Serie „Lateinamerika heute“. Teil 1: Mexiko

AUFBRUCH ZU NEUEN UFERN?

Um die Lage heute in Mexiko zu verstehen, ist es hilfreich, sich meinen alten Artikel zu Mexiko 1995 anzuschauen:

1. Kredit und Entwicklung
Mexiko durchlief nämlich damals mit der sogenannten Tequila-Krise ein ähnliches Problem, wie es manche EU-Staaten seit dem Anfang der Finanzkrise 2008 entwickelt haben: Es war durch Abzug von Finanzkapital zahlungsunfähig und wurde mit IWF-Krediten gestützt und „saniert“.
Die Tequila-Krise bedeutete für Mexiko das Ende des auf internationalen Kredit gegründeten Wachstumsmodells. Viele Staaten Lateinamerikas durchliefen diesen Prozeß. (Dazu später einmal in der gleichen Serie.)
Für Mexiko bedeutete es, daß es sich umorientieren mußte. Das auf Kredit gegründete Wachstumsmodell war gestorben. Die Krise von 1994 ff. und die an die Stützung geküpften IWF-Bedingungen führten zu einer großen Zerstörung von Produktion und Existenzmöglichkeiten der Mexikaner und verstärkten den Migrationsstrom in die USA. Da aber nicht alle auswandern können, drängte diese Krise immer größere Teile der Bevölkerung in die Kriminalität. Drogenhandel, Schlepperwesen und Menschenhandel erwiesen sich quasi als existenzmäßige Auffangstationen der ihrer sonstigen Erwerbsmöglichkeiten beraubten Bevölkerung. Waffenbesitz und Gewalt wurden zu Existenzgrundlagen. Die mexikanische Bevölkerung verrohte. Der Lustmord wurde zum Ventil der frustrierten Lebensperspektiven.

Der Drogenkonsum stieg. War Mexiko früher vor allem Transitland für Kokain aus Südamerika und Heroin aus Asien, so entwickelte es zusehends auch zum aufnahmefähigen Markt für harte Drogen. Die Volksgesundheit litt nicht nur unter dem steigenden Drogenkonsum, sondern auch unter anderen Kompensationsmethoden: Frustfressen setzte sich landesweit durch. Mexiko ist weltweit im Spitzenfeld der Fettleibingen.

Dies um so mehr, als die Entwicklungen in der Landwirtschaft die Produktion von cash crops zum Hauptziel erhoben. Die Agrarprodukte sollen dem Export und der Erwirtschaftung von Devisen dienen, nicht der Ernährung der Bevölkerung. Über den Agrarkredit und auch weniger „friedliche“ Methoden wurden Bauern ihres Landes beraubt und die seinerzeitige Landreform unter dem Präsidenten Cárdenas dadurch rückgängig gemacht, um dem Agrarkapital Geschäftsmittel zu verschaffen.
Das hatte unter anderem zur Folge, daß das Grundnahrungsmittel der ärmeren Bevölkerungsschichten, der Kukuruz, immer weniger angebaut wurde. Kukuruz ist inzwischen ein Importprodukt. Erstens hat er sich dadurch sehr verteuert, und zweitens führten etwaige Abwertungen des Peso zu Hungerrevolten, weil sich das (einstige?) Grundnahrungsmittel noch weiter verteuert. Inzwischen werden viele Tortillas aus Weizenmehl gemacht – auch ein auf Importen beruhendes Getreide, der ebenfalls Preisschwankungen unterworfen ist.

Im benachbarten Guatemala hingegen wird der Mais zwar angebaut, aber kaum mehr verzehrt, weil er auch zu einer cash crop geworden ist – für den Export nach Mexiko!

„Mexiko durchlebt die schlimmste Welle der Gewalt seit der Revolution. Jeden Tag werden 85 Menschen ermordet, und alle 2 Stunden verschwindet jemand und taucht nicht mehr auf. Im letzten Jahr wurden 31.174 Menschen ermordet, hauptsächlich durch Schußwaffen, 6.615 mehr als im Vorjahr (ein Antieg von 27 %), und mehr als das Doppelte von vor 8 Jahren.) Auf 100.000 Einwohner kommen pro Jahr 25 Morde. Die Tendenz geht dahin, daß 2018 ein neuer Rekord erreicht werden wird. Die Atomisierung der Kartelle, die Verhaftung von Anführern und die Anwesenheit der Armee in den Straßen hat das Wespennest aufgewühlt und die Zahl der Morde ansteigen lassen.
Während zwischen 2007 und 2012, in den 6 Jahren der Präsidentschaft von Felipe Calderón, 6 Personen pro Tag verschwanden, so waren es unter Peña Nieto (2012-2018) mehr als das Doppelte, nämlich 13 pro Tag. Tamaulipas hat nicht nur eine der höchsten Mordraten des Landes, es steht auch an erster Stelle bei der Zahl der Verschwundenen. Im letzten Jahrzehnt verschwanden dort über 6000 Personen, nur 200 von ihnen tauchten wieder auf.“ (El País, 6.8. 2018)

