das ihn letztlich bei allem Ansehen zu einem faktischen Hampelmann der weltlichen Mächte, konkret der ägyptischen Regierung, degradiert. Er baut seine jetzige Stellung auf der wechselseitigen Unterstützung der Regierung Al-Sisi auf, hat aber Ambitionen, seinen Einfluß auszudehnen und den Saudi-Arabiens zurückzudrängen. Das wäre natürlich der ägyptischen Führung auch sehr recht.

… in Zusammenarbeit mit einem muslimischen Außenpolitiker …

So hat er 2016 bei einem Treffen islamischer Autoritäten in Groznyj teilgenommen, das von Ramzan Kadyrow organisiert worden war und wo diejenigen Vertreter des Islams eingeladen worden waren, die Wahhabismus, Salafismus und andere Strömungen des politischen Islams ablehnen.
Um die Person und die Rolle Kadyrows zu verstehen, muß man wissen daß sein Vater, Achmad-Hadschi Kadyrow, seinerzeit die Unabhängigkeit Tschetscheniens von Rußland unterstützt hatte, aber später, als der Salafismus Saudi-Arabiens sich in Tschetschenien breitzumachen begann, die Seiten wechselte und dafür mit seinem Leben bezahlte.
Ramzan Kadyrow macht gerne Außenpolitik und hat dafür auch die Unterstützung Moskaus. Zusammen mit Raschid Dostum plante er vor einiger Zeit ein Afghanistan nach den USA. Ebenso wie diese Konferenz sind dergleichen Treffen und Pläne für ihn ein Versuch, einen muslimischen Gegenpol gegen den Einfluß Saudi-Arabiens aufzubauen. Der Ausgang dieser Politik ist ungewiß, aber der Papst nimmt diese Art von Initiativen zur Kenntnis und möchte sich einklinken.

… und dem christlichen Oberhäuptling

2019 hat Al-Tayyib sich mit Papst Franziskus in Abu Dhabi getroffen und eine „Erklärung der Brüderlichkeit“ unterzeichnet.

Den Ort sollte man sich merken. Auch die Vereinigten Emirate sind offensichtlich die Dominanz Saudi-Arabiens satt und wollen aus deren Schatten heraustreten, ohne in eine offene Konfrontation mit Riad zu treten. Deswegen die Anerkennung Israels und die Organisierung der Gespräche zwischen den USA und den Taliban, und auch das Treffen zwischen dem Papst und Al-Tayyib.

Februar 2019, Abu Dhabi

Al-Tayyib freut sich auch über die Irakreise des Papstes, weil er sich davon Stärkung seiner eigenen Autorität erhofft. Wenn es schon keinen Papst im sunnitischen Islam gibt, so macht zumindest die Anerkennung durch ein christliches Oberhaupt und eine möglichst breite Koalition anderer muslimischer Notabeln einen guten Eindruck:

„Die Reise von Papst Franziskus in den Irak, in deren Verlauf er auch den Schiitenführer Ali al-Sistani treffen wird, hat den Segen des (sunnitischen) Großimams von al-Azhar: »Die historische Reise meines Bruders @pontifex_de in den Irak sendet eine Botschaft von Frieden, Solidarität und Unterstützung für alle Iraker«, schreibt Ahmed al-Tayyeb, der als höchste sunnitische Lehrautorität gilt, an diesem Freitag auf seinem Twitter-Account.
Er bete zu Allah um Erfolg für den Besuch »und dass seine Reise das gewünschte Ergebnis haben wird, auf dem Pfad der menschlichen Geschwisterlichkeit weiterzugehen.«
Schon lange pflegen Papst Franziskus und der Großscheich al-Tayyeb einen fruchtbaren und durch Respekt geprägten Dialog.“
(„Ein geschwisterlicher Tweet aus Kairo“, Vatican News, 5.3. 2021)

Seinerzeit kam es sogar zu schriftlichen Ergebnissen:

„Papst Franziskus und Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb haben am Montag in Abu Dhabi eine historische gemeinsame Erklärung zum Thema »Menschliche Brüderlichkeit« unterzeichnet. Einige Auszüge aus dem Dokument“ finden sich hier.
————-
Alles in allem eine schwierige Aufgabe – mit den Mitteln des Glaubens seine unerwünschten Praktiken zu bekämpfen:

„Der Gegenstand des Mohammedanismus ist rein intellektuell, kein Bild, keine Vorstellung von Allah wird geduldet: Mohammed ist Prophet, aber Mensch und über des Menschen Schwächen nicht erhaben. Die Grundzüge des Mohammedanismus enthalten dies, dass in der Wirklichkeit nichts fest werden kann, sondern dass alles tätig, lebendig in die unendliche Weite der Welt geht, so dass die Verehrung des Einen das einzige Band bleibt, welches alles verbinden soll.
In dieser Weite, in dieser Macht verschwinden alle Schranken, aller National- und Kastenunterschied; kein Stamm, kein politisches Recht der Geburt und des Besitzes hat einen Wert, sondern der Mensch nur als Glaubender. Den Einen anzubeten, an ihn zu glauben, zu fasten, das leibliche Gefühl der Besonderheit abzutun, Almosen zu geben, das heißt, sich des partikularen Besitzes zu entschlagen: das sind die einfachen Gebote; das höchste Verdienst aber ist, für den Glauben zu sterben, und wer in der Schlacht dafür umkommt, ist des Paradieses gewiss.“
(G.F.W. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Der Mohammedanismus)