Meldungen dieser Art begleiten die Situation in Mexiko seit Jahren. Man gewinnt den Eindruck, daß dieses ständige Aufzählen von Mordraten das Publikum daran gewöhnen soll, daß es einfach so zugeht in diesem Land. Die Präsidenten werden verglichen, wie sich sich an dieser „Herausforderung“ bewähren, und nach Ende ihrer Amtszeit wird ihnen beschieden, auch sie seien „gescheitert“. Bei dieser Art von Berichterstattung fällt das völlige Fehlen jeder Erklärung und auch jeglichen Klärungsbedürfnisses auf.


2. Die Gewaltfrage
Der Gewaltapparat des Landes wurde zusehends zum verlängerten Arm des organisierten Verbrechens. Die sich bildenden Kartelle zwangen die lokalen Behörden mit einer Mischung aus Bestechung und Erpressung zur Kooperation. Ebenso wurden Polizisten und Gefängnispersonal gefügig gemacht. Attentate, Entführungen und das Auslöschen ganzer Großfamilien und Hochzeitsgesellschaften waren die Mittel dieses von der Drogenmafia in Gang gesetzten „Erziehungsprogrammes“.

Die zunehmende Übernahme des Staatsapparates durch den Drogenhandel führte zu einer ziemlichen Einmischung des nördlichen Nachbarn, des Haupt-Zielmarktes USA, in die mexikanischen Verhältnisse. US-Beamten der Antidrogenbehörde DEA lieferten sich Schlachten und Hubschrauberverfolgungen mit den Drogenhändlern. US-Polizisten nahmen extrajudikale Hinrichtungen und Entführungen in die USA vor, wenn ihre Auslieferungsansuchen nach Mexiko erfolglos blieben.

Unter dem Präsidenten Felipe Calderón wurde 2006 ein „Krieg gegen den Drogenhandel“ verkündet und die Bundespolizei und das Militär eingesetzt, um diese Symbiose zwischen den lokalen Sicherheitskräften und den Drogenkartellen zu zerstören und das Gewaltmonopol des Staates wiederherzustellen.

Da sich an den sozioökonomischen Grundlagen nichts änderte – ein Großteil der Mexikaner hat nach wie vor keine andere Existenzmöglichkeit als das Anheuern bei irgendwelchen Drogenbossen – kam, was kommen mußte, und heute sind die Militärs und die Bundespolizisten genauso mit den Drogenhändlern verbündet wie früher die lokale Polizei.
Wenn sie sich nicht überhaupt als Rekrutierungspotential erweisen: Die Gruppe „Los Zetas“ besteht aus ehemaligen Angehörigen der Streitkräfte, die noch dazu eine Spezialausbildung zur Drogenbekämpfung in den USA erhalten hatten. Sie machen als Drogenbande einen gleich gefährlichen, aber besser bezahlten Job als bei der Bekämpfung des Drogenhandels und brachten wertvolles Spezialwissen über die Vorgangsweise und Methoden der staatlichen Sicherheitskräfte in die Drogenhandelsszene ein.
Die Methode, die Kartelle zu bekämpfen, indem die jeweiligen Anführer erschossen oder verhaftet wurden, führte nicht zu einer Beruhigung der Lage, sondern zum genauen Gegenteil. Wie bei einer Hydra traten mehrere Nachfolger auf, die sich gegenseitig und mit anderen Banden das Territorium streitig machten – und weiterhin machen.

Gegen die Willkür der Drogenhändler, der Militärs und der Polizei wurden in manchen Bundesstaaten örtliche Selbstverteidigungskomitees ins Leben gerufen, die ihr Territorium mit Waffengewalt verteidigen und sowohl den Drogenkartellen als auch der Staatsgewalt ein Dorn im Auge sind. So kämpft heute in Mexiko in vielen Gebieten jeder gegen jeden, und die Anzahl der Toten und Entführten steigt von Jahr zu Jahr.

Die Politik des letzten Präsidenten war von einer gewissen Resignation geprägt. Die Regierung versuchte eine Art „Gewaltenteilung“: Ein Teil des Staatsgebietes wird abgeschrieben, das sind No-Go-Areas, wo sich der wohlhabendere Teil der Bevölkerung und das ausländische Kapital nicht hinbegeben, und Schießereien, Gemetzel und die Entdeckung von Massengräbern an der Tagesordnung sind.
Daneben gibt es Enklaven, wo investiert wird, wo Industrie betrieben wird, wo gute Verkehrsverbindungen herrschen und wo der Tourismus blüht. Querétaro zum Beispiel ist eine Boomstadt, die sich einer ständig wachsenden Flugzeug- und Luftfahrtsindustrie erfreut, Puebla ein Zentrum der Auto- und Textilindustrie.

Aber auch diese Enklaven sind bedroht. Während das seinerzeit berühmte Acapulco inzwischen von jedem gemieden wird, der es sich leisten kann, und eine der höchsten Mordraten Mittelamerikas aufweist, so wurde auch das touristisch ausgebaute Cancun in Yucatan schon Schauplatz von Schießereien, und auch die Hauptstadt wird schon vermehrt von Killerkommandos aufgesucht.
Das ganze Mord- und Totschlag-Szenario wird noch zusätzlich verschärft durch die Einwanderung aus Mittelamerika, wo es in manchen Staaten noch schlimmer zugeht als in Mexiko.
Das ist die Situation, die der neue Präsident Mexikos vorfindet.


3. Der politische Werdegang von Andrés Manuel López Obrador (AMLO)

a) Grundeigentum, Guerilla und indigene Selbstbestimmung
Die politische Karriere des jetzigen Präsidenten ist sehr verbunden mit der mexikanischen Landfrage und dem Aufstieg der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN.

Im heutigen Lateinamerika gab es vor dem Aufkreuzen der spanischen Kolonialmacht kein Eigentum an Grund und Boden, weshalb die spanischen Kolonialherren das Land als herrenlos einstuften und unter die Eroberer verteilten. Die einheimische Bevölkerung wurde versklavt oder als eine Art Leibeigene und Taglöhner auf den Haciendas der neuen Herren beschäftigt. Sie besaßen nichts, nicht einmal die bescheidenen Behausungen, in denen sie fortan lebten.

Das war eine der Triebfedern der mexikanischen Revolution von 1910 ff. „Land und Freiheit“ war die Losung der Landlosen, die sich unter der Fahne des Bauernführers Emiliano Zapata scharten. Nach dessen Ermordung und den Machtkämpfen, denen auch einige mexikanische Präsidenten zum Opfer fielen, kam es unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas zu einer Landreform, bei der die bäuerliche Bevölkerung mit Kleinparzellen versehen wurde, den Ejidos. Diese Parzellen waren nicht veräußerlich und wurden regelmäßig nach Bedürfnis neu verteilt. Dadurch wurde eine Art kleinbäuerliche Landwirtschaft möglich, die Mexiko einige Jahrzehnte des sozialen Friedens und einer gewissen Prosperität ermöglichte. In den 80-er Jahren wurde diese landwirtschaftliche Struktur jedoch von den mexikanischen Eliten als Hindernis für die Entwicklung eines Agrarkapitalismus’ ins Visier genommen, der ordentliche Gewinne und Exporterfolge in diesem Sektor verhinderte.

Unter dem Präsidenten Salinas de Gortari (1988-94) wurde die Unveräußerlichkeit dieser Ejidos aufgehoben. Dann ging alles relativ schnell: Mit einer Mischung von Agrarkredit und Todesschwadronen wurden die Besitzer dieser Ejidos ihres Landes beraubt und dadurch in die Städte getrieben. Mexiko hat heute wieder eine große landlose Bevölkerung, ein von Jahr zu Jahr gesteigertes Wasserproblem und eine Landwirtschaft, die auf Teufel-komm-raus für den nordamerikanischen Markt produziert, sogar Karotten und ähnliche Grundnahrungsmittel.

Im südlichsten Bundesstaat, in Chiapas, wo die Guerilla über ein Rückzugsgebiet in Form des Lacandona-Urwalds und der guatemaltekischen Grenze verfügte, kam es 1994 zu Aufständen und Landbesetzungen. Die EZLN proklamierte sich zum bewaffneten Arm der eigentumslosen Nachfahren der Urbewohner und forderte Land – und Mitbestimmung auf lokaler Ebene. Nach Militäreinsätzen und Verhandlungen kam es unter dem Präsidenten Vicente Fox 2003 zur Gründung eines Amtes für die „Entwicklung der eingeborenen Völker“. Sie ersetzte eine Vorgänger-Organisation und sollte zurückgebliebene Regionen fördern, ohne die Landfrage zu berühren.
In Gegenden, wo für das Agrarkapital aus Gründen der Bodenbeschaffenheit und der Infrastruktur nichts zu holen ist, wurden einige Landverteilungen vorgenommen. Aber die Ausrichtung, der sich auch die EZLN beugte, ging dahin, die sozialen Probleme zu einer Art Folklore zu definieren, und die Eigentumsfrage vom Tisch zu bekommen.

b) Die mexikanische Parteienlandschaft
Als eine Konsequenz der Machtkämpfe und des Bürgerkrieges, die die mexikanische Revolution hervorbrachte, und auch von der Russischen Revolution inspiriert, gründete der Präsident Elías Calles 1928 die Nationale Revolutionspartei, die sich später in Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) umbenannte und das Land als Einheitspartei bis in die 90-er Jahre regierte.

Mexiko kam dadurch ohne die Militärdiktaturen der Region aus, und die PRI hatte das Land fest im Griff. Die 1939 gegründete Oppositionspartei PAN kam lange nicht zum Zug, da die Staatspartei über einen großen staatlichen Sektor in der Erdöl- und Produktionsgüter-Industrie und ein darauf beruhendes Klientel-System bei den Wahlen die Bevölkerung für sich mobilisieren und auch die Wahlurnen kontrollieren konnte.

Nach dem Tlatelolco-Massaker begann die Einheit der Partei zu bröckeln, die Machtkämpfe innerhalb der Partei nahmen zu, und die Öffnung gegenüber dem Weltmarkt führten in der Folge zu einem politischen und ökonomischen Reformprozeß, in dessen Zuge die PAN erst auf regionaler und schließlich 2002 auf nationaler Ebene die PRI in die zweite Reihe verweisen konnte.

In den Reihen der PRI begann auch López Obrador seine politische Karriere, zunächst als Lokalpolitiker seines Bundesstaates Tabasco, und bei der Vorgängerbehörde für Eingeborenen-Fragen. Er schloß sich einem reformkritischen Flügel der PRI an, der sich gegen die Privatisierungen der 80-er Jahre richtete. Als diese Richtung bei den Präsidentschaftswahlen 1988 durch massiven und öffentlich wahrnehmbaren Wahlbetrug gegen den neoliberalen Kandidaten Salinas de Gortari unterlag, gründeten sie die Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Als Kandidat der PRD wurde López Obrador nach vielen Kontroversen 2000 Bürgermeister von Mexiko City. Nach einer Schmutzkübel-Kampagne und Anschuldigungen der Wahlmanipulation unterleg er bei den mexikanischen Präsidentschaftswahlen 2006 äußerst knapp dem Kandidaten der PAN Calderón. Er gründete ein Schattenkabinett, das Calderón in den nächsten Jahren zu einigen kosmetischen Zugeständnissen nötigte, um der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, wie z.B. eine Preis-Obergrenze für Tortillas, das mexikanische Grundnahrungsmittel.
Mit einer anderen Partei trat AMLO als Präsidentschaftskandidat zu den Wahlen 2012 an und behauptete abermals, nur aufgrund von Wahlfäschung dem PRI-Kandidaten Peña Nieto unterlegen zu sein.
Es ist wahrscheinlich, daß sich die Kandidaten von 2006 und 2012 bei ihren Manipulationen des Rückhaltes der USA sicher sein konnten, die einen weiteren sperrigen lateinamerikanischen Präsidenten – noch dazu vor ihrer Haustür – unbedingt verhindern wollten.
In diesem Jahr hat es López Obrador im 3. Anlauf endlich geschafft. Dazu hat sowohl die innen- wie die außenpolitische Situation beigetragen. In Lateinamerika haben Regierungswechsel stattgefunden, einige US-kritische Regierungen wurden abgewählt, und die neue US-Führung setzt darauf, daß jeder mexikanische Präsident ihnen sowieso gefügig sein muß.


4. Was tun?
Der Zustand Mexikos ist in jeder Hinsicht trostlos. Die interne Sicherheitslage ist, gelinde gesprochen, unerfreulich. Im Außenhandel ist Mexiko im Freihandelsabkommen NAFTA eingebunden, das von den USA in Frage gestellt wird. Außerdem droht die völlige Schließung der Grenze nach Norden, was die Situation noch zusätzlich verschärft, da jetzt nicht nur Mexikaner, die im Land keine Existenzmöglichkeiten sehen, sondern auch Migranten aus Mittelamerika in Mexiko festsitzen.
López Obrador plant als erste Maßnahme eine Amnestie, um das völlig überlastete Gefängnissystem in den Griff zu kriegen, und eine Art nationaler Versöhnung in die Wege zu leiten.
Aber die Grundlagen der Misere Mexikos werden schwer in den Griff zu kriegen sein: Sie lauten: Kapitalismus, Weltmarkt, Grundeigentum, Geld (NAFTA ist eine Art Wechselkurs-Stützungs-Garantie,) und imperialistische Staatenkonkurrenz.

Es ist übrigens bemerkenswert, wie wenig Aufhebens die Medien über den Wahlsieg von AMLO gemacht haben.
Es scheint ein Bewußtsein zu geben, daß er wenig Spielraum hat, um Dinge grundlegend zu ändern.
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siehe auch:

Flüchtlinge in Mittelamerika – DIE MAUER BEGINNT IM SÜDEN (Februar 2017)

Radiosendung zu Mexiko, Schulden und Gewalt in 2 Teilen (September/Oktober 2018)
https://cba.fro.at/383485
https://cba.fro.at/385401

Syrien geteilt oder ungeteilt?

IST DER KRIEG IN SYRIEN GEWONNEN; UND WENN JA; VON WEM?
Es ist Zeit, wieder einmal einen neuen Thread zu Syrien zu starten.
Halten wir einmal den derzeitigen Stand der Dinge fest:
Damaskus und Ghuta sind offenbar von allen Widerstandsnestern gereinigt und die syrische Regierung hat die Kontrolle über diese Gegenden, ebenso über Aleppo und den Westen Syriens.
Im Südwesten, an der Grenze zu Jordanien gibt es seit Wochen Kämpfe, um dort die staatliche Autorität wiederherzustellen.
Der Status der Golanhöhen ist ungeklärt.
In der Provinz Idlib sitzen weiterhin von der Türkei unterstützte Islamisten.
Im Nordwesten hat die Türkei Gebiete besetzt und Dschihadisten angesiedelt.
Im Nordosten treiben kurdische Selbstverwaltungsautoritäten, kurdische und andere Milizen und US-„Berater“ auf Stützpunkten ein undurchsichtiges Spiel.
Im Osten, an der Grenze zum Irak, sind noch Reste des IS aktiv.
Was die EU dort macht, und dort vorhat, ist völlig unklar. Aber Syrien steht weiterhin unter Embargo.
Stand Juli 2018.

Neues von der Flüchtlingsfront

STREIT IM GEMEINSAMEN HAUS EUROPA
Erinnern wir uns doch einmal an die Ereignisse der letzten 3 Jahre zurück, soweit sie die Flüchtlinge betreffen.
„Im Jahr 2015 beantragten 1.322.825 Menschen in den Ländern der Europäischen Union Asyl; 2016 waren es 1.259.955. 2017 hatte sich die Zahl mit 649.855 Erstanträgen fast halbiert. Weltweit waren 2015 nach Angaben des UNHCR 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht.“ (Wikipedia, Flüchtlingskrise in Europa ab 2015, mit Berufung auf Eurostat, NZZ und UNHCR)
Die Flüchtlingsströme von 2015
Ein Blick zurück: Im Verlauf der Monate März bis August kamen mehr als 600.000 Flüchtlinge über Griechenland und die Balkanroute in die EU, wo sie teilweise die Transportrouten blockierten, und Frauen auf der Straße Kinder bekamen. Ungarn, Slowenien Österreich und Kroatien bauten entweder Zäune oder beorderten das Militär zur Grenzkontrolle oder beides – wodurch die Schengen-Vereinbarungen über das freie Grenzregime gefährdet waren.
Den Höhepunkt dieses Chaos, wo alle möglichen Innenminister japsend Statements vor laufenden Kameras abgaben und Tausende hilfsbereiter Menschen Essen und Decken zu Flüchtlingslagern, Bahnhöfen und Grenzstationen schleppten, bildete der Fund eines Tiefkühllasters auf der österreichischen Ostautobahn bei Parndorf mit 71 Toten am 26. August. Sie waren in dem hermetisch verriegelten Container, in den die Schlepper sie gepfercht hatten, erstickt.
Um diese Zustände in den Griff zu bekommen, verkündete die deutsche Bundeskanzlerin am 31. August 2015, daß Deutschland alle Flüchtlinge aufnehmen würde und die anderen Staaten sie doch bitte durchlassen sollten, wenn sie nach Deutschland wollten. Ihr Ausspruch „Wir schaffen das!“ wurde ihr von moralischen Gutmenschen zugutegehalten, von national und völkisch denkenden Mitbürgern und Politikern jedoch sehr übel genommen. Wie sich später herausstellte, hatte sie bezüglich der Fortsetzung dieser Aufnahmepolitik Vorstellungen, die sich nicht verwirklichen ließen. Sie wollte sich nämlich zur obersten Asylverwalterin der EU machen.
Das kurze und selektive Gedächtnis der medial und von Fake news geprägten öffenlichen Besprechung verdreht im Rückblick Ursache und Wirkung und wirft Angela Merkel vor, sie hätte durch ihre deplazierte Großzügigkeit den Flüchtlingsstrom erst verursacht.
Vergessen sind hierbei die seinerzeit regelmäßig ins Haus gelieferten Bilder von Flüchtlingsbooten im Mittelmeer, vor Booten und Menschen fast übergehender griechischer Inseln, überfüllte Züge in Ungarn, Flüchtlingschaos in Traiskirchen und die Toten von Parndorf.
Vor allem aber ist die Politik der EU in den vergangenen Jahren in Syrien, Afghanistan, Libyen und anderen Teilen Afrikas fein heraußen, und auch die mangelnde Unterstützung der EU-Mitgliedsstaaten gegenüber der UNHCR.
Nein, Angie ist schuld an allem!
EU-Einigkeit im September 2015: Quoten
Am 22. September 2015 wurde angeblich eine Einigung darüber erzielt, von der bis dahin fast einer angekommenen Million Flüchtlingen ganze 120.000 auf die EU-Staaten nach einem bestimmten Schlüssel zu verteilen.
Diese „Einigung“ war aber gar keine.
Erstens stimmten einige Staaten dagegen, andere enthielten sich der Stimme. Genaueres sickert seither zwar nach außen, aber schon damals waren offensichtlich eine beträchtliche Anzahl von EU-Staaten gegen diese Quotenregelung.
Zweitens war die vereinbarte Anzahl gegenüber den wirklich angekommenen und irgendwie aufzunehmenden Flüchtlingsmengen sowieso lächerlich. Aber sie war auch nur als Anfang einer Flüchtlingspolitik gedacht, im Zuge derer Deutschland sich zur Führungsmacht Europas aufschwingen und die Immigrationspolitik der EU dirigieren wollte. Dieser Plan ist, soviel kann man bereits sagen, gründlich in die Hose gegangen und Deutschland blieb auf den großzügig eingeladenen Flüchtlingen sitzen.
Drittens, und das war offenbar auch noch ein Zugeständnis an die widerspenstigen Partner, bezog sich diese Verteilungsmenge von 120.000 nur auf solche Flüchtlinge, die aus Staaten stammen, die eindeutig als Fluchtländer qualifiziert sind, weil die EU-Staaten von ihren Führungsmannschaften nicht viel halten: Syrien, der Irak und Eritrea. Sogar das von ständigen Attentaten und Kriegshandlungen erschütterte Afghanistan gilt als „sicher“ und Afghanen werden dorthin abgeschoben, seit die völlig machtlose Regierung von Ashraf Ghani (vermutlich gegen entsprechendes Bakschisch und/oder Drohungen) ihre Unterschrift unter ein Schubabkommen gesetzt hat.
Alle anderen Staatsbürger fallen sowieso nicht unter diese Quotenregelung, und es ist daher kein Wunder, wenn sogar von den anvisierten 120.000 Personen nicht einmal ein Viertel tatsächlich in diejenigen anderen Staaten verschickt wurde, die sich ursprünglich zu ihrer Aufnahme bereit erklärt hatten.
Deal mit der Türkei
Nachdem sich gezeigt hatte, daß sich die Flüchtlingsfrage nicht für deutsche Machtambitionen instrumentalisieren ließ, reiste eine recht kleinlaute Angela Merkel im Oktober in die Türkei.
Der Spiegel meldete im Vorfeld mit einer gewissen Häme:
„Die Kanzlerin gerät zunehmend unter Handlungsdruck. Für den Zeitraum vom 5. September bis zum 15. Oktober meldeten die 16 deutschen Bundesländer insgesamt 409.000 Neuankömmlinge ans Bundesinnenministerium. Bis zu 10.000 Flüchtlinge überschreiten täglich die Grenze nach Bayern.“ (Spiegel, 18.10. 2015)
Merkel bot Erdogan an: Visafreiheit für türkische Staatsbürger, Beschleunigung des türkischen EU-Beitritts, und einen Haufen Geld! – wenn er ihr nur weitere Flüchtlinge auf der Türkeiroute vom Leibe hielte und einen Teil der illegal eingereisten Migranten auch wieder zurücknähme.
Sie bettelte ihn richtig an, wie man auf den Fotos dieses Treffens sieht: Bitte, lieber Sultan, retten Sie mir meinen Thron!
Und Erdogan ließ sich nicht lumpen. Wenn eine Dame, und noch dazu eine mächtige, sich ihm so vor die Füße wirft, da kann man schon einmal gnädig sein. Noch dazu, wenn die Kasse stimmt.
Erdogan hat seinen Teil des Deals erfüllt. Eine Zeitlang erschossen türkische Grenzbeamten syrische Flüchtlinge an der Grenze, um die nötige Abschreckungswirkung zu erzielen.
Das macht allerdings unseren auf die europäische Wertegemeinschaft pochenden Medien wenig aus, weil das geschieht „hinten, weit, in der Türkei,“ wo „die Völker aufeinander schlagen“ und geht uns hier, die am Fenster unsere Gläschen trinken, gar nichts an.
Die Versprechungen der Kanzlerin blieben allerdings weitgehend unerfüllt. Von der Visafreiheit für Türken wollten verschiedene EU-Politiker nichts wissen, unter anderem mit dem begründeten Verdacht, daß viele der Flüchtlinge dann mit einem gefälschten türkischen Paß erst recht wieder in der EU landen würden. Der Putsch in der Türkei 2016 und der danach verhängte Ausnahmezustand waren ein willkommener Vorwand, sowohl die Visa-Angelegenheit als auch die Beitrittsfrage auf die lange Bank zu schieben.
Um Erdogan jedoch nicht ganz zu verprellen, blieben die Zahlungen von mehreren Milliarden Euro aufrecht, eine Art Ablaßhandel der EU, und daran stößt sich jetzt die neue italienische Regierung.
Die zentrale Mittelmeerroute
ist nämlich von den Türkei-Abmachungen nicht betroffen. (Genausowenig übrigens wie die westliche über Marokko, Algerien und Spanien, die seit ca. einem Jahr auch wieder verstärkt in Anspruch genommen wird.)
Die Route durch die zentrale Sahara ist die klassische, über die schon in alten Zeiten der Trans-Sahara-Handel abgewickelt wurde. Solange Ghaddafi am Ruder war, blieb sie jedoch bedeutungslos für die Flüchtlingsströme. In Libyen wurden die Flüchtlinge aus Schwarzafrika festgesetzt und entweder in ungemütlichen Lagern schlecht beahndelt, oder sie erhielten Jobs auf den Ölfeldern Libyens. Da es sich herumsprach, daß durch Libyen kein Durchkommen war, war auch der Andrang gering, sie wählen damals andere Routen.
Nach dem von den USA, Frankreich und GB betriebenen Sturz Ghaddafis öffnete sich erstens diese Route. Außerdem erschloß sich in dem völlig zugrunde gegangenen Libyen wenigstens eine Geschäftssphäre und das Schlepperwesen blühte auf. Davon ist vor allem Italien als Zielland betroffen, in geringem Maße auch Malta.
Solange Italien nichts tat und die auf irgendwelchen Schlauchbooten im Meer kenternden Afrikaner ihrem Schicksal überließ, füllte sich die Insel Lampedusa mit Wasserleichen und ihr Friedhof mit Wasserleichengräbern. Um die schiefe Optik loszuwerden, startete Italien eine Rettungsschiff-Aktion, die neue Flüchtlingsströme nach Italien lenkte.
Das Ende der Operation „Mare Nostrum“ der italienischen Marine und seine Ablöse durch das von Frontex geleitete „Triton“ im Jahr 2015 erhöhte wieder die Anzahl der Todesopfer, ließ aber die Flüchtlingsströme nicht versiegen, obwohl 2015 viele Flüchtlinge den Weg über Griechenland wählten. Auch 2015 kamen mehr als 100.000 Flüchtlinge nach Italien.
2016 waren es 181.436, 2017 immer noch 119.000. Heuer soll sich die Zahl reduziert haben, bisher kamen angeblich nur etwa 13.000 Flüchtlinge von Libyen nach Italien.
Die EU versuchte eine libysche Regierung zu implementieren, erfolglos. Sie sitzt zwar dort, hat aber nichts zu sagen.
Schließlich wurden von italienischer Seite Abmachungen mit verschiedenen libyschen Milizen getroffen, die Flüchtlinge zurückzuhalten. Denen muß man dafür natürlich etwas zahlen, weil sie verlieren ja eine Einkommensquelle. Außerdem wurden sie angehalten, ihre „Küstenwache“, also die unter ihrer jeweiligen Oberhoheit stehenden Schlepper oder nicht-mehr-Schlepper gegen ausländische Schiffe einzusetzen, die sich der Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingen verschrieben haben. Die libyschen Milizen haben diesbezüglich einige Arbeit geleistet und viele dieser zivilen Rettungsschiffe durch Drohungen oder Gewaltanwendung vertrieben.
Außerdem mußten diese libyschen Milizen auch eine Verwendung für die solchermaßen an der Weiterreise gehinderten Migranten finden. Ende 2017 machten Bilder über angekettete Schwarzafrikaner und Sklavenmärkte die Runde durch die Medien. Nein, sowas! Ein Skandal! Diese menschenverachtenden libyschen Milizionäre! Wieder einmal wurden sehr bleich Menschenrechtsverletzungen dingfest gemacht, die mit „uns“, der feinen EU, natürlich gaaaar nichts zu tun hatten.
Italiens neuer Besen und seine Kritiker, oder: eine EU-Komödie
Der inzwischen zum Innenminister avancierte Matteo Salvini will in der Migrationspolitik eine harte Linie fahren, wie auch schon im Wahlkampf angekündigt. Er machte eine Ankündigungstour durch Süditalien und ließ die Häfen sperren, sodaß über 600 von einer NGO gerettete Flüchtlinge im Meer festsaßen.
Die Medien warnten mit Getöse: eine humanitäre Katastrophe droht! Dieser Salvini!
Statt der angekündigten Katastrophe begann um diese Flüchtlinge und ihr Schiff eine typische EU-Komödie, und die Parteien- und Staatenkonkurrenz ging los. Verschiedene süditalienische Städte stellten sich gegen den Innenminister und luden das Schiff ein, in ihrem Hafen anzulegen.
Die meisten dieser Städte haben einen schlechten Ruf. Stadträte und Bürgermeister sind vermutlich heiß drauf, sich hiermit gegenüber verschiedenen Mafia-Verdächtigungen reinwaschen, wie in Neapel, Palermo oder Reggio Calabria.
Aber vielleicht hatten sie auch wirklich nur die besten Absichten …
Malta weigerte sich ebenfalls, das Flüchtlingsschiff anlegen zu lassen, aber die neu an die Macht gekommene spanische Minderheitenregierung sprang in die Bresche und präsentierte sich als Retter in der Not. Jetzt werden die 630 Personen an Bord des Schiffes „Aquarius“, das für so eine weite Reise gar nicht vorgesehen ist, in Schiffe der italienischen Küstenwache umgepackt und nach Valencia geschippert, was für Italien den Vorteil hat, daß dieses von „Ärzten ohne Grenzen“ betriebene Rettungsschiff einmal für eine Woche oder länger niemanden retten kann. Also ist Italien erfreut, auch darüber, daß es keinen Konflikt zwischen Innenministerium und Mezzogiorno-Städten gibt, die dem Image des neuen Ministers schaden könnten.
Noch froher ist Frankreichs Premierminister, der sich bei dem spanischen Premier bedankt hat, daß er die hartherzige Entscheidung Salvinis noch zu einem guten Ende geführt hat. Die Freude, daß Frankreich, das ja auch einige Häfen im Mittelmeer hat, nicht mit diesen Flüchtlingen behelligt wird, ist unübersehbar. Um so mehr, als sich dort ausgerechnet Korsika auch bereit erklärt hätte, sie aufzunehmen, um der Zentralregierung in Paris eins auszuwischen.
Unglaublich, was für ein Griß auf einmal um ein paar Flüchtlinge ist, die sonst keiner haben will …
Macron bezeichnete das Verhalten der italienischen Regierung als „ekelerregend“ und „verantwortungslos“, worauf Innenminister Salvini ihn dazu aufforderte, doch endlich einmal die 9.000 Flüchtlinge aufzunehmen, zu denen sich Frankreich im September 2015 verpflichtet, aber sie bis heute nicht aufgenommen hat. Und außerdem sollte er sich entschuldigen.
Die spanische Zeitung El País hat einen Reporter abgestellt, der auf der „Aquarius“ mitfährt und von dort live berichtet. Im Hafen von Valencia wartet vermutlich die Blasmusik, wenn so etwas dort zu den örtlichen Gepflogenheiten gehört.
In der Zwischenzeit dürfen vor der libyschen Küste Leute ungestört ertrinken …